Von Möglichkeiten und Chancen, Begrenzungen und Risiken sozialer Mobilität zu erzählen hat Konjunktur. Dies erfolgt in letzter Zeit immer häufiger im narrativen Modus der Introspektion des Herkunftsmilieus aus der Perspektive so genannter Bildungsaufsteiger*innen. Die Beispiele sind ebenso zahlreich wie vielfältig: Journalistisch orientierte Erkundungen der eigenen HerkunftFootnote 1 stehen neben soziologischen Essays und politischen Manifesten, die ihren Ausgang von der Autobiografie ihrer Autoren und deren sozialen und familiären Wurzeln nehmen.Footnote 2 Britische und französische Filme wie Richard Billinghams Ray & Liz (2019) oder Ladj Lys Les Misérables (2019), die zwischen Fiktion und Dokumentation changieren, skizzieren die sozialen Verwerfungen des Viertels der Kindheit oder ihrer Familien.

Vor allem aber haben international Texte Erfolg, die zugleich einen literarischen wie auch soziologischen Anspruch verfolgen und aus Sicht eines erwachsenen Erzählers von einer Auseinandersetzung mit dessen sozio-kultureller Herkunft berichten. Es handelt sich dabei um Darstellungen individueller Lebensgeschichten, die von einem Klassenwechsel qua Bildung und dessen Hindernissen erzählen und sich zugleich als Analysen der Mechanismen von Reproduktion und Nicht-Reproduktion bestehender Sozialverhältnisse zu erkennen geben. Wichtige literarische Impulse kommen aus Frankreich: Didier Eribons Retour à Reims (2009) war sicherlich das einflussreichste und meist diskutierte Buch, das in diesem Zusammenhang genannt werden muss. Saša Stanišićs preisgekröntes Buch mit dem prägnanten Titel Herkunft kann stellvertretend als deutschsprachiger Bestseller des Jahres 2019, Tara Westovers Educated (2018) als US-amerikanischer und Darren McGarveys Poverty Safari (2017) als britischer Erfolgstitel angeführt werden. Mit Bov Bjergs Serpentinen (2020) und Christian Barons Ein Mann seiner Klasse (2020) sind vor nicht allzu langer Zeit zwei weitere Titel deutscher Autoren erschienen, die diesem Narrativ folgen.

Offenbar stoßen diese Erzählformen in Zeiten, in denen die Segregation von Arm und Reich immer deutlicher zu Tage tritt und nicht zuletzt auch die Schulen wohlhabender und benachteiligter Stadtteile immer unterschiedlichere Aufgaben zu bewältigen haben,Footnote 3 in Öffentlichkeit und Wissenschaft auf große Resonanz. Sie werden als Seismografen für eine Situation betrachtet, in der nationale wie internationale Vergleichsstudien die Reproduktion sozialer Ungleichheit durch das Bildungssystem immer wieder nachdrücklich herausstellen. In Deutschland, so haben die Ergebnisse der letzten PISA-Studie erneut belegt, hängt der Bildungserfolg in besonders hohem Maß von der sozialen Herkunft ab; zugleich glaubt ein Großteil der Deutschen weiterhin an die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs durch eigene Bildungsbemühungen.Footnote 4 Vor allem aber werden diese Texte im Zusammenhang mit dem Erstarken des Rechtspopulismus als aussagekräftige Zeugnisse herangezogen, die helfen sollen, dessen Ursachen zu erklären. Sie erscheinen, auch aus ethnologischer und erziehungswissenschaftlicher Perspektive, schließlich deshalb als so interessant, weil sie als Möglichkeit verstanden und rezipiert werden, aus der Sicht von ›doppelten Insidern‹ intime Einblicke in die sich vermeintlich verstärkende Kluft zwischen akademischen und nichtakademischen Sozialkulturen sowie zwischen »Klassenaufsteigern und den etablierten linksliberalen Milieus«Footnote 5 zu gewähren.

Die Rede von einem »Bildungsaufstieg« ist in diesem Zusammenhang nicht unproblematisch: Reproduziert der Begriff doch ein – zumeist implizites – hegemoniales Verständnis von Bildung ebenso wie die Vorstellung einer Gesellschaftsstruktur, die zwischen »oben« und »unten« unterscheidet.Footnote 6 Auch klingt die Erzählung vom Bildungsaufstieg zunächst nach einer Erfolgsgeschichte; mithin verdeckt der Begriff womöglich die individuellen Kosten und Probleme, die mit einem solchen Lebensweg verbunden sind.Footnote 7 Die Vorstellung eines Bildungsaufstiegs und erst recht die Bezeichnung von Individuen als Bildungsaufsteiger*innen gilt daher oftmals als fragwürdig, wird dadurch doch immer auch die Annahme einer (ursprünglichen) Bildungsferne mittransportiert.Footnote 8 Im Gegensatz zu möglichen alternativen Konzepten wie »Klassenwechsel« oder »Klassenübergang« hat die Idee eines Bildungsaufstiegs jedoch den Vorteil, den Umstand sichtbar zu machen, dass Klassenverhältnisse und Bildungsverhältnisse in einer engen Abhängigkeitsbeziehung stehen, die sich individuellen Lebenswegen einschreibt – wenngleich auf je sehr unterschiedliche Art und Weise. Entsprechend wird dem Narrativ von der Herkunft aus einem deklassierten Milieu dann eine besondere gesellschaftsanalytische Kraft zugeschrieben, wenn es vom Standpunkt einer aufgrund von Bildung erworbenen, mit einer spezifischen Entfremdungserfahrung einhergehenden sozialen Distanz ausgestattet ist.

Die folgenden Ausführungen stellen also Erzählungen in den Mittelpunkt, die von einem mithilfe von Bildung erworbenen Klassenwechsel sowie den mit ihm verbundenen Chancen und Risiken berichten und zugleich Beobachtungen allgemeiner Art zu aktuellen Phänomenen gesellschaftlicher (Nicht‑)Mobilität anstellen. Ihr Ziel ist es, anhand eines Korpus neuerer Texte und Filme das diesen Erzählungen zugrunde liegende narrative Muster sichtbar zu machen.Footnote 9 Dafür werden sie zunächst in gattungstypologischer Hinsicht im Kontext autosoziobiografischer Darstellungsverfahren verortet (Abschnitt I), um sodann die spezifischen Erzählweisen, die das Narrativ einer Rückkehr zur sozialen Herkunft mit besonderer Evidenz ausstatten, einer genaueren Analyse zu unterziehen. Aufgezeigt wird, dass für die autosoziobiografische Narration des Klassenübergangs genealogisch-kollektivierende Konstellationen von besonderer Bedeutung sind – und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen werden Klassenverhältnisse als Generationenverhältnisse erzählt (Abschnitt II). Dabei kommt der narrativen Einbindung von Fotografien auf der Ebene der histoire eine zentrale Rolle zu (Abschnitt III), während hinsichtlich des discours Fragen der Repräsentation und der Adressierung bestimmend sind (Abschnitt IV). Zum anderen führen Verfahren der Intertextualität zu einer trans- und intragenerativ ausgerichteten Herstellung eines Textzusammenhangs verschiedenster, aufeinander verweisender Geschichten des Klassenwechsels (Abschnitt V). Dass diese sowohl literatur- als auch sozialwissenschaftliches Interesse auf sich ziehen,Footnote 10 kann schließlich als Ausgangspunkt dienen, um neue Fragen zum Verhältnis von Ästhetik und Gesellschaft, Erzählforschung und Soziologie aufzuwerfen (Abschnitt VI).

I.

autosoziobiografisches erzählen

Die im Folgenden untersuchten Texte und Filme zeichnen sich zunächst einmal durch die Gemeinsamkeit aus, dass sie alle – wenngleich auf je sehr unterschiedliche Weise – zwischen Autobiografie, Fiktion und Gesellschaftsanalyse oszillieren und diese verschiedenen Dimensionen zu einem eigenen narrativen Format verbinden.Footnote 11 Die individuelle Rückschau auf das Umfeld der sozialen Herkunft – oftmals die Arbeiterklasse oder ein bäuerliches Milieu – stellt dabei, so der mehr oder weniger explizit ausgestellte Anspruch, nicht nur eine Auseinandersetzung mit der Erfahrung des Klassenwechsels dar. Die Beschäftigung mit dem eigenen Lebensweg als einer Aufstiegsgeschichte und den – zumeist als unwahrscheinlich oder zufällig markierten – Bedingungen ihrer Möglichkeit ist vielmehr stets auch mit der Ambition verbunden, aus dieser Perspektive zugleich einen soziologisch-literarischen Blick auf gesellschaftspolitisch relevante Entwicklungen der Gegenwart zu werfen. Die (literarische) Erzählung, die ihren Ausgang vom Individuum nimmt, ermöglicht dabei eine besondere Sicht auf Phänomene sozialer (Nicht‑)Mobilität, weil sie eine Unmittelbarkeit des Zugangs sowie eine Dichte und Authentizität des Berichts ermöglicht, wie sie auf anderem Weg, etwa durch empirische Untersuchungen und Statistiken, nicht zu erlangen ist. Annie Ernaux prägte die inzwischen recht geläufige Bezeichnung eines solchen Erzählens als autosoziobiografisch (»auto-socio-biographiques«).Footnote 12

Für die Einordnung dieser Textgattung erscheint in einem ersten Schritt der Hinweis auf Ähnlichkeiten mit autobiografischen und auch autofiktionalen Darstellungen sinnvoll. Das zentrale Merkmal autobiografischer Erzählverfahren, das nach Philippe Lejeune darin besteht, dass der Text eine Identität von Autor, Erzähler und Hauptfigur nahelegt, trifft auf die hier diskutierten Beispiele zu.Footnote 13 Dieser ›autobiografische Pakt‹ stellt, so lässt sich jedoch feststellen, für das autosoziobiografische Erzählen lediglich ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium dar. An der derzeit zu beobachtenden Konjunktur autofiktionaler Darstellungen haben autosoziobiografische Texte wiederum insofern Anteil, als dass der »Glaube an die Realität«Footnote 14 für beide Genres zentral ist. Sie gehen aber nicht ineinander auf. Denn während aktuelle Autofiktionen ihre Aufmerksamkeit zwar ebenfalls auf das eigene Leben richten, oftmals auch auf Alltäglichkeiten und kleinste Details, spielen in ihnen Fragen der sozialen und familiären Genealogie zumeist nur eine untergeordnete Rolle.Footnote 15 Zudem beansprucht nicht jede autobiografisch grundierte Erkundung der familiären und sozialen Herkunft, zugleich eine, und sei es auch nur implizite, Analyse gesellschaftlicher Problemlagen zu sein.Footnote 16 Für Andreas Maiers auf elf Bände angelegtes literarisches Großprojekt Ortsumgehung (2010 ff.), das sich der literarisierten Darstellung von Kindheit und Jugend in der Wetterau und den weiteren Irrungen, Wirrungen des Lebenswegs des Autors widmet, sowie für seine Sammlung von Kolumnentexten unter dem Titel Was wir waren (2018) trifft das zum Beispiel nicht zu – beharrt Maiers literarisches Alter Ego doch darauf, »ein Einzelwesen zu sein, das nicht kollektiviert werden kann und darf in gesellschaftlichen Utopien welcher Couleur auch immer«.Footnote 17

Für ein besseres Verständnis des autosoziobiografischen Genres ist mehr zu gewinnen, wenn es in den Kontext von Rückkehrnarrativen eingeordnet wird. Das Sujet der Heimkehr wird in der Literaturgeschichte von der Antike bis zur Moderne wie auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung zumeist als Rückkehr aus der geografisch, landschaftlich wie kulturell als alteritär gekennzeichneten Fremde gedacht und konzipiert. Innerhalb der literarischen Texte wird dabei üblicherweise die Frage verhandelt, ob die soziale Reintegration des Heimkehrers gelingt oder nicht. Über Erfolg oder Misserfolg entscheidet dabei nicht zuletzt der Umstand, ob der aus der fernen Fremde Rückkehrende in der Lage ist, sich als Erzähler seiner in den anderen Welten erlebten und erlittenen Abenteuer zu erweisen.Footnote 18

Das Narrativ von der Rückkehr aus der sozialen Ferne und der Wiederannäherung an das Herkunftsmilieu unterscheidet sich hiervon in auffälliger Weise. Zwar macht es zuweilen bei dieser Tradition Anleihen, geht doch die Erzählung von einer sozialen Distanzierung der Bildungsaufsteiger*innen ebenfalls fast immer mit der Darstellung einer räumlichen Trennung einher (insbesondere nach dem Muster Stadt versus Land, Metropole versus Peripherie). Der große Unterschied ist jedoch in dem Umstand zu sehen, dass die Rückkehr in Autosoziobiografien nicht einmal potenziell als eine Rückkehr auf Dauer denkbar ist: Der soziale Rückkehrer bleibt vielmehr ein Wanderer zwischen den Welten respektive Klassen. Zudem ist die kommunikative Herausforderung eine völlig andere: Die Klassenwechsler*innen richten sich mit ihren Erzählungen üblicherweise nicht an die ›Daheimgebliebenen‹, sondern adressieren das soziale Ankunftsmilieu, also ein tendenziell akademisch gebildetes Lesepublikum. Die narrative Rückkehr dient folglich der Aufklärung der ›anderen‹, inzwischen mehr oder weniger zur eigenen gemachten sozialen Bezugsgruppe, dessen Vertreter*innen größtenteils nicht über die biografische Erfahrung eines Klassenwechsels verfügen.

Für die einzelne autosoziobiografische Darstellung kann daher gefragt werden, an welche Leserschaft genau sich diese jeweils richtet. Dabei ist auch der Fall möglich, dass ein über höhere Bildungstitel verfügendes Zielpublikum explizit nicht oder zumindest nicht in erster Linie adressiert wird.Footnote 19 Für autosoziobiografische Texte stellt sich zudem das grundsätzliche Problem der Repräsentation der Herkunftskultur, die der Erzählerin oder dem Erzähler vertraut ist, inzwischen aber auch als fremd und alteritär erscheint.Footnote 20

Doch wie funktioniert nun eigentlich die narrative Verknüpfung der Erzählung individueller Lebenswege mit dem Anspruch der Gesellschaftsanalyse? Und wie ist diese zu bewerten? Carlos Spoerhase hat angesichts der Konjunktur autosoziobiografischer Darstellungen auf die »Gefahr« hingewiesen, dass mit der Perspektivierung der Gesellschaft aus dem Blickwinkel des individuellen Aufstiegs »ein politischer Individualismus gestützt« werde, »der kollektive Problemlagen und Lösungsansätze verstellt«.Footnote 21 »Literarische Formprobleme«, so Spoerhase, »können politische Folgeprobleme zeitigen: Das individuelle Schicksal darf nicht deshalb, weil es sich am besten erzählen läßt, zur maßgeblichen Leitgröße des politischen Denkens werden.«Footnote 22 Besteht eine solche Gefahr tatsächlich? Und welche Umgangsweisen finden die autobiografischen Darstellungen selbst, um ihr gegebenenfalls zu begegnen?

Für eine Beantwortung dieser Fragen ist es zunächst hilfreich, das Verhältnis von Individualität und Kollektivität innerhalb autosoziobiografischer Darstellungen genauer zu bestimmen. Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang herauszustellen: Erstens die Beobachtung, dass die hier diskutierten Beispiele Klassenverhältnisse als Verwandtschafts- und Generationenverhältnisse erzählen. Die Auseinandersetzung mit den Eltern und/oder Großeltern, oft ausgelöst durch den Tod eines Eltern- oder Großelternteils, wird zur Auseinandersetzung mit der Frage, welche Faktoren eine (Nicht‑)Veränderung individueller sozialer Positionen in der Gesellschaft bedingen können. Bildung erscheint dabei zwar nicht als alleinige Einflussgröße, aber als eine entscheidende. Autosoziobiografien sind daher gerade nicht nur als Erzählungen von Individualität bzw. individueller Lebenswege aufzufassen. In einer gattungstheoretischen Perspektive ist vielmehr deren Nähe zum Familien- und Generationenroman in den Blick zu nehmen.Footnote 23Zweitens fällt ein Erzählverfahren auf, das den Rahmen der einzelnen Autosoziobiografie überschreitet, weil es auf einem intertextuellen Zusammenhang verschiedenster, aufeinander verweisender Geschichten des Klassenwechsels beruht. Daher gilt es, die Bedeutung eines Textumfelds zu erfassen, das der Schaffung einer Gemeinschaft einander ähnlicher Lebenswege von Klassenübergänger*innen dient.

II.

klassenverhältnisse als generationenverhältnisse erzählen

Das in den letzten Jahren im Feuilleton und in der Wissenschaft – gerade auch in Deutschland – am intensivsten diskutierte und auch literarisch einflussreichste Beispiel autosoziobiografischen Schreibens ist Didier Eribons Buch Rückkehr nach Reims (2016, frz. Retour à Reims, 2009). In dem, vom Autor selbst auch als »nonfiktionaler Roman«Footnote 24 bezeichneten, Text kehrt der schwule Intellektuelle und Soziologe Eribon in das Arbeitermilieu seiner Familie im Nordosten Frankreichs zurück, um sich mit seiner »Klassenflucht«Footnote 25 und »Herkunftsscham«Footnote 26 auseinanderzusetzen sowie am eigenen Beispiel die Mechanismen der gesellschaftlichen Reproduktion von Sozial- und Bildungsverhältnissen aufzuklären.Footnote 27 Dabei ist der Tod von Eribons Vater Anlass und Bedingung dafür, sich der Herkunftsfamilie wieder zuzuwenden.Footnote 28 Das Wiedersehen mit der verwitweten Mutter und die Auseinandersetzung mit ihrem Leben im Kontrast zum eigenen verknüpfen in Rückkehr nach Reims Herkunft und Gegenwart. Bildung und sexuelle Orientierung trennen den erwachsenen Ich-Erzähler von seiner Mutter – und beides hängt miteinander zusammen: Die Homophobie von Familienangehörigen und Herkunftsmilieu sind Antrieb einer Sehnsucht nach einer anderen sozialen Umgebung; Bildung ermöglicht den Fortgang in die weniger heteronormative Großstadt Paris.

Indes bleibt die Figur des verstorbenen Vaters in Rückkehr nach Reims randständig, mehr noch, sie bildet eine markante Leerstelle. Dass dies kein Zufall ist, wird in Eribons 2013 publizierten und seit 2018 auf Deutsch vorliegendem Buch Gesellschaft als Urteil deutlich. Hier bekennt der Autor gleich zu Beginn, dass er aus einer Fotografie, die auf dem Cover der deutschen Taschenbuchausgabe von Rückkehr nach Reims abgebildet ist, seinen Vater herausgeschnitten habe.Footnote 29 Dieser Akt zeigt für Eribon die Ambivalenz und das Krisenhafte auf, das mit der Rückschau auf seine soziale Herkunft und deren Darstellung verbunden ist: »Zeigen, was man geworden ist, ist angenehm und aufwertend. Zeigen, was man einmal war, ist es weniger.«Footnote 30 Die Eltern- und Großelterngeneration stehen für genau das, was man einmal war und nun nicht mehr ist, aber immer noch in sich trägt.

Dass der Tod oder ein sonstiger Verlust von Eltern oder Großeltern als Anlass autosoziobiografischen Erzählens dient und von den Texten als ein solcher hervorgehoben wird, erscheint als spezifisches Strukturmerkmal autosoziobiografischer Darstellungen.Footnote 31 Die Auseinandersetzung mit der familiären Genealogie rückt die Texte in die Nähe von Familienchroniken. Und da »Aufstiegsgeschichten […] auch immer Bildungsgeschichten«Footnote 32 sind, weisen sie zudem Ähnlichkeiten zum Bildungsroman auf, nehmen dabei jedoch eine ›umgekehrte‹ Form an: Sie gehen von einer bereits vollzogenen Entwicklung aus und erkunden deren individuellen, familiären und sozialen Voraussetzungen. Diese begegnen in Form von Erinnerungen an das Vergangene und schließen an den Verlust von Familienangehörigen an. So formuliert etwa Stanišić in seinem Buch Herkunft, das seinen Ausgangspunkt von der zunehmenden Demenz der Großmutter des Erzählers nimmt: »Als meine Großmutter Kristina Erinnerungen zu verlieren begann, begann ich, Erinnerungen zu sammeln.«Footnote 33 Aber auch deutlich frühere Texte wie Ernaux’ La Place (1984) und Une femme (1987) haben bereits die Form von Erinnerungsbüchern: La Place widmet sich dem Leben des Vaters, Une femme dem Leben der Mutter, in beiden Fällen löst der Tod des Elternteils Erinnern und Erzählen aus.Footnote 34 Wenn Eribon in Auseinandersetzung mit Texten Ernaux’ aus den 1980er Jahren den Vergleich zu Peter Handkes Erzählung Wunschloses Unglück (1972) zieht, in der der Erzähler sieben Wochen nach dem Suizid seiner Mutter zu einer (literarischen) Reflexion ihres Lebens aufbricht, und zugleich darauf hinweist, dass La Place zunächst den Titel »Elemente einer Familiensoziologie« tragen sollte,Footnote 35 so macht dies einen größeren historischen Horizont und in systematischer Hinsicht den engen Konnex zwischen Tod, Familiengeschichte(n) und Lebensbeschreibung sichtbar. Unterstrichen wird dadurch aber auch die Möglichkeit der Verallgemeinerung der dargestellten Erfahrung sowie des damit verbundenen analytischen Anspruchs. In ihrem späteren autobiografischen Roman Les années (2008) setzt Ernaux dann »Familienerzählung und gesellschaftliche Erzählung« dezidiert in »eins.«Footnote 36

Auch sind für Autosoziobiografien solche autopoetologischen Reflexionen charakteristisch, in denen Fragen nach der Gattungszugehörigkeit ebenso erörtert werden wie die ihrer soziologischen Reichweite. Dabei wird insbesondere das Verhältnis von Erinnerung, Dokumentation und Fiktion von, wie es Stanišić in seinem noch jungen Buch zum Ausdruck bringt, »Herkunft« und poetischer »Hervorbringung«Footnote 37 problematisiert. Dies lässt sich auch bereits anhand von Ernaux’ Erinnerungstexten beobachten. So denkt die Erzählerin in Eine Frau darüber nach, welches Textformat der Darstellung ihrer Mutter angemessen ist:

»Was ich zu schreiben hoffe, um ihr [der Mutter] gerecht zu werden, liegt vermutlich an der Nahtstelle von Familie und Gesellschaft, Mythos und Geschichte. Mein Vorhaben ist literarischer Art, denn es geht darum, nach einer Wahrheit über meine Mutter zu suchen, die nur durch Worte gefunden werden kann. […] Gleichzeitig will ich sozusagen unterhalb dessen bleiben, was gemeinhin als Literatur gilt.« (F, 19)Footnote 38

Wenn Ernaux ihr Buch – vermeintlich unpersönlich – Une femme nennt und zugleich mit den Worten »Meine Mutter ist gestorben […]« (F, 9) beginnen lässt, so verdeutlicht sich darin der Anspruch, das Leben ihrer Mutter in einen größeren, sozialgeschichtlich relevanten Kontext zu stellen: Die Mutter soll nicht nur hinsichtlich ihrer »individuelle[n] Charakterzüge« betrachtet werden, vielmehr sollen diese zu »ihrer Lebensgeschichte und ihrer gesellschaftlichen Stellung« (F, 44; Hervorhebung von mir, E.B.) in Bezug gesetzt werden.

»Diese Form des Schreibens, die mir in die Richtung der Wahrheit zu gehen scheint, hilft mir, aus der Einsamkeit und Dunkelheit der individuellen Erfahrung herauszutreten, indem ich nach einer allgemeineren Bedeutung suche.« (F, 44)

Von zentraler Bedeutung ist für Ernaux also zweierlei: Zum einen geht es ihr um das Anliegen, die Erfahrung sozialer Isolation, die mit einem Klassenwechsel einhergeht, erzählerisch zu bearbeiten, zu erklären und auf diese Weise abzuschwächen; zum anderen soll die individuelle Geschichte bzw. die einzelne Familiengeschichte als symptomatische Erfahrung von »allgemeiner[ ] Bedeutung« sichtbar werden. Auf diese Form einer gleichermaßen individuellen wie überindividuellen Wahrheitssuche durch eine Tochter, in der die Mutter zuweilen den »Klassenfeind« (F, 55) erkennt, und auf das Problem der Repräsentation wird noch zurückzukommen sein.Footnote 39

III.

fotografien als familien- und sozialgeschichtliche zeugnisse

Dass Eribon seinen Vater aus einer Fotografie herausgeschnitten hat und diesen Tilgungsakt nachträglich nicht nur aufklärt, sondern ihn für eine Auseinandersetzung mit seiner »unterwerfende[n] Subjektwerdung« (assujettissement)Footnote 40 nutzt, weist auf die besondere Bedeutung hin, die Fotografien bei der autosoziobiografischen Erinnerungsarbeit zukommt. Die Rückkehr betrifft ja nicht nur den Ort und das Milieu der Herkunft, sondern findet auch in der Zeit statt, es ist eine Rückkehr in die eigene Kindheit – und dieser Umstand erfordert es, Vergangenes in der Gegenwart sichtbar zu machen.Footnote 41 Es überrascht nicht, dass sich das Medium der Fotografie dafür in besonderem Maß eignet, dem insofern auch eine besondere familien- und sozialgeschichtliche Relevanz beigemessen werden kann.Footnote 42 Die Foto-Ekphrasis dient den autosoziobiografischen Darstellungen dabei zugleich als Ausweis des Authentischen, als eine Art Realitätsanker.Footnote 43 Die folgenden drei Beispiele, die sich medial sowie hinsichtlich ihrer historischen und nationalen Entstehungskontexte wesentlich unterscheiden, zeigen in ihrer Zusammenschau, auf welche Art und Weise Fotografien in Herkunfts- und Klassenübergangserzählungen integriert sind und für die Verknüpfung von Gegenwart und Zukunft sowie von individueller und ›allgemeiner‹ Geschichte genutzt werden.

Ray & Liz

Richard Billinghams preisgekrönter Film Ray & Liz kam im Frühjahr 2019 in die Kinos. Billingham, Jahrgang 1970, aufgewachsen in einem durch Armut geprägten Vorort Birminghams, war vor seinem Film vor allem für sein dokumentarisches Fotobuch Ray’s a laugh (1996) bekannt. Darin porträtiert er seinen Vater und seine Mutter in Bildern aus den späten 1980er und frühen 90er Jahren. Zu sehen sind der alkoholkranke Ray und die adipöse, über und über tätowierte Liz, die Interieurs ihrer Wohnungen, ihre Beschäftigungen, ihre Haustiere, ihre Bekannten. Diesen dokumentarischen Blick auf seine Eltern erweiterte Billingham zunächst in Kurzfilmprojekten und dann mit Ray & Liz um eine filmästhetische Ausdrucksform. Mit Ray & Liz verfolge er dabei, so Billingham, das Ziel, »authentisch zu sein und das Leben zu zeigen, wie es ist, indem ich an die Orte zurückkehre, an denen all das geschehen ist.«Footnote 44

In struktureller Hinsicht nutzt der Kinofilm das Mittel der Verschränkung zweier Zeitebenen: Er beginnt mit dem älteren Ray, der, von einem Freund regelmäßig mit selbst hergestelltem Alkohol versorgt, in einem winzigen Zimmer seine Zeit verschläft, wenn er nicht gerade Radio hört oder aus dem Fenster schaut. Manchmal kommt Liz zu Besuch, die schon längst von ihm getrennt lebt, um ihn zu beschimpfen und um sein weniges Geld zu erleichtern. Diese Erzählebene stellt am Anfang, in der Mitte und am Ende des Films eine Gegenwart dar, die vor allem durch ihre völlige Handlungsarmut gekennzeichnet ist. In diese Rahmenhandlung sind zwei zeitlich deutlich früher angesiedelte Episoden eingefügt, die das frühere Leben von Ray und Liz als Ehepaar und Eltern von Richard und seinem jüngeren Bruder Jason zum Thema haben. Der soziale Abstieg der Familie wird unter anderem dadurch sichtbar, dass Lebensstandard und häusliche Umgebung immer schlechter werden: Zunächst bewohnt die Familie noch ein Reihenhaus, in der zweiten Episode sind sie in eine verwahrloste Hochhaussiedlung umgezogen. Das Ensemble der Kernfamilie wird in diesen Episoden durch einen behinderten Onkel ergänzt, der von einem Untermieter der Familie grausam gequält wird.

Eine besondere Bedeutung kommt in Ray & Liz nun einer Fotografie zu, die zwar nur kurz, aber dafür gleich zweimal zu sehen ist: Am Ende der ersten Sequenz, in der der gealterte Ray in seiner Sozialwohnung trinkend und rauchend zu sehen ist, richtet sich die Kamera auf eine etwas verblichene Schwarz-Weiß-Fotografie vor einer weißen Bretterwand. Diese zeigt ein jüngeres Paar, Mann und Frau. Die Fotografie legt Zeugnis von der Vergangenheit von Ray und Liz ab und markiert zugleich den Beginn der narrativen Rückblende auf die Zeit, in der sie Ehepaar und Eltern waren. Jedoch zeigt die Fotografie gerade nicht die Schauspieler Justin Salinger und Ella Smith, welche Ray (in seinen jüngeren Jahren) und Liz darstellen, sondern ein anderes, diesen durchaus ähnlich sehendes Paar. Anzunehmen ist, dass es sich dabei um eine authentische Aufnahme der Eltern Billinghams handelt.

Das retrograde Erzählen des Films wird also durch ein Foto eingeleitet, dass nicht nur in die Vergangenheit von Ray führt, sondern zudem auf die reale Vergangenheit und Kindheit des Filmemachers und dessen Eltern verweist. In der letzten Einstellung von Ray & Liz ist dieselbe Fotografie nochmals zu sehen: Die Kamera schwenkt durch das nächtliche, rosa ausgeleuchtete Zimmer des betrunkenen Mannes und erfasst wiederum das Schwarz-Weiß-Bild. Gegenwart und Vergangenheit von Ray und seiner Familie sowie fiktionale Darstellung und Biografie des Filmemachers werden auf diese Weise eng miteinander verknüpft.

Was in Ray & Liz freilich fehlt – und den Film von den meisten hier diskutierten Textbeispielen unterscheidet –, ist ein erwachsener Ich-Erzähler, der selbst als eine Figur in Erscheinung tritt, die zu ihrem Herkunftsmilieu zurückkehrt: Richard (Billingham) taucht im Film lediglich als Kind und Jugendlicher auf. Eine explizite autobiografische Perspektivierung der eigenen Kindheit aus der sozialen Distanz fällt damit aus. Hier sagt niemand: »Ich erzähle Euch meine Geschichte.« Kennt man Billinghams Biografie nicht, ist der Film daher nicht unmittelbar als autobiografisch grundierte Auseinandersetzung mit dem familiären und sozialen Milieu seiner Kindheit und Jugend erkennbar. Äußerungen des Filmemachers in Interviews und das Begleitmaterial zum Film, wie etwa das Booklet zur DVD, machen indessen diesen Hintergrund ganz deutlich. Auch die Frage, ob und wie ein ›Entkommen‹ aus dem Milieu, in das der ›Zufall der Geburt‹ einen Menschen hineinversetzt, überhaupt möglich ist, wird in Ray & Liz eher implizit als explizit beantwortet. Der Film zeigt die Intervention des Jugendamts, das die Unterbringung Jasons in einer Pflegefamilie veranlasst. Richard als älterer Bruder bleibt alleine in der Familie zurück. Das weitere Schicksal der Brüder wird nicht mehr erzählt.

Herkunft

Anders als bei Billingham, bei dem das Foto der noch jungen Eltern nicht in die Erzählhandlung eingebunden ist, sondern strukturell als Mittel der Abgrenzung und Verbindung der verschiedenen Zeitebenen der filmischen Erzählung, aber auch von Realität und Fiktion genutzt wird, sind in den hier zu diskutierenden literarischen Beispielen Fotografien Teil der Diegese. Interessant ist dabei insbesondere die jeweilige Fundsituation der Fotografien. In Stanišićs Herkunft entdeckt der Erzähler ein Bild in der Wohnung der Großmutter

»[i]m Barschrank hinter der Cognacflasche […]. So gelagert, dass man es finden soll: ein Foto von Großvater, er sitzt auf einem Holzzaun (drei Planken, Pfeiler, drei Planken, Pfeiler), eine Berg-Lehne im Rücken. Es sind die Wälder und Wiesen von Oskoruša, der Gipfel von Vijarac. […]

›Du hast nicht gefragt, ob du das darfst. – Was willst du denn?‹ Sie [die Großmutter] kam näher.

›Ich weiß es nicht, ich weiß nicht, was ich suche –‹« (H, 107 f.)

Dem Ich-Erzähler wird schließlich klar, dass das Foto vom Großvater ihm deshalb irritierend bekannt vorkommt, weil es eine Szene zeigt, die seine Großmutter neun Jahre zuvor, nämlich 2009, auf einer Reise in das Heimatdorf ihres verstorbenen Mannes genau am Ort der älteren Aufnahme nachstellen ließ – mit ihm, dem unwissenden Enkel, an Stelle des auf dem Bild noch jungen Großvaters: »Großvater sitzt exakt dort auf dem Zaun, wo ich damals saß, als Großmutter mich mitgenommen hatte nach Oskoruša.« (H, 108)Footnote 45

Zu dieser ersten und letzten von Enkel und Großmutter gemeinsam unternommenen Reise nach Oskoruša kehrt Herkunft immer wieder zurück; berichtet wird zudem, dass der Erzähler ein weiteres Mal mit seinen Eltern nach Oskoruša fährt – im April 2018 (vgl. H, 259-276), einige wenige Monate bevor er im Sommer 2018 neben verschiedenen Zeugnissen aus dem Leben seines Großvaters auch den Fund der Fotografie, die diesen auf dem Zaun in Oskoruša zeigt, macht. Unterbrochen wird die leitmotivische Darstellung der Rückkehr in das Dorf des Großvaters von Episoden, die die Kindheit des Erzählers in Višegrad behandeln, von Besuchen bei der immer stärker von der Demenz betroffenen Großmutter erzählen sowie von der Flucht mit den Eltern nach Heidelberg, von der Ankunft in Deutschland, von Freundschaften, Erfahrungen in der Schule und dem Erlernen der deutschen Sprache handeln. Die Gegenwart der Erzählung ist in Hamburg angesiedelt, wo Stanišić heute lebt. Mit seinem Erzählprinzip bricht Herkunft Linearität auf. Heimat wird pluralisiert zu Heimaten.Footnote 46

An späterer Stelle – es wird der kurze, zweite Aufenthalt in Oskoruša berichtet – heißt es: »Ich will mir Großvater vorstellen als jungen Mann auf diesen Wegen. Im Sakko. Auf dem Esel. Es gelingt mir nicht, da ist nichts, da bin nur ich, der Fotos verwertet.« (H, 265) Das Imaginationsvermögen des Erzählers ist begrenzt. Im Gegensatz dazu verknüpft die im Barschrank der Großmutter gefundene Fotografie Herkünfte und Generationen deshalb miteinander, weil das Bild zum Teil einer Inszenierung wurde, die den ahnungslosen Ich-Erzähler zum Darsteller seines eigenen Großvaters machte. In Form einer unbewussten, aber äußerst physischen Verkörperung des Körpers des Großvaters tritt die eigene Familiengenealogie quasi geisterhaft vor das Auge des Protagonisten, als er der Fotografie ansichtig wird, und damit auch in die Vorstellungskraft der Lesenden ein. Zugleich wird durch die (Re‑)Inszenierung in Oskoruša Kristinas spätere durch die zunehmende Demenz bedingte Verwechslung ihrer Angehörigen auf gewisse Art vorweggenommen. Denn in beiden Fällen findet eine Überblendung der Toten und der Lebenden statt und damit ein Ineinanderschieben der Generationen.

La Place

Den beiden bereits diskutierten Beispielen Ray & Liz und Herkunft aus dem Jahr 2019 lässt sich mit Ernaux’ Vaterbuch aus der ersten Hälfte der 1980er Jahre eine weitere, zeitlich frühere literarische Foto-Ekphrasis hinzufügen. In Der Platz spielt eine Fotografie gleich zu Beginn eine signifikante Rolle. Ähnlich wie in Herkunft wird diese nicht nur zum Vehikel einer Reise in die Vergangenheit der eigenen Familienbiografie, sondern dient zugleich dazu, die Generationen als gleichermaßen voneinander entfernt als auch miteinander verbunden in Erscheinung treten zu lassen.

Der Platz setzt mit den Erledigungen ein, die durch den Tod und die anstehende Beerdigung des Vaters bedingt sind:

»Wir suchten die Kleider meines Vaters zusammen, um sie an Leute weiterzugeben, die sie brauchen konnten. In seiner Alltagsjacke, die in der Kammer hing, fand ich seine Brieftasche. Darin ein wenig Geld, seinen Führerschein und in dem aufklappbaren Teil ein altes Foto in einem zusammengefalteten Zeitungsartikel. Das Foto mit gezackten Rändern zeigte eine Gruppe von Arbeitern verteilt auf drei Reihen, alle blickten in die Kamera, alle hatten eine Mütze auf. Ein typisches Foto aus dem Geschichtsbuch, zur Illustration eines Streiks oder der Volksfront. Ich erkannte meinen Vater in der hintersten Reihe, mit ernster, fast sorgenvoller Miene. Viele lachen. Der Zeitungsartikel listete die Ergebnisse der Aufnahmeprüfung an der Fachhochschule für Grundschullehrerinnen auf, nach Noten sortiert. Mein Name stand an zweitoberster Stelle.«Footnote 47

Hier wird die Bedeutung von Fotografien als Wegmarken auf der Reise zur sozialen Herkunft ganz deutlich. Dass die Lebenswege von Vater und Tochter miteinander verschränkt und aufeinander bezogen sind, kommt durch den Umstand zum Ausdruck, dass das Foto des Vaters als Angehöriger der Arbeiterklasse in einen Zeitungsartikel, der den Bildungsaufstieg der Erzählerin belegt, hineingelegt wurde.

Bezeichnenderweise wird durch diesen doppelten Fund eine Reflexion über die Frage nach der ›richtigen‹ Repräsentation des Vaters und seines Lebens durch die Tochter angeregt. Es schließt sich folgende Textpassage an, die hier trotz ihrer Länge ausführlich zitiert wird, weil sie in wenigen Absätzen Bemerkenswertes leistet:

»Auf der Zugfahrt am Sonntag versuchte ich, meinen Sohn zu beschäftigen, damit er ruhig blieb, die Reisenden der ersten Klasse mögen keinen Lärm und keine herumlaufenden Kinder. Mit einem Mal, fassungslos ›jetzt gehöre ich wirklich zum Bürgertum‹ und ›es ist zu spät‹.

Später, im Laufe des Sommers, während ich auf meine erste Stelle wartete, ›ich sollte das alles erklären‹. Ich wollte alles sagen, über meinen Vater schreiben, über sein Leben und über die Distanz, die in meiner Jugend zwischen ihm und mir entstanden ist. Eine Klassendistanz, die zugleich aber auch sehr persönlich ist, die keinen Namen hat. Eine Art distanzierte Liebe.

Daraufhin begann ich einen Roman zu schreiben, mit ihm als Hauptfigur. Mittendrin ein Gefühl des Ekels.

Seit Kurzem weiß ich, dass der Roman unmöglich ist. Um ein Leben wiederzugeben, das der Notwendigkeit unterworfen war, darf ich nicht zu den Mitteln der Kunst greifen, darf ich nicht ›spannend‹ oder ›berührend‹ schreiben wollen. Ich werde die Worte, Gesten, Vorlieben meines Vaters zusammentragen, das, was sein Leben geprägt hat, die objektiven Beweise seiner Existenz, von der ich ein Teil gewesen bin.

Keine Erinnerungspoesie, kein spöttisches Auftrumpfen. Der sachliche Ton fällt mir leicht, es ist derselbe Ton, in dem ich früher meinen Eltern schrieb, um ihnen von wichtigen Neuigkeiten zu berichten.« (P, 19 f.)

Mit dem Sohn wird eine weitere Generation in die Darstellung einbezogen. Die »Klassendistanz« zum Vater spiegelt sich in der Reise in der ersten Zugklasse: Für den Sohn womöglich schon eine Selbstverständlichkeit, führt sie die Mutter zu der erschreckenden Erkenntnis, dass sie ihre Klassenzugehörigkeit unumkehrbar gewechselt hat. Die Rückkehr zur Herkunft kann sich nur noch in der Erzählung vollziehen, für die sich nun das Problem der adäquaten Form stellt. Der favorisierte Ton ist mit demjenigen der brieflichen Kommunikation mit den Eltern identisch: »sachlich«, vielleicht aber auch eher »simpel«.Footnote 48 Die erworbene soziale und sprachliche Distanz wird dadurch stilistisch ein Stück weit eingeebnet, ein Erheben, ein »spöttisches Auftrumpfen« des Bürgertums gegenüber der Arbeiterklasse gilt es zu vermeiden. Der Klassenabstand, der zwischen Vater und Tochter, Erzählerin und Erzählobjekt herrscht, darf sich nicht im Ausdruck, nicht im discours niederschlagen, obwohl zugleich genau dieser Gegenstand der Erzählung ist.

Doch an wen richtet sich La Place eigentlich? Wem möchte die Erzählerin etwas »erklären«? Dem (verstorbenen) Vater die »distanzierte Liebe« oder einem bürgerlichen Lesepublikum die Erfahrung der Klassendistanz aus der Perspektive der Bildungsaufsteigerin?

IV.

das problem der repräsentation und die frage der adressierung

Das Narrativ von der Rückkehr zur sozialen und familiären Herkunft ist mit einem weiteren Problem konfrontiert: der Gefahr einer – mit einem Wort Billinghams – »Ausbeutung (Exploitation)«Footnote 49 der eigenen Eltern und Großeltern. Billingham spricht von der Notwendigkeit einer warmen Empathie, Ernaux von Liebe, die die ›Ausbeutung‹ auszugleichen hätte. Die Frage nach der richtigen Haltung gegenüber dem Erzählten, nach einem angemessenen Ton der Darstellung wird auch von anderen Autosoziobiografen thematisiert. So schreibt Édouard Louis in Wer hat meinen Vater umgebracht:

»Auch das habe ich bereits erzählt – aber ich muss mich doch wiederholen, wenn ich von deinem Leben erzähle, denn von einem solchen Leben will niemand hören! Man muss sich doch wiederholen, bis sie uns zuhören! Um sie zum Zuhören zu zwingen! Wir müssen doch eigentlich schreien! […] Ich scheue mich nicht, mich zu wiederholen, denn was ich schreibe, was ich erzähle, folgt nicht den Erfordernissen der Literatur, sondern denen der Notwendigkeit, der Dringlichkeit, denen des Feuers.«Footnote 50

Louis wählt das narrative Mittel der Wiederholung und das Pathos der Anklage, um das Leiden und Leben seines Vaters einem imaginären Publikum, das davon nichts hören will, nahezubringen. Die letzten Worte seines Textes legt er seinem Vater in den Mund: »Recht so, ich glaube, was es bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution.«Footnote 51 Ähnlich verfährt auch Eribon in Rückkehr nach Reims, wenn er in einer performativen Geste ein affiziertes Sprechen für seine Form der Darstellung wählt.Footnote 52 Auf diese Weise kommt es zu einer »Wiederaneignung eines Merkmals plebejischen Sprechens […], der unsublimierten Aggressivität«.Footnote 53

Diese Form der Darstellung und ihr Erfolg können provozieren, wie etwa einer Einschätzung der Literaturkritikerin Iris Radisch zu entnehmen ist, die Louis und Eribon »Vulgärsoziologie« vorwirft:

»Den Hochmut, mit dem die beiden Soziologen (Louis studierte bei Eribon an der École normale supérieure) ihre hilf- und sprachlosen Eltern am Nasenring der internationalen Literaturöffentlichkeit vorführten, sah man ihnen nach, zu erfreut war man über die Nachrichten von einem fremden Stern und seinen kulturlosen Eingeborenen, die es so selten auf die Hauptbühne der Literatur schaffen.«Footnote 54

Eher im Undeutlichen bleibt hier, inwiefern sich der Hochmut und die Überheblichkeit, von der die Darstellung der Eltern bei Eribon und Louis gekennzeichnet sei, anhand von deren Texten festmachen lässt. Die Kritik umfasst dabei auch die Reaktionen des Lesepublikums, das offenbar als eines vorgestellt wird, das die Arbeiterklasse aus eigener biografischer Erfahrung nicht kennt. Es kann hier nicht darum gehen, die genannten Autoren, ihre Texte und deren Leser*innen gegenüber solchen Einschätzungen in Schutz zu nehmen. Allerdings ist diese Form der Kritik eventuell in symptomatischer Hinsicht von Interesse. Denn vielleicht verkehrt sich in ihr gerade die Problematik der erworbenen Klassendistanz und die Verschränkung von persönlicher Erzählung und Gesellschaftsanalyse, die in den Texten der Klassenübergänger ihren Ausdruck findet, zum Vorwurf, wenn die Schreibweisen von Eribon und Louis mit Konzepten wie dem des »Pamphlet[s]« und der »Drastik«Footnote 55 in Verbindung gebracht werden sowie deren Indienstnahme für politische Anliegen (insbesondere der der so genannten »Gelbwesten«) beklagt wird. Auf diese Weise verschränken sich ethische, politische und ästhetische Beurteilungsaspekte solcherart miteinander, dass es schwer wird, deren implizit bleibenden Zusammenhang klar zu erfassen.Footnote 56 Festgestellt werden kann jedoch an den infrage stehenden Texten, dass die Erzähler es sich mit der Darstellung der Eltern nicht allzu leicht machen; das Ringen um die richtige Selbst- und Fremdrepräsentationsweise ist ihnen in unterschiedlicher Form eingeschrieben: Louis kennzeichnet den monologischen Dialog mit seinem Vater, in dem nur er als Sohn spricht, gleich zu Beginn von Wer hat meinen Vater umgebracht als »für beide brutal: Dem Vater bleibt verwehrt, seine eigene Lebensgeschichte zu erzählen, und der Sohn ersehnt sich eine Antwort, die er niemals erhalten wird.«Footnote 57 Und auch Eribon schwankt zwischen dem von ihm behaupteten Privileg des Wissens des Bildungsaufsteigers und Soziologen, der die Sprach- und Reflexionslosigkeit seiner Herkunftsklasse hinter sich gelassen hat und nun eben diese analysiert und darstellt, und der Einsicht in genau diese Mechanismen und der mit ihnen verbundenen Hybris.Footnote 58 Pointiert findet sich diese Problematik bereits lange vor den Auseinandersetzungen von Eribon und Louis bei Ernaux formuliert:

»Beim Schreiben ein schmaler Grad zwischen der Rehabilitierung einer als unterlegen geltenden Lebensweise und dem Anprangern der Fremdbestimmung, die mit ihr einhergeht. Weil diese Art zu leben unsere war, sogar unser Glück, sie aber auch die demütigenden Grenzen unseres Daseins bestimmte (das Bewusstsein, dass es ›bei uns zu Hause nicht gut genug war‹), will ich gleichzeitig über das Glück und die Fremdbestimmung schreiben. Allerdings habe ich eher das Gefühl, zwischen den beiden Seiten dieses Widerspruchs hin- und herzuschwanken.« (P, 45)

Die Rehabilitation, von der hier die Rede ist, lässt sich im Sinne der ursprünglichen lateinischen Bedeutung von rehabilitatio als eine Art literarische ›Wiederherstellung‹ oder ›Hervorbringung‹Footnote 59 eines ›gemeinsamen‹ Daseins verstehen. Autosoziobiografien versuchen paradoxerweise also nicht zuletzt, in der Darstellung von Klassendistanz Klassengegensätze erzählerisch zu überwinden. Natürlich darf – nicht zuletzt auch mit Blick auf diejenigen autosoziobiografischen Texte, die im Gefolge von Ernaux, Eribon und Louis in den letzten Jahren in Deutschland oder anderen Ländern erschienen sind, – die Frage gestellt werden, ob dies den einzelnen Autosoziobiografien tatsächlich gelingt. Anerkannt werden muss dabei jedoch, dass die Antwort womöglich auch von den individuellen Lebens- und Klassenerfahrungen derjenigen abhängt, die sich um eine politische, literaturkritische oder literaturwissenschaftliche Einschätzung autosoziobiografischer Darstellungsweisen bemühen.

V.

auf dem weg zu einer ›transclasse‹- communio ?

Die analytisch-narrative Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft vor dem Hintergrund einer Entfremdungserfahrung geht mit einer spezifischen Sehnsucht nach milieuübergreifenden Orten und Formen der Vergesellschaftung einher. In Eribons Rückkehr nach Reims erfüllen beispielsweise die cruising areas der schwulen Community von Paris diese Funktion. Aber auch dem Kirchenchor kann eine solche Funktion zukommenFootnote 60 oder – wie zu Beginn von Ladj Lys Film Les Misérables – der klassennivellierenden Fußballbegeisterung.

Die Suche nach solchen Orten und Gemeinschaften wird durch die Erfahrung einer sozialen Isolation hervorgerufen, die mit dem Klassenwechsel einhergeht. So schreibt Ernaux in Eine Frau:

»Meine Mutter, die in ein beherrschtes Milieu hineingeboren worden war, das sie hinter sich lassen wollte, musste erst Geschichte werden, damit ich mich in der beherrschenden Welt der Wörter und Ideen, in die ich auf ihren Wunsch hin gewechselt bin, weniger allein und falsch fühle.« (F, 88 f.)

Die Filme und Texte, die hier zur Diskussion stehen, können also schließlich auch als Versuche gewertet werden, durch das Erzählen Einsamkeit und Entfremdung zu überwinden.Footnote 61

Da derlei Versuche aber inzwischen so zahlreich sind, entsteht zugleich noch eine andere, neue, nämlich durch gegenseitige Lektüren und Intertextualität gestiftete Form der Vergemeinschaftung. Die autosoziobiografische Darstellung bietet offenbar ein Identifikationspotenzial, das Erzählungen von weiteren Lebens- und Bildungsgeschichten als Analyse von Sozial- und Generationenverhältnissen befördert.

So lassen sich, wie bereits gezeigt, Rückkehr nach Reims eine Vielzahl an Texten und Filmen zur Seite stellen, die ebenfalls aus der Perspektive des individuellen sozialen Aufstiegs aktuelle gesellschaftliche Verhältnisse verhandeln. Einige dieser Autosoziobiografien weisen sich dabei als explizit von Eribon inspiriert aus. Dies gilt beispielsweise für Édouard Louis’ Texte, aber auch für Daniela Dröschers Zeige deine Klasse (2018).Footnote 62

Darüber hinaus ist der von Eribon geschilderte Klassenwechsel inzwischen selbst schon wieder Gegenstand von Analysen der Prozesse und Narrationen des sozialen Aufstiegs geworden. Anzuführen ist hier insbesondere Chantal Jaquets hinsichtlich der Figur des Klassenübergängers überaus einschlägiger Essay Les transclasses, ou la non-reproduction (2014). Jaquet stellt Rückkehr nach Reims in den Zusammenhang mit einer ganzen Reihe weiterer autosoziobiografischer Texte (u. a. von Annie Ernaux, Richard Hoggart, Jack London, Paul Nizan, Stendhal, Richard Wright und John Eggar Wideman). Anhand dieser vollzieht Jaquet die »Komplexion« sozialer Transgressionsphänomene nach.Footnote 63 Aus dem Blickwinkel des Individuums, dem trotz einer ungünstigen sozialen Ausgangssituation ein gesellschaftlicher Aufstieg gelingt, wird laut Jaquet dabei die Regel von der Reproduktion von Sozialverhältnissen (u. a. durch Bildung) gerade nicht widerlegt, sondern vielmehr bestätigt: Denn Klassenstrukturen machen sich immer dann besonders deutlich bemerkbar, wenn es zur Überschreitung von Klassengrenzen kommt. Jaquets Analyse fehlt dabei nicht der autobiografische Hinweis auf die eigene Herkunft aus armen und provinziellen Verhältnissen, wodurch auch der Lebensweg der Autorin, heute Philosophieprofessorin an der Sorbonne, als weitere ›Ausnahmegeschichte‹ einer Bildungsaufsteigerin und Klassenübergängerin lesbar wird.Footnote 64

Wie an Jaquets umfassender Darstellung offensichtlich wird, ist Eribons Rückkehr nach Reims sicher nicht als maßgeblicher oder gar alleiniger Kristallisationspunkt anzusehen, von dem aus das Erzählen der eigenen Herkunftsgeschichte aus der Perspektive einer erworbenen sozialen Distanz und die Schaffung eines transclasse-Genres seinen Ausgang nimmt. Vielmehr muss in dieser Hinsicht zweierlei ins Auge gefasst werden: Erstens ist festzustellen, dass es ein anderes maßgebliches Zentrum einer gleichermaßen theoretischen wie lesebiografischen Verankerung gibt, mit dem der eigene Lebensweg in einer Vielzahl der hier zur Diskussion stehenden Texte in gesellschaftsanalytischer Perspektive ausgeleuchtet wird: Pierre Bourdieu, in dessen Person sich die biografische Erfahrung des Klassenwechsels mit soziologischer Expertise verbindet. Dies stellt Eribon in aller Ausführlichkeit und Deutlichkeit heraus. Es lässt sich bei Louis beobachten und schreibt sich – mit Rekurs auf Eribon – im Text Dröschers fort.Footnote 65 Und nicht zuletzt nimmt der Essay Jaquets seinen Ausgang von (einer kritischen Auseinandersetzung mit) Bourdieu.Footnote 66 Aber auch bei Autor*innen, die ihre autosoziobiografischen Texte bereits vor Eribons Rückkehr nach Reims verfasst haben, finden sich entsprechende Verweise. Dies gilt natürlich in besonderem Maße für die Texte von Annie Ernaux, die, wie bereits offensichtlich geworden sein dürfte, zusammen mit Eribon und Louis eine Art französisches Dreigestirn autosoziobiografischen Schreibens bildet und in diesem, gleichermaßen durch ein Meisterinnen-Schüler-VerhältnisFootnote 67 wie durch eine hochgradige Intertextualität getragenen, Verbund die älteste von drei Generationen autosoziobiografischen Schreibens repräsentiert, aber eben auch zugleich mit nur 10 Jahren Altersunterschied nahezu derselben Generation wie Pierre Bourdieu angehört.Footnote 68 Insofern es hier um die Stiftung einer Wahlverwandtschaft geht, die auch in den deutschen Kosmos autosoziobiografischen Schreibens ausstrahlt, könnte man Bourdieu daher als soziologischen Patriarchen dieser Konstellation ansehen. Er ist dabei auch für die Aufklärung der individuellen Risiken und Gefahren, die sich mit einem Klassenwechsel verbinden, von Bedeutung.

Welche Relevanz Bourdieu für das Erzählen von der Herkunft aus prekären sozialen Verhältnissen zukommt, illustriert besonders anschaulich Thomas Melles Buch Die Welt im Rücken (2016), das sich autopoetologisch als »eine Art negative Mini-Kulturgeschichte« und als »Anti-Bildungsroman« ausweist.Footnote 69 An dessen Ende deutet der Autor an, dass seine manisch-depressive Erkrankung, deren Schilderung den größten Teil seiner Darstellung einnimmt, womöglich auf seinen Bildungsaufstieg zurückzuführen ist.Footnote 70 Zuvor heißt es über einen Besuch bei seiner Mutter und in seiner ehemaligen Schule: »Ich fahre nach Bonn. Ich hasse Bonn so sehr, und doch muss ich hin. Das Buch über meine Herkunft kann ich erst in Jahrzehnten schreiben, wenn überhauptFootnote 71 In Die Welt im Rücken ersetzt also die Reise an den Herkunftsort, die mit Erinnerungen an seine Kindheit und Schulzeit einhergeht, die umfassendere erzählende Auseinandersetzung mit der sozialen und familiären Herkunft.Footnote 72 Der Ich-Erzähler kann (noch) keine Autosoziobiografie schreiben. Warum aber nicht? Womöglich fehlt ihm, der bei seiner alleinerziehenden Mutter aufgewachsen ist, dazu schon in ganz grundlegender Weise der prototypische Ausgangs- und Reibungspunkt autobiografischen Erzählens (von Männern): nämlich der biologische Vater, der niemals in seinem Leben in Erscheinung getreten ist.Footnote 73 Ganz offensichtlich fehlt ihm dazu aber im gegenwärtigen Moment, da er bedingt durch pathologische Wahnvorstellungen seine mühsam aufgebaute Bibliothek verkauft hat,Footnote 74 der ›ideologische Vater‹, den es für eine sozioanalytische Durchdringung seines ›Werdegangs‹ und seiner aktuellen Lebenslage jedoch bräuchte:

»Als ich gerade von ›bürgerlichen Existenzen‹ schrieb, dachte ich kurz über habituelle Differenzen nach und wollte unwillkürlich zu den ›Feinen Unterschieden‹ von Bourdieu greifen, um drin zu lesen. Es war nur ein halber Gedanke, ein vorbewusster Wunsch. Er war nicht zu erfüllen. Denn wohin greifen? Da gibt es nichts mehr. Drei oder vier Bücher von Bourdieu hatten in meiner Bibliothek gestanden; alle sind sie weg.«Footnote 75

Bourdieu – so wird hier nahegelegt – ist ein notwendiger, in diesem Fall nicht (mehr und noch nicht wieder) vorhandener Ausgangs- und Bezugspunkt autosoziobiografischen Erzählens. Dass seine Bedeutung in dieser Weise, quasi ex negativo, betont wird, verdeutlicht aber auch, dass potenziell über die biografische, analytische und intertextuelle Verbindung zu Bourdieu eine genealogische Verwandtschaftsbeziehung unter den verschiedenen und vielfältigen Narrationen von der sozialen Herkunft gestiftet wird.

Zweitens ist zu beobachten, dass autosoziobiografische Texte sich auch unabhängig vom Bezugspunkt Bourdieu ganz grundlegend in ein größeres Geflecht von transclasse-Erzählungen einschreiben, das sie als eigenen Kosmos entwerfen. Dies tritt in aller Deutlichkeit bereits in Karin Strucks Klassenliebe von 1973 zutage, einem literarischen Kaleidoskop verschiedener transclasse- und Bildungsgeschichten. Das Buch stellt nicht nur den Versuch dar, das Leben der aus dem bäuerlichen und dem Arbeitermilieu stammenden Eltern und Großeltern festzuhalten. Vielmehr ist es eine wütende Auseinandersetzung der Ich-Erzählerin mit der Frage nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, Hoffnungen und Schwierigkeiten klassenübergreifender Liebesbeziehungen, aber auch klassenübergreifender Lern‑/Lehrverhältnisse, und kann damit als eine frühe Autosoziobiografie eingestuft werden. Eine Lektüre von Klassenliebe sensibilisiert für den Umstand, dass deutschsprachige autobiografische Texte, die von der Erfahrung des Klassenwechsels berichten, bereits in den 1970er Jahren eine erste Konjunktur erlebten,Footnote 76 wenn auch wahrscheinlich aus anderen Gründen als denjenigen, die den gegenwärtigen Erfolg dieses Genres bedingen.Footnote 77 Dabei ist zu beobachten, dass eine Reihe der Texte, auf die Struck verweist, für aktuelle Autosoziobiografien und die von ihnen gestiftete Intertextualität nach wie vor eine zentrale Rolle spielen.Footnote 78 Dies gilt etwa für Peter Handkes Wunschloses Unglück, Jack Londons Martin Eden oder auch für Texte von Georg Büchner, Albert Camus, Simone de Beauvoir oder Walt Whitman.Footnote 79

Das von Struck verwendete intertextuelle Verfahren macht Ulrich Breuer sehr pointiert durch seine Einordnung von Klassenliebe als »Roman der Kommunikation« sichtbar:

»Dabei würde die Gattungsbezeichnung Roman auf das Konzept des autonomen, poetischen und absoluten Textes, das Moment der Kommunikation dagegen auf die angestrebte Demokratisierung des Schreibens verweisen.«Footnote 80

Diese Bestimmung lässt sich dahingehend erweitern, dass sich die kommunikativen Funktionen vor allem auf das Anliegen richten, der sozialen Isolation zu entkommen, geht es in Klassenliebe doch um den »Zusammenschluß derer, die einmal Arbeiter waren oder aus einer Arbeiterfamilie kommen.«Footnote 81 Dieses Vorhaben verbindet sich für sie mit der Notwendigkeit, eine ›andere‹ Schreibschule jenseits kanonischer Vorbilder finden zu müssen: »Wo kann ich in die Lehre gehen, schreiben zu lernen?«Footnote 82 Letztlich erfindet Struck für und in Klassenliebe eine Darstellungsweise, die von der intra- und intertextuellen Kommunikation mit anderen Texten lebt.Footnote 83 Dafür wählt sie eben jene (zumeist nicht kanonisierten) Texte aus, die ebenfalls von einer Erfahrung des Klassenübergangs erzählen und auf dieser Grundlage gesellschaftliche Problemlagen in eine narrative Form kleiden. Damit wendet sie ein Verfahren an, das Bourdieu in Die biographische Illusion (1986) als Bruch mit der Tradition beschrieben hat, »das Leben als eine Geschichte« zu behandeln, »das heißt als kohärente Erzählung einer signifikanten und auf etwas zulaufenden Folge von Ereignissen«.Footnote 84 »Darum«, so folgert Bourdieu, »ist es nur logisch, wenn man diejenigen um Beistand bittet, die mit dieser Tradition auf eben dem Terrain zu brechen hatten, auf dem sie zu ihrer exemplarischen Vollendung kam.«Footnote 85 Eben einen solchen Beistand sucht sich Struck. Dabei geht es in Klassenliebe um die Schaffung eines Kommunikationsraums ebenso wie um die deiktische Funktion einer nicht-singulären Erfahrung.

Ein ganz ähnlicher Befund steht bei Dröscher am Ende von Zeige deine Klasse, wenn sie feststellt:

»dass die Anwesenheit in seinem sozialen Raum – also der eigene Platz in der Gesellschaft – sehr unterschiedlich gestaltet werden kann. Was es voraussetzt, ist die Verweigerung von Einsamkeit (Spinoza). Es setzt voraus, sich zu zeigen, mit anderen zu sprechen. Sich mit-zu-teilen.«Footnote 86

Hier wird nochmals die Bedeutung von Allianzen betont und auf die kommunikativ-kollektivbildende Funktion von transclasse-Erzählungen hingewiesen, die eine Auseinandersetzung mit der eigenen Klassenherkunft in Form trans- und intragenerativer Narrationen zum Gegenstand haben.Footnote 87 Für eine Klassengesellschaft in Transformation liegt aber gerade darin das gleichermaßen analytische wie politische Potenzial autosoziobiografischer Darstellungsverfahren.

VI.

literatur(wissenschaft) und soziologie. ein ausblick

Die hier diskutierte Problematisierung der Klassengesellschaft vollzieht sich trotz aller autobiografischer Bezüge im imaginären Raum von Film und Literatur. Das macht darauf aufmerksam, dass sich die Entstehung und Entwicklung von Kollektivitäten wie derjenigen der Klasse immer auch als Geschichte und Geschichten politisch relevanter Imaginationen erzählen lässt.Footnote 88 Die autosoziobiografischen Darstellungen des Klassenwechsels verdeutlichen jedoch zudem, dass der Erwerb von Privilegien auch als Erfahrung eines Verlustes erlebt werden kann. Aus dieser Erfahrung heraus kann aber zugleich der Gewinn einer politischen Perspektivierung resultieren, die in Gayatri Chakravorty Spivaks Forderung nach »unlearning one’s privilege as one’s loss«Footnote 89 prägnant zum Ausdruck kommt: Privilegien, die an eine bestimmte, oft bereits qua Geburt und Sozialisation verliehene, soziale Position gebunden sind, können den Blick auf Lebenserfahrungen und auf Formen der Bildung und des Wissens verstellen, die eben nicht mit diesem privilegierten Standpunkt einhergehen. Privilegien als Verlust einer Wahrnehmung marginalisierter Perspektiven im Sinne Spivaks aufzufassen, bedeutet, diesen eine besondere politische und gesellschaftliche Bedeutung zuzumessen und Aufmerksamkeit auf die Formen ihrer Artikulation zu richten. Genau dies leisten die diskutierten Beispiele autosoziobiografischer Filme und Texte.Footnote 90

Die Vorstellung eines linearen Lebensverlaufs bzw. das Konzept einer festen Position wird zusätzlich grundlegend hinterfragt. Nicht nur stellen die Geschichten der Klassenübergänger*innen individuelle und soziale Mobilität aus und nutzen diese Erfahrung für einen ›anderen‹ Blick auf gesellschaftliche Dynamiken.Footnote 91 Vielmehr imaginieren sie diese Geschichten, wie gezeigt wurde, in Form einer literarischen Kollektivierung, die mindestens zwei Strategien nutzt: Zum einen die Projektion individueller Lebensverläufe in das Geflecht intergenerativer Genealogien von Familien und deren Klassenhintergründen und zum anderen die Herstellung eines intertextuellen Verbundes über Generationen von Schreibenden und ihre autosoziobiografischen Darstellungen hinweg. Nicht zuletzt verfolgen die Narrationen der Klassenwechsler*innen damit das – wenn auch oft in persönlich-individueller Hinsicht als illusorisch-utopisch markierte – Ziel, zumindest in Form der erzählenden Auseinandersetzung zu einer Wiederbegegnung mit der eigenen, inzwischen fremd gewordenen, Herkunftsklasse zu gelangen. So beschreibt bereits Bourdieu in Ein soziologischer Selbstversuch angesichts der Rückkehr in sein Heimatdorf zum Zwecke ethnografischer Studien

»das völlige Eintauchen in diese Umgebung und das Glück des Wiedersehens, von dem es begleitet wird, eine Aussöhnung mit den Dingen und den Menschen, von denen ich mich unmerklich entfernt hatte und die eine ethnografische Haltung ganz natürlich zu achten verpflichtet, die Jugendfreunde, die Eltern, ihr Verhalten, ihre Gewohnheiten, ihre Aussprache. Ein ganzer Teil meiner selbst wird mir wiedergegeben, jener, durch den ich ihnen ähnlich war und der mich ihnen gleichzeitig entfremdete, weil ich ihn nur verleugnen konnte, indem ich sie verleugnete, im Banne der Scham, die ich für sie und für mich empfand – die Rückkehr zu den Ursprüngen wird begleitet von einer dennoch beherrschten Rückkehr des Verdrängten.«Footnote 92

Bezeichnend ist, dass der Ausgangspunkt für diese Form der Rückkehr ein »Klassenbild (mein eigenes)«Footnote 93 ist. Die Unterhaltung mit einem ehemaligen Klassenkameraden über diese Fotografie führt zu einer Untersuchung über das Gebot der Ehelosigkeit für Erstgeborene im Béarn.Footnote 94 Denn interessanterweise resultiert dieses Phänomen laut Bourdieu in einer umgekehrten sozialen Mobilität als der eigenen, nämlich in einer Deklassierung der Betroffenen: »Die Erstgeborenen der wohlhabenden Familien, einst eine gute ›Partie‹, wurden schlagartig in bloße Bauern verwandelt, in abstoßende und rohe Hinterwäldler […].«Footnote 95 Die Erfahrung des Klassenwechsels sensibilisiert für Prozesse sozialer Dynamiken und damit zusammenhängender Aufstiegs- und Abstiegsgeschichten – diese literaturwissenschaftlich und soziologisch zu lesen und auf ihr gesellschaftsdiagnostisches Potenzial hin zu befragen, kann angesichts der aktuellen Konjunktur von Autosoziobiografien als Aufforderung verstanden werden, die auch den Studien und Schriften Bourdieus eingeschrieben ist.

Dass im Raum von Literaturkritik und Wissenschaft im Moment vor allem diejenigen Erzählungen reüssieren, die das Narrativ der sozialen Herkunft aus der Perspektive einer erworbenen sozialen Distanz und den damit einhergehenden Privilegien – auch dem Privileg, erzählen zu können und gehört zu werden – verfolgen, bedarf jedoch noch weiterer Erörterung, die auf eine kritische Hinterfragung der öffentlichen und wissenschaftlichen Rezeption abzielt. Denn die aktuelle Diskussion kreist unter anderem maßgeblich um die (von Bourdieu vernachlässigte) Frage, warum jemand den Klassenwechsel schafft und jemand anderes, die oder der aus den gleichen Verhältnissen stammt und womöglich dieselben Talente und Kapazitäten besitzt, nicht – ohne dabei, und darauf kommt es an, psychologisierende Erklärungen gelten zu lassen.Footnote 96 Aus literaturwissenschaftlicher Sicht werden hingegen vor allem Fragen der Literarizität und Gattungszugehörigkeit autobiografischer Darstellungen weiter zu erörtern sein. So wird etwa vertiefend analysiert werden müssen, inwiefern sich die Darstellungsverfahren einer Schriftstellerin wie Annie Ernaux von denjenigen unterscheiden, die, wie bei Eribon, vom akademischen Beruf des Autors beeinflusst sind. Auch bedarf es eines Vergleichs von Texten, die dem Narrativ der Rückkehr zur sozialen Herkunft aus einer explizit autobiografischen Perspektive folgen, mit solchen Texten, die die Merkmale eines ›autobiografischen Pakts‹ nicht erfüllen, aber dennoch von der Rückkehr zur familiären, sozialen und geografischen Herkunft erzählen und ebenfalls als gegenwartsdiagnostisch aussagekräftige Texte gelesen werden. Texte wie Bjergs Roman Serpentinen, der bezeichnenderweise einen Soziologieprofessor zum Erzähler einer solchen Rückkehr zur Herkunft macht und den Bildungsaufstieg des Protagonisten als einen problematischen, wenn nicht gar als gescheiterten in Szene setzt,Footnote 97 erscheinen dabei in mancherlei Hinsicht als kritische Kommentare und literarisch-fiktionale Infragestellungen des autosoziobiografischen Genres und seines Erfolgs.Footnote 98

Insgesamt wird es im Zuge dieser Untersuchungen zu einer Aufweichung der »traditionelle[n] Arbeitsteilung zwischen einer textorientierten, hermeneutisch vorgehenden literaturwissenschaftlichen Perspektive und einer produktions- und rezeptionsorientierten soziologischen Fokussierung«Footnote 99 kommen müssen. Wenn zu beobachten ist, dass soziologische Studien auf literarische Quellen zurückgreifen und zugleich Literaturwissenschaftler*innen das Verhältnis von Textform und soziopolitischem Aussagegehalt thematisieren, so steht eine engere Zusammenarbeit zwischen Soziologie und Literaturwissenschaft zumindest zur Diskussion, wobei die Ausrichtung der Untersuchungsperspektiven noch genauer zu bestimmen wäre. Das Verhältnis von Fiktion respektive Fiktionalität und gesellschaftlicher Realität/Gegenwart muss dabei erneut für eine transdisziplinäre Befragung geöffnet werden. Es steht zu vermuten, dass nicht zuletzt ein auch den wissenschaftlichen Disziplinen selbst inhärenter Klassismus, der die Bewertung autosoziobiografischer Darstellungen und soziologischer Romane durch Literaturwissenschaft und Soziologie implizit bewegt, zutage treten könnte. Womöglich liegt in dessen Bearbeitung die eigentliche und größte wissenschaftshistorische und -soziologische Herausforderung.