Zusammenfassung
Der Beitrag stellt zum einen die These auf, dass das Hildebrandslied den erzählten Vater-Sohn-Kampf aus Hildebrands heroischer Exorbitanz ableitet, die im Figurendialog analytisch vorgeführt wird. Die darin zum Ausdruck kommende Reflexionsdistanz des Liedes zu seinem Gegenstand kann als postheroische Perspektive stricto sensu bezeichnet werden. Da diese Perspektive somit bereits in einem frühesten Zeugnis europäischer Heldenepik konstitutiv für die narrative Sinngebung ist, schlägt der Beitrag zum anderen vor, die postheroische Perspektive als ein heuristisches Instrument zu gebrauchen, mit dem nicht nur Erscheinungsweisen und Entwicklungen der europäischen Heldenepik neu beurteilt werden können, sondern auch das gesellschaftliche Relevanzpotenzial von ›Heldentum‹ bis heute im Rückbezug auf jene Heldenepik erklärt werden kann.
Abstract
The article, on the one hand, proposes that the OHG Hildebrandslied derives the narrated battle between father and son from Hildebrand’s heroic exorbitance, which is analytically explained in the characters’ dialogue before. That implies a deliberating distance of the lay’s narration from its subject matter, a distance which can be referred to as a post-heroic perspective in the strict sense. Thus, this perspective is a constitutive component of heroic poetry already in one of its earliest testimonies. Therefore, on the other hand, the article suggests to employ the post-heroic perspective as a heuristic device, which allows us not only to reevaluate the appearances and evolutions of European heroic poetry, but also to explain the persistent social and cultural relevance associated with the idea of ›heroism‹ by tracing it back to pre-modern heroic poetry.
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Das seit ein paar Jahren außer- und innerhalb der Wissenschaften vielbenutzte Schlagwort vom »postheroischen« Zustand, in dem die europäischen Gesellschaften sich seit dem Zweiten Weltkrieg befänden, krankt an mehrerlei kulturhistorischer Kurzsichtigkeit der Begriffsbildung.Footnote 1 Das Schlagwort beruht auf einem so spezifischen Verständnis von Heroik – als der Bereitschaft zur kriegerischen Selbstopferung des Einzelnen für eine Gesellschaft oder einen gesellschaftlichen WertFootnote 2 –, dass es als Beschreibungsinstrument eines (überdies mit einer Determinationssuggestion ausgestatteten) geschichtlichen Gesellschaftszustandes beliebig ist.Footnote 3 Dies ist es auch deswegen, weil die Pazifizierung der europäischen Nachkriegsgesellschaften, die das (vorläufige) Ergebnis eines komplexen politischen, soziologischen und kulturellen Prozesses ist, mit dem Begriff ›postheroisch‹ zu einer Verhandlungssache individueller Selbstmächtigkeit umgemünzt und damit falsch qualifiziert wird. Und das Irreführende dieses Kategorienwechsels wird dadurch überspielt, dass für das genannte soziopolitische Verständnis von Heroik eine angeblich weitreichende kulturgeschichtliche Tradition reklamiert wird, nämlich in der europäischen Heldendichtung,Footnote 4 der allerdings dieses Heroikverständnis fremd ist.
Letzteres, der Kurzschluss vom Opferheroismus der europäischen Nationalstaatsideologien auf Ilias und Nibelungenlied, macht dabei offenbar, dass die angedeutete Kurzsichtigkeit des Begriffs von der ›postheroischen Gesellschaft‹ der Preis für etwas ist, das mit dem Wort ›heroisch‹ ausgenutzt und für die Gesellschaftsanalyse wirksam gemacht wird: das Prestige, welches das Wortfeld ›Held‹ aus jener Heldendichtung bezogen hat, mit anhaltender Resonanz bis heute.Footnote 5 Wirksam gemacht im Begriff ›postheroisch‹ ist dieses Prestige aber darin, dass es die non-bellizistischen Gegenwartsgesellschaften mit einer Wertvorstellung konfrontiert, die im Präfix ›post-‹ als verloren gekennzeichnet ist und als Maßstab einer Reorientierung gesellschaftlichen und individuellen Handelns wieder aktiviert wird.Footnote 6 So nimmt auch die Rede von der ›postheroischen Gesellschaft‹ (uneingestanden oder nicht) Teil an der seit ein paar Jahren um sich greifenden, mit wissenschaftlicher Autorität versehenen Revindikation des Heroischen für das soziopolitische Ethos in den Gesellschaften Europas, insbesondere Deutschlands.Footnote 7
Den dabei variierenden Begriffsverständnissen von ›Heldentum‹ ist gemeinsam, dass es auf ein soziales Gut und einen sozialen Nutzen verpflichtet wird und dass dieses Verständnis in die Heldenepik zurückprojiziert wird. Damit wird aber ein Missverständnis fortgeschrieben, das in der Aufklärung etabliertFootnote 8 und im Zeitalter kulturgeschichtlicher Rückversicherungen der europäischen (National‑)Gesellschaften verfestigt worden ist und das heutzutage angesichts allgegenwärtiger Multiplikationen des Heldenbegriffs unhinterfragbar und unausrottbar geworden zu sein scheint. Relevanz besitzt dieses Missverständnis vor allem darin, dass es im Bemühen, das Prestige heldenepischen Heldentums auf gesellschaftliche Leit- und Vorbilder zu übertragen, etwas ausblendet, das für heldenepische Helden wesentlich ist und dem Heldenbegriff auch heute stets (mehr oder weniger verdeckt, uns mehr oder weniger bewusst) innewohnt: die Tatsache, dass Heldentum keine normensetzende Vorbildlichkeit, sondern eine normenüberschreitende Gegenbildlichkeit menschlicher Sozialität bezeichnet.Footnote 9 Diese von der Heldenepik gewissermaßen ererbte ›dunkle Kehrseite‹ des modernen Heldenbegriffs lässt es bedenklich erscheinen, wenn das Heroische in seiner soziopolitischen Revindikation wieder zu einer konkreteren gesellschaftlichen Wirksamkeit gebracht werden soll als in den Heldenerzählungen des Blockbusterkinos oder in der Werkzeugkiste von Marketingstrategen. Ein literaturwissenschaftlicher Einspruch dagegen käme aktuell vielleicht nicht zur Unzeit.
Doch die gegenwärtige Diskussion zeigt ebenso, dass das Verhältnis des modernen Heldenbegriffs zu jenem der Heldenepik auch wissenschaftlicher Aufarbeitung dringend bedarf. Der vorliegende Beitrag will dazu eine Anregung geben. Ich werde in einer Neuinterpretation des Hildebrandsliedes zeigen, dass der europäischen Heldenepik bereits in einem ihrer frühesten Zeugnisse ein reflektierendes Distanzverhältnis zu ihren erzählten Gegenständen eingeschrieben ist und dass dieses Distanzverhältnis sich in der Tat als postheroische Perspektive bezeichnen lässt – nun in einem terminologisch prägnanten und haltbaren Sinne. In dieser postheroischen Perspektive lassen sich die Haltungen, die die (soweit uns zugänglich) primären heldenepischen Kommunikationsgemeinschaften wie auch spätere Rezipienten bis heute im Blick auf das Heroische eingenommen haben und einnehmen, über alle Gräben kulturgeschichtlicher Veränderungen hinweg konzeptionell zusammenführen. Deshalb werde ich das Konzept einer postheroischen Perspektivik als heuristisches Instrument vorschlagen, mit dem das Relevanzpotenzial und die Faszinationskraft der Vorstellung von Heldentum bis heute auf das Heroische in der Heldenepik neu zurückbezogen und dadurch jenseits der spezifisch modernen Prägung des Heldenbegriffs analytisch aufgeschlossen werden können.Footnote 10
Das in den 830er Jahren im Kloster Fulda niedergeschriebene HildebrandsliedFootnote 11 erzählt, wie es dazu kommt, dass Hildebrand gegen seinen Sohn Hadubrand kämpft und (vermutlich) ihn erschlägt. Als »Herausforderer«, »urhettun« (V. 2), zum Kampf gerüstet, treten beide sich »zwischen zwei Heeren«, »untar heriun tuem« (V. 3), entgegen, wohl um in einem geregelten Vorkampf eine bevorstehende Schlacht einzuleiten oder zu entscheiden. Anders als der Erzähler wissen die Kämpfer anfangs nicht, dass sie »Sohn und Vater«, »sunufatarungo[s]« (V. 4), sind, einander nicht erkennend, weil vor langer Zeit getrennt. Und der Gegenstand ihres folgenden Dialogs, der den Hauptteil des erhaltenen Textes ausmacht, ist der Versuch, diese Identitäten aufzuklären. Der allerdings scheitert zur Hälfte. Auf Hildebrands Frage nach der Identität seines Gegenübers erzählt Hadubrand, wie sein Vater vor Jahren mit Dietrich von Bern ins Exil zu den Hunnen gezogen war und ihn als Kleinkind zurückgelassen hatte. Daraufhin gibt Hildebrand seine Identität preis und bietet dem Sohn eine Huldgabe an, wohl um damit den vorgesehenen Zweikampf zu verhindern. Doch weil Hadubrand seinen Vater für tot hält, weist er Identitätsausweis und Huldangebot seines Gegenübers als Kampflist eines augenscheinlichen Hunnen zurück. Daraufhin konstatiert Hildebrand die Unausweichlichkeit des Kampfes und leitet ihn mit einer Reizrede an seinen Gegner ein. In der Schilderung des anhebenden Zweikampfes bricht die Aufzeichnung des Textes ab; der Tod des Sohnes am Ende des Liedes lässt sich aus späteren Texten wahrscheinlich machen.Footnote 12
Die Forschung hat in die Erzählung dieser Geschichte allerlei menschliche Beweggründe hineininterpretiert, mit denen sie dem Lied eine Erklärung für das Skandalon des Vater-Sohn-Kampfes abzugewinnen versuchte: Hildebrand kämpfe in seiner Ehre gekränkt oder rücksichtslos ehrfixiert;Footnote 13 Hadubrand sei starrsinnig, verblendet, gar vom Vatersfeind Odoaker korrumpiert;Footnote 14 das Lied insgesamt entfalte ein Seelendrama oder einen Kasus menschlicher Tragik, sei Warnung vor den zerstörerischen Normen von Heroentum oder Beispiel für die Sinnlosigkeit heldenepischer Dichtung.Footnote 15 Die in dieser Stichwortreihe repräsentierte Deutungstradition, die die Forschungsgeschichte durchgehend beherrscht, lässt allerdings außer Acht, dass das Lied deutlich markiert, dass es ihm um eine Reflexion auf das Skandalöse des Vater-Sohn-Kampfes gar nicht geht – weder um eine figurenpsychologische Geschehensmotivation noch um die Diskussion eines Wertekonflikts noch um die Ostentation von Tragik usw.
Nach Hadubrands Zurückweisung des Huldangebots seines Gegenübers konstatiert Hildebrand die Unausweichlichkeit des Kampfes folgendermaßen:
Welaga nu, waltant got, quad Hiltibrant, wewurt skihit.
ih wallota sumaro enti wintro sehstic ur lante,
dar man mih eo scerita in folc sceotantero,
so man mir at burc ęnigeru banun ni gifasta.
nu scal mih suasat chind suertu hauwan,
breton mit sinu billiu, eddo ih imo ti banin werdan. (V. 49–54)
(Wohlan nun, herrschender Gott, sprach Hildebrand, ein Schmerzschicksal wird sich vollziehen. / Ich zog der Sommer und Winter sechzig außerhalb meines Heimatlandes umher, / dorthin, wo man mich stets scharte in die Menge ausgezeichneter Krieger,Footnote 16 / ohne dass man mir vor irgendeiner Stadt den Tod beibrachte. / Jetzt [aber] wird mich der eigene Nachkomme mit dem Schwert schlagen, / hinstrecken mit seiner Schlagwaffe, oder ich ihm zum Töter werden.)
Der mit »quad«-Formel markierte (Neu‑)Einsatz der RedeFootnote 17 artikuliert in der durch Stabung verbundenen Wortreihe »welaga«, »waltant got« und »wewurt« das gegen die Norm des Weltlaufs verstoßende Leid des Vater-Sohn-Kampfes, seine Exorbitanz; doch er tut dies nicht, wie meist verstanden wird, im Gestus einer Klage. Denn die Interjektion »welaga«, Partikelerweiterung des Adverbs »wela«, »gut« o. ä., bedeutet nicht »wehe« o. ä., sondern exhortativ »wohlan« oder affirmativ »fürwahr« oder beides zugleich »nun gut, also gut«.Footnote 18 Damit wird die Exorbitanz des Vater-Sohn-Kampfes nicht klagend reflektiert, mit Vermeidungswünschen bedacht oder auf Handlungsalternativen hin durchsichtig gemacht, sondern als etwas gekennzeichnet, das der Sprecher im Moment der Artikulation bereits akzeptiert hat und »sich vollziehen« zu lassen bereit ist.Footnote 19 Der Sprachgestus, mit dem das Lied Hildebrand die »wewurt« ankündigen lässt, entspricht ganz demjenigen, mit dem im ags. Finnsburgh-Fragment Hnæf seine Leute für die »weadæda« des bevorstehenden Kampfes motiviert.Footnote 20 Das Hildebrandslied macht aus der Perspektive derjenigen Figur, welche die erzählte Situation überblickt, deutlich, dass es nicht die potenzielle Vermeidbarkeit des Vater-Sohn-Kampfes zum Thema hat, dass es dessen Exorbitanz nicht zum Anlass von Klage oder Normendiskussion nimmt, nicht zur Demonstration von menschlichem Fehlverhalten oder tragischer Verstrickung einsetzt. Der diskursive Möglichkeitsraum für derartiges ist im Text bereits geschlossen, noch bevor der Vater-Sohn-Kampf eigentlich zur Sprache gebracht wird.
Stattdessen wird dieser Kampf dezidiert heldenepischer Topik zugewiesen und so als typischer Gegenstand heldenepischen Erzählens ausgestellt. Die Formulierung seines alternativen Ausgangs – ›er wird mich oder ich werde ihn töten‹ – ist der Satzrahmen für eine im Hakenstil gefügte Zweiervariation aus den Formeln »suertu hauwan« und »breton mit sinu billiu«, die durch Stabreim auch formal in den Satzrahmen eingebunden sind (»suasat–suertu«, »breton/billiu–banin«).Footnote 21 Mit nachdrücklichem Kunstwillen wird das menschliche Skandalon in den narrativen Diskurs heldenepischen Erzählens gekleidet, dessen konventionelle Formelhaftigkeit anschließend auch Hildebrands Reizrede (V. 55–62) und die Kampfschilderung selbst (V. 63–68) bestimmt.Footnote 22 In Hildebrands Feststellung der Unausweichlichkeit des Kampfes zeigt das Lied an, dass es das Skandalon des Vater-Sohn-Kampfes als einen konventionellen Gegenstand heldenepischen Erzählens sprachlich und gedanklich entfaltet. Die Konventionalität, in die das Lied mündet, hat es vielleicht sogar für entbehrlich erscheinen lassen, den Vater-Sohn-Kampf überhaupt ganz aufzuschreiben.Footnote 23 Die Spezifik des Gegenstandes heldenepischen Erzählens im Hildebrandslied liegt nicht in der Exorbitanz des Kampfes an sich, die ja auch wir heute als typisch für Heldenepik ansehen können,Footnote 24 sondern in der Art seiner Herleitung und Begründung.
Die oben zitierte Geschichte von Hildebrands Exil (V. 50–52), die mit der »wewurt« des Vater-Sohn-Kampfes unmittelbar verbunden ist – eingeschoben zwischen deren Nennung (V. 49) und Explikation (V. 53 f.) –, erläutert das »Schicksalhafte« des »Schmerzes« dessen, der 30 Jahre lang dem Schlachtentod entgangen ist und jetzt gegen den eigenen Sohn kämpfen muss. Hervorgehoben wird damit aber nicht die im Sprachgestus des »welaga nu« bereits diskursiv stillgestellte Tragik dieses Schicksals, sondern dessen Unausweichlichkeit. Und gebunden wird diese Unausweichlichkeit an eine Diskrepanz, die dem Erzähler des Liedes und seinen Rezipienten bereits durchschaubar ist, im Fazit von Hildebrands Exilgeschichte nun aber auch ausdrücklich gemacht wird: Dem Wissen Hadubrands, dass »Hiltibrant tot ist« (V. 44), wird das Wissen Hildebrands, dass man ihm 30 Exiljahre hindurch »den Tod nicht beigebracht hat«, »banun ni gifasta« (V. 52), entgegengestellt. Aus diesem Gegensatz folgt die Unausweichlichkeit des Vater-Sohn-Kampfes (»nu scal […]«, V. 53). Das Hildebrandslied verleiht seinem konventionellen Gegenstand, dem exorbitanten Heldenkampf, eine Spezifik dadurch, dass es ihn als Konsequenz einer an Hildebrands Geschichte und Identität aufgebrochenen Wissensdiskrepanz zwischen Vater und Sohn herleitet und begründet.Footnote 25
Den Einwänden, die sich gegen die Zwangsläufigkeit dieser Konsequenz vorbringen lassen (Könnte Hildebrand sich nicht gleichwohl dem Kampf entziehen? Wäre die Wissensdiskrepanz nicht doch, etwa mittels Zeugen, aufhebbar? usw.), ist die oben genannte Deutungstradition dadurch begegnet, dass sie die Unausweichlichkeit des Kampfes mittels in die Diegese hinein konjizierter Verhaltens- und Handlungslogiken zusätzlich zu plausibilisieren versuchte. Das aber wird vom Text weder unterstützt noch, wie ich zeigen will, verlangt. Die Unausweichlichkeit des Vater-Sohn-Kampfes ist vielmehr eine erzählerische Setzung, die an die Wissensdiskrepanz gebunden ist, darüber hinaus aber handlungslogisch nicht plausibilisiert wird.Footnote 26 Plausibel und sinnvoll wird sie allein dadurch, dass die erzählerische Setzung Teil eines in der Erzählung geführten Diskurses über den von der Hildebrand-Figur repräsentierten Heldentypus ist. Im Folgenden rekonstruiere ich diesen Diskurs und beginne dazu bei Hadubrands Wissen um den Tod seines Vaters, das ja ebenso falsch wie fatal, also hochgradig erklärungsbedürftig ist.
Die beiden Reden, die das Hildebrandslied Hadubrand zuweist, münden jeweils in eine Feststellung von Hildebrands Tod. Und sie sind auch darüber hinaus so parallelisiert, dass die Tatsache sprachlich hervorgekehrt und bedeutsam gemacht wird, dass die wiederholte Feststellung unterschiedlich begründet wird. Die erste Feststellung leitet Hadubrand aus der Kunde ab, die er über seinen Vater als exilierten Gefolgsmann Dietrichs von Bern (V. 17–26) und als hervorragenden Krieger erhalten hatte, und zwar von den Alten des eigenen Sozialverbandes:
dat sagetun mi usere liuti,
alte anti frote, dea erhina warun,
[…].
her was eo folches at ente, imo was eo fehta ti leop;
chud was her chonnem mannum.
ni waniu ih iu lib habbe. (V. 15 f. u. 27–29)
(Dies sagten mir unsere Leute, / alte und erfahrene, die früher lebten, / […]. / Er war immer an der Spitze der Kampfschar, ihm war immer Kampf hochwillkommen; / bekannt war er tapferen Männern. / Nicht, glaube ich, ist er noch am Leben.)
Hadubrands zweite Feststellung hingegen gibt die Kunde von Hildebrands Kampftod wieder, die ihm Seefahrer überbracht hatten:
dat sagetun mi sęolidante
westar ubar wentilsęo, dat inan wic furnam:
tot ist Hiltibrant, Heribrantes suno. (V. 42–44)
(Dies sagten mir Seefahrende, / westwärts über das Meer kommend, dass ihn ein Kampf hinwegraffte: / Tot ist Hildebrand, Heribrands Sohn.)
Parallelisiert sind beide Feststellungen erstens durch ihre formelhafte Einleitung (»dat sagetun mi«) mit angeschlossener Nennung von Subjekt (»usere liuto/sęolidante«) und dessen Charaktersierung (»alte anti frote/westar ubar wentilsęo«), zweitens dadurch, dass sie Hildebrands Tod mit seinem Kriegerdasein, mit »fehta« und »wic«, in Verbindung bringen, und drittens dadurch, dass die erste Feststellung mit einem Vorbehalt (»waniu ih«) versehen ist, durch den die zweite Feststellung den Charakter einer wiederholenden Bekräftigung erhält. In diese Parallelisierung eingebunden und durch sie hervorgehoben sind die beiden unterschiedlichen Quellen, auf denen Hadubrands Wissen über den Vater basiert – die Alten, die »früher lebten«, und die Seefahrer, die »über das Meer« kamen –, sodass ihre Unterschiedlichkeit zu komplementärer Fügung verbunden erscheint: Hadubrands wiederholte Feststellung von Hildebrands Tod erlangt dadurch Bekräftigung und definitive Geltung, dass sie zuerst auf diejenigen, die »früher lebten«, und dann auf diejenigen, die »über das Meer« kamen, zurückgeführt wird. Der Text kehrt hervor, dass Hadubrands Wissen um Hildebrands Tod auf zwei Erweiterungen seines individuellen Wahrnehmungswissens beruht, die sich komplementär zueinander verhalten: erst in zeitlicher, dann in räumlicher Dimension.
Zeit und Raum sind die Grundbedingungen menschlichen Wissenserwerbs, die dem individuellen Wahrnehmungswissen kategorische Grenzen setzen. Und weil die kommunikative Erweiterung dieser Grenzen mittels anderer Wissensträger stets an die Frage gebunden ist, ob das kommunizierte Wissen dieselbe Wahrheit beanspruchen kann wie das eigene Wahrnehmungswissen, schließt dessen Erweiterung in Zeit und Raum immer auch Verfahren der Autorisierung des anderen Wissens ein. Dass das Wissen der ›Alten‹, durch das Hadubrands Wissen in der Zeit erweitert worden ist, im Hildebrandslied einen unhintergehbaren Wahrheitsanspruch besitzt, wird deutlich formuliert. Denn Hadubrand bezeichnet sie als »usere« – d. h. als Angehörige seines eigenen Sozialverbandes, die qualifiziert sind, über dessen Mitglieder (hier Hadubrands Vater) Auskunft zu geben – und als »erhina« lebend – d. h. als Ältere, die in der Lage sind, das individuelle Erfahrungswissen des Jüngeren in die Vergangenheit hinein (hier vor des Vaters Exilgang) zu erweitern.Footnote 27 Fraglich ist der Wahrheitsanspruch allerdings bei den »Seefahrenden«, deren Kunde, Hildebrand sei im Kampf gestorben, ja falsch ist und so jenes sprichwörtliche Seemannsgarn zu sein scheint, dem Hadubrand besser nicht Glauben geschenkt hätte.Footnote 28 Doch Text und Kontext des Hildebrandsliedes zeigen, dass der Irrtum, den die Seefahrer an Hadubrand weitergegeben haben, anders zu beurteilen ist: dass trotz des Irrtums die Kunde der Seefahrer im Text einen unhintergehbaren Wahrheitsanspruch besitztFootnote 29 und dass deshalb nicht Hadubrands Glauben an den Irrtum, sondern der Irrtum an sich auffällig ist und eminent signifikant.
Angezeigt ist dies zunächst in der (ansonsten funktionslosen) Information, dass die Seefahrer »westar« kamen, also von eben dorther, wohin, »ostar« (V. 18 u. 22), Hildebrand ins Exil gegangen war. Die als geografische Beschreibung reichlich ungenaue Information ist als topologische Beschreibung unüberbietbar exakt und bringt die unhinterfragbare Wissenskompetenz derer zum Ausdruck, die von genau dorther kommen, wohin der Gegenstand ihres Wissens sich begeben hatte. Unterstützt wird dies noch durch die andere Information über den Weg der Seefahrer, die ebenfalls als eine topologische Raumangabe zu verstehen ist. Denn die »wentilsęo«, über die sie gekommen seien, bezeichnet (wohl als die »die Welt umwindende See«) generell kein lokal distinktes Meer, sondern das Weltmeer, den Oceanus;Footnote 30 sie steht im Hildebrandslied also nicht für ein konkretes Meer, etwa die Adria, sondern für ›das Meer‹ kat’exochen. Nur so fügt sich die Kunde der Seefahrer auch sinnvoll in die Koordinaten von Hildebrands zuvor erinnertem Exilgang ein: Dass von ihm, der mit Dietrich von Bern, also aus Oberitalien, nach Osten zum König der Hunnen »geritten war«, »raet« (V. 22), ausgerechnet über das Meer Kunde zu Hadubrand zurückkommt, ist nur dann kohärent und sinnvoll, wenn dieses Meer in einem topologischen Sinne zu verstehen ist: als Grenze, die den geografischen Raum kategorisch in ein Diesseits und ein Jenseits teilt, in die Räume der bekannten und der unbekannten Welt.Footnote 31 Die Fahrt der »sęolidante westar ubar wentilsęo« beschreibt im Hildebrandslied nicht die Überwindung eines geografisch lokalisierbaren Meeres, sondern die Überwindung der Grenze zwischen dem Raum von Hadubrands individuellem Wahrnehmungswissen und dem Raum von Hildebrands Exilleben.Footnote 32 Die Fahrt bezeichnet, wissenssoziologisch gesprochen, eine Erweiterung von Hadubrands »Eigensphäre« im Raum, die sich in Typik und Geltungsanspruch komplementär verhält zur Kunde der Alten, zur Erweiterung seiner »Eigensphäre« in der Zeit.Footnote 33
Drei Schritte durch den kulturgeschichtlichen Kontext des Hildebrandsliedes bestätigen und erweitern diese Deutung, indem sie die ›Seefahrer‹ in der genannten Funktion als einen poetischen Topos erweisen und einige wissenslogische Implikationen dieses Topos erkennen lassen. In der erzählten Welt des BeowulfFootnote 34, die stets »zwischen zwei Meeren«, »be saem tweonum«, gelegen ist (V. 858 u.ö.), ist es einerseits naturgegeben, dass man allenthalben »über das Meer« fährt, »ofer yðe, ofer floda, ofer sae« (V. 46, 1826, 2380 u.ö.), und es mithin »Seefahrende« sind – »sæliþende« wie im Hildebrandslied (V. 377 u.ö.) –, die zwischen den Herrschafts- und Handlungsräumen verkehren. Andererseits aber fungieren diese Seefahrenden im Beowulf erkennbar auch als eine poetisch topisierte Institution der Wissensvermittlung.
Denn der Verkehr der »sæliþende« dient auch hier immer einem Transfer von Wissen zwischen den Handlungsräumen, einem Wissen zumal, das niemals falsch ist und niemals in seinem Wahrheitsgehalt angezweifelt wird. Ein unwahres Wissen hingegen – Unferths Version von Beowulfs Wettkampf mit Breca – wird der spezifisch motivierten und unmittelbar nachprüfbaren Willkür eines Sprecherindividuums zugeschrieben (V. 499–524). Im Unterschied dazu gewährleisten die immer pluralisch-kollektiv bezeichneten Seefahrenden stets Wahrheit, insbesondere die Wahrheit eines aus der Ferne stammenden Wissens, das nicht unmittelbar nachprüfbar ist,Footnote 35 und eines Wissens um Außergewöhnliches, das einer autorisierten Gewährleistung besonders bedarf: Hrothgar weiß von Beowulfs 30-Männer-Stärke durch »Seefahrende«, »sæliþende«, die aus Beowulfs Heimat zu ihm gekommen waren (V. 377–381),Footnote 36 ebenso wie später Hygelac von Beowulfs Monster-Kämpfen durch den Helden und seine Begleiter selbst erfährt, die soeben »über das salzige Wasser«, »ofer sealt wæter«, zurückgekehrt sind (V. 1989). Als ›Seefahrer‹ fungieren die Figuren als poetisch spezifizierte Augenzeugen, die mit unhintergehbarer Autorität ausgestattet sind, weil sie von dort kommen, wo das Außergewöhnliche statt hat – ungeachtet sonstiger Figurencharakteristik: Die Wahrheit der Kunde, die Beowulf vom Sieg über Grendel zurück in die Heimat bringt, und die Wahrheit der Kunde, die Unbenannte von Grendels Treiben vorher zu Beowulf gebracht hatten, ist beiderseits dadurch verbürgt, dass die Überbringer »saeliðend« sind (V. 411 u. 1818). Dem entspricht, dass die Kunde jener Unbenannten verbrieft war in »Erzählliedern«, »gyddum« (V. 151), wie sie im Beowulf auch sonst als Medium der institutionalisierten Speicherung und Kommunikation von Wissen genannt und zitiert werden.Footnote 37 Als Träger dieser Wissensinstitutionalisierung werden die unbenannten »saeliðend« am Ende auch für befähigt und befugt erklärt, die Bezeichnung für Beowulfs am Meeresufer aufragenden Grabhügel, »von fern her«, »feorran«, an ihm vorübersegelnd, zu einem weitbekannten Toponym mit alliterierend reklamierter Gültigkeit zu machen: »Biowulfes Biorh« (V. 2806–08).
Der Beowulf bestätigt, dass die Seefahrer im Hildebrandslied als Träger eines »von fern her« stammenden Wissens fungieren, die als poetisch spezifizierte Augenzeugen mit einem unhintergehbaren Wahrheitsanspruch ausgestattet sind. Welche Reichweite dieser Anspruch aber in einer semi-oralen Gesellschaft des frühen Mittelalters besitzen konnte, lässt sich der Cosmographia Aethici ablesen, einer wohl im 2. Viertel des 8. Jahrhunderts im angelsächsischen Raum entstandenen und nicht wenig verbreiteten Weltbeschreibung, deren geografisches Wissen nach heutiger Erkenntnis vollständig der lateinischen Schriftüberlieferung entnommen ist.Footnote 38
Entgegen dieser Erkenntnis wird die erzählerische Präsentation des Wissens in der Cosmographia in zwei Quellen- und Autorisierungsfiktionen verankert: Die Weltbeschreibung wird als Reisebericht eines gewissen Aethicus ausgegeben, der von Hieronymus einer Redaktion unterzogen und so der Nachwelt überliefert worden sei. Autorisiert wird das präsentierte Weltwissen also einerseits über Instanzen und diskursive Techniken der Schriftkultur – die lateinische Sprache, den Namen des Kirchenvaters, die Titulierung des Reisenden (»Aethicus« = »ethicus«, im Text meist anonym »chosmografus«, »philosophus« oder »sophista«) und die dem Text eingeschriebene Redaktionstätigkeit – wie andererseits über die Methodik der Wissensbeschaffung und -vermittlung einer oralen Kultur: über die Augenzeugenschaft des Reisenden, die der Text in Fortbewegungen (»navigare« 111,19, »properare« 112,9, »vergere« 114,10 u. v. m.) und Aufenthalten (»in Arminiam […] annum et mensibus quinque se mansurum adserit« 183,16 f. usw.), im Sehen und Hören (»vidimus« u. »a narrantibus conperimus« 158,11 u. 14, »adfirmantibus incolis« 199,6 usw.), sogar in Imponderabilien des Reisens (Nahrungsmangel 234,2–5, Hitze 235,4 f., Gastfreundschaft 235,13 f.) durchgehend präsent hält. Die zwei Autorisierungsverfahren sind dabei nicht, wie in einem Text der lateinischen Wissenstradition zu erwarten wäre, zugunsten der Schriftkultur hierarchisiert, im Gegenteil: Die dem Text zugrunde liegende Methode, eine Kompilation gelehrten Schriftwissens über die Welt in Form eines Reiseberichts auf die Autorität eines Augenzeugen zurückzuführen, weist Letzterer den höheren Stellenwert zu. Das ist im Text mehrfach auch explizit gemachtFootnote 39 bis hin zur abschließenden Bemerkung, dass die Ordnung der vorliegenden Weltbeschreibung nicht der geografischen Ordnung der Welt selbst entspreche, sondern den Schwierigkeiten einer Weltreise geschuldet sei:
Haec omnia nationum et gentium atque terrarum proprio labore desudavit, ut adserit idem sofista, non per ordinem propter navalem maris oceani ambitum, quia, ubi et navigare licitum, et difficile fuit. (241,13–16)
(All diese Völker und Stämme sowie Länder hat, wie jener Gelehrte versichert, er selbst in mühevoller Anstrengung erkundet, [freilich] nicht in der richtigen Reihenfolge wegen seiner Weltumrundung zu Schiff, weil, auch wo es möglich war, mit dem Schiff hinzugelangen, es gleichwohl schwierig war.)
Das schriftliche Weltwissen wird in der Cosmographia an die Autorisierungsmethodik einer oralen Kultur akkommodiert, weil diese (vielleicht mit Blick auf irgendwelche Textzwecke, einen intendierten Adressatenkreis, ein kulturpolitisches oder missionarisches Engagement o. ä.) als höherrangig vorgestellt wird. Die Autorisierungsinstanzen und -techniken der Schriftkultur hingegen dienen der Versicherung, dass das mit der Autorität des Reisenden ausgestattete Wissen auch kompatibel ist mit dem Wissen der Schriftüberlieferung.Footnote 40
Die Cosmographia Aethici zeigt, dass in der semi-oralen Kultur des Frühmittelalters die methodischen und darstellerischen Verfahren von mündlicher Wissensautorisierung gegenüber den Verfahren der Schriftkultur nicht nur Bestand, sondern auch Prävalenz behalten konnten. Und sie zeigt, dass die Seefahrenden in Hildebrandslied und Beowulf als eine poetisch spezifisch kodierte Erscheinungsform ›des Reisenden‹ anzusehen sind, d. h. als Erscheinungsform einer topisierten Institution von Augenzeugenschaft, mit der in einer (semi-)oralen Kultur der räumlichen Erweiterung der Eigensphäre individuellen oder kollektiven Wissenserwerbs eine Wahrheitsfähigkeit zugeschrieben werden kann. Weitere Implikationen eines solchen an den Topos ›des Reisenden‹ gebundenen Wissenserwerbs gibt schließlich der angelsächsische Widsith zu erkennen, der im späten 10. Jahrhundert überliefert und vielleicht älteren Ursprungs ist.Footnote 41
Der Widsith bietet einen Überblick über Völker und Könige verschiedener Zeiten und Räume, dessen katalogförmige Aufzählungen sich zu einer anspielungshaft evozierten Weltkunde – von alttestamentlicher Zeit bis ins 7. Jahrhundert, von Irland und Schottland bis Indien und China – mit Schwerpunkt auf dem Nord- und Ostseeraum der (Post‑)Völkerwanderungszeit zusammenfügen.Footnote 42 Ähnlich der Cosmographia Aethici wird der Überblick zwei Vermittlungsinstanzen zugewiesen: dem »Widsið« (V. 1), dem als sprechendem »ic« der Überblick in den Mund gelegt ist (V. 10–134), und der Erzählerfunktion des Textes, die jenes Sprecher-Ich vorstellt – einleitend als Reisenden und Wissenden (V. 1–9), abschließend als Angehörigen der sozialen Gruppe professioneller »Spielmänner«, »gleomen« (V. 135–143) – und den Bericht dieses Ichs zitathaft (»Da begann er vieles zu sprechen«, »Ongon þa worn sprecan«, V. 9b) in eine rudimentäre Diegese einbettet. Anders als in der Cosmographia wird durch die Vermittlungsinstanzen im Widsith also nicht das Verhältnis zwischen mündlicher und schriftlicher Wissenskultur reflexiv, sondern Wissenserwerb und -vermittlung einer mündlichen Kultur an sich: das »singan ond secgan« (V. 54) im Augenzeugenbericht und im stabreimenden Lied.Footnote 43
Der Erzähler setzt dem Sprecher-Ich des »Widsið«, des »Weitgereisten«, die Maske ›des Reisenden‹ dezidiert auf: »Er, der die meisten Länder der Menschen auf der Erde / und Völker bereiste«, »se þe monna mæst mægþa ofer eorþan, / folca geondferde« (V. 2 f.), habe dadurch die Befähigung zu seiner Kunde erlangt; denn weil, wie das Ich selbst dann ausführt, es »viele fremde Länder der weiten Welt«, »fela fremdra londa / geond ginne grund«, durchreist habe, »deshalb«, »forþon«, könne es von der Welt »Geschichten singen und sagen«, »singan ond secgan spell«, also institutionell gesicherten und wahrheitsfähigen Bericht geben (V. 50–56). Mit einer »ersten Reise«, »forman siþe«, die der »Widsið« im Gefolge einer anglischen Königstochter zum Ostgotenkönig Ermanarich unternommen habe (V. 5b–9a), wird dieser Befähigung auch noch ein biografisches Initialmoment beigegeben, das dann fortgeschrieben wird in weiteren Bemerkungen, in denen der »Widsið« – ähnlich wie der Aethicus der Cosmographia – als reisende Person konkret vorstellbar gemacht wird: Einsamkeit in der Heimatferne (V. 52 f.), gastliche Aufnahme (V. 56), Beschenkung (V. 65–67 u. 89–92), Heimkehr zu Gefolgsherr und Erbbesitz (V. 93–96). Gerahmt von diesen Bemerkungen werden somit auch in den katalogförmigen Aufzählungen der Völker und Könige, die der »Widsið« gesehen habe, die anaphorisch gereihten Ich-Prädikationen »Ich war bei den Hunnen und bei den Ruhm-Goten«, »Ic wæs mid Hunum ond mid Hreðgotum« (V. 57, so V. 57–70 u. 75–88), oder »Hehca suchte ich auf und Beadeca und die Harlungen«, »Hehcan sohte ic ond Beadecan ond Herelingas« (V. 112, so V. 110–124), mit einer biografischen Referenzbehauptung ausgestattet.Footnote 44 Und weit deutlicher als in der Cosmographia Aethici wird im Widsith durch diese Referenzbehauptung das versammelte Weltwissen nicht nur autorisiert, sondern auch ich-spezifisch perspektiviert.
Dass dem Überblick über Völker und Könige im Widsith, wie man bemerkt hat, »Landkarte und Zeitrechnung« fehlen,Footnote 45 ist darauf zurückzuführen, dass alle räumlichen und zeitlichen Differenzen des Überblickten im Präsentationsmodus des ›Ich war bei‹ vollständig nivelliert werden. Die Reisedistanzen des »Widsið« werden niemals genannt, sodass in seinem Bericht Meder und Perser unmittelbar zusammenrücken mit den Myrgingen, seinem heimischen Sozialverband (»Bei den Medern war ich und den Persern und den Myrgingen«, »mid Miodum ic wæs ond mit Persum ond mid Myrgingum«, V. 84), oder Chinesen mit Griechen und Finnen (V. 75 f.) usw. Ebenso wenig interessieren Zeitunterschiede, sodass die alttestamentlichen Assyrer und Ägypter (V. 82 f.) in denselben Zeitrahmen des biografischen »Ich war bei« versetzt werden wie die Sarazenen (V. 75) oder Franken und Friesen (V. 68) usw.; bei dem Goten Ermanarich († 376, V. 88–92) sei das Ich ebenso gewesen wie bei dem Burgunden Gundahar († 436, V. 65–67), dem Langobarden Alboin († 572/3, V. 70–74) und »Þeodric«, welchem auch immer (V. 115). Und gleichfalls völlig nivelliert werden in der biografischen Perspektive des »Ich war bei« auch alle Differenzen von Überlieferungsarten und ihren Geltungsansprüchen: Die Kunde davon, dass Alexander der Große der mächtigste aller Menschen gewesen sei (V. 15–17), besitzt keine andere Geltung als die Kunde davon, dass Witege und Heime die besten Kampfgefährten gewesen seien, »allzeit in dem Haufen« zu finden, aus dem »bebend flog der surrende Speer auf grimmige Völker«, »ful oft of þam heape hwinende fleag / giellende gar on grome þeode« (V. 125–130). Historiografie und Heldenepik sind ununterscheidbar. Das Wissen, das über Alexander oder Witege, über CaesarFootnote 46 oder Sibeche, über Theuderich-Theoderich-Dietrich usw. aufgerufen werden soll, ist unterschiedslos wahr. Im Augenzeugenbericht des »Widsið« erhält das Wissen jedweder Überlieferung denselben Wahrheitsanspruch einer baren, aller generischen Differenziertheit entkleideten Faktizität.Footnote 47
Der Cursus vom Beowulf über die Cosmographia Aethici zum Widsith macht für die Seefahrer im Hildebrandslied dreierlei deutlich. Erstens stellen die Seefahrer auch hier eine Wissensinstanz dar, die als eine poetisch konventionalisierte Erscheinungsform des topischen ›Reisenden‹ im Vorstellungshaushalt frühmittelalterlicher (semi-)oraler Gesellschaften mit unhintergehbarer Autorität ausgestattet ist.Footnote 48 Komplementär zum Wissen der Alten enthält auch das Wissen der Seefahrer per se den Anspruch auf faktische Wahrheit.Footnote 49 Doch im Unterschied zu jenem Wissen um Hildebrands ausgezeichnetes Kriegertum ist das Wissen um seinen Tod tatsächlich falsch. Es ist, wie sich jetzt – zweitens – sagen lässt, gleichwohl falsch, entgegen der Funktion, die den poetischen Seefahrern konventionellerweise zukam. So ist im Hildebrandslied nicht Hadubrands Glauben an die Kunde der Seefahrer auffällig und bedeutsam, sondern deren Irrtum. Und diese Bedeutsamkeit basiert – drittens – auf der Abweichung von einer erzählerischen Konvention, verweist also den Rezipienten nicht auf etwaige Gegebenheiten der Diegese (wo der Irrtum auch nicht weiter verfolgt, etwa begründet wird), sondern auf den narrativen Diskurs, in dem die Abweichung konstruiert wird. Hadubrands falsches Wissen, das Verkennen seines Vaters, besitzt Signifikanz weniger in der erzählten Welt als im narrativen Diskurs, der jene Welt inszeniert und reflektiert. Hadubrands Verkennen ist signifikant darin, dass es das Wissen über Hildebrand zum eigentlichen Thema der Erzählung erhebt: In der Begründung für das Verkennen wird das, was über Hildebrand wissbar ist, zum Gegenstand erzählerischer Reflexion.
Im Gegensatz zu Hadubrands Wissen, das auf die Erweiterung der Eigensphäre seines subjektiven Wissens durch externe Autoritäten der Wissensvermittlung in Zeit und Raum gegründet ist, ist Hildebrands Wissen um sein dreißigjähriges Überleben im Exil ein Wissen, das zwar extradiegetisch für Erzähler und Rezipienten wahr ist, in der erzählten Welt aber auf das »ich«, das dieses Wissen in der oben zitierten Passage V. 50–52 artikuliert, beschränkt bleibt. Ohne Aufbietung eines Erkennungszeichens oder eines Zeugen, die aus der Unbegrenztheit erzählerischer Möglichkeiten hätten hervorgezaubert werden können – etwa aus den von Hildebrand erwähnten »Ostleuten«, »ostarliuto« (V. 58), die ihn (in welcher Reichweite auch immer) begleiten –, belässt es die Erzählung dabei, Hildebrands Wissen als eines vorzuführen, das allein subjektiv gültig ist. Hadubrands Wissen um Hildebrands Tod hingegen wird in einem Vorgang verankert, den man mit Berger und Luckmann die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit nennen kann: Erst mit dem Vorbehalt subjektiver Einschätzung bedacht (»waniu ih«), erlangt es eine gesellschaftlich »konstruierte Objektivität« dadurch, dass es mit dem von den »Institutionen« der Alten und Seefahrer vermittelten Wissen kompatibel, also »intersubjektiv sedimentiert« und gültig gemacht ist.Footnote 50 Die an der Identität Hildebrands aufgebrochene Wissensdiskrepanz, an die das Hildebrandslied die Unausweichlichkeit des Vater-Sohn-Kampfes bindet, besteht also darin, dass das eine Wissen als ein sozial objektiviertes und das andere als ein subjektiv bleibendes Wissen gekennzeichnet ist – mit der Pointe, dass gerade das sozial objektivierte Wissen falsch ist.
Eine Bedeutung kommt dieser Pointe dadurch zu, dass der Differenz der Geltungsformen von Hadubrands und Hildebrands Wissen auch die Differenz von dessen Inhalten entspricht. In Hadubrands Wissen artikulieren sich wiederholt Normen des allgemeinen Weltlaufs. Seine oben zitierte erste Feststellung von des Vaters Tod ist eine Wahrscheinlichkeitserwartung, die aus dem von den Alten überlieferten Wissen um Hildebrands ausgezeichnetes Kriegertum abgeleitet ist: Ein Krieger, dem »immer Kampf überaus lieb«, »eo fehta ti leop«, ist und der »immer an der Spitze der Menge«, »eo folches at ente«, kämpft, wird 30 Jahre später, wie man »erwarten«, »wanian«, darf, »wohl nicht mehr am Leben sein«, »ni iu lib habbe«; und die Kunde der Seefahrer liefert die Bestätigung dieser Normalerwartung. Komplementär dazu verhält sich Hadubrands Einschätzung des ihm gegenüberstehenden »alten« Kriegers (V. 39): Der sei nur deshalb »ein so alt gewordener Mann«, weil er »immer Heimtücke gebraucht« habe (»pist also gialtet man, so du ewin inwit fortos«, V. 41); und weil man als Krieger allenfalls dann alt werde, wenn man »übermäßig schlau«, »ummet spaher« (V. 39), ist – schlauer, als es sich gehört –, bewertet Hadubrand auch das Huldangebot seines Gegenübers als Täuschungsversuch für einen Vorteil im Zweikampf: »Du bestrickst mich mit deinen Worten, willst mich mit deinem Speer erlegen«, »spenis mih mit dinem wortun, wili mih dinu speru werpan« (V. 40).Footnote 51 Dem entgegen hält er ein Wissen um ein normgerechtes Verhalten in der aktuellen Situation, das in seiner phraseologischen Sedimentierung Verbindlichkeit reklamiert: »Mit dem Speer muss ein Mann eine Gabe entgegennehmen, / Spitze an Spitze«, »mit geru scal man geba infahan, / ort widar orte« (V. 37 f.).Footnote 52 Hadubrand verkennt seinen Vater, weil sein Wissen um dessen Tod auch darin gesellschaftlich objektiviert ist, dass es inhaltlich auf allgemeinverbindliche Normen eines Kriegerlebens gestützt ist.
Dabei wendet Hadubrand diese Normen auf den Vater in durchaus laudativem Sinne an. Denn Listgebrauch im Kampf wurde in der frühmittelalterlichen Adelskultur nicht pauschal negativ gewertet;Footnote 53 und für ganz ähnliche Ablenkungslisten, wie Hadubrand sie seinem Gegenüber unterstellt, ließen sich auch höchstrenommierte Beispiele anführen.Footnote 54 Mit dem harten Wort »Heimtücke«, »inwit«, zu verurteilenFootnote 55 war solches nur dann, wenn es an einem Maßstab gemessen wurde, bei dem »List« eben doch keine Alternative zu »Mannhaftigkeit« ist, sondern als Zeichen »übermäßiger«, also ungebotener Schlauheit erscheint. Es ist dies genau jener Maßstab, bei dem das »stets« exponierte Kämpfen »an der Spitze der Menge«, d. h. alternativlose Tapferkeit den Krieger auszeichnet, ihn, wie Hadubrand über seinen Vater weiß, »bekannt« gemacht hat bei »den tapferen Männern«, bei solchen also, deren Identitätsmerkmal allein Tapferkeit ist: »chud was her chonnem mannum« (V. 28).Footnote 56 Hadubrands Wahrscheinlichkeitsschluss auf die nicht allzu lange Lebenserwartung eines solchen Kriegers und seine damit einhergehende Zurückweisung des Huldangebots des vor ihm stehenden Alten basieren gemeinsam auf einer Verabsolutierung von Tapferkeit als einem kriegerischen Wert, d. h. auf einer Idealisierung von Hildebrands Kriegertum im Rahmen dessen, was der Normallauf der Welt als ideal zulässt. Die gesellschaftliche Objektivierung des Wissens um Hildebrands Tod beruht auf dieser Idealisierung.Footnote 57
Dass dieses Wissen gleichwohl falsch ist, impliziert deshalb auch, dass Hildebrand mit seinem 30-jährigen Exilleben nicht nur kontingent eine gängige Normalerwartung außer Kraft gesetzt, sondern auch kategorisch die Normativität, deren Begrenzungsrahmen Hadubrands Ideal vom väterlichen Kriegertum gewissermaßen ausschöpft, überschritten hat. Ausdrücklich gemacht wird dies ebenfalls in Hildebrands oben zitierter Feststellung der Unausweichlichkeit des Kampfes. Denn sein dem Wissen des Sohnes entgegengesetztes Wissen darum, dass man ihm 30 Jahre lang »den Tod nicht beibrachte« (»banun ni gifasta«), schließt eine Bestätigung jenes Bildes eines stets exponiert kämpfenden Kriegers ein (»man mih eo scerita in folc sceotantero«); und die Übertragung des wiederholten »immer«, »eo«, aus Hadubrands Rede in Hildebrands Erzählung zeigt an, dass die Bestätigung zugleich eine Überschreitung darstellt, eine Überschreitung der Normativität, die Hadubrands Wissen begrenzt: Obwohl Hildebrand der Krieger, dessen Bild dem Sohn überliefert worden war, tatsächlich (geblieben) ist, hat er überlebt, entgegen aller Wahrscheinlichkeit des normalen Weltlaufs. Mit der Subjektivität von Hildebrands Wissen korrespondiert die Exklusivität seiner normüberschreitenden Existenz.
Das Hildebrandslied funktionalisiert, so lässt sich ein erstes Fazit ziehen, die Wissensdiskrepanz zwischen Hadubrand und Hildebrand für eine nachgerade analytische Explikation dessen, was der Nordist Klaus von See heroische Exorbitanz genannt und als Wesenskern der europäischen Heldensagen und -epen identifiziert hat: die Widersetzlichkeit heroischen Handelns und Seins gegenüber den Normen menschlicher Sozialität.Footnote 58 Indem das Lied Hildebrands kriegerische Existenz den Normen entgegenstellt, auf denen das sozial sedimentierte Wissen von seinem Tod basiert, schreibt es Hildebrand eine heroische Exorbitanz narrativ zu, oder besser: reflektiert es Hildebrands Exorbitanz in einem im Figurendialog erzählten analytischen Prozess. Und dieser Diskurs über Hildebrands Exorbitanz ist es, an den das Lied die Unausweichlichkeit des Vater-Sohn-Kampfes bindet: einerseits in Form eines impliziten Analogieschlusses – der Normwidrigkeit der Heldenfigur entspricht die Normwidrigkeit des Vater-Sohn-Kampfes –, der andererseits aber auch durch eine explizite Konsequenzlogik unterstützt wird.
Artikuliert wird diese Logik in einem Satz Hildebrands, der vorderhand den Handlungszusammenhang zu stören scheint und deshalb der Forschung immer schon die größten Deutungsprobleme aufgegeben hat.Footnote 59 Hildebrands oben zitierte Feststellung von »wewurt« und Unausweichlichkeit des Kampfes (V. 49–54) schließt an eine Bemerkung an, die auf Hadubrands definitive Behauptung vom Tod des Vaters unmittelbar antwortet:
wela gisihu ih in dinem hrustim,
dat du habes heme herron goten,
dat du noh bi desemo riche reccheo ni wurti. (V. 46–48)
(Deutlich sehe ich an deiner Rüstung, / dass du daheim einen guten Herrn besitzt, / dass du bislang unter diesem HerrscherFootnote 60 nicht zum Exilanten wurdest.)
Man hat dies als Vorwurf an den Sohn gedeutet, vom Vatersfeind Odoaker korrumpiert und gegen den Vater untreu geworden zu sein;Footnote 61 doch setzte ein (wie auch immer gemeinter) Vorwurf eine Willkür in Hadubrands vorherigem Verkennen voraus – aus Böswilligkeit, Verblendung, Hitzköpfigkeit usw. –, die von der im Text vorgeführten gesellschaftlichen Konstruktion dieses Wissens dementiert wird. Stattdessen verankert der Satz, wie ich meine, die Wissensdiskrepanz zwischen Vater und Sohn in einer elementaren räumlichen Struktur menschlicher Erfahrungs- und Wissensmöglichkeiten, die mit der sozialen Konstruktion von Hadubrands Wissen über den Vater und seiner Überschreitung durch Hildebrand kongruent ist, sodass ein Erkennen des Vaters durch den Sohn als Unmöglichkeit erscheint und für unmöglich erklärt wird.
Der Aussagekern des Satzes liegt in der Gegenüberstellung eines sozial eingebundenen Kriegerdaseins – »heme« und angemessen versorgt durch einen »herron«Footnote 62 – mit einem Dasein jenseits solcher Einbindung – als »reccheo«, »Mann fern der Heimat«.Footnote 63 Mit dieser Gegenüberstellung fasst Hildebrand pointiert zusammen, dass die Lebensräume, die während der vergangenen 30 Jahre seinen Sohn und ihn beherbergt hatten, oppositionell differieren: das Leben »in lante«, im »Heimatland«, wie Hadubrand es sich zugeschrieben hatte (V. 20), und das Leben »ur lante«, »außerhalb des Heimatlandes«, wie Hildebrand es sich anschließend zuschreibt (V. 50). Die Opposition dieser Lebensräume lässt sich auf die elementarste Struktur menschlicher Weltwahrnehmung abbilden: auf ein lebensweltlich-gesellschaftliches »Innen« und »Außen«, das aus einem wahrnehmungslogischen »Hier« und »Anderswo« abgeleitet ist,Footnote 64 d. h. aus der Struktur, die, wissenssoziologisch gesprochen, die Eigensphäre menschlichen Wissenserwerbs und -bestandes in der »natürlichen Einstellung« definiert.Footnote 65 Als Ausdrucksform dieser elementaren Wissensstruktur impliziert die Daseinsopposition »in lante« und »ur lante« somit auch eine Opposition zweier Bezirke des Wissenserwerbs, die weder begrifflich noch sachlich vermittelbar sind: Das Wissen, das man »heme« erwirbt, ist ein anderes als das Wissen, das man als »reccheo« erwirbt. Wenn Hildebrand also konstatiert, dass sein Sohn »heme« im Herrendienst versorgt und noch nicht »reccheo« geworden ist, dann konstatiert er auch, dass das Wissen seines Sohnes als ein solches, das man »in lante« erwirbt, spezifisch begrenzt ist, nämlich oppositionell abgegrenzt von dem Wissen, das man »ur lante« erwirbt. In Hildebrands Antwort auf Hadubrands Feststellung seines Todes bringt der Text zum Ausdruck, dass ein »reccheo« wie Hildebrand, der die Normen eines dem Weltlauf entsprechenden Kriegerdaseins überschritten hat, aus dem Lebenshorizont »heme« heraus, in dem jene Normen als eine sozial konstruierte Wirklichkeit Geltung besitzen, nicht erkannt werden kann.Footnote 66 »Exorbitantes kann nicht mit den Kategorien des Orbitanten erfasst werden.«Footnote 67 Das Hildebrandslied expliziert Hildebrands heroische Exorbitanz mittels einer heldenepisch kodierten Wissenssoziologie.Footnote 68 Den Vater-Sohn-Kampf macht es damit zur logischen (und denkbar radikalsten) Ausdrucksform der Inkompatibilität des Exorbitanten mit der ihm konfrontierten Gesellschaft.Footnote 69
Der Diskurs über Hildebrands Exorbitanz im Lied handelt aber, wie ich meine, nicht nur von der individuellen Sagenfigur Hildebrand, sondern besitzt, vorsichtig formuliert, auch das Potenzial, in der Sagenfigur den exorbitanten Heldentypus der heldenepischen Überlieferung generell anzuvisieren. Das lässt sich zuletzt nun noch aus einem Vergleich mit dem angelsächsischen Waldere-Fragment ableiten, in dem zwei Szenen aus der Walther-Sage überliefert sind.Footnote 70
Wie im Hildebrandslied wird auch im Waldere aus dem Munde einer anderen Figur, die, im Fragment ungenannt, höchstwahrscheinlich Walthers Geliebte und Begleiterin Hildegund ist, vor Walthers Kampf gegen Gunthers Heldentruppe der Protagonist dadurch als besonders ausgezeichneter Krieger vorgestellt, dass er als »Kämpfer an der Spitze«, »ordwyga« (I, V. 6), angeredet wird. Und auch hier wird aus dessen stets exponiertem Kämpfen (I, V. 13–17) die Wahrscheinlichkeitserwartung abgeleitet, dass ein solcher Krieger einen frühen Tod finden werde:
ac đu symle furđor feohtan sohtest,
mæl ofer mearce; đy ic đe metod ondred,
þæt đu to fyrenlice feohtan sohtest (I, V. 18–20).
(Aber du suchtest immer weiter das Kämpfen, / einmal [vielleicht] zu viel; deshalb fürchtete ich für dich das Schicksalsmaß,Footnote 71 / dass du zu unbesonnen das Kämpfen suchtest.)
Denn der Kampf hält immer die Alternative bereit: »das Leben verlieren oder langen Ruhm erleben unter den Männern«, »lif forleosan ođ đe lange dom / agan mid eldum« (I, V. 10 f.).Footnote 72 Doch ebenso wie Hildebrand lässt Walther die Befürchtung unerfüllt, indem er (gemäß der Sage) auch den anschließenden Kampf gegen Gunthers Schwadron überlebt. In beiden Liedern fungiert die Wahrscheinlichkeit, dass den »Kämpfer an der Spitze« der frühe Tod ereilt, als Maßstab für ein Heldentum, das diese Wahrscheinlichkeit außer Kraft setzt und damit nicht nur die kriegerische Idealisierung, auf der die Wahrscheinlichkeitserwartung aufsitzt, übertrifft, sondern auch die Normen, von denen die Idealisierung beschränkt ist, überschreitet. Und in beiden Liedern wird der Maßstab von Figuren artikuliert, die mit den Helden in engster sozialer Verbindung stehen und so die gesellschaftliche Welt repräsentieren, von deren Normen die Helden dezidiert abgehoben werden. Der Waldere und das Hildebrandslied profilieren die Exorbitanz ihrer Helden auf analoge Weise.
Anders aber als der Waldere, in dem Hildegund Walther für den bevorstehenden Kampf mental aufrüstet, konfrontiert das Hildebrandslied diese Profilierung mit einer Problemstruktur, mit der »wewurt« des Vater-Sohn-Kampfes, und konkretisiert so die im Figurendialog explizierte soziale Normwidrigkeit des Exorbitanten in der Asozialität eines (potenziellen und vielleicht am Ende tatsächlichen) Verwandtenmörders. Die Reflexivität, die in dieser Konkretisierung enthalten ist, lässt sich aber, wie ich aus dem Vergleich mit dem Waldere schließen mag, von Hildebrand auch auf Walther übertragen, und dann (potenziell) auf andere Heroen der heldenepischen Überlieferung, auf Heroik an sich. Die analytische Explikation von Hildebrands Exorbitanz im Hildebrandslied enthält eine Reflexion auf heroische Exorbitanz generell, einen Kommentar zu Heldenepik.
Folgt man der hier vorgelegten Neudeutung des Hildebrandsliedes, dann attestiert man dem Lied ein nicht geringes Maß an Intellektualität, wert durchaus, im Kloster Fulda, einem der intellektuellen Zentren des Frankenreichs im 9. Jahrhundert, auf die Außenseiten einer Handschrift mit alttestamentlichen Weisheitstexten aufgeschrieben zu werden.Footnote 73 Aufschlussreicher aber ist, dass die Intellektualität des Liedes in einer Perspektive zum Ausdruck kommt, die, indem sie heroische Exorbitanz der Reflexion unterwirft, auf Heldenepik ›von außen‹ gerichtet ist. Und weil Erzählen stets in einem zeitlichen ›Nachher‹ gegenüber dem Erzählten angesiedelt ist, einem ›Nachher‹, das in der heldenepischen Kommunikation immer auch als ein geschichtliches ›Später‹ gedacht ist, als ein »nu«, in dem Ereignisse aus früherer Zeit »in alten mæren« wiedererzählt werden (Nibelungenlied C 1), lässt sich die Perspektive ›von außen‹, die im Hildebrandslied beschreibbar ist, auch als Perspektive begreifen, die aus einer ›Nachwelt‹ auf die erzählte Heroik gerichtet ist, als eine stricto sensu ›postheroische‹ Perspektive.
Es ist dies die Perspektive, die etwa in der Nibelungenklage ausdrücklich etabliert und langatmig ausgeführt wird: der Blick, der auf das Geschehen des Nibelungenliedes geworfen wird von einer Nachwelt, in der die übriggebliebenen Helden zusammengefasst sind mit den Gemeinschaften, denen das Geschehen erzählt wird, einschließlich der Textrezipienten bis heute. Die Überlieferungskonstanz der Klage im Anschluss an das Lied in den mittelalterlichen Handschriften ist Ausdruck einer Akzeptanz dieser postheroischen Perspektivierung des Heldenepos seitens der Rezipienten, d. h. einer Akzeptanz der literarischen Ausformulierung einer Perspektive, die die Rezipienten als (nicht notwendig adäquate) Spiegelung der eigenen Perspektive begreifen konnten. Doch schon in das Nibelungenlied selbst hat die postheroische Perspektive Eingang gefunden, nicht nur in der zitierten Prologstrophe und nicht nur in jener gedanklich-erzählerischen Auseinandersetzung mit der Geschichte, die in der Fassungsbildung Niederschlag gefunden hat, sondern auch in dem, was man zum innersten Kernbestand des Nibelungenliedes rechnen darf, etwa in der Konzeptbildung eines über weiteste Handlungsbögen geführten, heterogene Geschichten, Figuren und Gesichtspunkte inkludierenden Untergangsgetriebes.Footnote 74 Und das Hildebrandslied zeigt nun, dass die dem hoch- und spätmittelalterlichen Nibelungen-Komplex in mehreren Schichtungen eingeschriebene nachweltliche Perspektive bereits für ein frühestes Zeugnis heldenepischer Überlieferung konstitutiv ist. Die Perspektive einer Nachwelt auf erzählte Heroik ist in der uns erhaltenen Heldenepik von Anfang an nicht nur implizit enthalten, sondern auch sinnstiftend funktionalisiert.Footnote 75 Wenn man dies verallgemeinert zu der These, dass Heldenepik, soweit sie uns zugänglich ist, immer von der Perspektive einer als Nachwelt sich begreifenden Kommunikationsgemeinschaft wesentlich geprägt ist, dann ist der Begriff ›postheroisch‹ im hier beschriebenen Sinne nicht nur terminologisch prägnant und haltbar, sondern auch heuristisch fruchtbar, und dies weit über den Bezirk vormoderner Heldenepik hinaus. Ich deute dies abschließend in drei Aspekten an.
Zum einen lässt sich die im Begriff ›postheroisch‹ verankerte Distanzsetzung zwischen den erzählten Welten und den Rezipientenwelten der Heldenepik als Verständnisschlüssel einsetzen für mögliche Funktionen, die die erzählte Heroik für ihre Kommunikationsgemeinschaften besessen haben mag. Die Exorbitanz der heldenepischen Figuren und Geschehnisse hatte sicher nie – wie es das eingangs genannte neuzeitliche Missverständnis besagt – eine Funktion, welche Distanzannullierung impliziert (Vorbildhaftigkeit, Attraktion von Wunschprojektionen, Befriedigung psychischer Bedürfnisse o. ä.). Auch in Texten, die nachweislich eine kollektiv identitätsstiftende Wirkung entfaltet haben (wie die Ilias), war das Heroische Ausdruck einer Größe, die in Erscheinungsweisen, Leistungskraft und sozialer Destruktivität entgegengesetzt war den Normen der Welt ihrer Rezipienten, der Welt derer, »wie sie jetzt sterblich sind« (V, V. 304 u.ö.). Erinnerungswürdig war dies als Größe einer ›anderen‹ Welt, genauer: ›unserer‹ Welt ›vormals‹. Die der Heldenepik eingeschriebene postheroische Perspektivik lässt sich als Ausdruck dafür verstehen und heuristisch nutzen, dass normative Widersetzlichkeit und Erinnerungswürdigkeit des Exorbitanten für die heldenepischen Kommunikationsgemeinschaften kein Paradox bildeten, sondern den spannungsvollen Konzeptrahmen für eine (wie auch immer konkret geartete und von uns zu rekonstruierende) Auseinandersetzung mit der eigenen sozialen Vergangenheit und Gegenwart.
Die zeitliche Distanzierung der heroischen Welten in eine von der Nachwelt abgehobene Vorzeit bietet zum zweiten eine gedankliche Handhabe, um die Entwicklungen heldenepischer Kommunikationsformen in Spätmittelalter und früher Neuzeit anders zu beschreiben als in einem Gegensatzverhältnis zu früheren (und letztlich ursprünglichen) Kommunikationsformen. Die vielbeschriebenen Tendenzen zur Entgrenzung heroischer Hyperbolik, zur Hybridisierung von Traditionssträngen und Genrekonventionen, zur historiografischen Fixierung der heldenepischen Vergangenheitswelten u. a. m. bezeugen ab dem 13. Jahrhundert sicher Wandlungsprozesse im Verhältnis der Kommunikationsgemeinschaften zu den heldenepischen Stoffen und Texten. Und wenn man dies nicht als Verlustvorgänge, etwa als Zurücktreten eines »Anspruch[s] auf Verbindlichkeit« der Heldenepik für ihre RezipientenFootnote 76 bewertet, sondern als Veränderungsformen einer von vornherein gegebenen postheroischen Perspektive, dann entgeht man nicht nur der Schwierigkeit einer Auskunft darüber, worin genau die früher gegebene und dann geschwundene Verbindlichkeit zu sehen sei, sondern hat auch die Möglichkeit, die Wandlungsprozesse als Fortentwicklungen, Verstärkungen oder Transformationen eines für die Heldenepik immer schon konstitutiven Distanzverhältnisses zu begreifen und kulturgeschichtlich zu konzeptualisieren. Ihre Verbindlichkeit hat die heldenepische Tradition vielleicht erst verloren, als sie in der frühen Neuzeit irgendwann auch nicht mehr gesungen, geschrieben und gedruckt wurde.Footnote 77
Zum Dritten ermöglicht das Konzept der postheroischen Perspektivik einen methodisch kontrollierten Brückenschlag von der vormodernen Heldenepik zu dem Relevanzpotenzial, das die Vorstellung von Heldentum in der europäischen Kulturgeschichte bis heute besitzt. Erkenntnisfördernd könnte dieser Brückenschlag darin sein, dass er einerseits dazu anleitet, die eingangs angesprochene neuzeitliche Neudefinition des Begriffs ›Held‹ in ihrer historischen Spezifik zu reflektieren und so auch die mit der Neudefitinion verbundenen blinden Flecken sicht- und befragbar zu machen, insbesondere ihre mit dem heldenepischen Prestige ererbte ›dunkle Kehrseite‹. Damit würde der Brückenschlag andererseits dazu anleiten, das Relevanzpotenzial der Vorstellung von Heldentum nicht in dessen Bindung an ein soziales Bonum zu suchen, das aus Rezipientensicht immer als ›eigenes‹ firmiert, sondern in einer Differenzerfahrung, deren Sinn und Zweck nicht in ihrer Aufhebung liegt. In den Blick kämen dadurch kulturgeschichtlich variable Erscheinungsformen einer Rezeptionshaltung, mit der der Mensch im Helden einer differenten, wie auch immer größeren und durch die Vergrößerung sinnstiftenden Ausprägung seiner selbst begegnet. Dabei würde die mit dem Konzept einer postheroischen Perspektivik anvisierte historische Konstanz dieser Rezeptionshaltung – ihre Rückbindung von heute an die Kollektiverfahrungen vormoderner heldenepischer Kommunikationsgemeinschaften – nicht die möglichen individualmenschlichen Motive für die Vorstellungen von Heldentum in den Fokus rücken, sondern historisch variable gesellschaftliche Dispositionen.Footnote 78
Zuvorderst aber schärft die postheroische Perspektive, die uns Heutigen und einem einstigen Heldenepikpublikum gemeinsam ist, unseren Blick dafür, dass, auch wenn die, die wir als ›Helden‹ wahrnehmen oder zu ›Helden‹ erklären, kontingent etwas Vorbildliches getan haben mögen, die Vorstellung von Heldentum nie auf die Normativität des Vorbildlichen gerichtet ist, sondern auf die Normüberschreitung des Außerordentlichen, in äußerster Konsequenz: den Sohnesmord. Heldentum taugt zu nichts weniger – immer schon wie heute – als zum Vorbild.
Notes
Stellvertretend hier die einflussreichste These: Herfried Münkler, »Heroische und postheroische Gesellschaften«, Merkur 61 (2007), 742–752, mit größerer Breitenwirkung leicht erweitert wieder in: Ders., Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2015, 169–187.
»Zum Helden kann nur werden, wer bereit ist, Opfer zu bringen, eingeschlossen das größte: das des eigenen Lebens. […] Für diese Bereitschaft zum Opfer werden dem Helden Anerkennung, Ehre und Ruhm zuteil. Die durch das Opfer des Helden vor Unheil oder Niederlagen bewahrte Gemeinschaft dankt ihm dies […]« (Münkler, Kriegssplitter [Anm. 1], 169).
Historisch spezifisch ist der dem Schlagwort zugrunde liegende Heroikbegriff, weil er virulent und charakteristisch war in den europäischen Nationalstaatsgesellschaften bis in die Zeit der Weltkriege. Die Spezifik wird überspielt durch eine der Begriffslogik von ›postheroisch‹ inhärente Suggestion historischer Determiniertheit, die expliziert wird im Dreischritt von einer »präheroischen« über eine »heroische Phase« der Gesellschaftsentwicklung in einen ›postheroischen‹ Zustand (Münkler, Kriegssplitter [Anm. 1], 185). ›Postheroik‹ ist damit die »Zielgerade« nicht einer gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung (184), sondern einer dieser Selbstwahrnehmung aufgesetzten Geschichtsteleologie.
Ilias und Nibelungenlied (Münkler, Kriegssplitter [Anm. 1], 169 u. 175), dazu Odyssee (171), außerdem Wallenstein (178–180).
Karl Reinhardt, »Die Krise des Helden« [Vortrag 1953], in: Ders., Die Krise des Helden. Beiträge zur Literatur und Geistesgeschichte, München 1962, 107–114, hier: 112.
In Kriegen könnten Gesellschaften ihr heroisches Potenzial »verausgab[en]« (Münkler, Kriegssplitter [Anm. 1], 182). Doch auch postheroische Gesellschaften seien mitunter auf die »Mobilisierung aller Energien« angewiesen (184) und müssten zur Selbstbehauptung »einen ›Restheroismus‹« sich verfügbar halten (187). So wird im Bewusstsein eigener Gefährdung, etwa durch den gegenwärtigen Terrorismus (186), das vor-postheroische Opferheldentum gedanklich reaktiviert. Seine praktische Reaktivierung im publizistischen Appell (etwa Christoph Türcke, »Die Wunde der postheroischen Gesellschaft«, Süddeutsche Zeitung 205 [6.9.2017], 13) ist daraus die naheliegende Konsequenz.
Jüngst: Dieter Thomä, Warum Demokratien Helden brauchen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus, Berlin 2019.
Paradigmatisch: Jean-Jacques Rousseau, Discours sur cette question: Quelle est la vertue la plus nécessaire au héros et quels sont les héros a qui cette vertue a manqué? proposée en 1751 par l’Académie de Corse, in: Œuvres complètes, hrsg. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond, Paris 1964, II, 1262–74: Die Tugend, die einem Heros als einem »bienfaiteur du genre humain« (1264) eigen sei, sei nicht »vaillance martiale« (1266), sondern eine von der aristotelisch-ciceronischen ›megalopsychia/magnanimitas‹ inspirierte Spezifikation von ›fortitudo‹ – »la force de l’ame« (1272).
Auch in dem Freiburger SFB 948 Helden – Heroisierungen – Heroismen, in dem kein Teilprojekt der europäischen Heldenepik gewidmet war und ist (https://www.sfb948.uni-freiburg.de/de/teilprojekte/ [2.3.2020]), droht dieser Kontrapunkt im neuzeitlichen Heldenbild keine angemessene Berücksichtigung zu finden. Wenn man das Heroische »nur in Relationen zu und Abgrenzungen von anderen Formen des Exzeptionellen wie dem Übermenschlich-Herausragenden« u. a. bestimmt (Ralf von den Hoff [u. a.], »Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transformationen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne. Konzeptionelle Ausgangspunkte des Sonderforschungsbereichs 948«, helden.heroes.héros 1 [2013], 7–14, hier: 8), setzt man es dem Bereich von Heldenepik vielmehr entgegen.
Der mögliche Nutzen eines solchen Rückbezuges tritt z. B. an dem jüngst erschienenen Buch von Ulrich Bröckling, Postheroische Helden. Ein Zeitbild, Berlin 2020, zutage. Um die vielfältigen Metaphorisierungs- und Metonymisierungsketten im Wortfeld ›Held‹ in der Moderne auf »Heroisierungen/Deheroisierungen« (15) jenseits reiner Onomastik befragen zu können, bräuchte es ein distinktes Konzept des Begriffs ›Held‹, das außerhalb dieser Ketten gewonnen ist (anders 19–75) und als Referenzpunkt die Übertragungsvorgänge (die nicht erst bei Hegel, 78–85, beginnen, s. o.) beschreibbar werden lässt. Dann könnte z. B. in Joseph Schumpeters von Nietzsche inspiriertem Bild des Unternehmers (142–148) eine gedankliche Heroisierung durchaus plausibel werden, im Unterschied aber zu dem, was dann als »heroisches Management« und dessen »postheroische« Fortentwicklung etikettiert worden ist (150–163). Eine Orientierung an einem distinkten Referenzkonzept ›Held‹ hätte auch die Flucht des Interpreten ins gedankliche Oxymoron (»Helden«, die »keine mehr sind«, 133, u. a. m.) und in »heroisch-postheroische« Wortstapelungen (139 u.ö.) überflüssig gemacht.
Ich zitiere nach der dem Forschungsstand gemäß zurückhaltend emendierenden Ausgabe in: Althochdeutsche Literatur. Eine kommentierte Anthologie. Ahd./Nhd. u. And./Nhd., hrsg. Stephan Müller, Stuttgart 2007 (Universal-Bibliothek 18491), 28–32; unwesentlich weicht davon ab die ebenso gut verfügbare Ausgabe in: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800–1150, hrsg. Walter Haug, Benedikt K. Vollmann, Frankfurt a.M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 1), 10–14. – Sprachlich verstehe ich den Text, wenn nicht anders vermerkt, auf der Grundlage von Rosemarie Lühr, Studien zur Sprache des Hildebrandsliedes, 2 Tle., Frankfurt a. M., Bern 1982 (EHS I,568). Alle Übersetzungen sind meine.
Die Tötung des Sohnes durch Hildebrand ist bezeugt durch die Historia Danorum des Saxo Grammaticus (Ende 12. Jh.) und die Asmundarsaga kappabana (14. Jh.). Demgegenüber scheint der versöhnliche Ausgang des Zweikampfes, den die Thidrekssaga af Bern (13. Jh.) und das Jüngere Hildebrandslied (15. Jh.) kennen, spezifisch motiviert zu sein durch die Einbindung des Zweikampfes in den Rahmen einer ›glücklichen‹ Heimkehr Hildebrands. Dass die Versöhnung sagengeschichtlich sekundär, vielleicht Teil einer hochmittelalterlichen Neufassung der Zweikampfsage war, ist somit wahrscheinlich, wenn auch nicht beweisbar. Vgl. Klaus Düwel, »Hildebrandslied«, 2VL 3 (1981), 1253 f.
Wolfgang Harms, Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten in der deutschen Literatur bis um 1300, München 1963 (Medium Aevum 1), 21 f.; Ernst S. Dick, »Heroische Steigerung. Hildebrands tragisches Versagen«, in: Wolfgang W. Moelleken (Hrsg.), Dialectology, Linguistics, Literature. Fs. f. Carroll E. Reed, Göppingen 1984 (GAG 367), 41–71.
Helmut de Boor, Die deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung 770–1170, 4., verbesserte Aufl., München 1960 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 1), 69; Siegfried Gutenbrunner, Von Hildebrand und Hadubrand. Lied – Sage – Mythos, mit einem Anhang über Anwendung grafischer Konstruktion auf die Literaturwissenschaft, Heidelberg 1976 (Germanische Bibliothek), 150; Armin Schulz, Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik, Tübingen 2008 (MTU 135), 75; Hugo Kuhn, »Hildebrand, Dietrich von Bern und die Nibelungen«, in: Ders., Text und Theorie (Kleine Schriften 2), Stuttgart 1969, 126–140, hier: 133; Wolfgang Haubrichs, Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60), 2., durchgesehene Aufl., Tübingen 1995 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit I,1), 124; Victor Millet, »Deconstructing the Hero in Early Medieval Heroic Poetry«, in: Victor Millet, Heike Sahm (Hrsg.), Narration and Hero. Recounting the Deeds of Heroes in Literature and Art of the Early Medieval Period, Berlin, Boston 2014 (RGA. Ergänzungsbd. 87), 229–239, hier: 236.
Hugo Kuhn, »Stoffgeschichte, Tragik und formaler Aufbau im Hildebrandslied«, in: Ders., Text und Theorie (Kleine Schriften 2), Stuttgart 1969, 113–125; Werner Schröder, »Hadubrands tragische Blindheit und der Schluß des Hildebrandsliedes«, DVjs 37 (1963), 481–497; Herbert Kolb, »Hildebrands Sohn«, in: Rudolf Schützeichel (Hrsg.), Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bonn 1979, 51–75, hier: 74; Walter Haug, »Literarhistoriker ›untar heriun tuem‹«, in: Winder McConnell (Hrsg.), in hôhem prîse. Fs. f. Ernst S. Dick, Göppingen 1989 (GAG 480), 129–144, hier: 139.
Übersetzung von »sceotantero« nach Elmar Seebold, »Rezension von Lühr [Anm. 11]«, PBB 107 (1985), 269–275, hier: 270–272; Lührs Worterklärung (II, 646–648) läuft auf dasselbe hinaus.
Zu Hildebrands vorangehendem Satz in V. 46–48 s. u.
Vgl. Lühr (Anm. 11), II, 619–624. Die exhortative oder affirmative Bedeutung der Interjektion ist im Althochdeutschen eindeutig und in den Übersetzungstexten am Lateinischen sicher verifizierbar; vgl. Rudolf Schützeichel, Althochdeutsches Wörterbuch, 6. Auflage, überarbeitet u. um die Glossen erweitert, Tübingen 2006, s.vv. »wel(a)2« u. »welaga«; Heinrich Götz, Lateinisch-althochdeutsch-neuhochdeutsches Wörterbuch, Berlin 1999 (Beiband zum Althochdeutschen Wörterbuch), s.vv. »eu« u. »o« sowie (negativ) »heu« u. »vae«; Edward H. Sehrt, Notker-Glossar. Ein althochdeutsch-lateinisch-neuhochdeutsches Wörterbuch zu Notkers des Deutschen Schriften, Tübingen 1962, s.v. »uuola«. Und auch im Altsächsischen (vgl. Heinrich Tiefenbach, Altsächsisches Handwörterbuch / A Concise Old Saxon Dictionary, Berlin, New York 2010, s.vv. »wela2« u. »welaga«) lässt sich ein scheinbar widersprüchlicher Befund leicht in gleichem Sinne erklären: Im Heliand (Heliand und Genesis, hrsg. Otto Behaghel, 10., überarbeitete Auflage v. Burkhard Taeger, Tübingen 1996 [ATB 4]) wird die Interjektion »wela« einerseits, dem ahd. Befund entsprechend, in Kontexten gebraucht, die eine Bedeutung wie »gesegnet seid ihr/seist du, dass …« nahelegen (»Uuala that eu thes mag frâhmôd hugi / uuesan an thesaro uueroldi […]«, V. 1011 f.; »uuela that thu uuîf habes uuillean gôden!«, V. 3024) – vergleichbar dem mhd./nhd. »wol/wohl« + Dat. –, andererseits aber auch in Kontexten, die einen Klagegestus nahelegen können: »›uuola uualdand god‹, queðad si« (sc. die Schar der Verdammten in der Weltgerichtsprophezeiung nach Mt 25,44, V. 4432) und »›uuola crafteg god‹, quað he« (sc. Petrus, seine Verleugnungen nach Mt 26,74 f. beweinend, V. 5011), wozu sich auch in der Altsächsischen Genesis Adams an Eva gerichtetes »uuela, that thu […]« nach ihrer Unglückstat gesellt (V. 1). Der scheinbare Widerspruch löst sich aber auf, wenn man dem Wortgebrauch in allen Stellen ein affirmatives »wahrlich, fürwahr« zugrunde legt, das am Redebeginn Nachdruck auf das Folgende legt und fallweise positiv konnotiert werden konnte. Damit entspricht die Interjektion auch in den as. Belegen dem ahd. Gebrauch (wie übrigens auch der Auslegung der genannten Evangelienverse in dem für den Heliand maßgeblichen Matthäus-Kommentar des Hrabanus Maurus: Expositio in Matthaeum, hrsg. Bengt Löfstedt, 2 Bde., Turnhout 2000 [CC CM 174], II, 674 u. 725 f.). Gerade die zuletzt zitierten Heliand-Formeln, die sich sprachlich ja mit dem Vers des Hildebrandsliedes decken, stehen dessen oben umrissenem Verständnis also nicht entgegen.
Vgl. auch Kuhn (Anm. 15), 120 f. (ohne interpretatorische Konsequenzen).
»Jetzt werden Schmerztaten anheben, / die die Feindseligkeit dieser [unserer] Schar zur Tat werden lassen werden«, »Nu arisað weadæda / ðe ðisne folces nið fremman willað« (s. u. Anm. 34, V. 8bf.).
Zur Variation als Stilmittel im Lied vgl. Lühr (Anm. 11), I, 321–327.
Zur sprachlichen Typik der Kampfschilderung wie auch der Situationseinführung eingangs des Liedes (V. 1–6) vgl. Ingo Reiffenstein, »Zu Stil und Aufbau des Hildebrandsliedes«, in: Adolf Haslinger (Hrsg.), Sprachkunst als Weltgestaltung. Fs. f. Herbert Seidler, Salzburg, München 1966, 229–254, bes. 250 u. 254, außerdem Lühr (Anm. 11), I, 340; zur gedanklichen Typik des Liedeingangs Jan-Dirk Müller, ›Episches‹ Erzählen. Erzählformen früher volkssprachiger Schriftlichkeit, Berlin 2017 (PhStQu 259), 71–75, 275 f. u. 297.
Als Ursache für die Unvollständigkeit der Textaufzeichnung ist, wie in der Forschung erwogen, Blattverlust nicht auszuschließen, jedoch weniger wahrscheinlich als ein bewusster Abbruch am Ende des verfügbaren Schreibraumes. Vielleicht war die Aufzeichnung des Liedes – auf den beiden Außenseiten der ersten und letzten Lage des bereits vollständigen Kodex – noch auf einem hinzugebundenen Einzelblatt (das dann verloren gegangen wäre) oder auf dem Spiegelblatt des hinteren Einbandes (der durch einen jüngeren ersetzt worden ist) zu Ende geführt worden. Doch die planvoll konzipierte, durch Liniierung geleitete und durch viele Korrekturen als bedacht ausgewiesene Art der Aufzeichnung, die auf der zweiten Seite deutlich enger ausgeführt und mit einem vollständigen Syntagma beendet worden ist, legt es nahe, dass die Schreiber versucht haben, den Liedtext so weit aufzuschreiben, wie es schriftästhetisch möglich (z. B. unter Wahrung des durch die Vorderseite gegebenen Schriftraumes) und inhaltlich nötig erschien. Die Aufzeichnungsart spricht dafür, dass die Schreiber in dieser Abwägung das Ende des Kampfes für entbehrlich erachtet haben. Vgl. das Digitalisat der Handschrift (Kassel, UB/LB, 2° Ms. theol. 54, Bl. 1r u. 76v) unter https://orka.bibliothek.uni-kassel.de/viewer/image/1296741113093/1/ (7.8.2019); dazu Maria Vittoria Molinari, »Hildebrandslied. Neue Perspektiven in der textgeschichtlichen Forschung«, ABäG 50 (1998), 21–45, mit ähnlicher Bewertung des Aufzeichnungsendes (37 f.).
Der Vater-Sohn-Kampf ist eine Erscheinungsform der in der Heldenepik verbreiteten biografischen Kodierungen von heroischer Exzeptionalität und Exorbitanz (Konflikte mit Familie oder Herrschaftsverband, Heimatverlust, Leben in der Wildnis usw.); vgl. die Beispiele bei Dean A. Miller, The Epic Hero, Baltimore, London 2000, 70–132, bes. 88–92 zu Störungen der Vater-Sohn-Bindung. – Zum Exorbitanzkonzept allgemein s. u. Anm. 58.
Auch gegenüber allen anderen mittelalterlichen Vater-Sohn-Kampf-Erzählungen, in deren Kontext man das Hildebrandslied gestellt hat (z. B. Jan de Vries, »Das Motiv des Vater-Sohn-Kampfes im Hildebrandslied [mit einer Nachschrift]«, in: Karl Hauck [Hrsg.], Zur germanisch-deutschen Heldensage. Sechzehn Aufsätze zum neuen Forschungsstand, Darmstadt 1961 [WdF 14], 248–284), ist die inszenierte Wissensdiskrepanz der Figuren ein fundamentaler Unterschied. Die Forschung hat das gesehen (Werner Hoffmann, »Das Hildebrandslied und die indogermanischen Vater-Sohn-Kampf-Dichtungen«, PBB [Tüb.] 92 [1970], 26–42), aber noch nicht als interpretatorischen Ansatzpunkt genutzt.
Im Vergleich zur Normverletzung der Sohnestötung sind alle anderen in der Diegese des Liedes aufscheinenden Handlungsnormen von kategorisch minderem Gewicht. Auch von der Rechtsverbindlichkeit einer Bereitschaft zum Vorkampf (sofern das Lied denn überhaupt von einem solchen redet) konnte man wieder gelöst werden (Haubrichs [Anm. 14], 123). Erst recht besitzt der Verweis auf den Anschein von Feigheit in Hildebrands Reizrede (V. 58) kein Plausibilisierungsgewicht: Die Vermeidung eines solchen Anscheins kann keine Sohnestötung begründen (auch nicht in der Heldenepik, vgl. Miller [Anm. 24], 218–220), sondern gehört zu den Stereotypen heldenepischer Reizreden, mit denen das Hildebrandslied seinen Heldenkampf der Typik einer konventionellen Kampfschilderung zuführt.
Vgl. Müller (Anm. 22), 73.
Ebd., 74.
Gutenbrunner (Anm. 14), 19, und Lühr (Anm. 11), II, 463, erwägen für das Verb »sagen« an den zitierten Stellen die Bedeutung »bezeugen«. Mit welcher Semantik auch immer, kann das Signifikat des Wortes hier jedenfalls keine geringere Verbindlichkeit besitzen als im Eingangsvers, in dem das Sprecher-Ich des Textes sein Erzählen über das »seggen« anderer autorisiert: »Ik gihorta ðat seggen«.
Vgl. Lühr (Anm. 11), II, 612–615; zu den dort genannten Belegen auch Lucidarius I,44: »Dise welt ist sinewel vnde ist vnbeslozen mit dem wendelmer« (Der deutsche Lucidarius. Bd. 1: Kritischer Text nach den Handschriften, hrsg. Dagmar Gotschall, Marlies Hamm, Tübingen 1994 [Texte und Textgeschichte 35], 17).
Die Hildebrand-Figur und die Zweikampf-Sage mögen vielleicht ihren Ursprung im oberitalischen Langobardenreich besessen haben (Georg Baesecke, Das Hildebrandlied. Eine geschichtliche Einleitung für Laien mit Lichtbildern der Handschrift, alt- und neuhochdeutschen Texten, Halle/S. 1945, 45–61). Doch folgt daraus nicht, dass es methodisch zulässig wäre, auch die Erzählung des Hildebrandsliedes aus norditalischer Perspektive (z. B. vom Strand von Ravenna aus) zu interpretieren. Der erhaltene Text gibt weder einen inhaltlichen Hinweis auf eine solche Perspektive noch einen sprachlichen Durchblick auf irgendeine vordeutsche Fassung der Erzählung (Lühr [Anm. 11], I, 371), sondern appelliert inhaltlich wie sprachlich ausschließlich an den Verständnishorizont einer deutschsprachigen, vielleicht von Anfang an fuldischen Rezipientenschaft. Auch der Versuch, die erhaltene Erzählung aus der Aktualität der Realhistorie Theoderichs d.Gr. heraus zu interpretieren (Derk Ohlenroth, »Hildebrands Flucht. Zum Verhältnis von Hildebrandslied und Exilsage«, PBB 127 [2005], 378–413), basiert auf der unhaltbaren Annahme, dass man das in ostfränkisch-bairisch-sächsischer Dialektmischung erhaltene Lied wie die sprachliche, motivische und gedankliche Konserve eines gotischen Originals behandeln dürfe.
Auch die Nachricht der Seefahrer »inan wic furnam« ist eine in Beowulf (Anm. 34, V. 1205, 1436, 2119) und Heliand (Anm. 18, V. 761, 2218, 4111) belegte sprachliche Formel, deren Subjekt je nach Stabvorgabe variiert (im Hildebrandslied: »wic« zu »westar/wentilseo«). Das Seefahrer-Motiv im Hildebrandslied ist vollständig poetisch konventionalisiert.
»Eigensphäre« nach Justin Stagl, »Grade der Fremdheit«, in: Herfried Münkler (Hrsg.), Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin 1997 (Studien und Materialien der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Die Herausforderung durch das Fremde der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften), 85–114, hier: 95 f. Der Begriff bezeichnet den Raum des Wissenserwerbs, der nach Schütz und Luckmann in »aktueller« und in »potentieller Reichweite« einer (individuellen oder kollektiven) Wahrnehmung liegt; vgl. Alfred Schütz, Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1979, 64–67. Die Alten und die Seefahrer im Hildebrandslied ermöglichen ein Ausgreifen des Wissenserwerbs über beide lebensweltlichen Reichweiten hinaus.
Beowulf und die kleineren Denkmäler der altenglischen Heldensage Waldere und Finnsburg, mit Text u. Übersetzung, Einleitung u. Kommentar sowie einem Konkordanz-Glossar, 3 Tle., hrsg. Gerhard Nickel, Heidelberg 1976.
Die topische Kodierung von Ferne und Unbekanntheit im Motiv der Seefahrt zeigt sich klarer in solchen Texten, in denen das Motiv nicht von den Vorgaben einer konkreten Geografie abhängt: etwa in The Wife’s Lament, wo die Unerreichbarkeit des Gefolgsherrn wie selbstverständlich dadurch ausgedrückt wird, dass er »über das Spielfeld der Wogen«, »ofer yþa gelac«, gefahren sei (V. 7), oder im Wanderer, wo die »Wege in der Fremde«, »wræclastas«, wie selbstverständlich »über den Wasserweg«, »geond lagulade«, führen (V. 5 u. 3); beides zitiert nach: The Longman Anthology (Anm. 41), 250 u. 168.
Hier (»ðonne sægdon þaet saeliþende«, V. 377) auch mit identischem Stabreim wie im Hildebrandslied (»dat sagetun mi sęolidante«, V. 42, s. o.).
»Liedkundig«, »gidda gemyndig« (V. 867), ist der Sänger, der in Hrothgars Halle Beowulfs aktuelle und Siegmunds vorzeitliche Heldentaten vergleichend besingt. Ein »gid«, vorgetragen von einem »scop«, einem institutionellen Sänger (V. 1065 f.), ist auch die Erzählung vom Finnsburgh-Kampf. Vgl. auch »Spielmannslied«, »gleomannes gyd« (V. 1160), und »Klagelied«, »wordgyd« (V. 3172).
Ich zitiere mit Seiten- und Zeilenzahl nach: Die Kosmographie des Aethicus, hrsg. Otto Prinz, München 1994 (MGH. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 14); einen aktuelleren Forschungsstand bietet: The Cosmography of Aethicus Ister, hrsg. Michael Herren, Turnhout 2011 (Publications of the Journal of Medieval Latin 8). – Zur Entstehung vgl. Herren, lxi, zu Quellen und Verbreitung Prinz, 23 u. 53.
Etwa wird die Glaubwürdigkeit der Tauchfahrt Alexanders des Großen abhängig gemacht von der Verlässlichkeit eines davon berichtenden Volkes am Nordrand der Welt (130,3 f.), oder das Wissen des Aethicus wird als umfassender hingestellt als das verfügbare Buchwissen (141,20–22); usw.
Dass dabei auf die Nennung der tatsächlichen Quellen (v. a. Isidors Etymologiae, daneben Orosius’ Historiae und weiteres) verzichtet wird, bestätigt die Unterordnung der schriftkulturellen Autorisierungsmethodik. Auch die fiktive Redaktionsinstanz des Hieronymus unterwirft das Berichtete zwar gelegentlich dem eigenen Urteil (»nobis incredibile videtur« 182,10 f., »dubia, quae a nobis refutata sunt, obmisimus« 211,2 f.), aber nie dem Abgleich mit einer (alternativen) Schriftquelle. Die vorgebliche Redaktionsinstanz fungiert tatsächlich als Approbationsmedium.
The Exeter Anthology of Old English Poetry. An Edition of Exeter Dean and Chapter MS 3501, hrsg. Bernard J. Muir, 2 Bde., revised second edition, Exeter 2000, I, 238–243; eine aktuelle neuengl. Übersetzung in: The Longman Anthology of Old English, Old Icelandic and Old Anglo-Norman Literatures, hrsg. Richard North [u. a.], Harlow [u. a.] 2011, 91–100. – Die in der älteren Forschung favorisierte Frühdatierung des Textes in das 7. Jahrhundert wird wieder ernsthaft erwogen (Leonard Neidorf, »The Dating of Widsið and the Study of Germanic Antiquity«, Neophilologus 97 [2013], 165–183); eine Deutung aus dem Kontext des 10. Jahrhunderts heraus bei John D. Niles, Old English Heroic Poems and the Social Life of Texts, Turnhout 2007 (Studies in the Early Middle Ages 20), 73–109.
Mein Überblick basiert auf dem Kommentar in: Widsith, hrsg. Kemp Malone, revised edition, Kopenhagen 1962. Zwar ist Malones Identifizierungsarbeit an den im Widsith genannten Namen in einigen Fällen überholt und sind viele Identifizierungen bis heute strittig oder ganz offen, doch beeinträchtigen m. E. die Unklarheiten im Einzelnen die folgende Darstellung und Deutung insgesamt nicht.
Das schließt natürlich nicht aus, dass diese Konstruktion auch aus der Schriftkultur heraus erstellt worden sein könnte, dass der Widsith mithin ein Produkt der Schriftkultur wäre. Allerdings hat die Perspektive der Schriftkultur keinen Eingang in den Text gefunden; vgl. auch Niles (Anm. 41), 108.
Die im Textverlauf erste dieser anaphorischen Reihen enthält noch nicht das »ic«-Subjekt (»Attila herrschte über die Hunnen«, »Ætla weold Hunum«, V. 18, so 18–35), lässt sich aber, vermittelt über den vorausgehenden Vers »Ich hörte von vielen Männern, die über Völker herrschten«, »Fela ic monna gefrægn mægþum wealdan« (V. 10), ebenfalls in den Präsentationsrahmen des Ich-Berichts stellen. – Zum Aufbau des Textes vgl. z. B. Ernst Erich Metzner, »Ein erstes europazentriertes Weltbild. Das alt- und angelsächsische Wissensgedicht Widsith um Alboin in Italien«, in: Laetitia Rimpau, Peter Ihring (Hrsg.), Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, Berlin 2005, 17–35, mit Schema 20.
Andreas Heusler, Die altgermanische Dichtung, 2., neubearbeitete u. vermehrte Ausgabe, Potsdam 1941 (Handbuch der Literaturwissenschaft 13) (Nachdr. Darmstadt 1957), 92.
Das Wort »Casere« zeigt, wie im Präsentationsmodus des Widsith auch einzelne Wortreferenzen flottieren. »Casere« verweist wohl eigentlich auf den Amtstitel der oströmischen Kaiser, wird aber im Rahmen der im Imperfekt dargebotenen Herrscherliste von Attila bis Offa zu einem konkreten Caesar individualisiert (»Caesar herrschte über die Griechen«, »Casere weold Creacum«, V. 20), sodass es dann auch Caius Julius Caesar meinen kann, der »die Herrschaft über die Städte der Freude, über allen wünschbaren Reichtum und über das italische Reich besessen« habe (»Casere, / se þe winburga geweald ahte, / wiolena ond wilna, ond Wala rices«, V. 76–78).
Mit Blick auf die spätere Heldensagenüberlieferung lässt sich der Widsith geradezu als Lehrstück darüber lesen, dass in einer oralen Kultur, in der ein Wissen letztinstanzlich immer durch Augenzeugenschaft beglaubigt wird, die raumzeitlichen Differenzen der Wissensinhalte und ihrer Überlieferungen irrelevant und deshalb aufhebbar sind und dem Wissen notwendig ein faktizistischer Wahrheitsbegriff eignet. Anders gewendet heißt dies, dass Geschichten von Attila, Gundahar, Theoderich usw., die mit dem Wahrheitsbegriff einer oralen Kultur überliefert worden sind, gerade wegen dieses Wahrheitsbegriffs in einem (für uns ahistorischen, fiktiven) raumzeitlichen Einerlei versammelt und ohne Relativierung ihres Wahrheitsanspruchs auch beliebig angereichert werden konnten. Eingeschränkt wurde diese Beliebigkeit durch andere Regulative als ›Wahrheit‹. – Zum Zusammenhang vgl. Harald Haferland, Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im deutschen Mittelalter, Göttingen 2004.
Hadubrands Wissen dagegen als »Geschichtsfiktion« anzusehen (Hartmut Bleumer, »Zwischen Hildebrand und Hadubrand. Held und Zeit im Hildebrandslied«, in: Narration and Hero [Anm. 14], 209–227, hier: 217), setzt eine Verankerung des Textes in der Episteme einer Schriftkultur voraus: im Konsequenzenfeld einer Reflexionsdistanz zu a priori hinterfragbaren Informationsquellen.
Nebenbei bemerkt, wird somit am Hildebrandslied deutlich, dass Walter Benjamins zwei »archaische […] Grundtypen« des Erzählers, nämlich der »seßhafte[] Ackerbauer[]« und der »handeltreibende[] Seemann«, die »in der Ferne des Raumes wie der Zeit zu Hause« sind, einen epistemologischen Kern besitzen, der Benjamins Ausschau nach Ursprünglichkeit des Erzählens transparent werden lässt auf eine Sehnsucht nach Wahrheit im Erzählten. Vgl. Walter Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, II. Aufsätze, Essays, Vorträge 2 (Werkausgabe 5), Frankfurt a.M. 1980, 438–465, hier: 440 f.
Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe v. Hellmuth Plessner, übersetzt v. Monika Plessner, Frankfurt a.M. 1980 (engl. 1966), bes. 49–84, Zitate 64, 62 u. 73.
Versuche, Hildebrands Angebot eines goldenen Armreifs (V. 33–35) als etwas Anderes zu deuten, als was im Erzählzusammenhang nächstliegend ist: als ein an seine Identitätsbekundung angeschlossenes Angebot von amicitia (Haubrichs [Anm. 14], 122), führen in die Irre. Die von McDonald beigebrachten Vergleichsstellen sind so vielgestaltig, dass sie keine andere Deutung begründen können (William C. McDonald, »›Too softly a gift of treasure‹. A Rereading of Old High German Hildebrandslied«, Euphorion 78 [1984], 1–16). Insbesondere die Auffassung, die Reifgabe »bi huldi« sei eine »Unterwerfungsaufforderung« (Bleumer [Anm. 48], 219), lässt Hadubrands Reaktion, sie als Täuschungsversuch zu denunzieren, unsinnig erscheinen.
Ob der Satz auf ein Fehlverhalten Hildebrands verweisen soll (weil dieser z. B. die Reifgabe nicht, wie er hätte sollen, auf seinem Speer dargereicht habe), bleibt im Text völlig offen (zum Hintergrund vgl. Haubrichs [Anm. 14], 123). Unabhängig von allen Spekulationen darüber signalisiert jedenfalls die redensartliche Formulierung des Satzes, dass Hadubrand die Situation am Kriterium allgemeinverbindlicher Normativität misst. – Zum Phraseologismus des Satzes, der an »Spruch- und Merkdichtung« gemahnt, vgl. Lühr (Anm. 11), I, 301 (zit.), u. II, 588–595; zur »Pragmatik der Generalisierung« in der Gnomik ags. Dichtung Ursula Schaefer, Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 1992 (ScriptOralia 39), zit. 182; zur sozialen Sedimentierung von Wissen durch Versprachlichung Berger/Luckmann (Anm. 50), 72–74.
Vgl. Thomas Zotz, »Odysseus im Mittelalter? Zum Stellenwert von List und Listigkeit in der Kultur des Adels«, in: Harro von Senger (Hrsg.), Die List, Frankfurt a.M. 1999, 212–240; Haubrichs (Anm. 14), 123 f.
So Alexander der Große gegen Poros seit Ps.-Kallisthenes und Kaiser Heraclius gegen einen Mann des Cosdras bei Ps.-Fredegar (vgl. Der Alexanderroman mit einer Auswahl aus den verwandten Texten, hrsg. Friedrich Pfister, Meisenheim am Glan 1978 [Beiträge zur klassischen Philologie 92], 57 f.; Chronicarum quae dicuntur Fredegarii scholastici libri IV cum continuationibus, hrsg. Bruno Krusch, Hannover 1888 [MGH. SS. rer. Merov. 2], IV,64). In beiden Fällen wird das nicht als normwidrig oder gar verwerflich gewertet. Sprichwörtliche Orientierung für derartiges war in einer Vergil-Sentenz zu finden: »List oder Mannhaftigkeit, wer mag vor dem Feind danach fragen?«, »dolus an virtus, quis in hoste requirat?« (Aeneis II, V. 390).
Als »inuuid« wird andernorts der Brudermord Kains (Altsächsische Genesis [Anm. 18], V. 82) oder der Verrat des Judas (Heliand [Anm. 17], V. 4628) bezeichnet.
Zum Kämpfen »an der Spitze« als heldenepischer Kodierung kriegerischer Auszeichnung vgl. Beowulf (Anm. 34), V. 2497 f.: »immer […] / allein an der Spitze«, »symle […] / an on orde«; Finnsburgh (Anm. 34), V. 11bf.: »gedenkt eurer Kampfkraft, / kämpft an der Spitze, seid beherzt«, »hicgeaþ on ellen / winnað on orde, wesað onmode«. Prägnante Auskunft über die realweltliche Kehrseite dieser Auszeichnung gibt die Egillssaga Skallagrimssonar: Am Vordersteven des Schiffes, noch vor den Berserkern, in den Kampf zu gehen wird als besonders hohe Ehre geschätzt, die mit besonders hohen Verlustraten aufgewogen wird (Sagas aus Island. Von Wikingern, Berserkern und Trollen, hrsg. Rudolf Simek, Reinhard Hennig, Stuttgart 2011, 23).
Keineswegs kann deshalb Hadubrands »inwit«-Vorwurf, wie man öfters vermeint hat, als Beleidigung Hildebrands aufgefasst werden, die gar den Kampf motiviere (z. B. Anm. 13, zuletzt Meinolf Schumacher, »Wortkampf der Generationen. Zum Dialog zwischen Vater und Sohn im Hildebrandslied«, in: Eva Neuland [Hrsg.], Jugendsprache – Jugendliteratur – Jugendkultur. Interdisziplinäre Beiträge zu sprachkulturellen Ausdrucksformen Jugendlicher, Frankfurt a.M. [u. a.] 2003 [Sprache – Kommunikation – Kultur 1], 183–190). Andererseits in der laudativen Kehrseite von Hadubrands Reden einen verblendenden »Vaterkult« (Gutenbrunner [Anm. 14], 150) oder eine anmaßende »Selbstrühmung« (Bleumer [Anm. 48], 218) zu sehen, bedürfte einer Einsicht in die Figurenpsyche, die der Text nicht zulässt.
Klaus von See, Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 1971, bes. 61–95; in Auseinandersetzung mit Kritiken weiter präzisiert und ausgearbeitet in: Ders., »Was ist Heldendichtung?«, in: Ders., Edda, Saga, Skaldendichtung. Aufsätze zur skandinavischen Literatur des Mittelalters, Heidelberg 1981 (Skandinavistische Arbeiten 6), 154–193 (zuerst 1978); Ders., »Held und Kollektiv«, ZfdA 122 (1993), 1–35; Ders., »Die Exorbitanz des Helden – die Texte und die Theorien«, in: Ders., Texte und Thesen. Streitfragen der deutschen und skandinavischen Geschichte, mit einem Vorwort v. Julia Zernack, Heidelberg 2003 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 38), 153–164. – Zur produktiven Diskussion des Exorbitanz-Konzepts vgl. bes. Jan-Dirk Müller, »Nibelungenlied und kulturelles Gedächtnis«, in: Annegret Heitmann (Hrsg.), Arbeiten zur Skandinavistik. 14. Arbeitstagung der deutschsprachigen Skandinavistik, 1.–5.9.1999 im München, Frankfurt a.M. [u. a.] 2001 (Texte und Untersuchungen zur Germanistik und Skandinavistik 48), 29–43, sowie zuletzt Elisabeth Lienert, »Exorbitante Helden? Figurendarstellung im mittelhochdeutschen Heldenepos«, Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung 1 (2018), 39–63.
Weil der Satz an der überlieferten Stelle und im Munde Hildebrands »unmotiviert« sei und »keinerlei Bezug innerhalb des Streitgespräches« besitze, hat man ihn auch Hadubrand zuweisen wollen, indem man vor V. 46 einen Textausfall annahm oder ihn samt einer konjizierten Inquit-Formel im Text verschob (so nach dem Vorgang anderer maßgeblich Siegfried Beyschlag, »Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem«, in: Festgabe für L. L. Hammerich aus Anlass seines 70. Geburtstags, Kopenhagen 1962, 13–28, hier: 17 f.). Die Handschrift gibt aber keinen Anlass für derartige Texteingriffe, sodass sie heute auch nicht mehr erwogen werden – zum Preis freilich des nach wie vor bestehenden Verständnisproblems.
Es ist in der Formulierung unklar, ob »riche« das Abstraktum »Reich, Herrschaft« oder die Person »Herrscher« meint, ob »bi« lokal »in«, temporal »während, unter« oder kausal-instrumental »wegen, durch« bedeutet und ob das Demonstrativum »desemo« mit einer konkreten Deixis (auf den »herron« oder den Ort der erzählten Situation?) verbunden ist. Vgl. Lühr (Anm. 11), II, 453 f. u. 585 f.; Müller (Anm. 11), 248. Für das Folgende sind diese Unklarheiten nicht entscheidend.
So nach dem Vorgang Kuhns (Anm. 14) vor allem Haug (Anm. 15), danach Victor Millet, Germanische Heldendichtung im Mittelalter. Eine Einführung, Berlin, New York 2008 (de Gruyter Studienbuch), 41 f.
Dass ein »herro« dann ein »goter« ist, wenn er seine Gefolgsleute angemessen materiell versorgt, ist ein Gemeinplatz, der nicht nur in der hoch- und spätmittelalterlichen Epik ubiquitär zu finden ist, sondern auch in Texten der kulturgeschichtlichen Nachbarschaft des Hildebrandsliedes begegnet (etwa Beowulf [Anm. 34], V. 1485–87; Otfried von Weißenburg, Evangelienbuch [Anm. 68], IV,7, V. 79 f.). Materielle Versorgung kann so auch kurzerhand als Metonymie für soziale Einbindung im Gegensatz zur Fremde gebraucht sein (Wanderer [Anm. 41], V. 32: »Ihn hielt der Weg in der Fremde fest, nicht gewundenes Gold«, »Warað hine wræclast, nales wunden gold«). Deshalb gibt es keinen Anlass, aus Hildebrands Worten Ironie oder Sarkasmus oder überhaupt eine individuelle Wertung von Hadubrands materieller Versorgung herauszulesen, und ebensowenig Anlass, darüber zu spekulieren, wer Hadubrands »herro« denn überhaupt sei (Odoaker? – unwahrscheinlich, unerheblich).
Zur historischen Semantik von »reccheo« vgl. Dagmar Gottschall, »›Recke‹. Zur althochdeutschen Vorgeschichte eines Schlüsselwortes der mittelhochdeutschen Heldenepik«, ZfdA 128 (1999), 251–281.
Paul Zumthor, La mesure du monde. Représentation de l’espace au Moyen Âge, Paris 1993 (Poétique), 58–62 (»dedans« und »dehors«, »ici« und »ailleurs«).
»Natürliche Einstellung« nach Schütz/Luckmann (Anm. 33), I, 25–29.
»Da dieses Wissen als Wissen gesellschaftlich objektiviert ist, das heißt, da es das Allgemeingut an gültigen Wahrheiten über die Wirklichkeit darstellt, muß jede radikale Abweichung von der institutionalen Ordnung als Ausscheren aus der Wirklichkeit erscheinen« (Berger/Luckmann [Anm. 50], 70).
Renate Lachmann, »Literatur der Phantastik als Gegen-Anthropologie«, in: Aleida Assmann [u. a.] (Hrsg.), Positionen der Kulturanthropologie, Frankfurt a.M. 2004, 44–60, hier: 46.
In christlich-theologischer Kodierung begegnet dies ähnlich in Otfrieds Evangelienbuch (hrsg. Oskar Erdmann, 6. Aufl. besorgt v. Ludwig Wolff, Tübingen 1973 [ATB 49]). In seiner tropologischen Auslegung der weihnachtlichen Reise der drei Weisen aus dem Morgenland (im Heliand als »uurekkion« bezeichnet, weil sie im »elilendi«, »Fremdland«, reisen: [Anm. 18], V. 631 f. u. 671) deutet Otfried deren Rückkehr in die Heimat als Weg der Christenseele ins himmlische »paradis« (I,18, V. 3) und übersetzt dabei die Vorgabe seiner exegetischen Quelle (das Paradies als »regio nostra« der Christen: Hrabanus Maurus [Anm. 18], I, 63) in die Raumopposition von »Heimat«, »eigan lant«, und »Fremde«, »fremid[a] lant« (V. 2 u. 16). Und Otfried fügt hinzu, dass in dieser Opposition auch das Wissen über die beiden Räume jeweils unvermittelbar begrenzt ist: Der in der Fremde des irdischen Daseins lebende Christ könne die Beschaffenheit seiner himmlischen Heimat »so lange« nicht wissen – sogar: »glauben«! –, bis er sie wirklich »schaue«, und könne dann wiederum niemandem darüber Auskunft geben: »Ni bist es io giloubo, selbo thu iz ni scowo; / ni mahtu iz ouh noh thanne yrzellen iomanne« (V. 7 f.) – christliche Jenseitslehre im logischen Gewand der Wissensstruktur von »Dedans« und »Dehors«, »Ici« und »Ailleurs«.
Das Hildebrandslied demonstriert also nicht den Vorrang von Kampfwert und Kriegerethos vor allen sozialen Werten (Haubrichs [Anm. 14], 127–133; u. Ders., »Von Lukan zum Nibelungenlied. Tragik und Heroik in der Literatur des Mittelalters«, in: Ralf Bogner, Manfred Leber [Hrsg.], Tragödie. Die bleibende Herausforderung, Saarbrücken 2011 [Saarbrücker literaturwissenschaftliche Ringvorlesungen 1], 23–38, hier: 29), denn dann wäre die Inszenierung der Wissensdiskrepanz, Hauptteil und Spezifikum des Textes, funktionslos. Das Lied reflektiert die Widersetzlichkeit des exorbitanten Kriegers aus heldenepischer Überlieferung gegenüber den Normen menschlicher (frühmittelalterlich adeliger) Gesellschaftlichkeit.
Nickel (Anm. 34), 206–210. Die Handlungszusammenhänge, in die die erhaltenen Szenen einzuordnen sind, setze ich, wie üblich, nach dem Waltharius an (Waltharius. Lat./dt., hrsg. Gregor Vogt-Spira, mit einem Anhang: Waldere. Engl./dt., hrsg. Ursula Schaefer, Stuttgart 1994 [Universal-Bibliothek 4174]).
Das Verständnis von V. 19 ist problematisch: »mæl« hier wohl »Zeitpunkt«, »ofer mearce« wörtlich »über die Grenze hinaus«, »metod« entweder »Vorsehung, Schicksal« oder »Gott, Herr« (Letzteres bei Nickel [Anm. 34], 208, u. Schaefer [Anm. 70], 183). Vgl. An Anglo-Saxon Dictionary, based on the manuscript collections of Joseph Bosworth ed. and enlarged by T. Northcote Toller, Oxford 1898 (Nachdr. 1954), s.vv.
Das Sentenzhafte der Alternative kommt in der allgemeinen Formulierung hier deutlicher zum Ausdruck als in stärker situationsbezogenen Formulierungen, etwa im Munde Beowulfs vor seinem Tauchgang zu Grendels Mutter: »Ich schaffe mir mit [dem Schwert] Hrunting Ruhm, oder der Tod rafft mich dahin«, »Ic me mid Hruntinge / dom gewyrce oþðe mec deað nimeð« (Beowulf [Anm. 34], V. 1490bf.).
Inhaltsübersicht der Handschrift: Konrad Wiedemann, Manuscripta theologica. Die Handschriften in folio, Wiesbaden 1994, 72 f. (Die Handschriften der Gesamthochschul-Bibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel 1,1).
Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998.
Florian Kragl, Heldenzeit. Interpretationen zur Dietrichepik des 13. bis 16. Jahrhunderts, Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik 12).
Jan-Dirk Müller, »Wandel von Geschichtserfahrung in spätmittelalterlicher Heldenepik«, in: Christoph Gerhardt [u. a.] (Hrsg.), Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Colloquium 1983, Tübingen 1985, 72–87, hier: 81.
Nur angemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass die Heuristik einer postheroischen Perspektivik es auch ermöglicht, die Einflüsse von medialen Gegebenheiten auf irgendwelche Veränderungsprozesse als nachrangig zu behandeln. Das gilt insbesondere für die mündliche Heldenepik vor und neben ihrer Verschriftlichung. Dass die Verschriftlichung die reflektierende Distanzierung der heldenepischen Stoffe unterstützt (verstärkt und diversifiziert) hat, kann fraglos angenommen werden, ohne damit aber auch behaupten zu müssen, dass mündliche Heldenepik solche Distanzierung nicht gekannt habe. Im Rahmen der hier angestellten Überlegungen ist Letzteres unwahrscheinlich, und das Hildebrandslied, wie ich es oben gedeutet habe, halte ich für eine in der Niederschrift bewahrte mündliche Dichtung.
Etwa wäre die Funktion von Heldenerzählungen in Moderne und Gegenwart nicht (nur) in einer kompensatorischen Narzissmus-Ablenkung zu suchen (Jan Philipp Reemtsma, »Der Held, das Ich und das Wir«, Mittelweg 36 4 [2009], 41–64), sondern (auch und dann weit wichtiger) in der Reaktion auf eines der großen Projekte der europäischen Moderne: auf die gesellschaftliche Verdrängung autotelischer Gewalt im Zuge der staatlichen Gewaltmonopolisierung (Ders., Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008). Ich bereite dazu einen Versuch über den autonomen Wert der Gewalt im heroischen Diskurs vor.
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Petersen, C. Postheroische Perspektiven oder Die Signifikanz des Verkennens im Hildebrandslied . Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 94, 417–443 (2020). https://doi.org/10.1007/s41245-020-00116-0
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