I.

In der Fachgeschichte der Literaturwissenschaft spielt der Neukantianismus keine Rolle. Anders als die philosophischen Ästhetiken Kants, Hegels, Schopenhauers oder das philosophisch-ästhetische Furioso Nietzsches hat er keine Spuren in der Konstitution literaturwissenschaftlicher Fragestellungen und Methodenreflexionen hinterlassen. Selbst die nach wie vor randständigen einfühlungsästhetischen und experimentalpsychologischen Positionen, die sich an den zentralen Entwicklungslinien des 19. Jahrhunderts vorbei zur Geltung gebracht haben, sind im gegenwärtigen Wissenschaftsbewusstsein der Literaturwissenschaft präsenter als die Autoren des Neukantianismus.Footnote 1 Daran haben weder die breite Erforschung der literaturwissenschaftlichen Fachgeschichte noch die Kulturalisierung historischer Wissenszusammenhänge etwas geändert. Auch die ausgeprägten geltungs- und werttheoretischen Implikationen des Neukantianismus wie seine Selbstverpflichtung auf einen philosophischen Rationalitätstyp, der Aussagen szientifisch fundiert und Fragen der semantisch-propositionalen Kohärenz gesonderte Aufmerksamkeit schenkt, haben der Literaturwissenschaft keine Impulse gegeben. Das ist umso verwunderlicher, als die (germanistische) Literaturwissenschaft von Beginn an eine »paradigmenlose«Footnote 2 Wissenschaft gewesen ist, die in dem Maße auf die Zufuhr von methodologischen und theoretischen Rahmenkonzeptionen verwiesen ist, wie sie jenseits ihrer historisch-philologischen Herkunftspraktiken selbst über keine entsprechenden Grundlagen verfügt.

Der skizzierte Befund muss allerdings mit Blick auf zwei Konstellationen relativiert werden. Zum einen steht Georg Lukács’ Heidelberger Frühwerk in den Jahren 1912 bis 1919 unter dem Einfluss des Neukantianismus. Das in diese Zeit fallende ›Dostojewski-Projekt‹ stellt den Versuch dar, Kunst, philosophische Ästhetik, Ethik und Lebenswelt in einer von Dostojewski angeregten essayistischen Darstellungsweise zu verbinden, sodass die unterschiedlichen Bedeutungswelten zwar streng formal getrennt werden, aber darstellungstechnisch in Beziehung zueinander treten.Footnote 3 Zum anderen hat sich Heinrich Rickert mit seiner 1899 erschienenen Schrift Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft neben Georg Simmel, Walter Benjamin oder Ernst Cassirer als Kronzeuge einer ersten Kulturwissenschaft erwiesen, die für die Kulturalisierung angestammter literaturwissenschaftlicher und philologischer Fragestellungen von überraschender Relevanz gewesen ist und einen entsprechenden kulturwissenschaftlichen Reformeifer mit erzeugt hat.Footnote 4

Die genannten Konstellationen sind allerdings kaum ausreichend, um von ihnen auf ein mehr als nur episodisches Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Neukantianismus zu schließen. Auffällig aber ist immerhin, dass beide Konstellationen ihren Rückhalt im südwestdeutschen Neukantianismus finden, also in den wertphilosophischen Konzeptionen Wilhelm Windelbands und Heinrich Rickerts, die – zumindest im Falle Rickerts – kulturwissenschaftliche und kulturtheoretische Implikationen einschließen. Demgegenüber scheint der Marburger Neukantianismus noch ungleich weniger Affinitäten zu ästhetischen Fragestellungen zu besitzen. Seine szientifisch-logizistische Prägung – man denke an Paul Natorp – scheint ein derartiges Verhältnis ebenso verhindert zu haben wie die programmatische Eigengesetzlichkeit des philosophischen Denkens, die im Rückgang auf Kants Erkenntniskritik und in Absetzung von der Philosophie des Idealismus einen grundsätzlichen Verdacht gegen das Ästhetische kultiviert hat. Überhaupt war die sehr spezifische Traditionspflege des Marburger Neukantianismus auf eine konzeptuelle Reinheit bedacht, die das eigene Denken strikt auf die Grenzen der Philosophie und ihrer Geschichte verpflichtet sieht.Footnote 5 Es ist kein Zufall, dass die methodologischen Ursprünge der philosophischen Problemgeschichte im Neukantianismus, bei Wilhelm Windelband und Nicolai Hartmann, zu finden sind.Footnote 6 Ihrer ursprünglichen, gleichermaßen gegen Positivismus und Historismus gerichteten Intention gemäß, der Philosophie ihre »Geschichte als ihr eigenes und wesentliches Thema«Footnote 7 wiederzugeben, richtet sich ihr Blick auf eine gewissermaßen ›reine‹ Problemevolution.

Allerdings gibt es für das Nicht-Verhältnis von Neukantianismus und Literaturwissenschaft auch einen strukturierten Grund. Er liegt in den theoriegeschichtlichen Grundlagen beschlossen, aus denen der Marburger Neukantianismus heraus erst wurde, was er ist. Tatsächlich vollzieht sich die intellektuelle und philosophische Sozialisation seines Gründers und prominentesten Vertreters Hermann Cohen nicht im Zeichen Kants, sondern im Zeichen Johann Friedrich Herbarts. Cohens theoretische Referenz ist Mitte der 1860er Jahre die Philosophie Herbarts, wie sie sich Cohen in Gestalt der Völkerpsychologie von Moritz Lazarus und Heymann Steinthal vermittelte. Bekanntlich ist die Völkerpsychologie nicht nur tief in der herbartianischen Philosophie und Psychologie verankert, auch Lazarus’ völkerpsychologische Schlüsselkategorie der »Verdichtung« stellt lediglich eine Überarbeitung des herbartschen Apperzeptionsbegriffs dar.Footnote 8 Auf den ersten Blick gerät Cohen damit in ein unorthodoxes Licht. Spätestens seit der Publikation seines frühen philosophischen Hauptwerks Kants Theorie der Erfahrung von 1876 gilt er als Begründer der Marburger Schule.Footnote 9 In Marburg hat Cohen seit seiner 1873 erfolgten Habilitation ganze 39 Jahre zugebracht, nachdem er 1876 die Lehrstuhl-Nachfolge seines Förderers Friedrich Albert Lange, Verfasser einer zweibändigen Geschichte des Materialismus, die schon 1866 eine Rückkehr zu Kant nahelegtFootnote 10, angetreten hatte. 1912 wurde Cohen emeritiert, da war der Neukantianismus seit gut vier Jahrzehnten nicht nur eine etablierte begriffliche Prägung, sondern ein deutlich wahrnehmbarer Schulzusammenhang mit einem gewissen Institutionalisierungsgrad. Zudem hatte er das Denken zahlreicher in Marburg ausgebildeter Philosophen, darunter Nicolai Hartmann, Paul Natorp und Karl Vorländer, geprägt. Noch Ernst Cassirer war dem Marburger Neukantianismus Cohens eng verbunden; 1899 promovierte er bei Hermann Cohen und Paul Natorp über Descartes’ Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis.Footnote 11

1865 hatte Cohen nach seinem Studium von Philosophie und Philologie in Breslau (1861–1864) und Berlin (1864/65) und nach seiner Promotion in Halle mit einer lateinischsprachigen Dissertation über Kontingenz und Notwendigkeit in der Philosophie der VorsokratikerFootnote 12 Zugang zum Berliner Kreis um Lazarus und Steinthal gefunden.Footnote 13 Die Nähe zumal zum Linguisten Steinthal resultiert aus den strikt völkerpsychologischen Fundamenten von Cohens Dissertation, die die Entwicklung des philosophischen Denkens aus den Mechanismen der Psyche zu erklären versucht. Steinthal vermittelte Cohen unter dem Eindruck der Dissertation eine Publikationsmöglichkeit in der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, die seit 1860 in Berlin erschien. Zwischen 1866 und 1869 publizierte Cohen drei umfangreiche und ambitionierte Aufsätze zu Platons Ideenlehre, zur Entstehung mythischer Vorstellungen und zur dichterischen Phantasie, die durch gemeinsame Denkfiguren miteinander verbunden und daher tendenziell im Zusammenhang zu lesen sind.Footnote 14 Allerdings war Cohens von enger Übereinkunft geprägte Tätigkeit für Lazarus’ und Steinthals Zeitschrift 1869 auch schon wieder beendet. Auf Cohens letzten Aufsatz über Die dichterische Phantasie und den Mechanismus des Bewußtseins hatte Steinthal 1869 im Rahmen eines umfänglichen Aufsatzes über Poesie und Prosa unter dem Ton freundschaftlicher Sympathie eine recht indignierte und sachlich verständnislose Replik verfasst, die Cohen – dem »jungen Freund« – die »Verschiedenheit unserer Ansichten« vor Augen führte und an entscheidenden Stellen widersprach.Footnote 15 Zudem hatte Cohen im selben Jahr intensiv Kant gelesen und ein Jahr später in der zwischen Friedrich Adolf Trendelenburg und Kuno Fischer ausgetragenen Debatte, die sich um das richtige Verständnis von Kants transzendentaler Ästhetik rankte, Stellung für seinen Berliner Förderer Trendelenburg bezogen. Zwar ist Cohen seinen völkerpsychologischen Anfängen auch hier noch erkennbar verpflichtet, wenn er Fischer die »sorgsame Anwendung einer wohlbegründeten psychologischen Methode«Footnote 16 nahelegt, aber Cohens Weg führt nach 1871 von der Völkerpsychologie und ihren herbartianischen Grundlagen weg. An die Stelle der Psychologie tritt, vereinfacht gesagt, die Erkenntnistheorie, wie sie in Cohens bereits erwähnter Frühschrift über Kants Theorie der Erfahrung thematisch und konsequent zu einem Plädoyer für Kants Erkenntniskritik ausgebaut worden war. Die logisch-szientifische Prägung der Marburger Schule hat hier einen ihrer Rückhalte.

Cohens frühes völkerpsychologisches Intermezzo ist der Forschung, zumal seit dem wieder belebten Interesse an der Entstehung und Institutionalisierung des NeukantianismusFootnote 17, nicht entgangen. Allerdings hat die analytisch noch weitgehend unerschlossene Traditionspflege, mit der der Marburger Neukantianismus seine Entstehungsvoraussetzungen reflektiert hat, wenig Aufmerksamkeit für Cohens Frühschriften besessen. Unter dem Gewicht seiner ›eigentlichen‹ Philosophie sind Cohens völkerpsychologisch-herbartianische Anfänge tendenziell unsichtbar geworden.Footnote 18 Auch wenn es 1924 noch eine Erinnerung an das sachlich einmal eng geknüpfte Verhältnis zwischen Cohen und seinem völkerpsychologischen Mentor Steinthal gibtFootnote 19, ist Cohens früher Herbartianismus fast vollständig aus der offiziellen Erinnerungskultur nicht nur der neukantianischen Philosophiegeschichte verschwunden. Wo er noch eine Rolle spielt, ist er Teil der jüdischen Intellektuellen- und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, vor allem aber Beleg für eine ›Wende‹, die eine eigenständige jüdische Bildungsmorphologie im Zeichen der ›jüdischen‹ Völkerpsychologie in dem Moment beendet, in dem Cohen Anschluss an die Wiederentdeckung Kants findet und damit zudem Exponent gelingender Akkulturationsbemühungen wird.Footnote 20 Es bedarf nur einer geringfügigen Verschiebung der Perspektive, um im selben Sachverhalt einen »typischen«Footnote 21 Entwicklungsgang zu sehen, der Cohens frühe völkerpsychologische Publikationen davon entlastet, als eigenständige Theoriebemühung gelesen werden zu müssen, da in ihnen nur eine generationelle und später notwendig in den Neukantianismus führende intellektuelle Konstellation zum Ausdruck kommt. Auch die Möglichkeit, Cohens Aufnahme des Lazarus’schen Verdichtungsbegriffs als Interesse an der »kulturellen Prägung aller Erkenntnis« (76) in Kontinuität mit späteren Kulturphilosophien zu deuten, die wie bei Simmel oder Cassirer die kulturale Seinsweise des Menschen betonen, ändert hieran nichts. Selbst wenn man Cohens völkerpsychologische Schriften nicht vorschnell in die Vorgeschichte des späteren Neukantianismus verbannt, sondern gerade als dessen Vorprägungen deutet, bleiben die Befunde recht unspezifisch. Das betrifft gewisse Denkmotive, die in Cohens Publikationen vor der ›Wende‹ von 1870 ebenso nachweisbar sind wie in den neukantianischen Schriften ab 1871; dazu zählt die Konstruktion Platons als antikem Ahnherr des naturwissenschaftlichen Denkens, die Hochschätzung des jüdischen Monotheismus, eine Tendenz zur heroisierenden Philosophiegeschichtsschreibung, die bereits Cohens ersten Platon-Aufsatz prägt, oder die Bedeutung der Psychologie, die Cohen noch nach 1870 vor allem gegen Friedrich Albert Lange verteidigt.Footnote 22 Ebenfalls unspezifisch ist der Nachweis, dass Kants Philosophie für Cohen auch schon vor 1870 eine »Schlüsselrolle« besessen hat.Footnote 23 Das Argument lebt davon, dass Kant für einen akademischen Philosophen nach 1860 bildungsmorphologisch unerlässlich ist. Dass sich Cohen nach 1870 von seinen herbartianisch-völkerpsychologischen Anfängen nicht explizit distanziert und 1916 durchaus affirmativ auf gewisse Gedanken seiner Frühschriften Bezug nimmt,Footnote 24 ist zutreffend, verführt allerdings dazu, sie im Licht der späteren Kant-Interpretationen Cohens zu lesen und ihre noch ganz anders gelagerte theoretische Position im Dunkeln zu lassen.

Unter den drei Publikationen, die zwischen 1866 und 1869 in der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft erscheinen, ist der Aufsatz über Die dichterische Phantasie und den Mechanismus des Bewußtseins ersichtlich der ambitionierteste und zugleich überraschendste. Nicht nur hebt er sich in seinem frühreifen Ehrgeiz, eingespielte wissenschaftliche Anschauungen als vor-wissenschaftlich zu entlarven, aus den sonstigen frühen Überlegungen Cohens deutlich heraus. Vor allem stellt der 90 Druckseiten umfassende Text den Versuch dar, eine Theorie der »Poesie« und der »Dichtung«Footnote 25 zu entwerfen, die ihrem Gegenstand allererst den Weg ins wissenschaftliche Zeitalter bahnt. In einer bislang unerschlossenen Weise ist Cohens Aufsatz über Die dichterische Phantasie und den Mechanismus des Bewußtseins ein Grundlagentext der Literaturwissenschaft. Dies ist er zumal, als er in methodologischer und theoretischer Hinsicht einen anderen Weg geht, als er aus den Institutionalisierungsprozessen, Forschungsprogrammen und philologischen Praktiken der Germanistik im 19. Jahrhundert vertraut ist.Footnote 26

II.

Man muss zur Bestätigung der These den Kontext berücksichtigen, in dem Cohens Aufsatz 1869 steht. 1866, dem Jahr von Cohens erster völkerpsychologischer Publikation, hatte Steinthal im Editorial des vierten Heftes der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft eine überraschende Wendung der Völkerpsychologie in die Wissenschaftsgeschichte angeregt und Beiträge eingefordert, die sich mit den »allgemeinen Gesetzen der Bildungsgeschichte der Wissenschaft«Footnote 27 beschäftigen. Wie überraschend dieses Projekt einer »Geschichte der Wissenschaft« ist, ist in Steinthals Sorge zu spüren, dass Sache und Begriff dieser noch zu schreibenden Geschichte dem »Leser« der Zeitschrift möglicherweise »völlig fremd klingen« (133). Diese »Fremdheit« versucht Steinthal mit dem objektiven Gang der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert zu entkräften, in denen sich der »neue wissenschaftliche Geist […] am entschiedensten und in entwickeltester Gestalt« (ebd.) niedergeschlagen habe. Demgegenüber befinden sich die »historischen Wissenschaften« (ebd.) in einer gewissen Verspätung, weil sie »diesen Geist« allererst auf sich zu übertragen haben. Diese Übertragung setze zweierlei voraus: zum einen »eine ausgedehnte Bekanntschaft und Vertrautheit mit den Thatsachen und Gesetzen der einzelnen naturwissenschaftlichen Disciplinen« (ebd.), zum anderen eine »möglich tiefste Einsicht in die Methode« und »Denkweise der Naturforschung« (ebd.). Entsprechend wird das vierte Heft der Zeitschrift mit einem Beitrag Emil Wohlwills über Die Entdeckung des Isomorphismus eröffnet. Der Text stellt eine »Studie zur Geschichte der Chemie«Footnote 28 dar und soll künftigen Beiträgen als Muster für entsprechende Studien aus dem Feld der »historischen Wissenschaften«Footnote 29 dienen. Aufschlussreicherweise ist es Steinthal selbst, der dieser Anregung folgt. Sein Editorial verspricht den Versuch, »einige Analogieen zu der dargelegten Entwicklung aus der Geschichte der Sprachwissenschaft aufzusuchen« (134), um damit »Andere« zu ermuntern, »aus der Geschichte ihrer Wissenschaft ebenfalls Analogieen [zu] suchen« (ebd.). »Dies«, so Steinthal, »dürfte wohl der Weg sein, auf dem wir hoffen dürfen allgemeine Gesetze der Bildungsgeschichte der Wissenschaft zu finden« (ebd.).

Cohen hat diese Bemühungen um die Wissenschaftsgeschichte unverzüglich aufgenommen und sich dabei auf das völkerpsychologische Schlüsselkonzept der »Verdichtung« bezogen. Der Begriff lag spätestens seit Beginn der 1860er Jahre bereitFootnote 30 und nutzte Herbarts Argument, dass die »Empirische Psychologie […] von der Geschichte des Menschengeschlechtes gar nicht getrennt werden [darf]«Footnote 31 und die »Psychologie immer einseitig [bleibt], so lange sie den Menschen als alleinstehend betrachtet«Footnote 32, dazu, den individualpsychologischen Apperzeptionsbegriff seiner Psychologie auf kulturelle Sachverhalte auszudehnen. Unter »Verdichtung« bzw., wie die Analogie zur herbartschen Psychologie heißt: »Verdichtung der Vorstellungen«Footnote 33, ist ein die gesamte menschliche Kulturgeschichte durchziehender, sozialpsychologischer Prozess zu verstehen, »in dem Begriffe und Begriffsreihen, welche in früheren Zeiten von den begabtesten Geistern entdeckt, von wenigen kaum erfaßt und verstanden, doch allmählich zum ganz gewöhnlichen Gemeingut ganzer Classen, ja der gesammten Masse des Volkes werden können« (ebd.). Verdichtung ist, vereinfacht gesagt, die herbartsche Apperzeption als Entwicklungsgesetz der Kultur. So wie sich im Individualbewusstsein fortwährend neue Vorstellungen mit den apriorischen, d. h. bereits gegebenen Vorstellungen zu »Complexionen« bzw. »Verschmelzungen«Footnote 34 verbinden, so erscheint in der »Entwicklung des Geistes«Footnote 35 insofern »die frühere Arbeit in der gegenwärtigen verwerthet« (30), als die verdichteten und »geläufig gemachten« (ebd.) »Begriffsmassen« (29) die Bedingung für die Aufnahme neuer »Begriffsmassen« darstellen. Cohens Überlegungen über Die dichterische Phantasie und den Mechanismus des Bewußtseins ruhen auf dieser Verbindung von herbartschem Apperzeptions- und völkerpsychologischen Verdichtungsbegriff, suchen aber bezeichnenderweise den Anschluss an die apperzeptionstheoretischen Grundlagen der herbartianischen Psychologie.Footnote 36 Ausdrücklich heißt es, dass die einzige »Antwort«Footnote 37 auf alle gestellten Fragen die »Apperception« (ebd.) ist. Sie stellt jenes »psychologische Gesetz« dar, »das für alle Vorstellungen gelten muss« (ebd.). Noch 1885, in der zweiten Auflage seiner initialen neukantianischen Schrift über Kants Theorie der Erfahrung, hatte Cohen die »Herbartsche Theorie der Ableitung der psychischen Erscheinungen aus den Vorstellungen« als »die größte That der Psychologie, nach der Kant’schen Entdeckung der transcendentalen Aesthetik«Footnote 38, bezeichnet.

Cohens bekennender Herbartianismus des Jahres 1869 macht nicht nur deutlich, dass die Frage, ob Cohens frühe völkerpsychologische Schriften in der Kontinuität mit dem späteren Neukantianismus Marburger Provenienz stehen, deren theoriegeschichtliches Fundament verfehlt. Cohens theoretische Referenz ist bis zu Beginn der 1870er Jahre, wie erwähnt, Herbart. Neben expliziten Bezugnahmen auf HerbartFootnote 39 finden sich zahlreiche nicht ausgewiesene, im Kontext der Völkerpsychologie aber eindeutig zu identifizierende Herbart-Referenzen; das betrifft das Verhältnis von Hemmung und »Verschmelzung«Footnote 40, die Gesetze der »Apperception« (200 f.), das Verhältnis von »Apperception« und »Complication« (213), den Mechanismus der »Strebung« (216), die Lehre von der »Schwelle des Bewußtseins« (226) und Herbarts grundlegende Ansicht, dass Vorstellungen »niemals das Resultat einer einfachen Erregung« sind, sondern »allein durch die Verbindung mehrerer Empfindungen entstehen« (222).

III.

Herbarts Psychologie stellt in der um 1800 noch jungen Geschichte der Disziplin einen Neuansatz dar. Das betrifft in der Hauptsache die Distanz zur traditionellen Vermögenspsychologie. In ihren Grundlagen auf Aristoteles zurückgehend, hatte die philosophische und anthropologische Tradition die Seele lange Zeit als Summe eigenständiger ›Vermögen‹ gedacht, die als Substanzen bzw. angeborene seelische Fähigkeiten (facultas) einer zielgerichteten Verwirklichung (potentia) entgegenstreben.Footnote 41 Noch das Kantische Erkenntnissystem ruht in seinen Grundlagen auf den Vermögen des Denkens, Wollens und Fühlens, wie sie sich nach unterschiedlichen Systematisierungen durch Wolff, Baumgarten, Sulzer und Mendelssohn herausgebildet hatten.Footnote 42 Herbarts Kritik betrifft den Umstand, dass die Vermögenspsychologie obere und untere Seelenteile unterscheidet; darin ist sie noch ganz dem alteuropäischen Denken in hierarchischen Substanzen verpflichtet, ohne dass der dynamische Zusammenhang dieser Substanzen beschreibbar wäre. Dies gelingt Herbart zufolge nur im Kontext einer nicht mehr substanzialistischen Psychologie, die das Denken, Fühlen und Wollen als unterschiedliche, ihrer Herkunft nach aber strukturell gleichartige Momente der Vorstellungsaktivität fasst. Insofern trennt sich die herbartianische Psychologie auch von den transzendentalphilosophischen Prämissen Kants, bleibt aber der durch Kant aufgegebenen Problemstellung, wie die Einheit des Bewusstseins zu denken ist, verbunden. In dieser Trennungsbewegung, die Kant auf verwinkelte Weise beerbt und erst mit Hermann von Helmholtz und Wilhelm Wundt zu einem vorläufigen Abschluss gelangt, liegen die Fundamente einer ausschließlich psychologisch begründeten Psychologie. Bekanntlich hatte Kant noch eine Verschränkung von Seelenlehre und Transzendentalphilosophie betrieben und auf diesem Weg eine jeder Erkenntnis vorausliegende, epistemologische Letztbegründung behauptet, die in den apriorischen Strukturen der ›reinen‹ Vernunft und ihrer Kategorien verankert ist. Einheit, Synthese, Ordnung des Mannigfaltigen in der Seele leistet der Verstand in einem spontanen Akt, weil die Sinne selbst zu keiner Synthese finden und beziehungslos bleiben. Während das »empirische Bewußtsein«, so Kant, an »sich zerstreut und ohne die Beziehung auf die Identität des Subjekts« bleibt, leistet die ›reine‹ Apperzeption jene »transzendentale Einheit […], durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt wird«.Footnote 43

Herbarts Vorbehalte treffen diese Voraussetzungen in zwei Hinsichten. Zum einen betont Herbart die immanente Dynamik des seelischen Geschehens. Seine Prozessualität verweist darauf, dass ihm Zeit nicht als defizienter Modus gegenübersteht. Vielmehr sind die Strukturen und Prozesse des Seelenlebens selbst konstitutiv zeitlich. In seinem 1816 erschienenen Lehrbuch zur Psychologie hatte Herbart im Rahmen eines neuartigen psychogenetischen Ansatzes gefordert, dass die Psychologie ihr »Augenmerk« auf ein »zeitliches Geschehen«Footnote 44, d. h. auf »die wechselnden Zustände« des Seelischen zu richten habe, weil nur »[d]iese (nicht aber jene Vermögen) […] unmittelbar [erfahren]« (302) werden. Zum anderen richtet sich Herbarts Interesse auf die Grundelemente des Seelischen – die Vorstellungen und ihre Zustände –, deren Analyse die vermögenspsychologischen Begriffe bislang verstellt hatten. Auch in dieser Hinsicht markiert Herbarts ›aktualistischer‹ Seelenbegriff einen Neubeginn, weil er es gestattet, dem beständigen Fluss von psychischen Grundelementen auf der Spur zu sein, die sich immer nur situativ zu komplexen seelischen Gebilden verbinden. Ihre Synthese erfolgt nicht mehr unter Bezug auf die a priori gegebenen Garantien der transzendentalen Einheitsform, sondern nur mehr mit den Mitteln einer von Vorstellung zu Vorstellung voranschreitenden Aktualität. Wenn es in Herbarts Psychologie noch eine Größe von transzendentalem Rang gibt, dann liegt sie in der Prozessualität des seelischen Lebens, d. h. in einer auf tautologische Weise in sich selbst eingeschlossenen Transzendentalität.

Es gehört zu den Schwierigkeiten einer im beschriebenen Sinne aktualistischen Psychologie wie der Herbarts, dass sie ausgerechnet auf einen eigentümlich unbewegten Seelenbegriff gegründet wird. Während Herbart das ›Ich‹ als raum-zeitliche, der Entwicklung unterliegende Realität denkt, konzipiert er die Seele analog zum leibnizschen Monadenbegriff als »Reale«Footnote 45. Demzufolge ist die Seele eine ausdehnungslose, unveränderliche und von Raumbestimmungen freie Substanz. Ihre einzige ›Tendenz‹ besteht in ihrer Selbsterhaltung, die aber ohne Tendenz, d. h. ohne Zustandsveränderung ist. Dynamisiert wird diese unbewegte Realität durch sinnesreizbasierte Wahrnehmungen, die gegensätzliche Kräfte freisetzen und als Entgegensetzungen erfahren werden. Insofern setzt Herbart seinen aktualistischen Seelenbegriff der Psychologie nicht axiomatisch voraus. Ihr Aktualismus resultiert vielmehr aus den zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen Vorstellungen, die sich, an sich ohne Richtungsimpuls und inaktiv, affizieren und als Kräfte in ein relationales Verhältnis zueinander setzen. »Vorstellungen werden Kräfte, indem sie einander widerstehen. Dieses geschieht, wenn ihrer mehrere entgegengesetzte zusammentreffen.«Footnote 46 Auf der Grundlage eines Kontinuums zu- und abnehmender Intensitäten treten die Vorstellungen zu einem bestimmten Zeitpunkt in einen partiellen oder vollständigen Widerstreit ein, sodass die Zustände des Bewusstseins immer neue und andere Kräftekonstellationen bilden. Das »Bewußtseyn«, so Herbart, ist die »Gesammtheit des jedesmal gleichzeitig zusammentreffenden VorstellensFootnote 47 Damit besitzen die Vorstellungen nicht an sich eine Bestimmtheit als widerstreitende Intensitäten, wie auch die Gegensätzlichkeit der Vorstellungen kein natürliches Prädikat dieser Vorstellungen selbst ist; vielmehr ist beides nur das Produkt einer differenziellen Bezüglichkeit, die die Vorstellungen in ein zeitpunktbezogenes Verhältnis zueinander setzt:

»Daß unter mehrern, einander entgegengesetzten Vorstellungen die Hemmung gegenseitig seyn, folglich die Objecte sämmtlich in gewissem Grade verdunkelt, und die Thätigkeiten des Vorstellens in eben dem Grade in Strebungen verwandelt werden müssen: dies leuchtet so unmittelbar ein, daß der Beweis überflüssig seyn würde. […] Dieser Gegensatz ist […] kein Prädicat weder der einen noch der andern, einzeln genommen; sondern eine formale Bestimmung, welche nur in Beziehung auf beyde zusammen genommen, Sinn und Bedeutung hat« (277 f.; m. Hervorh.).

Das gesamte Aktualitätsgeschehen des seelischen Lebens beruht auf dem wichtigsten Theorieelement der herbartianischen Psychologie, den Prozessen und Gesetzen der »Apperzeption«Footnote 48. Unter Apperzeption ist der Umstand zu verstehen, dass sich das Bewusstsein immer in einer konstitutiven Achronie befindet, weil in ihm von Zeitstelle zu Zeitstelle zugleich aktuelle, inaktuell werdende und inaktuell gewordene, aber in das Bewusstsein zurückdrängende Vorstellungen und »Complexionen« von Vorstellungen gegeben sind.Footnote 49 Insofern ist die Apperzeption diejenige Modalität, in der das Bewusstsein seine Einheit findet: nicht als apriorische Einheit des transzendentalen BewusstseinsFootnote 50, sondern nur als von Moment zu Moment voranschreitende Synthese von aktuellen und älteren, apriorischen und aposteriorischen Vorstellungen, die nach bestimmten und berechenbaren »Hemmungssummen« und »Hemmungsverhältnissen«Footnote 51 zeitpunktbezogene Verhältnisse eingehen:

»Es lässt sich […] erkennen, daß, nachdem eine beträchtliche Menge von Vorstellungen in allerlei Verbindungen vorhanden ist, jede neue Wahrnehmung als ein Reiz wirken muss, durch den einiges gehemmt, anderes hervorgerufen und verstärkt, ablaufende Reihen gestört oder in Bewegung gesetzt, und diese oder jene Gemüthszustände veranlasst werden. […] Dabei wird die neue Wahrnehmung den älteren Vorstellungen angeeignet, und zwar auf eine Weise, wobei sie, nachdem der erste Reiz gewirkt hat was er konnte, sich ziemlich leidend verhalten muss, weil die älteren Vorstellungen schon wegen ihrer Verbindungen unter einander bei weitem stärker sind, als die einzelne, die eben hinzukommt.«Footnote 52 »Die appercipirende Vorstellungsmasse kann nicht aus neuen, noch in wenigen Verbindungen befindlichen Vorstellungen bestehn; nur in den vielfach zusammengeflossenen und durch einander verstärkten Totalkräften wird man sie suchen dürfen.«Footnote 53

Es wäre zu einfach, Bestimmungen dieser Art nur als Beitrag zur Konsolidierung einer Disziplin zu verstehen, die sich aus der langwährenden Umarmung durch die Philosophie befreit und bei Herbart in den Rang einer eigenständigen Wissenschaft erhoben wird. Die spätere Fachgeschichtsschreibung der Psychologie wird Herbart aus diesem Grund als Gründerfigur institutionalisieren.Footnote 54 Dennoch muss man die zitierten Formulierungen auf ein größer dimensioniertes Problem beziehen. Spätestens mit dem Brüchigwerden der transzendentalen Einheitskategorien Kants war der menschliche Weltzugang und die Frage, wie die Einheit des Bewusstseins nach Kant zu denken ist, zu einem prekären erkenntnistheoretischen Problem geworden. Insofern steht Herbarts Psychologie im Kontext einer weitreichenden anthropologischen und epistemologischen Transformation, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und zugespitzt im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts das erkenntnistheoretische Risiko auf sich nimmt, das Weltverhältnis des Menschen fortan in arbiträren, indirekten, nicht analogischen, jedenfalls im weitesten Sinne intermittierenden Zugangsbedingungen zu fundieren. Spätestens mit Herbart sind alle Vorstellungen lediglich Zeichen, innerpsychische »Bilder« für »Vorgestelltes«Footnote 55, Umwandlungsgrößen gewissermaßen, die die realen Phänomene in die Aktivität innerer Zustände ›umrechnen‹. Sie bilden wechselnde Bedingungen für die Auffassung der realen Phänomene, aber weder ist eine materiale Analogie zwischen Innen und Außen zu denken, noch ein Abbildungsverhältnis, das die Realität nach dem Muster einer analogischen Reproduktion in der Seele zur Darstellung bringt. Es gibt bei Herbart keine Übertragungskausalität, die auf einem isomorphen Verhältnis von Repräsentierendem und Repräsentiertem, von Innen und Außen beruhte. In einer Serie von Verschiebungen, die von Modellen analogischer Repräsentation und ikonisch gesicherter Abbildlichkeit über eine wachsende Internalisierung ›mechanisch‹-psychischer Vergegenwärtigung bis hin zur radikalen Arbitrarisierung nurmehr zeichenhafter Weltkontakte führt, stellt sich die Frage nach dem Weltverhältnis des Menschen damit neu und anders als zuvor.Footnote 56 Herbarts Apperzeptionsbegriff trägt diese Last, insofern Weltsachverhalte unter Bezug auf apriorische Vorstellungen, die im Bewusstsein bereits gegeben sind, als aposteriorische Vorstellungen eingefügt und damit prinzipiell ›erkannt‹ werden können. Mag jede Vorstellung nur ein repräsentationales »Bild« der äußeren Sachverhalte sein, und mag jede neue Vorstellung auch neu sein, sie trifft auf einen Kontext apriorischer (früherer) Vorstellungen, die die neuen Vorstellungsmassen insofern integrieren, als sich ihre Vorstellungsmerkmale ähnlich zu denen der apriorischen Vorstellungsmerkmale verhalten. Dass die Welt dem Bewusstsein fremd werden könnte, wie es die Zeit um 1900 fürchtet, schließt die Herbart’sche Apperzeption aus.

IV.

Cohens Bezugnahmen auf Herbart sind von diesen epistemologischen Erwägungen unberührt. Sie rechtfertigen sich allein durch das theoretische Interesse, das Cohen in seinen Überlegungen zur »dichterischen Phantasie«Footnote 57 verfolgt. Es geht ihm, wie der Titel des Textes in seiner uneindeutigen konjunktionalen Fügung nicht hinreichend expliziert, gerade nicht um das komplementäre Verhältnis von »dichterischer Phantasie« und dem »Mechanismus des Bewußtseins«, sondern um die Substitution der »dichterischen Phantasie« durch das »allgemeine psychologische Gesetz« der »Apperception« (201). Man darf an dieser Stelle die erhebliche polemische Energie des Textes nicht übersehen. Zwar zielt er auf eine psychologische Begründung der Poesie als wissenschaftlichem Gegenstand, aber der studierte Philologe Cohen betreibt nicht zuletzt eine scharf gerandete Diskurskritik der Philologie. Sie erscheint ihm in dem Maße, wie sie in Kategorien wie »Phantasie« und »Schöpfung« den »Ursprung« der »Poesie« (173) zu erfassen glaubt, als Ausdruck reiner »mythischer Naivetät« (ebd.). Wenn Steinthal im zitierten Editorial eine Wendung in die »Geschichte der Wissenschaft« und eine »tiefste Einsicht in die Methode« der unterschiedlichen wissenschaftlichen »Disciplinen«Footnote 58 postuliert hatte, dann verknüpft Cohen im Blick auf die Philologie zwei theoretische Impulse des entsprechenden Forschungsprogramms miteinander. Zum einen vergrößert sich die geforderte »tiefste Einsicht in die Methode« (ebd.) der Philologie zu einer grundlagentheoretischen Kritik ihrer angestammten methodologischen und begrifflichen Instrumentarien, indem sie die logischen und formalen Bedingungen ihrer Begründung transparent macht. Zum anderen verlässt Cohen den engeren Bereich einer Wissenschaftsgeschichte der Philologie, um an die Stelle ihrer »mythischen Naivetät« eine dem »gebildeten Geist«Footnote 59 der Moderne adäquate Theoriestruktur zu setzen. Cohens Kritik der »dichterischen Phantasie« und der »Schöpfung« stellt die Neubegründung der Philologie als Literaturwissenschaft dar. Sie erfolgt bezeichnenderweise unter Bezug auf die »inhaltigen« und die »formalen« (225) Elemente der Poesie.

Tatsächlich erscheint die Philologie dem programmatisch modernen Bewusstsein Cohens als Gegenwelt, die nicht nur inadäquate Begriffe zur Konstitution ihres Gegenstandes in Umlauf gebracht hat, sondern die zudem für die tropischen Verfahren blind ist, denen sich ihre Begriffe verdanken. Im Kern handelt es sich bei den Instrumentarien der Philologie um eine mythische Sprache der »Vertretungen und Verhüllungen« (173), die ihre eigentlichen Begriffe und Verfahren »dunkel« werden lässt. »Die Frage nach dem Ursprung der Poesie«, so Cohen,

»gehört zu den anziehendsten im Bereiche der Culturgeschichte, aber, wie jede Frage nach dem Ursprung, zu den schwierigsten. Die Keime der dichtenden Production, die Anfänge der dichterischen Form der Vorstellungen sind, wie alle Elementarbildungen, schwer aufzufinden, schwer als solche zu erkennen; und wer einmal auf den Proceß der Zerlegung eingegangen ist, der wird schwerlich bei irgend welchen einfachen Formen stehen bleiben. […] Nicht nur auf den Gemeinplätzen der modernen Bildung, auch innerhalb der gelehrten Fachgenossenschaft hat sich die energische Einsicht noch nicht befestigt, daß in keinem Denkprocesse, welches Ansehen er immer habe und wie dunkel auch sein Ursprung sei, eine Schöpfung gegeben sein könnte. […] Aber um diesen Punct gerade dreht sich aller Streit: daß die Erklärung psychischer Erscheinungen nicht gesucht werde in der Subsumtion derselben unter das bequeme Dach eines Gattungsbegriffes, sondern daß die psychischen Processe selbst aufgelöst werden in ihre elementarsten Formen, in die einfachsten Vorgänge des Bewußtseins« (173 und 182).

Das Zitat macht deutlich, dass Cohens Vorbehalte streng genommen in zwei Richtungen weisen. Zunächst erweist sich die »Phantasie« am Leitfaden einer schon von »Herbart« ausgesprochenen und von Cohen zustimmend zitierten Kritik »oberster Gattungsbegriffe« (183) als Kategorie, die die »psychischen Processe« der Analyse und der »Zerlegung« (173) in ihre »elementarsten Formen« (182) entreißt.Footnote 60 Gattungsbegriffe wie »Phantasie« oder »Schöpfung«Footnote 61 erweisen sich als ›falsche‹ Transzendentalien, die analytisch unbegriffene Prozesse unter einen Begriff subsumieren, anstatt das »Culturgebiet« der »Poesie« (182) für seine »vollständige Auflösung […] in die ursprünglichen Processe« (181), die in ihm wirken, freizugeben. Zum zweiten ist das Sprechen der Philologie um Substitute – »Vertretungen« (173) – und Metaphern – tropische »Verhüllungen« (ebd.) – herum organisiert, die die Literatur im »Cultus des Genies« (184) und im Namen der »Phantasie« auf eine »falsche Substanz« und eine »untergeschobene psychologische Kategorie« (183) gründen. Noch Schiller »verschiebt« im Blick Cohens »unter der Hand« den »Ursprung« (178) der Poesie in einen »Mythos« von den »Eingebungen eines Gottes«. Weil auch Schiller den »psychischen Process« der »Apperception« »nicht [kennt]«, muss er den »im Grunde gleichen Mythos hegen und für eine wissenschaftliche Erklärung halten« (ebd.).

Auch der Blick auf Schiller hat eine argumentative und eine polemische Funktion. Er soll deutlich machen, dass die Sprache der tropischen »Vertretungen« kein Relikt »mythischer Naivetät«, sondern der Mythos des »gebildeten Geistes« (173) der Moderne selbst ist. Bis in die Moderne hinein ersinnt die Philologie eine Serie immer anderer »Vertretungen«, die über dem eigentlichen »psychischen Mechanismus« der »dichterischen Tätigkeit« fortwährend metaphorische Substitutionen, d. h. Elemente einer τροπή, einer Wendung, errichten und damit den Grund der Poesie besiedeln. Dieser Grund wird von Stellvertretungen bewohnt, die ihn besetzt halten und darin den Charakter einer bloßen Stellvertretung verlieren. In der immer erneuten »Wiederholung« (221) dieser Substitutionsbewegung neigen die »Verhüllungen« und »Vertretungen« (173) dazu, sich »unter der Hand« (178) als eigentliche Begriffe, als Substrate einer von ihnen bezeichneten Wirklichkeit, zu substanzialisieren. In gewisser Weise ist Cohen in dieser Kritik der Philologie einer supplementären Logik auf der Spur. Sie hat Kategorien im Blick, die einen leeren Grund mit begrifflichen Substituten besetzen, diesen Grund aber nicht mehr freigeben. Phantasie, Genialität, Schöpfung, Geist und Nation sind nur die immer erneuten ›Ausführungen‹ dieser supplementären Bewegung. »Wenn man«, so Cohen »an die Mythen denkt, unter denen man früher das Räthsel genialer Gedankenbildungen formulirt hat, so könnte man meinen, diese Zeiten seien längst überwunden; aber bei schärferer Beobachtung will es scheinen, als ob in Wahrheit nur die Schlagwörter, die Formen der Räthselaufgabe gewechselt seien« (174; m. Hervorh.).

Nicht nur am Grund des wissenschaftlichen »Räthsels«, das den Namen der Poesie trägt, ruhen Metaphern und Tropen. Sie strukturieren auch den Diskurs, den die Philologie als Rede einer unablässigen Verschiebung und Vertretung über die Poesie führt. So sind beide – die Literatur und ihre philologische Wissenschaft – ebenso mythisch wie tropisch. Cohens ganzer Gegenwartsstolz besteht darin, diese »veraltete Klassification« (186) endgültig aufzugeben und der Poesie den Weg ins wissenschaftliche Zeitalter dadurch zu bahnen, dass sie allererst ein wissenschaftliches Objekt wird. Dieser Wissenschaftscharakter muss nicht an die Poesie herangetragen werden, sondern liegt in ihrer eigenen, bislang tropisch verhüllten Verfahrensstruktur, die mit den Mitteln der »Zerlegung« (173) wissenschaftlich erkannt werden kann.

Ein Fingerzeig für diese Verfahrensstruktur liegt in dem »Unterschied« von »poetischer Gedankenbildung« und »jeder anderen Combination« (198), d. h. in der Differenz von literarischer und nicht-literarischer Rede:

»Während für alle Gedankencombinationen jener oberste Grundatz gilt, daß die Vorstellungen den Dingen entsprechen müssen, auf welche als die ursprünglichen Reizquellen sie sich beziehen, machen wir von diesem obersten Principe für die Poesie eine Ausnahme. […] Der durchgreifendste Unterschied nämlich zwischen der poetischen Gedankenbildung und jeder anderen Combination ist dieser, daß der Dichter Dinge und Verhältnisse denkt, die nicht vorhanden sind, oder wenigstens in der Weise nicht vorhanden sind, in der sie der Dichter denkt. Der Dichter selbst ist sich der Unrealität seiner Dinge bewußt, er macht aber nicht nur nicht den Anspruch an sich, adäquate Vorstellungen von den Dingen zu bilden, sondern er geht gerade darauf aus, zu erfinden: dichten ist erdichten« (199 und 198).

Cohen befindet sich an dieser Stelle bereits auf dem Weg in eine Theorie der Literarizität, die nicht nur die Differenzqualität zwischen poetischer und nicht-poetischer Sprachverwendung bemisst, sondern die diese Differenzqualität zudem als »bewußte« (201; m. Hervorh.) Referenzleistung der poetischen Sprache, d. h. als Verfahren ausweist. Poesie ist die Anwendung einer regelhaft zu beschreibenden und wiederholbaren Operation. In gewisser Weise geht es um eine ›Anweisung‹, in der bestimmte Verfahren bzgl. der poetischen Referenzbildung aufgehoben sind. Diese Referenzstruktur der Poesie besteht darin, dass sie vom üblichen Gang der »Apperception« und ihrem »allgemeinen psychischen Gesetz« (201) abweicht. Wenn der normale Apperzeptionsprozess darin besteht, dass sich fortwährend »neue«, d. h. »aposteriorische« »Vorstellung[en]« mit bereits vorhandenen bzw. »apriorischen« »Vorstellung[en]« (199) auf der Grundlage der »überwiegenden Anzahl der gleichen Elemente« (200) verbinden und daher durchweg »adäquate« (201) Vorstellungen von den »Dingen« (199) entstehen, dann zeichnet sich die poetische Apperzeption durch eine »bewußt« inadäquate »Gedankenerzeugung« (201) aus. Im Falle der »normalen Gedankencombination« (232) sichert die Äquivalenzbeziehung, d. h. die »Gleichheit« zwischen den »appercipirenden« und den »zu appercipirenden« (200) Vorstellungen, die »logische Adäquatheit der Vorstellung mit den Dingen« (201). Weil sich eine apriorische Vorstellung in logischer Adäquatheit mit dem Sachverhalt befindet, auf den sie referiert, muss sich auch jede aposteriorische, d. h. neu bildende Vorstellung, die nach dem Prinzip der »Gleichheit der einzelnen verschmelzbaren Elemente« (200) mit der alten Vorstellung verschmolzen wird, als referenziell »adäquat« (201) erweisen. Wie das Beispiel eines »viereckigen« (200) Tisches zeigt, der als neue Vorstellung in das Bewusstsein eintritt, wird diese neue Vorstellung aufgrund ähnlicher Merkmale nach Maßgabe der »alten Vorstellung« (ebd.) des »runden Tisches« gebildet, sodass sich auch die aposteriorische Vorstellung in »logischer Adäquatheit« mit den »Dingen« (201) befindet.

Man hat es an dieser Stelle mit dem Versuch zu tun, im Falle der »normalen Gedankenerzeugung« (ebd.) Vorstellung und Sache, Signifikant und Signifikat in einem quasi-motivierten Verhältnis zueinander zu denken. Das Verfahren der poetischen »Gedankenerzeugung« (ebd.) verändert diese referenzielle Struktur insofern, als sie das Adäquationsverhältnis von Vorstellung und Sache arbitrarisiert. Allerdings trifft der Trübstoff der Arbitrarität nicht die Relation von Signifikant und Signifikat – ihre »Adäquatheit« (201) bleibt auch im Falle der literarischen Zeichenverwendung unangetastet –, arbiträr wird vielmehr ihr Gebrauch. Auch im Falle der Poesie sind, wie Cohen ausdrücklich betont, Vorstellungen bzw. Zeichen, die »den Dingen […] nicht entsprechen, […] unmöglich« (201). Möglich ist dagegen eine arbiträre »Nutzung« (202; m. Hervorh.) des Zeichens. Im Falle der Poesie wird es, nachdem es im Bewusstsein »consolidirbar« geworden war, d. h. sich in seinem Gebrauch konventionalisiert hat, »übertragen«, d. h. Moment einer tropischen Bewegung. Hat das Zeichen erst einmal durch die apriorischen Apperzeptionsprozesse und seine »Consolidirungsfähigkeit« (202) eine hinreichende »Festigkeit« (200) gegenüber seiner angestammten Referenzstruktur gewonnen, wird es ein innerlich »äußeres Ding« und für eine »selbständig subsistirende« (202) Nutzung frei. Nur das erklärt, warum Heines Lyrik Bäume träumen lassen und als »fühlend denken« (203) kann. Gerade weil Heine mit »bewußter Absicht« und »mit vollem Bewußtsein erkennt«, dass die gewählten »Vorstellungen inadäquat sind«, »kann er den psychischen Proceß der Sehnsucht auf Dinge übertragen« (ebd.)Footnote 62:

»Von den Dingen Vorstellungen bilden, die den Dingen nach unserem eigenen Bewußtsein nicht entsprechen, ist darum von Natur unmöglich, kann nur mit bewußter Absicht geschehen. In Wahrheit geschieht es gar nicht. Die nach Maßgabe unseres Bewußtseins adäquaten Vorstellungen werden in der That von den betreffenden Dingen gebildet; dann aber werden andere anderen Dingen adäquate Vorstellungen erzeugt und diese letzteren Vorstellungen werden auf jene ersteren Dinge übertragen. […] Diese Möglichkeit der Uebertragung […] streitet in keiner Weise gegen unsere psychologische Grundannahme, welche so weit entfernt ist, die Consolidirungsfähigkeit einer Vorstellung zu leugnen, daß sie dieselbe vielmehr erweist. Ist aber eine Vorstellung vollständig consolidirbar, so wird sie für das Bewußtsein bei ihrer geschlossenen Haltung gleichsam zu einem äußeren Dinge, sie wird eine selbständig subsistirende Vorstellung, eine innerlich anschaubare SubstanzFootnote 63

V.

Mit dieser tropischen Dimension der Literatur ist nur die eine Seite ihrer Verfahren erfasst. Die andere Seite betrifft diejenigen Elemente der Literatur, die üblicherweise Gegenstand von Verfahren sind, aber selbst keinerlei Verfahrenscharakter erkennen lassen. Auch in den Stoff- bzw. Gehaltsanteilen der Literatur erblickt Cohen Momente eines Verfahrens. Stoff ist Verfahren, d. h. Produkt einer regelhaft rekonstruierbaren Kombination von Elementen, die ein Substrat ergeben, das üblicherweise Stoff genannt wird. Ausgangspunkt für die Überlegung ist Shakespeares Hamlet, dessen Stoff in den Augen Cohens gerade keine singuläre Qualität besitzt. Vielmehr ist er die Manifestation einer allgemeinen Struktur der Mythen.

Cohens entsprechende Überlegungen können sich Ende der 1860er Jahre auf Einsichten der vergleichenden Mythenforschung Adalbert Kuhns – der »comparativen Mythologie« (207) – und auf methodologische Prinzipien stützen, die seit 1835 in der Deutschen Mythologie und der »vergleichenden Sprachforschung« (207) Jacob Grimms greifbar waren.Footnote 64 Grimm hatte in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Deutschen Mythologie die stoffliche Struktur der deutschen Mythen in den Blick gerückt und sie nach der Analogie der Sprache konstruiert. Wie die Sprache aus einer fest umrissenen Zahl an elementaren Lauten mit den Mitteln der Kombination und der Zerlegung die Gesamtheit der möglichen Laute generiert, so sind auch die mythischen Stoffe auf ihre elementaren Einheiten hin dekomponierbar. Erst durch diese »Zerlegung« wird die »Mannigfaltigkeit«Footnote 65 der Mythen sichtbar, d. h. das Gesetz einer Distribution, die die elementaren Einheiten und Aktanten der Mythen auf einer höheren Strukturebene arrangiert und variiert:

»Wie die gesamten laute der sprache auf eine kleine zahl zurückgehn, aus deren einfachheit sich alle übrigen ergeben, die vocale mittelst ablaut, brechung und diphtongierung, die stummen consonanten durch zerlegen jeder drei reihen in drei stufen […], so führe ich auch in der mythologie die vielfachen göttlichen erscheinungen auf ihre einheit hin, lasse aus der einheit die mannigfaltigkeit entspringen, und es schlägt kaum fehl, auch für die gottheiten und helden solche einigung, mischung und verschiebung, ihrem charakter und einzelnen eigenschaften nach anzunehmen« (XIX; m. Hervorh.).

In der Konsequenz erweist sich die konventionelle Ansicht, das stoffliche »Was der Hamlet-Dichtung«Footnote 66 verdanke sich einem »geschichtlichen Vorgange« (ebd.), als unhaltbar. Methodologisch gesehen ist Shakespeares Stoff eine »Mythe« (ebd.) und insofern weder ein historischer Stoff noch Produkt einer individuellen schöpferischen Sinnintention. Als »Mythe« erscheint der Stoff vielmehr nur als Manifestation einer allgemeinen, auch andere Stoffe elementar erzeugenden Struktur. In dieser Struktur sind einerseits elementare dichotomische Semantiken – Frühling und Winter, Tod und Leben, Glück und Unglück – angeordnet, andererseits elementare Aktanten, die die mythischen Welten bevölkern. Diese »Gleichartigkeit« (ebd.) der bedeutungserzeugenden Struktur, die in den Mythen realisiert ist, ist ihrerseits aber nur die Ableitung einer vorgängigen Struktur der Sprache. Sie ist die apriorische Struktur aller Strukturen, eine quasi-transzendentale Makrostruktur, der andere Strukturen – Strukturen des Mythos oder des Erzählens – nur nachgebildet sind. Entsprechend sieht Cohen im »Inhalt« (ebd.) von Shakespeares Hamlet nicht das Schicksal eines Helden, sondern einen »Naturvorgang« (ebd.). In ihm wird der »Kampf des Frühlings mit dem Winter dargestellt« (ebd.), wobei dieser Kampf seinerseits als Kampf »zwischen zwei Personen« (208) konfiguriert ist.

Bedeutungserzeugende Differenzen dieser Art wie die für den Mythos und seine Aktantenstruktur insgesamt bezeichnende »Personificirung« (ebd.) sind in den Augen Cohens Produkt einer Phantasieleistung, die in der Sprache verborgen ist. »Die Sprache«, so Cohen, »phantasirt« (209; m. Hervorh.). Man darf zum Verständnis dieser Behauptung nicht übersehen, dass die als Ableitung aus der Struktur der Sprache gedachte »Mythe« (207) des Hamlet-Stoffs ihrerseits das Produkt einer Übertragung ist. Strukturiert ist die mythische Struktur des Stoffs nämlich auch insofern, als sie durchgängig dem Verfahren folgt, semantisch abstrakte Konzepte zu personifizieren und ihnen damit einen Handlungscharakter oder mit den Mitteln der Prosopopöie eine ›Stimme zu geben‹. Aus diesem Grund ist die »Frage nach dem Was der Mythe durch die Herausdeutung des Naturvorgangs« noch nicht »erschöpft« (208). Erst wenn die Analyse das Verfahren der »mythischen Prosopopöie« (209) als Struktur einer durchgängigen Verstimmlichung und Anthropomorphisierung transparent macht, ist die universale Leistung der poetischen Sprache zur »›Uebertragung‹« (210) hinreichend erkannt:

»Es kann […] nicht vermuthet werden, daß die Auffassung des Ueberganges vom Winter in den Frühling als eines Kampfes zwischen zwei Personen durch die regelrechte Apperception adäquater Vorstellungen zu Stande komme. […] Wie ist diese Personificirung zeitlicher Verhältnisse möglich? ›Poesie und Fabel‹ – so antwortet Grimm – ›beginnen nun zu personificiren, d. h. göttern, geistern und menschen allein zukommende persönlichkeit auf thiere, pflanzen, sachen oder zustände, denen die sprache genus verleiht, zu erstrecken.‹ Die mythische Prosopopöie ist eine That der – Phantasie« (208 f.; m. Hervorh.).Footnote 67

Die Rede von der »mythischen Prosopopöie«Footnote 68 dient streng genommen nur einem Zweck. Zwar macht sie das »bewußte« (201) Verfahren transparent, mit dem der Mythos seine elementaren Bedeutungswelten erzeugt. In der Hauptsache aber geht es Cohen um die Eigenmächtigkeit der Sprache. Sie soll als rein »poetische That« (210)Footnote 69 erkannt werden. Sprache ist für Cohen die unablässige Aktivität der Bedeutungserzeugung und darum bereits selbst eine poetische Tätigkeit. Hatte schon Humboldt in der Unterscheidung von Sprache als »Werk (Ergon)« und als »Tätigkeit (Energeia)« die »sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen«, gesehen und damit die bedeutungsstiftende Aktivität der Sprache als einen ihrer beiden Aspekte im BlickFootnote 70, so erscheint die Sprache bei Cohen mit Grimm als universale autosemiotische Tätigkeit. Dass die »Sprache phantasirt«Footnote 71, ist der Name für eine ›tätige‹ sprachinterne Struktur, für eine Aktivität, durch deren Differenzen und Äquivalenzen die Sachverhalte der Welt allererst hervorgebracht werden. Es ist die »sprache«, die den Dingen »genus verleiht« (ebd.). Nicht weit von den späteren Einsichten des linguistic turn in die Eigenmächtigkeit der Sprache und ihre Struktur bestreitet Cohen mit Blick auf die Gesetzmäßigkeiten der poetischen Apperzeption, dass es eine sprachvorgängige Bedeutungswelt geben könnte. Das gilt auch für die Annahme eines Denkens, das der Sprache vorausliegen könnte und das in ihr nur angemessen oder ›zutreffend‹ zum Ausdruck gelangen muss. Weil die Sprache aufgrund ihrer internen Differenzstruktur eine Logizität rein sprachlicher Natur besitzt und insofern »phantasirt« (ebd.), als sie die Differenzen der Welt mit den Mitteln ihrer sprachlichen Differenzialität ›erfindet‹, kann es weder eine sprachvorgängige Kognition noch eine sprachjenseitige Welt geben, die ihre Bedeutungen an sich bereits enthielte. Vielmehr ist die kognitive Erfassung der Welt wie die Struktur der Differenzen, die in ihr etwas als etwas identifizierbar machen, der Niederschlag produzierender Unterscheidungen. Mag die Sprache auch Weltsachverhalte vorfinden, ihre Bedeutung verdanken sie dem Eintritt in eine Sprache, die diese Sachverhalte strukturiert.

Cohen hat seine Belege für den skizzierten Zusammenhang Grimms vergleichender Mythologie entnommen. In der Abhandlung Ueber Frauennamen aus Blumen weist Grimm nach, dass das »grammatische Geschlecht«Footnote 72 schon in frühesten Zeiten kein Weltsachverhalt ist, den die Sprache nur auszudrücken hätte, sondern ein Erzeugnis ihrer Bedeutungsaktivität. Auch die Geschlechter sind nichts, was sich allein der Anschauung einer sprachvorgängigen Realität verdankt, vielmehr sind sie der Effekt einer poietisch-phantasierenden »That« der Sprache, die das »natürliche« Geschlecht mit den Mitteln einer immer »schon vorgegangenen anwendung oder übertragung«Footnote 73 in das »grammatische geschlecht« (209) hineinträgt:

»›Obschon […] den pflanzen kein getrenntes geschlecht zusteht, die phantasie der sprache hat nicht unterlassen, ja kaum unterlassen können, ihnen ein solches beizulegen, und scheint immer davon ausgegangen zu sein, daß die großen, starken pflanzen als männlich, die schlanken, zierlichen […] als weiblich […] angesehen wurden.‹ Die Sprache phantasirt […]. Wenn es der ›Phantasie der Sprache‹ gegeben ist, das grammatische Geschlecht zu bilden, so ist damit der Grund zu allen weiteren Thaten der Phantasie gesichert.« (209; m. Hervorh.)Footnote 74

Der »gesetzmäßige Proceß der mythischen Apperception« besteht vor diesem Hintergrund aus dem doppelten Mechanismus von »Apperception« und »Rückapperception« (212). Als der mythische Mensch, so hatte Cohen schon in seinem früheren, 1868 erschienenen Aufsatz über Mythologische Vorstellungen von Gott und Seele spekuliert, durch die unmittelbare und zufällige Anschauung entsprechender Naturvorgänge eine »Vorstellung von der irdischen Feuerreibung« gewonnen hatte, diente ihm diese Vorstellung als das »appercipirende Element für die Vorstellung von der Entstehung des himmlischen Feuers« – der Sonne bzw. Gott – und »sodann für die Vorstellung von der Menschenzeugung« (212).Footnote 75 Diese Folge aufeinander aufbauender Apperzeptionen ist durch ein tertium comparationis verbunden: »Reibung« (404) und »Drehung« (402). Weil in der »Feuerreibung« eine »Achse« oder eine »Walze in dem Loche eines oder zweier Pfähle« durch »Umdrehen« (404) bewegt wird, gibt die »Feuerreibung« ein analogisches Bild für die »Menschenzeugung«Footnote 76, ohne dass »ein Causalitätsverhältniß in diesen beiden Erscheinungen«Footnote 77 zu sehen ist. Die Verknüpfung ruht auf paradigmatischen Strukturen der Ähnlichkeit, der Analogie oder der bildlichen Entsprechung, nicht aber auf einer sachlich-kausalen Kontiguität. So ist die mythische Bedeutungswelt, vermittelt durch Apperzeptionsprozesse, in denen die apriorischen Vorstellungen neue Vorstellungen nach dem Prinzip »der gleichen Elemente«Footnote 78 anziehen und sich aneignen (vgl. ebd.), eine Welt metaphorischer »Uebertragungen« (202), die überall Ähnlichkeiten und Entsprechungen sieht. Auf das Verhältnis von »Feuerreibung« und »Menschenzeugung« (212) gewendet, erweist sich die Relation der beiden »Erscheinungen« als umkehrbar, die »Apperception« ermöglicht eine »Rückapperception«, die Übertragung eine Rückübertragung. »War einmal die Menschenzeugung als eine Feuerreibung appercipirt worden, so entstand daraus wieder die Rückapperception, daß die Feuerreibung selbst ein Vermählungs- und Zeugungsact sei« (ebd.).

Cohens Rekonstruktion dieser Analogiestrukturen widerspricht interessanterweise der von ihm selbst zunächst suggerierten Auffassung, dass in ihnen eine »Uebertragung« (202) wirken könnte. Vielmehr kommt in ihnen die »gleichmäßige Wirkung derselben ursprünglichen Apperception« (213) zum Ausdruck. Offenkundig geht es Cohen darum, den Sachverhalt aus der Logik bloß metaphorischer und paradigmatischer Relationen zu lösen und theoretisch anders zu rekonstruieren. Diese andere Rekonstruktion betont nicht das Prinzip der Similarität. Gemeint ist vielmehr eine Verknüpfung von semantischen Merkmalen aus einem Vorrat elementarer semantischer Eigenschaften und ihre gleichmäßige Distribution in zwei unterschiedliche, aber durch gemeinsame Merkmale verbundene Phänomene. Statt Übertragung, die logisch einen primären oder eigentlichen Zeichenzusammenhang impliziert, der auf einen sekundären, aber durch Ähnlichkeit mit ihm verbundenen Zeichenzusammenhang bezogen wird, geht es Cohen um einen den Bildfeldern zugrunde liegenden Vorrat an Merkmalen, die die mythische Rede »gleichmäßig« in beide Erscheinungen projiziert. Diese Gleichmäßigkeit impliziert, dass im »Mechanismus der Vorstellungen« – logisch gesehen – »Subject und Prädicat wandelbar« (213; m. Hervorh.) sind. Mythischer Sinn ist Projektion eines Vorrats an Merkmalen in Erscheinungen, die an sich keinen Zusammenhang besitzen, die aber durch diese Merkmalsprojektion einen Zusammenhang erscheinen lassen. Nur diese Projektion von Merkmalen aus einer fundierenden Struktur erklärt, warum der »Apperception« eine »Rückapperception«, der Projektion eine Gegenprojektion, der bestrittenen »Uebertragung« eine Rückübertragung entspricht. Weil das »Holz« als »Weib«, der »Bohrer« als »Mann« und der entstehende »Funke« als »Kind« (213) gedacht werden kann, entsprechen sich die Vorstellungen der Feuerbereitung (a) und der Menschenzeugung (b) nicht nur im Verhältnis a = b, sondern auch in der Weise, dass b = a ist:

»War einmal die Menschenzeugung als eine Feuerreibung appercipirt worden, so entstand daraus wieder die Rückapperception, daß die Feuerreibung selbst ein Vermählungs- und Zeugungsact sei. […] Die Vorstellung des Feuers und seiner Bereitung war das apriorische Element im Bewußtsein […]. Nun verschlingen sich aber diese Apperceptionen durch vielfache Complicationen ihrer einzelnen Merkmale. Die Vorstellung von der Feuerbereitung sei a, die von der Menschenzeugung sei b, so ist b = a. Daraus folgt aber für den Mechanismus des Bewußtseins, daß auch a = b ist. Also ist auch die Feuerbereitung eine Menschenzeugung. Das untergelegte Holz wird als das Weib gedacht, der Bohrer als der Mann und der Funke als das Kind. Das ist keine Uebertragung, sondern die gleichmäßige Wirkung derselben ursprünglichen Apperception. Wie die Vorstellung der Menschenzeugung, die auf der Anschauung desselben Processes beruht, in ihrer Complexion die Merkmale Mann und Weib hat, so müssen diese Merkmale auch in die in allen Merkmalen übereinstimmende Complexion von der Feuerbereitung eintreten. […] Im Mechanismus der Vorstellungen sind Subject und Prädicat wandelbar, gemäß der Reihenfolge der Vorstellungen« (212 f.; m. Hervorh.).

VI.

Es ist fraglich, ob Cohens ausdrückliche Weigerung, in diesem Verhältnis von »Apperception« und »Rückapperception« eine »Uebertragung« (202) sehen zu wollen, wirklich plausibel ist. Selbstverständlich wirken in mythischen Bildstrukturen dieser Art Ähnlichkeiten und Analogien, die sich das Prinzip der (bildlichen) »Uebertragung« zunutze machen. Man muss an dieser Stelle allerdings die theoretische Intention im Blick haben, die die Frage strukturiert. Offenkundig geht es Cohen nicht um den Aufweis metaphorischer Anteile im mythischen Denken. Sie sind schon deswegen ubiquitär, weil metaphorisches Denken und Sprechen in Sprachhandlungen aller Art gegenwärtig sind. Worum es Cohen geht, ist, die Analyse auf die Ebene eines Verfahrens zu verlegen. Wenn es zutrifft, dass poetisches und mythisches Sprechen gleichermaßen »bewußte« (201) Sprachverwendungen sind, dann muss dieses »volle Bewußtsein« (203) in etwas zum Ausdruck kommen, was die konkrete poetische oder mythische Äußerung nicht ist, weil diese Bewusstheit vielmehr die fundierenden Bedingungen des je konkreten Äußerungsaktes erfasst. Mag der Mythos kein Bewusstsein von sich besitzen, so besitzt er doch ein Verfahren, d. h. ein rekonstruierbares Wissen davon, wie Äußerungsgegenstände nach im Einzelnen zu beschreibenden Regeln verknüpft, angeordnet und arrangiert werden.

Man muss an dieser Stelle der Versuchung widerstehen, in Cohens Annahme einer verfahrensförmigen ›Bewusstheit‹ der Mythen einen Vorgriff auf die strukturale Mythenanalyse Claude Lévi-Strauss’ zu sehen, zumal Cohen lediglich methodische Prinzipien und kulturanthropologisches Material aufgreift, das ihm die vergleichende Mythologie des 19. Jahrhunderts bereitgestellt hat. Neben Grimms Analogisierung von elementaren sprachlichen und mythischen Einheiten betrifft dies, wie bereits erwähnt, vor allem Einsichten ihres Begründers Adalbert Kuhn, den Cohen ausdrücklich zitiert.Footnote 79 Allerdings kann man die Frage nach möglichen Vorläuferschaften an dieser Stelle auch auf sich beruhen lassen. Cohens Interesse richtet sich nicht eigentlich auf die Struktur der Mythen. Sie ist nur insofern von Belang, als die Struktur des mythischen Denkens und Sprechens die Struktur der »dichterischen Phantasie« offenlegt: Literatur ist Mythos. Das ist nicht so zu verstehen, als mythisiere die Literatur die Welt oder als ziehe sie sich residual auf ein Bewusstsein zurück, das sich von der fortschreitenden Rationalisierung der modernen Welt erlöst.Footnote 80 Mythisch ist die Literatur auch nicht, weil sie im Sinne elementarer Literatur das arbeitsteilige Spezialwissen wieder anschaulich macht oder mit kollektivsymbolischer Kraft ausstattet.Footnote 81 Mythisch ist sie allein ihren Verfahren nach, weil der Mythos die Struktur der »Kunstpoesie«Footnote 82 offenlegt – und dies in zweierlei Hinsicht. Zum einen ruht das mythische Projektionsgeschehen letztlich gerade nicht auf der Sprache, sondern auf den Gesetzen und Mechanismen der Apperzeption, wie sie Herbarts Psychologie an die Völkerpsychologie vermittelt hatte. Auch wenn Cohen die produzierende Energie der Sprache, ihre welterzeugende Aktivität, ausdrücklich betont und die Strukturen der Welt, d. h. die Unterscheidungen, die in ihr Bedeutungen konstituieren, als abgeleitete Strukturen der Sprache erkennt, folgen die Gesetze, die die Verknüpfung dieser Strukturen anweisen, den Mechanismen der Apperzeption. In gewisser Weise verhalten sich die Verknüpfungen und Übertragungen der Sprache nur analog zu den Kombinations- und Auffassungsmechanismen – den »wunderbaren operation[en]« (211) – der Apperzeption. Zum anderen haben diese Überlegungen weitreichende Konsequenzen für die Rede von der »dichterischen Phantasie«. Nachdem Cohen sie zunächst als bloße »Vertretungen und Verhüllungen« (173) entlarvt hatte, gewinnt er sie zurück, indem er sie in den Rang einer abgeleiteten Größe versetzt. Vordergründig ist damit die harsche Kritik, die Cohen der Philologie gegenüber geäußert hatte, relativiert, weil die Phantasie an dieser Stelle nicht mehr kategorisch als »inadäquat« und in falscher Weise als »schöpferischer« (214) Mythos erscheint. Dennoch ist der Vorbehalt gegen den Mythos der »dichterischen Phantasie« ungebrochen. Er wird auf paradoxe Weise gerade benötigt, um nochmals seine Insuffizienz zu erweisen. Sie besteht darin, dass die Phantasie nur der Name und darin nur erneut eine »Vertretung« (173) eines eigentlichen Mechanismus ist. Dieser Mechanismus ist die Apperzeption, die der Phantasie nun ein psychologisches Wissen unterlegt, nach dem sie verfährt. Wenn die Philologie die »›schaffende Phantasie‹« (214) bislang als »Grund« der Poesie behandelt hatte, dieser Grund aber leer und unbegriffen war, dann wächst ihr jetzt ein Wissen zu, wie diese Leere apperzeptionstheoretisch zu füllen ist. Nicht Mythos und Literatur sind dann aus der Phantasie, sondern die Phantasie ist aus den Verfahren des Mythos und der Poesie geschöpft:

»Mögen diese Ausführungen zum Zweck des Nachweises genügen, daß die dichterische Phantasie […] auf einem Mechanismus beruht, der uns im Mythos offengelegt wird. […] Hiermit ist nun die […] Frage nach den apriorischen Bedingungen der Dichtung gelöst. So inadäquat und schöpferisch die dichterische Phantasie erscheint, so ist sie dennoch aus dem Mythos geschöpft, durch die apriorischen Bedingungen des Mythos appercipirt. Und der Mythos selbst stammt ebensowenig von einer ›schaffenden Phantasie‹, sondern baut sich aus einer Gruppe von Apperceptionen zusammen« (ebd.; m. Hervorh.).

Die bislang skizzierten Überlegungen sind, bedenkt man, dass sie Produkt des geschichtsbesessenen 19. Jahrhunderts sind, in einer Hinsicht auffällig: Es gibt in ihnen keine Geschichte. In seinem Inneren erzählt der Mythos die immer gleichen, minimal variierenden Geschichten, die keiner Geschichte folgen. Entsprechend ruhen seine Sinnbildungsmechanismen auf einem überschaubaren Reservoir an apperzeptiven Mechanismen. Anders stellt sich der Sachverhalt dar, wenn man bedenkt, dass Mythos und mythisch verfahrende Poesie selbst historische Sachverhalte sind. Mögen sie auch keine Geschichte kennen, so ist die Geschichte im Verlauf der kulturellen Entwicklung doch ihr Schicksal. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass der spätere Neukantianer Cohen seinen völkerpsychologischen Grundannahmen gemäß die Verpflichtung spürt, historische Kulturen als sich verändernde Apperzeptionsgemeinschaften zu denken. Wer diesen Zwang spürt, kommt zudem nicht umhin, den Mythos dem Sog der Geschichte zu überlassen, weil sich die kulturellen und geistigen Voraussetzungen, die eine mythisch apperzipierte Welt tragen, verändern.

Genau dieser Gedanke trägt in Cohens Überlegungen eine tiefe historische und theoretische Zäsur hinein. Irgendwann im Verlauf der Kulturgeschichte wird das mythische Denken als inadäquat verworfen, weil der fortschreitende Rationalisierungsprozess der Moderne dem mythischen Denken die Grundlagen entzieht. Allerdings geht Cohens historische Konstruktion in diesem schlichten Ablaufschema nicht auf. Mythos und Moderne befinden sich nur vordergründig in einem historischen Gegensatz. Vielmehr lebt der Mythos in der Moderne, vor allem in der entstehenden »Kunstpoesie« (215) weiter, sodass die Literatur der Moderne auf der ungebrochenen Latenz des Mythos beruht. Auch diese Latenz ist ein Produkt der Apperzeptionsmechanismen – mit dem historisch tiefgreifenden Unterschied, dass sie sich in der Moderne nicht nur in der verfahrensförmigen Innenwelt von Mythos und Poesie zutragen, sondern Mythos und »Kunstpoesie« gewissermaßen von Außen erfassen. Hatten Mythos und mythische Poesiesprache auf einer frühen Entwicklungsstufe Weltsachverhalte und ihre Erscheinungen apperzipiert, so wird der Mythos nun selbst Gegenstand der kulturellen Apperzeption. Weil das mythische Denken und der Vorrat seiner Verfahren im kulturellen Gedächtnis die Stelle apriorischer Vorstellungen besetzen und in der Apperzeption immer neue Vorstellungen »erwachen«, bleiben die »alten Apperceptionen« (215) der mythischen Frühzeit in Kraft. Ihre »Festigkeit« (200), die Härte und Persistenz, mit der sie im Bewusstsein »aufgeschichtet« (215) und sedimentiert sind, verhindern es, dass sie im fortschreitenden Apperzeptionsprozess verloren gehen könnten. In gewisser Weise bilden die »alten Apperceptionen« (ebd.) das Miasma, aus dem die neuen Vorstellungen hervorgehen bzw. gegen das sie sich durchzusetzen haben, um doch von ihnen getragen zu werden:

»Ich will […] an den Process erinnern, in welchem sie [die Kunstpoesie, I.S.] entstanden ist. Nachdem ein Volk in einer langen Reihe mythenbildender Generationen die Natur der Dinge mit den jeweiligen Appecerptionsmechanismen erfasst hat, kommt es endlich zu einer Culturperiode, in der alle jene mythischen Apperceptionen als falsch enthüllt werden. Dieser Punkt in der Geschichte eines Volkes, oder, da er bei jedem Volke einmal eintritt, […] ist der springende Punkt der Kunstpoesie. Es erwachen neue Apperceptionen, neue ganze Gebiete von Vorstellungen; im Hintergrunde des Bewußtseins liegen aber noch lebendig wirksam die alten Apperceptionen aufgeschichtet, die von den neuen Gedankengeschlechtern widerlegt werden; wie sollen sich jene Vorstellungsweisen anders ausgleichen, als durch den Begattungsproceß, den sie eingehen? Denn von einem Vernichten der alten, eingenisteten Vorstellungen durch die neuen kann füglich nicht die Rede sein, dazu sind die neuen Gedanken zu jung und die alten haben zu fest und weit verschlungene Verbindungen mit dem gesammten Inhalt des Bewußtseins angeknüpft, als daß sie so leicht aus dem Felde geschlagen werden könnten« (ebd.; m. Hervorh.).

Cohens zentrale These besagt, dass die kulturhistorisch »neueste Apperception […] die – Poesie« (ebd.) selbst ist. Sie entsteht in einer kulturgeschichtlich einmaligen Transformation der »psychologischen Beziehungen« (ebd.), die in den Apperzeptionsprozessen wirken. Entscheidend ist, dass die Mechanismen und Regelmäßigkeiten dieser »psychologischen Beziehungen« – die Formen, in denen Vorstellungen apperzipiert werden – grundsätzlich in Kraft bleiben. Dennoch zwingen die veränderten Vorstellungsgehalte – die Abständigkeit, die zwischen alten und neuen, apriorischen und aposteriorischen Apperzeptionsmassen liegt – dazu, dass die Apperzeptionen der »Kunstpoesie« (215) die veränderten logischen Modalitäten und formalen Relationen – die »Beziehungen« (217) – spürbar machen, nach denen die Apperzeption erfolgt. Sie liegen in der historischen Differenz von mythischer »Gleichung« und kunstpoetischer »Vergleichung« (215; m. Hervorh.). Während die mythopoetische Apperzeption insofern auf der »Gleichung« der Bildbereiche beruht, als die ihnen zugrunde liegenden »Erscheinungen […] Eins [sind]« (216), weil die mythische Phantasie in sie beide dominant die »gleichen« »Merkmale« (ebd.) projiziert, sodass sie wie Substanzen gleicher ›Natur‹ erscheinen, tritt der analogische Zusammenhang der Bildfelder in der kunstpoetischen »Vergleichung« auseinander. Hier sind die projizierten Merkmale heterogen und lassen in der Berührung ihrer »Complexionen« einen latenten Widerstand gegeneinander spüren. Wenn im Mythos »der Blitz […] ein Vogel [ist]« (ebd.; m. Hervorh.), weil beides seine Abkunft in einer gemeinsamen Wesenheit findet und auf gleichen natürlichen Merkmalen beruht, »ist der Blitz« in der »Kunstpoesie« »wie ein Vogel« (ebd.; m. Hervorh.). Einerseits weiß das moderne Bewusstsein um die Differenz der beiden Erscheinungen, andererseits zwingt die Präsenz der mythischen Apperzeption im kulturellen Gedächtnis aber dazu, das Verhältnis von Blitz und Vogel unter Bezug auf diese angestammte Apperzeptionsschicht zum Ausdruck zu bringen. Zwar kann die moderne »Kunstpoesie« (215) das Verhältnis der Weltsachverhalte nicht mehr als ihre »Gleichheit« behaupten, aber sie kann auf die konstruktiven Bedingungen – die Strukturen der »Vergleichung« (ebd.) – aufmerksam machen, unter denen das mythische Bewusstsein auch in der Moderne seine Bedeutung bewahrt.

Der Mechanismus der »Vergleichung« besitzt, genau betrachtet, zwei Aspekte, je nachdem, in welcher Perspektive das moderne Geschehen der »Vergleichungsapperception« (217) rekonstruiert wird. Schaut man auf ihre inneren Operationen, tritt ausschließlich ihre tropische Struktur hervor. Im »Blitz«, der »wie ein Vogel« (216; m. Hervorh.) ist, wird die Entfernung, die Abständigkeit in der Relationierung der Bildbereiche deutlich. An ihnen tritt die konstitutive Uneigentlichkeit der poetischen Rede ebenso wie die gesteigerte konstruktive Leistung hervor, die in der metaphorischen Projektion liegt. Sie macht auf Gemeinsamkeiten aufmerksam, die zunächst nicht sichtbar sind, und zugleich auf die Prinzipien ihrer Verknüpfung – die Prinzipien der Similarität und des paradigmatischen Arrangements –, die im metaphorischen Bild selbst nicht expliziert sind. Als »Vergleichungsapperception« (217) ist die »Kunstpoesie« (215) in der Moderne eine universale Trope geworden, Verfahren und Vollzug einer fortlaufenden ›Wendung‹, in der die Dinge der Welt keinen festen Ort mehr besitzen, sondern in die unablässige Bewegung ihrer metaphorischen Projektion geraten sind. Darin ist die moderne Poesie in historisch eminenter Weise nicht mehr bloße »Poesie«, sondern »Kunstpoesie«: Artifizialität einer unaufhörlichen tropischen Verschiebung und metaphorischen Übertragung. – Schaut man dagegen nicht auf ihre tropische Struktur, sondern auf die kulturhistorische Stellung der »Vergleichungsapperception« (217), wird deutlich, dass die »Vergleichung« das Verhältnis zwischen mythopoetischer und kunstpoetischer Apperzeption insofern erfasst, als es von einer tiefgreifenden historischen Differenz getroffen ist. In jeder Metapher und in jeder tropischen Uneigentlichkeit verbirgt sich eigentlich die historische Differenz zwischen Mythos und Moderne, zwischen mythopoetischer »Gleichung« und einer modernen »Vergleichung«, die sich der »Inadäquatheit« ihrer uneigentlichen Sprache »bewußt« (217) ist. Insofern sind alle modernen Tropen und alle modernen Metaphern Dokumente eines doppelten Zerwürfnisses: einerseits eines Zerwürfnisses, das die Inadäquatheit der nur noch über den Graben der Uneigentlichkeit hinweg miteinander verbundenen sprachlichen Äußerungen betrifft, andererseits eines historischen Zerwürfnisses, das Mythos und Moderne zwar nicht endgültig auseinandertreibt, aber ihre irreversible wechselseitige Fremdheit in der Spannung ihrer Weltauffassungen und Sprachhaltungen zum Ausdruck bringt:

»Die Poesie entsteht […] aus dem Bedürfniß, einander widerstreitende Apperceptionen zu neuer Apperceptionsbildung zusammenzuführen, und sie ist zugleich möglich, weil […] jene widerstrebenden Apperceptionen nur schwach anstoßend sich berühren, nicht schroff gegeneinander treiben. […] Darum können jene Apperceptionen in Form der Vergleichung im Bewußtsein zusammentreten. Früher hieß es: der Blitz ist ein Vogel, oder richtiger: der Blitz ist nichts Besonderes, Getrenntes vom Vogel, sondern beide Erscheinungen sind Eins […], denn die Merkmale beider Complexionen waren die gleichen. Nachdem aber beide Vorstellungen verschiedene Merkmale aufnehmen mußten, war es um die Einheit geschehen: nun ist der Blitz wie ein Vogel. Diese Vergleichung muß aber eintreten, weil jene alte Apperception zu tief im Bewußtsein wurzelt, als daß sie vernichtet werden könnte; und doch kann sie nicht mehr eine Thatsache ausdrücken: so wird sie ein Vergleich. Die poetische Vergleichung ist der Vergleich, den die neue Apperception mit der alten eingeht. So entsteht also die Poesie durch eine rein psychologische Nöthigung in einem Proceß der Vorstellungen, […] und so wird aus der mythischen Apperception, welche sich im Vollbewußtsein der Wahrheit fühlt, eine ihrer Inadäquatheit bewußte poetische Vergleichungsapperception. […] [B]eim Auftreten neuer Apperceptionen wird der Mythos – Poesie« (216 f.; m. Hervorh.).

VII.

Cohens Konstruktion bewahrt sich vor der Verlegenheit, in all die elegischen und sentimentalischen Stilregister zu münden, auf die die Selbstbeschreibungen der Moderne im 19. Jahrhundert üblicherweise gestimmt sind. Wer 1869 vom Untergang des Mythos und dem unaufhaltsamen Aufstieg einer nach-mythischen Wissenschaftsrationalität erzählt, kann sich auf eine breite Tradition literarischer, geschichtsphilosophischer, anthropologischer und sozialtheoretischer Vorstellungen vom Schicksal der Moderne stützen. Sie alle berichten vom Abstraktionszuwachs der Moderne und dem komplementären Verlust ehemals direkter oder dichter Referenzialität.Footnote 83 Cohen ist dieser sozialtheoretische und kulturgeschichtliche Sentimentalismus schon deswegen fremd, weil seine Konstruktion ausdrücklich nicht nur eine Bewahrung des Mythos in der Moderne darstellt, sondern zudem die Abkunft der modernen »Kunstpoesie« aus den Strukturen und Verfahren des Mythos behauptet: Mythogenese der modernen Literatur.

Die Frage ist allerdings, wie eine derart weitreichende These plausibilisiert werden kann, zumal sie die von Steinthal 1866 angeregte grundlagentheoretische Frage betrifft, wie eine Literaturwissenschaft beschaffen sein könnte, die den »neuen wissenschaftlichen Geist«Footnote 84 der exakten Wissenschaften mit einer »möglich tiefsten Einsicht in die Methode« (ebd.) dieser Wissenschaftlichkeit verbindet. Cohen beantwortet die Frage, indem er entlang der Differenz von gehalts- und formästhetischen Theoriemöglichkeiten an jeder Vorstellung ein »formales« und ein »inhaltiges Element«Footnote 85 unterscheidet. Schon im Aufsatz über Mythologische Vorstellungen von Gott und Seele hatte Cohen zwei unterschiedliche »Formen des Bewußtseins«Footnote 86 unterschieden und mit Blick auf die »formalen Elemente« gegenüber den »inhaltigen Elementen« betont, dass das »formale Element, obwohl an sich ohne Beziehung auf den Inhalt der Vorstellung, dennoch von wesentlichem Einfluß auf die Entwicklung derselben sein muß« (422; m. Hervorh.).

Die Konstruktion ist nicht nur ersichtlich schwer zu verstehenFootnote 87, sie ruht hinsichtlich der »formalen Elemente« auch auf formtheoretischen Prämissen, die Cohen nicht eigens expliziert. Zu den Neukonzeptionen der Philosophie, die von Herbart ausgehen, zählt ein veränderter Formbegriff, der tief in die Traditionen des angestammten Formdenkens eingreift. Herbarts Ästhetik stellt um 1800 den Versuch dar, den Formbegriff in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Formalismus Kants und seinen urteilslogischen Prämissen als theoretischen Grundlagenbegriff zurückzugewinnen, ›die‹ Form aber in neuartiger Weise und unter Ausscheidung jeder Inhaltlichkeit in einem relational-differenziellen Paradigma zu verankern. Form ist bei Herbart eine Verhältnisform, in der Elemente, gleich welcher Art, in einer strukturierten Relation zueinander stehen.Footnote 88 Otto Flügel, ein späterer Vertreter der formalistischen Ästhetik, hat 1864 sehr prägnant von der »Gleichsetzung von Verhältnis und Form«Footnote 89 gesprochen. Damit werden die aus der Antike (Aristoteles) stammenden, substanzialistischen, hylemorphen und eidetischen Traditionen des Begriffs zurückgedrängt, gleichwohl bleibt dessen Grundlagenanspruch im Zuge seiner Funktionalisierung bewahrt. Form ist in der formalen Ästhetik Formalismus, d. h. die Betonung funktionaler Beziehungen zwischen Elementen oder Verhältnisgliedern, wobei das Formale der Form nicht mehr mit Blick auf einen wie immer geformten Gehalt gedacht ist, sondern mit Blick auf die differenziellen Beziehungen, die an einem Gehalt hervortreten, ganz gleich, an welchem.

Dieser relationale Formbegriff liegt Cohens Überlegungen insofern zugrunde, als er von jedem Gehalt strikt unterschieden ist. Einerseits sollen die formalen Elemente einer Vorstellung keine Beziehung auf den Vorstellungsgehalt besitzen, andererseits wird ihnen dennoch ein »Einfluß« auf die Art und Weise der Vorstellungsbildung nach ihrer inhaltlichen Seite zugestanden. Formale und inhaltige Elemente entsprechen mit einer Unterscheidung Herbarts dem Verhältnis von »Gefühl« und »Vorstellung«. Jede Vorstellung setzt, wie schon Kants transzendentale Ästhetik betont hatte, zu ihrer Genese zunächst voraus, dass das Bewusstsein ›von etwas‹, gleich, was es ist, affiziert wird.Footnote 90 Diese Affizierung bildet sich in den »molecularen Bewegungsvorgängen der Nerven«Footnote 91 ab, die als »Gefühl« (ebd.) mit unterschiedlichen Intensitäten erlebt werden, wobei der Vorstellungsgehalt – also die gegenüber den subjektiven Gefühlsintensitäten objektive Dimension der Vorstellung – durch den jeweilig aktuellen Gefühlszusammenhang getragen wird. »[I]ndem wir fühlen«, heißt es im zweiten Teil der Psychologie als Wissenschaft, »wird irgendetwas, wenn auch ein noch so vielfältiges und verwirrtes Mannigfaltiges, als ein Vorgestelltes im Bewußtseyn vorhanden seyn; so daß dieses bestimmte Vorstellen in diesem bestimmten Fühlen eingeschlossen liegt«.Footnote 92 Zwar ruht jede Vorstellung auf einem Gefühl, das durch die Wahrnehmung ›von etwas‹ ausgelöst wird und seinerseits die Bildung einer Vorstellung auslöst, aber die Vorstellung – schaut man auf den Prozess der Vorstellungsbildung, schon eine ›spätere‹ Abstraktion der »früheren Stufe« des formalen »Gefühls« in »demselben Proceß«Footnote 93ist kein Gefühl. In gewisser Weise geht es darum, an einem phänomenal zur völligen Einheit »verschmolzenen«Footnote 94 Prozess der Vorstellungsbildung, der nur mit den Mitteln analytischer »Abstraction«Footnote 95 in seine »Elemente« (ebd.) aufgelöst werden kann, emergente Ebenen seiner psychologischen Konstitution hervorzuheben. Diese Emergenz, die aus der herbartianischen Abstraktion von Form und Gehalt geboren ist, erklärt das eigentümliche Doppelverhältnis, das die »formalen« und »inhaltigen« Elemente miteinander unterhalten, wenn die formalen Gefühlselemente nur in einem arbiträren Verhältnis zur Inhaltsseite der Vorstellung stehen, aber an ihrer Genese dennoch insofern einen Anteil haben sollen, als sie sich durch die formalen Aspekte des Gefühls hindurch artikulieren. Gegenüber der Inhaltsseite der Vorstellungen stellen die formalen Elemente eigenmächtige Strukturrelationen dar, in denen die Gefühlselemente in spezifischen Verhältnissen zueinander stehen und damit Formen – »Formen des Bewußtseins«Footnote 96 – bilden. Während sich in der inhaltigen Seite der Vorstellung ihr »theoretischer Inhalt«Footnote 97 niederschlägt, indem sie die »inneren« Gefühlsmodifikationen in das »Außen« eines Vorstellungsgehalts als seine mentale Repräsentation »verlegt«Footnote 98, betreffen die formalen Elemente der Vorstellung nicht deren inhaltliche Objektivation als dieses oder jenes, sondern allein die »Reihenfolge in der Complication der Vorstellungen«.Footnote 99 Wollte man den Sachverhalt in einer Art von Kategorienlehre zum Ausdruck bringen, dann entspricht das »inhaltige Element« als das »objectivirende Element, das der Vorstellung den theoretischen Gehalt giebt« (421), der »Kategorie des Dinges« (426), während die formalen Gefühlselemente der »Kategorie der Eigenschaft« (ebd.) entsprechen, so weit in ihr »Unterschiede« (ebd.) und Relationen »in der Qualität« und »in der Quantität« (ebd.) der formalen Gefühlselemente ausgemacht werden können. Man muss an dieser Stelle die Kategorie des »Gefühls« (419) analog zu den formalistischen Fundamenten der herbartianischen Psychologie vollständig von der Vorstellung eines Gefühlsgehalts, einer als diese oder jene affektive Qualität – »Freude«, »Traurigkeit« oder »Schmerz« (422) – bestimmten Gefühlssubstanz befreien und stattdessen die formalen Implikationen in den Blick rücken, nach denen sich die Gefühlselemente zu spezifischen Verhältnissen anordnen. Diese formalen Qualitäten bilden die entscheidende semantische Diskriminierung innerhalb der Vorstellungen. So stehen der »himmlische Feuerreiber und der irdische […] in derselben Kategorie Ding«, markieren »inhaltig« also »keinen Unterschied«, während das »formale Element« insofern einen »Unterschied« (426) bewirkt, als der eine der beiden zunächst »bloß quantitativ« als »größerer Mensch«, dann »qualitativ« als »Gott […] objectivirt« (427) wird:

»Was wir Vorstellung nennen […] das ist […] ein Doppeltes: das Bewußtsein eines äußeren Objectes und das nicht näher zu bezeichnende Bewußt-sein schlechthin, d. h. die Summe der Nervenbewegungen, die den Empfindungszustand überhaupt bedingen. […] Das objectivirende Element wollen wir das inhaltige nennen, das der Vorstellung den theoretischen Gehalt giebt […]. Dieses inhaltige Element der Vorstellung, im gewöhnlichen Sprachgebrauche die eigentliche Vorstellung, beruht also auf der Objectivirung der Empfindung. So weit aber diese Objectivirung sich nicht ablösen kann von der Empfindung der inneren Veränderung […], so weit […] das Bewußtsein der inneren Veränderung […] sich nicht gänzlich austilgen läßt, so weit also die objectivirende Vorstellung der Gefühlsform des Bewußt-seins nicht entmischt werden kann – so weit behält die Vorstellung das Gefühlselement, das am Inhalte der Vorstellung an sich Nichts ändert, aber auf die Gestaltung der Form des Bewußtseins Einfluß übt. […] Darum nenne ich das Gefühl […] insofern es als bloße Form des Bewußt-seins, als Effect größerer oder geringerer Ausschreitungen der Nervenbewegungen über das Gefühls-Niveau, die Vorstellungen bis in hohe Objectivirungsprocesse hinauf begleitet, das formale Element derselben« (421 f.; m. Hervorh.).

Cohen betreibt diesen erheblichen theoretischen Aufwand gegenüber einer Unterscheidung, die nur mit den Mitteln der Abstraktion zu gewinnen ist, weil er erklären soll, wie die Poesie in der Form der »Kunstpoesie«Footnote 100 den Sprung in das nach-mythische Zeitalter bewerkstelligt, obwohl sie gerade aus den Verfahren und den Strukturen des Mythos heraus erwachsen ist. »Wie ist«, fragt Cohen, »der Fortbestand der Poesie in denjenigen Culturperioden möglich, in welchen« die historische Entwicklung im Übergang zur Moderne »zu einem offenbaren Bruch des Bewußtseins sich verschärft hat?« (219) Die Frage ist deswegen naheliegend, weil auch Cohen nicht umhinkann, den Modernisierungsprozess als Austrocknung des ehemals vollen und ganzen mythischen Sinns durch die »wissenschaftlichen Abstractionen« (227) der gegenwärtigen »Culturperiode« (219) zu denken und die Moderne im Ganzen als poesiefeindlich aufzufassen. Die Antwort liegt erneut in der Struktur der Apperzeption. Sie folgt an der Schwelle zur Moderne der Tendenz zur »reinen Objectivirung« der inhaltigen Elemente, in der »die völlige Befreiung von dem Empfindungselemente«, d. h. der formalen Seite, der Vorstellungen »angestrebt« (227) wird. Die »physikalische Vorstellung des Blitzes« ist jetzt, unter den Bedingungen des exakten naturwissenschaftlichen Wissens, eine »vollkommen inhaltige« Vorstellung geworden, bereinigt von den immer »schwächer« werdenden »formalen Elementen« (ebd.). Weil die »Gegenstände« in der Moderne in dominanter Weise gemäß ihrer »inhaltigen Elemente« (230) aufgefasst werden, sind die Vorstellungen nun restlos »adäquat« (201), historische Zeugen einer »Culturperiode« (215), in der die Bedeutungsgehalte mit hoher sachlicher Prägnanz und begrifflicher Präzision erfasst sind. »Der Fortschritt des Denkens besteht in der richtigen Charakterisirung, in der Verbindung adäquater Vorstellungen, der Apperception von Gegenständen nach ihren inhaltigen Elementen mittels der inhaltigen Elemente bereits vorhandener, mehr oder weniger gleichartiger Vorstellungen« (236).

Das ist die eine Seite des Modernisierungsgeschehens, das sich durch den Apperzeptionsprozess hindurch zuträgt. Die andere Seite besteht in der bereits skizzierten Latenz mythischer Apperzeptionsmassen. »Obwohl die Poesie über die Mythenperiode hinausliegt, obwohl sie unter dem Charakter reflectirender Subjectivität auftritt, so hat sie doch Ein Moment ganz besonders mit dem Mythos gemein: das formale Element […], das wir in den Mythen nachzittern sehen« (226). Auch wenn die mythischen Vorstellungsmassen im modernen Bewusstsein im Gefolge des tiefen historischen Bruchs, der sich ihm einzeichnet, gewissermaßen an dessen Peripherie verschoben sind, werden sie auf dem Weg einer »Retrosensation« (226) wieder »an die Schwelle des Bewußtseins« (ebd.) gehoben. In diesen alten Apperzeptionsmassen ist aber, weil der Apperzeptionsprozess von einer tiefen kulturhistorischen Abständigkeit getragen wird, »die Empfindung der veränderten Form des Bewußtseins« (ebd.) in besonderer Weise spürbar.

Cohens Konstruktion zielt auf die strukturelle Konsequenz, die die Literatur aus diesen veränderten Apperzeptionsmechanismen zieht. Weil sich im »logischen« (228) Bewusstsein der Moderne gemäß ihrer sachlichen Adäquatheit ausschließlich die »inhaltigen« Elemente im Verhältnis von »apriorischen« und »neuen« Vorstellungen verbinden, treten sie in der »ästhetischen Apperception« (ebd.) an den Rand. Zwar sichern sie im Falle der poetischen Äußerung ein Minimum an sachlicher oder semantischer Kohärenz, aber in ihr dominieren die formalen Elemente und die Strukturen ihrer Verknüpfung. Losgelöst von den »inhaltigen« Elementen und tendenziell zugunsten eines arbiträren Verhältnisses von ihnen abgespalten, verweisen die formalen Elemente in einer Schließung ihrer relationalen Folge nurmehr auf sich. Nicht nur unter der Hand ist Cohens These vom fundamentalen Wandel der Apperzeption in der Moderne zu einer frühen Theorie der Autoreflexivität der formalen Elemente in der modernen »Kunstpoesie« (215) geworden:

»In der Poesie […], wie im Mythos, ist diese Objectivirung der Empfindungen in so geringem Maße nur vollzogen, daß man nicht über die Personification hinauskam: da müssen die formalen Empfindungselemente noch stark wirksam den Vorstellungen einwohnen. […] [Z]unächst erkennen wir darin den Charakter der Poesie, daß in ihr das formale Element vorwiegt. Hierauf beruht auch der Unterschied des Schönen […] von dem Wahren, der ästhetischen Vorstellungen im engeren Sinne von den adäquaten logischen. In dem letzteren müssen die inhaltigen Elemente der neuen, zu appercipirenden Vorstellungen mit den inhaltigen Elementen der apriorischen, bereits im Bewußtsein vorhandenen […] Vorstellungen übereinstimmen, während in der ästhetischen Apperception die inhaltigen Elemente nur in gewissem Maße, aber die formalen Elemente schlechterdings zusammenstimmen müssen. In der ästhetischen Vorstellung appercipiren die formalen Elemente einander« (228; m. Hervorh.).Footnote 101

Im Ergebnis verwandelt dieser historisch irreversible Prozess, der die Eigenbewegung des ästhetischen Zeichens gegenüber referenziellen Sprachfunktionen freisetzt, die Sprache im Ganzen. Sie wird zur archäologischen Stätte all der mythischen Sprachformen und Vorstellungsbilder, die die Moderne zu »Residuen« (226) eines anderen, tendenziell verdrängten, aber auf bestimmte Weise noch immer präsenten Sinns erklärt hat.

Zur Plausibilisierung dieser Auffassung stützt sich Cohen an dieser Stelle auf Steinthals Konzept der »inneren Sprachform«Footnote 102. Sie ermöglicht es Cohen, den Wandel der Apperzeption in den analogen Modalitäten des Sprachwandels aufzufinden. Sprachwandel bedeutet, dass im Prozess der Apperzeption der Wortkörper, der Signifikant des Zeichens, erhalten bleibt, die »innere Sprachform des Wortes«Footnote 103 aber in zwei historisch divergente Bedeutungsschichten auseinandertritt. Dieser Wandel der inneren Sprachform trennt in den Veränderungen, die die Apperzeptionsmechanismen im Übergang zur Moderne treffen, die mythisch-bildliche Bedeutungsherkunft des Wortes zunehmend von den präzisen und sachprägnanten Bedeutungsgehalten der Moderne ab. Dabei existiert der Wortkörper so lange weiter, wie die mythischen und mythopoetischen Bedeutungsschichten einerseits und die modernen Bedeutungsapperzeptionen andererseits noch in einem Zusammenhang stehen und die älteren Bedeutungsmassen nicht vollständig von den immer »schärfer« (236) werdenden Bestimmungen des modernen »Begriffs« überlagert werden. Für die größte »Anzahl von Wörtern« (ebd.) aber gilt das gerade nicht. Im modernen Sprachhaushalt ist die Sprache in dem Maße eine irreversibel doppelte geworden, wie jedes Wort seiner inneren Sprachform nach beides zugleich ist: Produkt einer immer weiter voranschreitenden »Verbindung adäquater«, d. h. präziser »Vorstellungen« (ebd.) und zugleich Sedimentation einer inaktuell gewordenen, aber im Wortkörper noch immer aufbewahrten, mythopoetischen Bedeutungs- und Formenmasse, die in jedem Äußerungsakt unbewusst aktualisiert wird. So sprechen alle Sprecher in der Moderne nicht nur unweigerlich insofern eine zweifache Sprache, als jeder Signifikant das doppelte Signifikat einer mythischen und einer modernen Vorstellungsseite des Zeichens an sich bindet. Zugleich ist jeder Sprecher »eigentlich […] Dichter« (ebd.), weil mit jedem Wort – Moment einer tiefen Uneigentlichkeit der Sprache in der Moderne – eine andere Bedeutung ausgesprochen ist, »als welche in demselben liegt« (ebd.). In diesen mitaktualisierten, von ihrer mythischen Herkunft zeugenden Bedeutungsformen, die sich im ästhetischen Zeichengebrauch gegenüber den »inhaltigen« Bedeutungsaspekten zu einer autonomen literarischen Sprachverwendung verschließen, ist die »erste Möglichkeit der Poesie auch in unserer Zeit gegeben« (237):

»Wo nun die Charakterisirung gemäß den inhaltigen Elementen fortschreitet, da ändert sich allmählich die innere Sprachform des Wortes, aber das Wort bleibt so lange, bis die Gemeinsamkeit der inhaltigen Elemente vollständig aufgehört hat. […] Da diese Scheidung nun bei einer großen Anzahl von Wörtern erfolgt, so ist bei allen diesen die innere Sprachform verändert und wir sind eigentlich Alle Dichter, denn wir sprechen in dem Worte eine andere Vorstellung aus, als welche in demselben liegt. ›Wenn wir heute sprechen, sagen wir immer ein Doppeltes oder dasselbe in doppelter Auffassung‹. (Steinthal.)« (236; m. Hervorh.).

VIII.

Cohens Spekulation über die Genese der modernen »Kunstpoesie« (215) aus den formalen Elementen des Mythos ist nicht zu Unrecht vorgeworfen worden, Herbarts Apperzeptionsbegriff überdehnt zu haben.Footnote 104 Bei Cohen vergrößert er sich zu einer universalen, wenngleich historisch in sich gespaltenen Kategorie, in der Völker, Kulturen und »Culturperioden« (219) als (historische) Apperzeptionsgemeinschaften auftreten. Sie werden von einem psychologischen Mechanismus bewegt, der jeder Erfahrung und jeder Geschichte vorausliegt. Sinnwelten, Bedeutungsstrukturen und Repräsentationstechniken sind, abstrakt gesprochen, nur Niederschläge des »allgemeinen psychologischen Gesetzes« (201) der Apperzeption. Diese Tendenz zur Kulturalisierung eines psychologischen Mechanismus verbindet Cohen nach der einen Seite mit der Völkerpsychologie, die nicht zufällig in die formale Soziologie Simmels hineinreichtFootnote 105, nach der anderen mit der herbartianisch fundierten Sozialpsychologie Gustav Adolf Lindners, die nach 1870 auf der Überzeugung beruht, dass die »geistigen Functionen des Vorstellens« die »Gesetze« bilden, die auch »die menschliche Gesellschaft beherrschen« und die ihr den Status einer »beseelten Persönlichkeit«Footnote 106 geben. Es ist gleichwohl eine zweitrangige Frage, ob Cohens eigenwilliger Umgang mit Herbarts Apperzeptionsbegriff, der schon in der Übernahme durch die Völkerpsychologen Lazarus und Steinthal Eingriffe und Veränderungen erfahren hatteFootnote 107, als Vollzug einer legitimen wissenschaftlichen Rezeption oder als mutwillige Missdeutung zu verstehen ist, die mit dem Ursprungssinn des Begriffs nur noch lose verbunden ist. Das schließt die unstrittige Schwierigkeit, die konkreten konzeptuellen Übernahmen Cohens im Dickicht seiner Theorierezeptionen dingfest machen zu können, mit ein.Footnote 108 Letztlich werden Fragen dieser Art davon bestimmt, wie und mit welchem Interesse die wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion verfährt. Blickt man, zumal mit dem Interesse der philosophischen Ideengeschichte, auf das synchrone Feld, in dem sich Cohen gegen Ende der 1860er Jahre bewegt, dann wird seine Stellung in den »typischen« Ideenmassen und Wissenschaftsparadigmen der Zeit – »Szientismus«, »Entwicklungsdenken«, »Fortschrittsideologie«, »kausal-mechanistische Wissenschaftsauffassungen« – sichtbar; Wissenschaftsauffassungen zumal, die »allesamt als mehr oder minder typisch für den Neukantianismus des 19. Jahrhunderts gelten« (82). Nicht sichtbar wird in dieser Perspektive dagegen, welche horizontbildenden Leistungen in Cohens Frühschriften verborgen sind. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Literaturwissenschaft diese Texte nicht kennt und sich damit um die Wahrnehmung einer ihrer historischen Grundimpulse bringt.

Dabei verfügt die literaturwissenschaftliche Fachgeschichte durchaus über Anhaltspunkte für die entsprechenden Zusammenhänge. Das betrifft nicht nur die ausgeprägt szientifische Grundorientierung, die sich bei fast allen Neukantianern, auch dann, wenn sie noch keine sind, in einem starken Interesse an der Logik und Begründbarkeit wissenschaftlicher Disziplinen niederschlägt; das betrifft vor allem eine zentrale wissenschaftshistorische Konstellation, die das Feld der Geistes- und Kulturwissenschaften im 19. Jahrhundert prägt. Gemeint ist die Tendenz, die Psychologie in die Rolle einer Trägerwissenschaft für literatur-, kunst-, sprach- und kulturwissenschaftliche Fachkonzeptionen zu versetzen. Entsprechendes findet sich in der psychologischen Fundierung der Sprachwissenschaft bei Steinthal, in den diversen, noch die frühen Grundlagen der Kunstwissenschaft (Wilhelm Worringer) erfassenden einfühlungsästhetischen Konzeptionen oder in Wilhelm Diltheys psychologistischer Hermeneutik als Grundlage der ›verstehenden‹ Geisteswissenschaften.Footnote 109 Cohens Bemühungen um die Fundierung der Literaturwissenschaft in einer Theorie der Apperzeption und ihrer in die Sprache der »Kunstpoesie«Footnote 110 fortwirkenden Strukturen befindet sich in dieser Wissenschaftsgenealogie an zentraler Stelle.

Dass Cohen sie so entschieden mit mythenanalytischen und mythentheoretischen Überlegungen versetzt, hängt – neben den Strukturleistungen, die sich im Mythos verbergen – mit Cohens spürbarem Interesse zusammen, die Geltung des Mythos in der Moderne zu bewahren. Nur so ist seine Bemerkung zu verstehen, dass die »mythische Kraft […] in dem modernen Menschen nicht erloschen [ist]« (237). Diese Kraft ist allerdings die Kraft seiner Strukturen und Verfahren, d. h. die Kraft, mit der er »sich« aus seinen elementaren Einheiten selbst »zusammen[baut]« (214). Man mag Cohen entgegenhalten, dass die Erklärungsleistung dieser mythopoetischen Strukturen gegenüber der modernen »Kunstpoesie« (215) reduktionistisch bleibt. Weder ist ihre Entstehung ausschließlich aus einem Nachleben mythischer Sinn- und Formverfahren zu erklären, noch erfassen die am Mythos abgelesenen Strukturgesichtspunkte hinreichend die Verfahrensweisen der modernen Literatur. Überhaupt ließe sich gegen die Konstruktion einwenden, dass der mit erkennbarem szientifischen Elan zum Objekt erklärte Mythos in dem Maße in der Konstruktion wiederkehrt, wie sie selbst einem für die Moderne bezeichnenden Mythos von der wachsenden Rationalisierung von Sprache und Welt anhängt. Dass ein (im positiven Sinne) unbewältigter mythischer Strukturrest in Sprache und Literatur fortwirkt, ist nur ein widerständiger, kaum dialektisch zu nennender Erbteil derselben Konstruktion.

Dennoch schafft Cohens Blick für die Formelemente des Mythos, die in der Moderne residual werden, ein bemerkenswertes Bewusstsein für die disziplinären und methodologischen Belange der Literaturwissenschaft. Sie erwachsen bei Cohen aus einem mythologischen Spaltprodukt, d. h. aus den gegenüber mythischen oder wissenschaftlichen Referenzialisierungen tendenziell freigesetzten Formen, die sich – am Ende ihrer mythischen Ausdrucksgeschichte und parallel zum Aufgang des wissenschaftlichen Zeitalters – in der »Kunstpoesie« (215) zu einem selbstbezüglichen Formzusammenhang schließen und insofern auf die »bewußten« (201) Verfahren aufmerksam machen, die diese Schließung organisieren. Cohens Leistung besteht darin, Literaturwissenschaft als Wissenschaft von den Strukturen und Verfahren der literarischen Rede und ihren Mechanismen, Bedeutungen zu erzeugen, gedacht zu haben – wie rudimentär auch Cohens eigene Einsichten in die elementaren Strukturen und Aktantensysteme des Mythos sind und wie unausgearbeitet auch der Gedanke bleibt, dass in der »ästhetischen Vorstellung« ausschließlich »die formalen Elemente einander [appercipiren]« (223). Entscheidend ist, dass Cohen überhaupt den Blick der Literaturwissenschaft, die in ihrer disziplinären Identität im 19. Jahrhundert primär philologisch, nicht aber literaturtheoretisch bestimmt ist, auf die Verfahrensdimension der ästhetischen Apperzeption lenkt. Überstellt man Cohens Überlegungen versuchsweise in die Korpora späterer literaturwissenschaftlicher Theorieentwicklungen und ersetzt den Begriff der ›ästhetischen Apperzeption‹ durch den der »poetischen Rede«Footnote 111, wird deutlich, dass Cohens Überlegungen konzeptgeschichtlich in dieser Genealogie stehen. Ohne dass sie dem elaborierten Theoriestand des 20. Jahrhunderts standhalten, reichen sie genetisch doch ebenso in das formalistische Denken des Verfahrens (priem) und seiner formalistisch-strukturalistischen Folge- und Nachbarkonzepte hinein wie in die Konzeptionen einer Eigenmächtigkeit sprachlich-literarischer Bedeutungskonstitution. Dass ihre Analyse noch sichtlich unausgearbeitet bleibt, resultiert aus der psychologischen Fundierung der Theorie, die ein psychologisch hergeleitetes Bewusstsein von der Struktur der literarischen Sprache theoriesprachlich in einen psychologisch-apperzeptionstheoretischen Sachverhalt zurücklenkt, anstatt ihn als sprachlichen freizugeben. Die gesamte an Herbart anschließende Tradition kennzeichnet diese theoretische Befangenheit.Footnote 112 Aber selbst, wenn man derartige Überlegungen als teleologisch verdächtigt, reicht es aus, auf die ganz anders gelagerten Methoden und textpflegerischen Praktiken zu schauen, mit denen die deutsche Philologie im 19. Jahrhundert ›Literaturwissenschaft‹ betrieben hat. Sie umfasst zunächst die ihren philologischen Ursprüngen treue und in die hingebungsvolle Vergegenwärtigung der Überlieferung versunkene ›ältere‹ Abteilung, die historische Sprachwissenschaft, Textkritik und Editionspraxis verbindet. Als neudeutsche Philologie macht sich ab etwa 1880 ein Arbeitsprogramm geltend, das zwar zögerlich den Blick auf die literarischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts öffnet, aber doch ein Verbund aus »Textphilologie, literaturgeschichtlicher Charakteristik, Rhetorik, wissenschaftlicher Metrik, Quellenforschung und reduzierter Interpretation«Footnote 113 bleibt. Das hat der Germanistik bis ins frühe 20. Jahrhundert das unerlöste Projekt der deutschen NationalliteraturFootnote 114, die vor allem an Lessing, Goethe, Novalis und Hölderlin geschulte ›charakterisierende‹ Psychologie des schöpferischen AutorsubjektsFootnote 115 und die geistesgeschichtliche LiteraturdeutungFootnote 116 beschert – mit allen Effekten für den Nachholzwang, der sich spät, d. h. in den 1960er Jahren gegenüber Formalismus und Strukturalismus als Theorien der Literatur und ihrer Formverfahren eingestellt hat. Cohens Konzeption einer zu begründenden Literaturwissenschaft als Wissenschaft der »formalen Elemente«Footnote 117 gehört in die Vorgeschichte einer disziplinären Identität, die sich die Literaturwissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst mühsam aneignen musste.