Zusammenfassung
Der Aufsatz untersucht die Konzeption der Stimme des Gewissens in den Prosaschriften Kants und Schillers. Ausgehend von neueren, theoretischen Ansätzen wird danach gefragt, wie die Stimme des Gewissens am Ende des 18. Jahrhunderts und unter modernen Voraussetzungen im Medium der Prosa gedacht wird. Mit dem Auftritt moderner Subjektivität stellt die Reflexion auf die innere Stimme, die nicht die eigentümliche des Subjekts ist, aber doch in ihm ruht und dessen Handeln mitbestimmt, vor besondere Herausforderungen, die in unterschiedlichen Ansätzen angegangen werden. In der Reflexion auf eine der Darstellung unverfügbare Stimme als substanzieller Bedingungsmöglichkeit von freiheitlicher Subjektivität, so die Überlegung, lassen sich die Möglichkeiten der Kommunikation über das Gewissen unter modernen Bedingungen aufzeigen.
Abstract
The article is concerned with the concept of ›the voice of conscience‹ in Kant’s and Schiller’s prose writings. Considering recent theory, it is asked how the voice of conscience is conceptualised in a modern context within the medium of prose at the end of the 18th century. With the rise of modern subjectivity, the reflection about conscience as an inner voice that is not of the own subject but that still lies within it and that co-determines its actions poses several challenges that are addressed in different manners. It will be investigated whether there are possibilities for communication about modern conscience on the basis of a reflection about it as a non-representable voice that functions as a substantive condition of the possibility of free subjectivity.
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Von seinem Vater erhält der junge Anton Reiser im gleichnamigen Roman von Karl Philipp Moritz die »Anweisung zum innern Gebet«, ein pietistisches Lehrbuch, in dem gezeigt wird, »wie man nach und nach dahin kommen könne, sich im eigentlichen Verstande mit Gott zu unterreden und seine Stimme im Herzen, oder das eigentliche ›innre Wort‹, deutlich zu vernehmen«.Footnote 1 Reiser gibt sich mit größtem Eifer den Gebetsübungen hin, mit dem erklärten Ziel, »die Stimme Gottes, in sich zu hören«.Footnote 2 Die Übungen gelingen und misslingen dann in derselben Weise, wenn der junge Reiser nach kurzer Zeit anfängt, »sich wirklich mit Gott zu unterreden, mit dem er bald auf einen ziemlich vertraulichen Fuß umging«.Footnote 3 Anstelle einer geltungsmächtigen Invokation oder einer richterlichen vox dei zeigt sich die Stimme bald schon völlig im Einklang mit der Alltagskommunikation, so »wie man ohngefähr mit einem seinesgleichen spricht, mit dem man eben nicht viel Umstände macht, und ihm war es denn wirklich immer, als ob Gott dieses oder jenes antwortete«.Footnote 4 Im Roman sind die Katechismusübungen noch selbstverständlicher Bestandteil der Kulturtechniken, sie zeigen sich zugleich aber schon korrumpiert.Footnote 5 Die Veränderungen, die sie erfahren, können als Teil eines allgemeinen historischen Wandels verstanden werden, der im Laufe des 18. Jahrhunderts statthat und an dessen Ende, das hat Heinz Dieter Kittsteiner aufzeigen können, von einem modernen Gewissen zu sprechen ist.Footnote 6 Tentativ lässt sich dabei eine Loslösung von den christlich-klerikal geprägten Vorstellungen der Erbsünde und des Bußkampes hin zu der eines autonomen Subjekts feststellen. Kittsteiner betont, dass es keine lineare Entwicklungsgeschichte des Gewissens gibt; stattdessen zeigt er eine Spannung »zwischen einem ›Gewissen der Folgsamkeit‹ und den an bestimmten Punkten der historischen Entwicklung immer wieder durchbrechenden Autonomiepositionen« auf.Footnote 7 Jedoch schafft die Anerkennung der irreduziblen Endlichkeit des Subjekts, die sich mit der Kopernikanischen Wende der Transzendentalphilosophie vollzieht – und das ist kritisch gegen Kittsteiner einzuwenden –, eine völlig veränderte Gesprächsgrundlage.Footnote 8 Der erfahrene Exzess einer nicht-intentionalen Richterstimme im Innern des Subjekts ist fortan nur noch im Rahmen einer absoluten Immanenz zu denken.Footnote 9 Die Struktur der Selbstbezüglichkeit moderner Subjektivität bewirkt, dass die innere Stimme wohl weiterhin disparate Referenzierungen, Ununterscheidbarkeiten von Innen und Außen sowie von Gesprochenem und Gehörtem erzeugt, diese sind aber nicht länger auf äußere, transzendente Mächte reduzibel.Footnote 10 Mit einem solchen Schritt ist die religiöse Wirkkraft des Gewissens keinesfalls verabschiedet, es erweist sich das Gewissen von nun an jedoch als eine unweigerlich dem Ich innewohnende und dessen direktem Zugriff dabei stets entzogene Instanz. Mehr noch: Die moralische Autonomie des modernen Subjekts ist ohne die innere, richterliche Stimme gar nicht denkbar; sie markiert indessen unweigerlich den Ort seiner Spaltung. Wenn die Voraussetzungen dieses Sachverhalts auch erst mit dem Aufkommen der Psychoanalyse ein umfangreiches Erklärungsfundament gewinnen,Footnote 11 so lässt sich doch in den wegweisenden Schriften vom Ende des 18. Jahrhunderts eine Reflexion auf den angezeigten Umbruch feststellen, die weitere Rückschlüsse auch auf die Beschaffenheit des Phänomens selbst erlaubt.Footnote 12 Dies soll im Folgenden anhand der Schriften Immanuel Kants und Friedrich Schillers gezeigt werden, die für die Debatte um die Autorität einer inneren Stimme im Ich die entscheidenden Argumente, begrifflichen und ästhetischen Modellierungen sowie kritischen Befragungen liefern. Will man Aufschluss über die Konzeption und die Wirkweise der Stimme des Gewissens unter modernen Voraussetzungen gewinnen, so ist eine Untersuchung dieses zentralen, sowohl philosophisch als auch literarisch definierten Schauplatzes unerlässlich.
I.
stimme des zwischen.
Es findet sich in der Forschung eine ausführliche Diskussion über den Wandel des Gewissens auf dem Weg zum modernen Subjekt.Footnote 13 So kann die Genese der Gewissensinstanz bereits in der Antike verortet werden, wo etwa das daimonion des Sokrates einen ersten historischen Auftritt vorstellt.Footnote 14 Durch den Kirchenvater Augustinus, Thomas von Aquin und schließlich Luther erhält das Gewissen seine wirkmächtige Imprägnierung als »inneres Heiligtum«Footnote 15 im Übergang zur Neuzeit, mit dem der Anspruch eines selbstbestimmten Ich zumindest tentativ bereits mit eingefasst ist.Footnote 16 Entscheidende Impulse einer modernen Konzeption der Stimme des Gewissens geben dann die Schriften Jean-Jacques Rousseaus (die auch auf Kant großen Einfluss ausüben).Footnote 17 Rousseau unternimmt eine Neubestimmung des Gewissens unter naturromantischen Vorzeichen.Footnote 18 Auf diese Weise wird ihm das Gewissen zum Kompass der eigenen Autonomie: »Gewissen! Gewissen! göttlicher Instinkt, unsterbliche und himmlische Stimme, sicherer Führer eines unwissenden und beschränkten, aber vernünftigen und freien Wesens«, so schreibt Rousseau mit größter Emphase, »du, der du den Menschen Gott ähnlich machst, du gibst seiner Natur die Vollkommenheit und seinen Handlungen die Moralität«.Footnote 19 Ein unumstößliches Vertrauen in die Stimme des Gewissens kommt hierin zum Ausdruck, die wohl noch theologisch verwurzelt ist, aber dessen ungeachtet ganz den subjektiven Freiheitsanspruch des Menschen verwirklichen soll.
Das Gewissen hat in der Moraltheorie Kants zunächst keinen vergleichbaren Stellenwert inne, dennoch findet sich die Autorität einer Stimme im Ich innerhalb eines zentralen Konnexes der Kritik der praktischen Vernunft (1788): nämlich dem von subjektiver Freiheit und praktischer Vernunft. Die Freiheit hat deshalb bei Kant einen nicht unproblematischen Status inne, weil sie bei ihm in einem strengen Zusammenhang mit dem Gesetz gedacht ist. »Wechselweise« referieren Kant zufolge Freiheit und praktisches Gesetz aufeinander.Footnote 20 Freiheit ist demnach nicht, wie man intuitiv annehmen könnte, die Unabhängigkeit von denjenigen Schranken des Handelns, wie sie das Gesetz vorstellt. Sondern umgekehrt erkennt das Ich mittels eines moralischen Gesetzes, das in ihm als Anlage erst erkannt werden muss, seine Freiheit, und zwar indem es sich dazu entscheidet, allein diesem Gesetz Folge zu leisten. Das einzige Gesetz, das dazu im Stande ist, Bedingung einer uneingeschränkten Selbstbestimmung zu sein und zugleich Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen kann, ist das sogenannte »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft«:Footnote 21 »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne«.Footnote 22 Der kategorische Imperativ, mit dem Selbstbestimmung und moralisches Gesetz in eins fallen, muss Kant zufolge als ein zur Formung freiheitlichen Lebens notwendiges Prinzip angesehen werden.Footnote 23 Ein solches Sittengesetz auferlegt sich nur das einzelne Subjekt, von diesem aus aber kann es zugleich den Anspruch auf Allgemeinheit erheben. Es kann also verlangen, dass dieses Gesetz »zugleich zu einem Gesetze für alle vernünftigen Wesen« werde, wie es in der zweiten Kritik heißt.Footnote 24 Obgleich vielzitierte Passagen eindeutig darlegen,Footnote 25 dass sich moralisches Handeln allein durch die vernünftige Form des Sittengesetzes konfiguriert (und damit unter Ausschluss aller nicht-rationalen Anteile, also aller Neigungen und dergleichen), zeigt sich innerhalb seiner Theorie der moralischen Motivation dennoch die Notwendigkeit eines singulären und apriorischen Gefühls: des Gefühls der Achtung.Footnote 26 Die Achtung hat in der neueren Kant-Forschung eine intensive Diskussion erfahren, gilt sie doch als eine sowohl zentrale als auch bis heute weitgehend ungeklärte Systemstelle innerhalb der Moraltheorie.Footnote 27 Die moralische Motivation, d. h. die Vermittlung von principium diiudicationis und principium executionis, gründet sich Kant zufolge wesentlich in der »Achtung fürs Gesetz, als die alleinige Bestimmungsart des Willens durch dasselbe«.Footnote 28 Durch zwei Eigenschaften hebt sich die Achtung von Gefühlen anderer Art ab: Die Apriorisierung der Achtung sichert zum einen ihren Status als einziges vernünftiges Gefühl, das dadurch zugleich Autonomie gewährleistet. Zum anderen wirkt sie allein im endlichen Vernunftwesen, ist doch ausschließlich dieses mit seiner freiheitlichen Spontanität vor die Wahl zwischen Gut und Böse gestellt. Ungeklärt bleibt weiterhin die Frage, in welcher Weise die Achtung zum moralischen Handeln motivieren kann.Footnote 29 »[I]f the moral law is to function as an incentive«, argumentiert Allison, »it must be in virtue of the fact that it commands rather than that it attracts«.Footnote 30 Der plötzliche und dabei zwingende Effekt der Achtung erklärt sich Allison zufolge über den Gehorsam, dem das moralische Subjekt verpflichtet ist: Kant »contends that the recognition of the superiority of the moral law to the claims conditioned by our sensuous nature creates an esteem for this law and, therefore, an interest in obeying its dictates«.Footnote 31 Die von Allison und weiteren Interpretinnen und Interpreten wohl registrierte akustische Dimension des Gehorsams wird jedoch nicht eigens zum Gegenstand der Befragung gemacht; ebenso müsste in den Ausführungen die gegenläufige, aktivische Handlung gleichermaßen Berücksichtigung erfahren, da die Vernunft, wie Kant betont, »keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt«.Footnote 32 Es folgt daraus, dass Aktivität und Passivität im Spruch des Sittengesetzes in eins gesetzt sind, das Subjekt vernimmt das praktische Gesetz im selben Augenblick, in dem ihm seine Vernunft es diktiert. Genau hierin besitzt die Affizierung durch die Achtung eine strukturelle Identität mit der Stimme des Gewissens, was von der Kant-Forschung jedoch meist nicht weiter beachtet wird.Footnote 33 Dabei kann eine Analyse der Funktion der Stimme in der Moraltheorie Kants genauere Auskunft auch über die Art und Weise der intrinsischen Moralmotivation geben.Footnote 34
Das inhärente Doppel von ›Gesetzeshörigkeit‹ und ›Gesetzesspruch‹ des Sittengesetzes, das im Grundgesetz der praktischen Vernunft seinen Ausdruck findet, macht nicht ohne Grund auch den Einsatzpunkt für das Objekt der Stimme in der kantischen Moralbegründung aus. Eine der zentralen Passagen der Kritik der praktischen Vernunft beschreibt die Wirkmacht des Sittengesetzes wie folgt:
Es liegt so etwas Besonderes in der grenzenlosen Hochschätzung des reinen, von allem Vorteil entblößten, moralischen Gesetzes, so wie es praktische Vernunft uns zur Befolgung vorstellt, deren Stimme auch den kühnsten Frevler zittern macht, und ihn nötigt sich vor seinem Anblicke zu verbergen: daß man sich nicht wundern darf, diesen Einfluß einer bloß intellektuellen Idee aufs Gefühl für spekulative Vernunft unergründlich zu finden, und sich damit begnügen zu müssen, daß man a priori doch noch so viel einsehen kann: ein solches Gefühl sei unzertrennlich mit der Vorstellung des moralischen Gesetzes in jedem endlichen vernünftigen Wesen verbunden.Footnote 35
Die Passage kann erste Hinweise dafür liefern, wie die das Subjekt befehligende und zugleich seine Autonomie sichernde Stimme der Vernunft bei Kant angelegt ist. Es lässt sich erstens aus dieser Beschreibung ableiten, dass die Stimme des moralischen Gesetzes wohl dem Subjekt zugehört, es aber nicht die gewöhnliche innere Stimme des Subjekts ist, die hier spricht. Vielmehr ist sie in einem Bereich der Ununterscheidbarkeit zwischen Außen und Innen des Ich anzusiedeln und affiziert das Subjekt aufs Eindrücklichste. Zweitens erfassen die Ausführungen allein die Vorgänge im erleidenden Subjekt, gleichwohl die theoretische Konzeption Kants dazu zwingt, die Aktivität der Willensbestimmung dazu parallel zu setzen. Die »Hochschätzung« des moralischen Gesetzes gilt auch der Stimme der Vernunft des Subjekts, welche simultan spricht. Das Bild erzeugt eine Diskrepanz zur Vorstellung der Kohäsion von Befehl und Gehorsam und kann dadurch das betreffende Subjekt umso effektiver als erzitterndes, furchtsames, gespaltenes vorstellen. Drittens gibt die Beschreibung Aufschluss über die Art des Wirkens, da es ausdrücklich die Stimme ist, die »den kühnsten Frevler zittern macht«.Footnote 36 Die moralische Idee, die das Individuum transzendiert und mit der Stimme des Sittengesetzes das praktische apriorische Gefühl der Achtung aktiviert, vermittelt weder bloß den Buchstaben des Gesetzes noch dessen klangliche Materialität. Was in der Anrede des Gesetzes »zittern macht« und das Subjekt aus den Fugen geraten lässt, ist also weder der reine Inhalt eines Gesetzestextes; es ist aber auch nicht allein der Formgehalt dieser Stimme, ihr nicht-semantischer Anteil.Footnote 37 Vielmehr wird in der Adresse durch die Stimme ein innersubjektiver Spalt kenntlich, der auf die prekäre ontologische Stellung des Subjekts selbst verweist. Erst mit der kantischen Philosophie gelangt das Subjekt historisch in eine solche Stellung (obgleich sie selbst nur epistemologisch verfährt); es ist ihr wesentlich modernistischer Schritt. So besteht die revolutionäre Modernität der transzendentalen Wende fraglos in der Anerkennung der irreduziblen Endlichkeit des Subjekts, mit der die geistige und die phänomenale Welt zwar als einander kompatible und im Wechselbezug stehende Bereiche erkannt sind – diese aber gerade im Hinblick auf die transzendentale Spontanität des Subjekts letztlich einander unvermittelbar bleiben müssen.Footnote 38 Obgleich Kant mitunter eine vollständige Kompatibilität impliziert, widerlegt dies bereits die Behauptung einer Stimme der Vernunft: Weil nämlich im kantischen Ansatz die Bewusstseinsperspektive in der Differenz von Subjekt und Objekt über ihre Identität priorisiert wird, bleibt ungeklärt, wie die Stimme der Vernunft objektiv sein soll, wenn sie doch notwendig im Subjekt selbst lokalisiert ist.Footnote 39 In der Synthese von noumenaler und phänomenaler Welt muss stattdessen ein positiv unbestimmbares Zwischen bestehen, das gerade den Ort des Subjekts der transzendentalen Apperzeption ausmacht. Deshalb kann die Selbsterfahrung der transzendentalen Apperzeption auch weder rein anschaulich sich vollziehen noch auf ein noumenales Ding ausgehen, sondern es gilt für das »transzendentale Subjekt«, dass es »nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können«.Footnote 40 Hätte das Ich eine (empirische wie begriffliche) Erkenntnis auch des noumenalen Selbst, entfiele gerade der Teil der reinen Apperzeption des Ich – und damit seine realitätskonstituierende Komponente. Die transzendentale Spontanität aber gibt es allein in dem Abstand, der das Ich zugleich von sich selbst trennt. Personale Autonomie, so lässt sich Kants Entwurf zuspitzen, ist also nur in einem solchen Zwischen von mundus sensibilis und mundus intelligibilis gegeben.Footnote 41 Gleichwohl Kant diesen Schritt selbst nicht bis zum Äußersten zu gehen bereit ist,Footnote 42 findet sich der kritische Punkt eines Zwischen beider Welten als Voraussetzung der Freiheit in seinem Denken zweifellos festgehalten: Ganz in der Welt der Phänomene nämlich, das ist selbsterklärend, wäre das Subjekt dem blinden Mechanismus der Natur unterworfen; eine solche Option wäre gleichbedeutend mit einem universalen Determinismus. Ganz in der Welt der Noumena wiederum, so Kant wörtlich, »würden Gott und Ewigkeit, mit ihrer furchtbaren Majestät, uns unablässig vor Augen liegen«, und das »Verhalten der Menschen [...] würde also in einen bloßen Mechanismus verwandelt werden, wo, wie im Marionettenspiel, alles gut gestikulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde«.Footnote 43 Beide Optionen lassen freiheitliche Selbstbestimmung nicht zu und laufen stattdessen auf einen zwanghaften Mechanismus hinaus. Allein im Zwischen der beiden Optionen, das selbst nicht mehr ist als der illegitime Punkt ihrer Berührung, kann indessen die transzendentale Freiheit als gesichert gelten. Damit ist weder die geistige Welt ganz in der sinnlichen aufgelöst noch umgekehrt die sinnliche ganz in der geistigen, sondern die ontologische Stellung des Subjekts ist gerade deshalb so prekär, weil es lediglich in einer Art Kurzschluss beider Bereiche existiert. Das impliziert keineswegs ein Abrücken vom Anspruch der Autonomie und der aufgeklärten Subjektivität, im Gegenteil wird in der Reflexion auf diesen Sachverhalt eine inhärente Spannung in der kantischen Konzeption kenntlich, mit der es erst gelingt, freiheitliche Spontanität in angemessener Weise zu denken. Nur das in der Weise vorgestellte Erkenntnissubjekt kann dann auch Handlungssubjekt der entsprechenden Moraltheorie Kants sein, weil nur im Zwischen von sinnlicher und noumenaler Welt erstens Freiheit Selbstbestimmung ist und zweitens ein Wille zwischen Gut und Böse zu wählen im Stande ist: »Ein vollkommen guter Wille« dagegen würde »eben sowohl unter objektiven Gesetzen (des Guten) stehen, aber nicht dadurch als zu gesetzmäßigen Handlungen genötigt vorgestellt werden können, weil er von selbst, nach seiner subjektiven Beschaffenheit, nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werden kann«.Footnote 44 Der göttliche Wille kennt, anders als der endlicher Wesen, »keine Imperative[]«.Footnote 45
Die Stimme der Vernunft, das dictamen rationis, birgt zugleich den entscheidenden Hinweis auf die radikale Modernität von Kants Ansatz: In der kantischen Konzeption gibt es keine dem Subjekt äußerliche Instanz (sei es Dämon, Natur oder Gott), die durch es spricht, sondern Adressat und Sender sind identisch und eingeschlossen in ihm. Die Stimme der Vernunft ist auch deshalb »unüberschreibar«, weil das Subjekt unweigerlich ihren Inhalt kennt.Footnote 46 Den Befehl vernimmt und diktiert das Subjekt im selben Augenblick und eben diese Ununterscheidbarkeit macht es gespalten; und nur in solcher Weise kann es moralische Autonomie erlangen. Wenngleich die zentrale Funktion der Stimme für die Moraltheorie von der traditionellen Kant-Forschung bislang nicht eigens in den Blick genommen wurde, so hat hingegen Dolar in seiner auf Lacan rekurrierenden Theorie der Stimme einige Aspekte für die kantische Philosophie fruchtbar machen können: Bereits die natürliche Stimme des Menschen, so Dolar, ist »ein gestutzter Körper, ein durch den unmöglichen Riß zwischen einem Innen und einem Außen gespaltener Körper. Die Stimme verkörpert die Unmöglichkeit dieser Zweiteilung selbst – und bewirkt sie zugleich«.Footnote 47 Sie ist demnach weder allein im Innen noch im Außen des Ich verortet, noch ist sie allein geistig oder physisch, sondern sie erzeugt performativ – mittels ihres Klangs – einen Ort des Zwischen, der sie wesentlich ausmacht: »[I]t invokes a split«, so Dolar an anderer Stelle.Footnote 48 Die von der Stimme in singulärer Weise besetzte Zwischenstellung von geistiger und physischer Tätigkeit wird wohl bereits von Wilhelm von Humboldt registriert, der vom »Gesprochene[n]« als einem »Erzeugniss des Geistes« spricht, das gleichwohl »durch die Laute und Gesetze der Sprache bestimmt« ist, und, »indem es gleich wieder in die Sprache überhaupt übergeht, wieder bestimmend auf den Geist zurück[wirkt]«.Footnote 49 Die Problematik der Klassifikation der Stimme, die neben Humboldts Arbeit u. a. auch Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache beschäftigt,Footnote 50 wird freilich nochmals verstärkt im Phänomen der inneren Stimme und findet schließlich in der Adressierung durch die Stimme der Vernunft zu einer einzigartigen Konvergenz mit der ontologischen Stellung des Subjekts.Footnote 51 Denn die kantische Stimme der Vernunft, so Dolar weiter, spricht »zu uns von einem Ort, der, obwohl gerade Sitz der Autonomie des Subjekts, dem Subjekt unerreichbar ist«.Footnote 52 Sie erzeugt also eine Trennung im Subjekt (einen in ihm liegenden, unerreichbaren Ort), und macht sich dem Subjekt dadurch strukturell identisch: »Der innerste Bereich des Bewußtseins kommt von einem Ort jenseits des Bewußtseins, er ist eine atopische Stimme, die sich von innen her an uns wendet, der innere atopos«.Footnote 53 Dasjenige, was das Subjekt im Inneren durchtrennt, sein Zwischen, ist einerseits also nichts anderes als die Stimme, die es durchdringt. Andererseits aber ist allein die Stimme des homo noumenon in der Lage, ihr Subjekt in solcher Weise zu spalten, weil sie selbst nicht mehr ist als ein solches Zwischen.
II.
szenen des inneren gerichts.
Wenngleich in der Kritik der praktischen Vernunft die Stimme der Vernunft in eindringlicher Weise beschrieben ist und diese Beschreibung Rückschlüsse auch auf ihren Ort im Subjekt erlaubt, so stellt sich unweigerlich doch die Frage nach einem Zusammenhang mit der Stimme des Gewissens. Muss Kants Stimme der Vernunft als ein ›säkularer Wiedergänger‹ der Gewissensstimme verstanden werden? Ist sie ihr modernes Äquivalent? Oder ist sie davon streng geschieden und bezeugt eine veränderte Vorstellung der moralischen Anrufung? Und wie äußert Kant selbst sich zu der auffälligen Verwandtschaft seiner Konzeption der Stimme der Vernunft mit der originär theologischen des Gewissens? Erst Kants späte Schrift der Metaphysik der Sitten liefert Hinweise, die diesbezüglich weitere Klärung verschaffen.Footnote 54 Während in der zweiten Kritik zumeist von der Stimme der Vernunft die Rede ist, hat in der Schrift aus dem Jahr 1797 die Stimme des Gewissens ihren Auftritt, die gleichsam mit (einer bestimmten Funktion) der praktischen Vernunft identifiziert wird, »[d]enn Gewissen ist die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen oder Verurteilen vorhaltende praktische Vernunft«.Footnote 55 Das Gewissen operiert dabei vor allem im Medium der Stimme: »[W]enn es aber zur Tat kommt oder gekommen ist, so spricht das Gewissen unwillkürlich und unvermeidlich«.Footnote 56 Das Gewissen agiert in einer dezidiert akustischen Weise, es »spricht«, und zwar tut es dies als ein dem Ich zugehöriger und doch von ihm nicht bewusst gesteuerter Agent. Damit ist nun nicht der Phantasie eines homunculus im Ich das Wort geredet, sondern die kantische Vorstellung des Gewissens erweist sich als noch weitaus beunruhigender. Das zeigt sich in aller Deutlichkeit in der Szene des inneren Gerichtshofs: Bereits in der Kritik der praktischen Vernunft wurde dem Wirken des Sittengesetzes im Ich mithilfe einer juridischen Metaphorik Anschaulichkeit verliehen, in der Metaphysik der Sitten aber macht Kant das forum internum zum unverzichtbaren Modell seiner Morallehre.Footnote 57 Für die Installierung des Gerichts im Ich ist wiederum das Gewissen verantwortlich zu machen: »Das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen [...] ist das Gewissen«, so Kant.Footnote 58 Das sich darin selbst verhörende SubjektFootnote 59 ist auf mehrere Instanzen des Rechts verteilt, woraus man intuitiv eine innere Parteilichkeit folgern mag: »Daß aber der durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als eine und dieselbe Person vorgestellt werde, ist eine ungereimte Vorstellungsart von einem Gerichtshofe; denn da würde ja der Ankläger jederzeit verlieren«.Footnote 60 Kant nimmt das Gegenargument zum Ausgangspunkt für weitere Überlegungen, die dann den Bereich der Metaphorik des Gerichtshofs verlassen, um die darin angelegte Vorstellung einer inneren Spaltung des Subjekts gar in eine Art proto-psychoanalytisches Instanzenmodell zu überführen:
Also wird sich das Gewissen des Menschen bei allen Pflichten einen anderen (als den Menschen überhaupt), d.i. als sich selbst zum Richter seiner Handlungen denken müssen, wenn es nicht mit sich selbst im Widerspruch stehen soll. Diese andere mag nun eine wirkliche, oder bloß idealische Person sein, welche die Vernunft sich selbst schafft.Footnote 61
Den inneren Konflikt, den das Subjekt in der Szene des inneren Gerichts austrägt, bewirkt Kant zufolge die Konstruktion einer »idealischen Person« kraft der eigenen Vernunft. Ein solches ›Ichideal‹, wie man mit der Terminologie LacansFootnote 62 sagen kann (der dabei noch eine Differenzierung gegenüber FreudFootnote 63 vornimmt), wird als Richterfunktion gegen das eigene Ich eingesetzt. Der Terminus des Ichideal ist an der Stelle passend, weil die idealische Person im kantischen Entwurf auf die Beurteilung durch einen Anderen angewiesen ist, auf den ausdrücklich im Text hingewiesen wird. Das Ichideal fungiert als das personalisierte Ideal seines Trägers, von dem dieser annimmt, es sei für den Anderen begehrenswert.Footnote 64 In analoger Weise agiert die »idealische Person« der Vernunft, vor deren richterlichem Blick das Ich selbstredend nur als minderwertig bestehen kann.Footnote 65 Kant selbst stuft die aufgezeigte Spaltung des Ich in mehrere Instanzen als nicht unproblematisch ein; er sieht gar die Gefahr eines Vernunftwiderspruchs aufziehen, was indes weder die Problematik der ›Hörigkeit‹ betrifft noch die Überblendung von Ich- und Gerichtsinstanzen als vielmehr die aus diesen Aspekten möglicherweise resultierende Inkonsistenz seines Subjektbegriffs:
[D]ieses doppelte Selbst, einerseits vor den Schranken eines Gerichtshofes, der doch ihm selbst anvertraut ist, zitternd stehen zu müssen, anderseits aber das Richteramt aus angeborener Autorität selbst in Händen zu haben, bedarf einer Erläuterung, damit nicht die Vernunft mit sich selbst gar in Widerspruch gerate. – Ich, der Kläger, und doch auch Angeklagter, bin eben derselbe Mensch (numero idem), aber als Subjekt der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden, Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz untertan ist, das er sich selbst gibt (homo noumenon), ist er als ein anderer als der mit Vernunft begabte Sinnenmensch (specie diversus), aber nur in praktischer Rücksicht zu betrachten – denn über das Kausal-Verhältnis des Intelligiblen zum Sensiblen gibt es keine Theorie – und diese spezifische Verschiedenheit ist die der Fakultäten des Menschen (der oberen und unteren), die ihn charakterisieren.Footnote 66
Die Spaltung des Subjekts ist nun explizit benannt – und dient der Unterteilung in Ankläger und Angeklagten.Footnote 67 Kant gibt eine umfassende Beschreibung des imaginierten Gerichts in einer Syntax, die den Schwindel beim Begreifen der Abgründigkeit des Subjekts sowohl reflektiert als auch intensiviert: »Ich, der Kläger, und doch auch Angeklagter, bin eben derselbe Mensch [...], aber als Subjekt der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden, Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz untertan ist, das er sich selbst gibt«. Die Syntax evoziert den Gedanken an ein Spiegelkabinett, in dem der Ablauf der Zeilen einem labyrinthischen Gang gleichkommt. Die Verteilung des Ich auf Gerichtsinstanzen, die im Fortlauf der Prosa und in der ständigen Reflexion zwischen Bedeutungsebenen abgründige Züge gewinnt, ist aber nicht nur harmlose Illustration eines abstrakten Vorgangs moralischer Selbstbefragung. Vielmehr steht die Möglichkeit einer vernunftmäßigen Beschreibung des Ich im Ganzen auf dem Spiel. Die irreduzible Spaltung des Subjekts wird im literarischen Bild der Metaphysik der Sitten endlich ausbuchstabiert und signalisiert dadurch unweigerlich die inhärente Spannung seines Ansatzes.
Das forum internum bezeichnet also den disziplinarischen Komplex einer inneren Rechtsprechung, der die abgründige Seite des Autonomieanspruches der zweiten Kritik zum Vorschein bringt. Kant versteht das Gewissen als einen »inneren Richter«, durch den sich der Mensch »beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt gehalten« fühlt.Footnote 68 Es spricht aus dem Gewissen dabei ganz eindeutig dieselbe »furchtbare Stimme«, die schon in der zweiten Kritik zittern macht.Footnote 69 Auch in der Religionsschrift weist das »[Z]ittern« vor der inneren Autorität des Gewissens eindeutige Parallelen mit Adresse durch die Stimme der Vernunft auf.Footnote 70 Es ist darum nicht möglich, zwischen beiden Stimmen streng zu unterscheiden (Kant selbst führt immer wieder ihre strukturelle Identität vor Augen), auch wenn sich damit eine unausweichliche Problematik ergibt: Die Spaltung des Ich, die bereits in den Kritiken zwingende Bedingung ist, führt in den späteren Schriften nämlich bisweilen zur Form einer innersubjektiven Unterdrückung. Zwar darf nicht übersehen werden, dass aus der Beobachtungs- und Bedrohungshaltung des Gewissens ebenfalls ein allein Vernunftwesen zukommender Achtungsanspruch resultiert; gerade im Hinblick auf die selbstauferlegte Herrschaft des Subjekts und dessen Stellung zum Anderen zeigt der Machtanspruch des Gewissens jedoch eine Kehrseite, auf die bereits Hans ReinerFootnote 71, Alenka ZupančičFootnote 72 und andere aufmerksam gemacht haben. Die Instanziierung des Anderen in der »idealischen Person« erzeugt zwangsläufig gewaltige Gegenwirkungen im Pol des Unbewussten, die nicht länger im Bereich der Autonomie des Subjekts verortet werden können, obgleich sie doch auf es zurückgehen. Am Ort des Zwischen tritt indessen nunmehr eine Stimme auf, die in despotischer Weise einen disziplinarischen Komplex regiert.
Solche Formen der Selbstüberwachung und inwendigen Gewalt durch das Gewissen wurden seitdem vielfach einer Kritik unterzogen: Friedrich Nietzsche etwa stellt die Vermutung auf, im Zuge der Zivilisierung des Menschen hätten sich dessen Aggressionen nach innen, also gegen ihn selbst, gekehrt: »Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen«.Footnote 73 Sigmund Freud nimmt den Gedanken wenig später auf und überführt ihn in den Terminus des Über-Ich, der vom traditionellen Begriff des Gewissen abgesetzt ist, obgleich er noch immer stimmlich gedacht ist.Footnote 74 Die Vorstellung eines Über-Ich vermag aber die vehemente, allwissende Wirkmacht im Unbewussten zu unterstreichen, »denn vor dem Über-Ich kann sich nichts verbergen, auch Gedanken nicht«.Footnote 75 Über Michel Foucaults Analyse der »Pastoralmacht«Footnote 76 reicht diese kritische Tradition bis in die Gegenwart, in der Judith Butler die »formgebende Macht« des Gewissens in den Blick nimmt, welche dort als wesentliche Bedingung der »Gewalt gegen sich selbst« verstanden ist.Footnote 77 Die kantische Konzeption des inneren Gerichtshofes hat diese Tradition einer Kritik der Selbstregierung durch das Gewissen freilich nur teilweise zum Gegenstand.Footnote 78 Sie vermag aber dennoch auf einen kritischen Punkt zuzuführen, der in der kantischen Szene des Gerichtshofes bereits angelegt ist. Damit ist jedoch noch nicht geklärt, inwiefern eine solche Kritik auch für die Stimme der Vernunft greift, in der die Selbstgesetzgebung unveräußerliches Element ist. So voreilig es wäre, beide Modelle Kants in eins zu setzen, so verkürzt wäre es, im späteren, ›problematischen‹ Konzept nur eine illegitime Wiederaufnahme des ›wahren‹, frühen zu sehen. Vielmehr kann die Gegenüberstellung dazu dienen, eine dialektische Spannung aufzuzeigen, die im zugleich autoritätshörigen und Autorität gebietenden modernen Subjekt unauflöslich angelegt ist.Footnote 79 Und obgleich sich der kritische Punkt zwischen beiden Modellen nicht in Kants Schriften austariert findet, so hält doch die Literatur der Zeit Möglichkeiten einer anders gelagerten Diskussion desselben Problems bereit, die noch dazu der angezeigten Dialektik ungeahnte Aspekte abzugewinnen vermag.
III.
stimme der prosa.
Friedrich Schiller denkt als einer der Ersten die Errungenschaften der Moralphilosophie Kants auf dem Feld der Ästhetik weiter (wobei sich eine Verschiebung in Bezug auf das Verhältnis von Freiheit und Schönheit bei ihm verzeichnen lässt).Footnote 80 Schiller verhandelt die Fragen um die spannungsvolle Situation des moralischen Subjekts, die aus der Moralbegründung Kants unweigerlich resultieren, ausführlich in seinen Schriften zur Ästhetik. Dabei übernimmt er nicht nur die Systematik des doppelten Selbst aus der kantischen Lehre; er greift auch die Szene des inneren Gerichtshofes wieder auf.Footnote 81 In der Schrift Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792) erklärt er den Zwiespalt im moralischen Konflikt zur Ausgangslage jeder erhabenen Situation: »Und was kann auch erhabener sein als jene heroische Verzweiflung, die alle Güter des Lebens, die das Leben selbst in den Staub tritt, weil sie die mißbilligende Stimme ihres innern Richters nicht ertragen und nicht übertäuben kann?«Footnote 82 Für Schiller dient die Tragödie als prädestiniertes Medium zur Darstellung jener Situation, bei der die Stimme des Gewissens das Ich zur Handlung drängt. In kantischer Tradition stehend, entwirft Schiller ein Modell des Theaters, in dem die Zuschauerinnen und Zuschauer die Dramenfigur als ein gespaltenes Subjekt begreifen lernen können, das die Stimme eines »innern Richters« zu fürchten hat, die sämtliche »Güter des Lebens« missbilligt. Ein solcher Konflikt, bei dem das Subjekt sich teils das eigene Leben, teils die Freude daran versagt, ist für Schiller die erhabene Funktion jeder dramatischen Situation und darüber hinaus Index einer Ästhetik, die auf Objektivität ausgeht.Footnote 83
Die auditive Dimension, die den kantischen Konzeptionen der Anrede durch das Sittengesetz und der Szene des inneren Gerichtshofes bereits unveräußerlich ist, wird bei Schiller zum dominierenden Merkmal moralischer Konfliktsituationen. Beständig spricht Schiller vom »Gehorsam gegen das Sittengesetz«Footnote 84 sowie vom »Gehorsam gegen die Vernunft«Footnote 85, er empfiehlt, der »Vernunft zu gehorchen«Footnote 86, die »Stimme der Vernunft«Footnote 87 anzuhören und dergleichen mehr. Schiller folgt in der Weise Kant sowohl in der Vorstellung einer Allianz aus Stimme und moralischem Gesetz als auch in der Vorstellung der transzendentalen Freiheit als einem Punkt der Vermittlung (oder mehr noch eines problematischen Zwischen) von noumenaler und phänomenaler Welt.Footnote 88 Er will aber gleichermaßen den ästhetischen Effekt im Innern des Subjekts berücksichtigt wissen und macht das zur Voraussetzung seiner Dramentheorie.
Es stellt sich nun zunächst die Frage, warum Schiller überhaupt für das Theater gegenüber anderen Darstellungsweisen optiert, ließe sich die psychologische Offenlegung der intimen, inneren Stimme in erzählender Prosa womöglich doch einfacher und dabei effektiver leisten. Während schließlich das Theater seinen Figuren in der Darstellung äußerlich bleiben muss, vermag die Prosa problemlos auch in eine Innendarstellung zu wechseln und damit Einsichten zu liefern, die insbesondere die Phänomenalität von Bewusstseinsvorgängen ausmachen. Schillers Haltung zum Erzählen zeugt indessen von unterschiedlichen Vorbehalten, die sich insbesondere an der Medialität des Stimmlichen festmachen lassen.Footnote 89 Hierbei ist jedoch weniger die innere Stimme der Figuren Auslöser von Schillers Skepsis, als vielmehr die allen anderen stimmlichen Vorgängen zugrunde liegende Erzählstimme: In seiner Schrift Über die tragische Kunst (1792) macht Schiller unterschiedliche Kriterien der epischen Kunst aus, die explizit die Personalität der Erzählstimme als bedenklich ausweisen.Footnote 90 Denn allein »die erzählende Darstellung« unternimmt es, so Schiller, die Leserinnen und Leser »aus dem Gemütszustand der handelnden Personen in den des Erzählers« zu versetzen.Footnote 91 Anders als das Theater, in dem die handelnden Figuren als Reflexionsflächen moralischer Konflikte dienen und eine Simulation der Gerichtssituation immer schon mitgegeben ist, setzt die erzählende Kunst eine übergeordnete Instanz – die Erzählstimme – ein, die sich wiederum mit den Leserinnen und Lesern in eigenwilliger Weise in Kontakt zu setzen vermag. Im Modus der Erzählung ist eine zusätzliche Komplexitätsstufe angelegt, die aber die Konfliktsituation in der Rezeption ihrer Unmittelbarkeit beraubt und dadurch das Ereignishafte einzuebnen droht. Das Theater besitzt dagegen den besonderen Vorzug, soziales Ereignis zu sein: Das Publikum erfährt den Konflikt der dramatis personae zwar nur äußerlich, im Zuschauen hat es dafür jedoch umso eindrucksvoller an der moralischen Adressierung durch das Gewissen Anteil – und zwar gerade deshalb, weil das Publikum ›nur‹ zuschaut. Die spannungsvolle Ununterscheidbarkeit von Adressat und Sender, die das Setting der Stimme des Gewissens voraussetzt, wird im Theater abgestellt auf eine Figur, die eine solche Situation stellvertretend durchlebt. Die ästhetische Distanz erlaubt im Gegenzug also eine Objektivierung der inneren Stimme in der Rezeption. Selbstredend kommt in solchen Situationen die Stimme des Gewissens nie selbst zur Erscheinung; ihre erhabene Anlage macht das bereits illegitim.Footnote 92 Schiller nutzt stattdessen die Ununterscheidbarkeit von Adressat und Sender, um etwa im Falle der Jungfrau von Orleans den Sender zwar eindeutig, die Heldin damit aber umso exzentrischer werden zu lassen: »Herr, ich weiß noch nicht zu sagen, / Was mir der Geist gebieten wird zu tun; / Doch wenn die Zeit kommt, wird mir seine Stimme / Nicht schweigen, und gehorchen werd ich ihr«.Footnote 93
Die Erzählstimme der Prosa hingegen ist dafür verantwortlich, dass das Erzählte in gewisser Weise vom lesenden Subjekt abrückt: »Die Epopöe, der Roman, die einfache Erzählung rücken die Handlung, schon ihrer Form nach, in die Ferne, weil sie zwischen den Leser und die handelnden Personen den Erzähler einschieben«.Footnote 94 Dies ist sowohl in räumlicher Hinsicht zu verstehen, dergestalt, dass das lesende Subjekt sich nicht unmittelbar in die diegetische Welt hineinversetzt findet, sondern der Erzähler als ein sprachliches Medium fungiert, das sich zwischen lesendem Subjekt und diegetischer Welt »einschiebt«. Es ist aber auch in zeitlicher Hinsicht von der Handlung abgerückt, was sich allein mit der Nutzung des epischen Perfekts erklärt: »Alle erzählenden Formen machen das Gegenwärtige zum Vergangenen«.Footnote 95 Das »Zwischen«, das die erzählende Gattungstradition kennzeichnet, wird damit von Schiller als ein sowohl räumliches wie zeitliches erfasst; es ist eine zweifach definierte Distanz, welche die diegetische Welt ein Stück weit vom lesenden Subjekt abträgt und so unweigerlich eine Ungewissheit in die ästhetische Vermittlung einschreibt. Mit der Distanz zum Erzählten gewinnt die Erzählstimme in anderer Hinsicht aber eine Ähnlichkeit zur inneren Stimme des lesenden Subjekts, was Schiller theoretisch nicht näher erörtert, obgleich er im literarischen Text durchaus von Strategien Gebrauch macht, welche die augenscheinliche Isomorphie beider Stimmen zur Voraussetzung haben.Footnote 96 Eben jene Zwischenstellung der Erzählstimme indessen, das soll im Folgenden gezeigt werden, kann in anderer Perspektive Aufschlüsse über das Wirken einer inneren Stimme oder einer Stimme des Gewissens geben – und diese Perspektive findet sich in Schillers Erzähltexten durchaus entwickelt. Wenngleich also Schiller sich später ganz auf die Seite des Dramas und damit einer kantisch eingefärbten Kultivierung des Sittlichen schlägt, so vermag gerade das frühe, erzählerische Werk die Paradoxien und Problematiken um die Invokationen durch das Gewissen aufzuzeigen.
IV.
stimmwechsel.
Schillers Erzählung Verbrecher aus verlorener Ehre, ursprünglich aus dem Jahr 1786, steht zeitlich noch vor den angeführten theoretischen Überlegungen, antizipiert diese aber in gewisser Weise und dient womöglich gar als Vorlage. Die Erzählung ist freilich auch vor der intensiveren Beschäftigung mit der kantischen Philosophie entstanden; was aber nur umso mehr die Möglichkeit einer kritischen Befragung erlaubt.Footnote 97 »In der ganzen Geschichte des Menschen«, so setzt die Erzählung ein, »ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen«.Footnote 98 Die Erzählstimme gibt sich zu erkennen als die des Historikers, womit sie zunächst als eine neutrale, anonyme und szientifische Instanz vorgestellt ist.Footnote 99 Gattungstheoretisch kann die Erzählung unter die Fallgeschichten des ausgehenden 18. Jahrhunderts rubriziert werden, die sich »in der wissenschaftlichen und der literarischen Kommunikation als gleichermaßen produktiv erweisen«, so Nicolas Pethes.Footnote 100 Die literarische Prosa Schillers wandert damit sogleich aus auf das Feld des wissenschaftlichen Diskurses und entlehnt von dort eine Stimme, die sie aber, wie sich später zeigt, für sachfremde Zwecke gebraucht.Footnote 101 Die Unergründbarkeit der menschlichen Taten stimmt die Erzählstimme derweil kritisch gegenüber dem herkömmlichen Umgang mit der Geschichte: »Von dieser Seite betrachtet, läßt sich manches gegen die gewöhnliche Behandlung der Geschichte einwenden, und hier, vermute ich, liegt auch die Schwierigkeit, warum das Studium derselben für das bürgerliche Leben noch immer so fruchtlos geblieben«.Footnote 102 Die Erzählstimme lässt dann im weiteren Verlauf der Exposition, die der eigentlichen Handlung vorangeht, das lesende Subjekt in die Konstellation eintreten:
Zwischen der heftigen Gemütsbewegung des handelnden Menschen und der ruhigen Stimmung des Lesers, welchem diese Handlung vorgelegt wird, herrscht ein so widriger Kontrast, liegt ein so breiter Zwischenraum, daß es dem letztern schwer, ja unmöglich wird, einen Zusammenhang nur zu ahnden.Footnote 103
Das dem epischen Text eigene und von Schiller später auch in seinen theoretischen Texten problematisierte »Zwischen« taucht also hier bereits (und zwar in zweifacher Verwendung im selben Satz) auf. Zwischen lesendem Subjekt und erzählter Welt, so lautet die verwandte Diagnose, tut sich eine eigentümliche Distanz auf, für die aber nun nicht die Erzählstimme selbst verantwortlich zu machen sei, sondern die in der Geschichte verhandelte Affektlage, die eine Differenz zum lesenden Subjekt aufweise: »Es bleibt eine Lücke zwischen dem historischen Subjekt und dem Leser, die alle Möglichkeiten einer Vergleichung oder Anwendung abschneidet«.Footnote 104 Eben jene »Lücke«, welche zwischen Erzähltext und lesendem Subjekt immer schon besteht, wird von der Erzählstimme motiviert und als Differenz von erzählter Figur und lesendem Subjekt umcodiert. Wenn also in der Exposition der Erzählung zunächst darüber reflektiert wird, wie das Subjekt der Handlung und das lesende Subjekt sich aufgrund einer divergenten Affektlage stets verpassen, wie »dessen Blut anders umläuft als das unsrige«Footnote 105, so wird daneben, quasi ›hinter-dem-Rücken‹ des lesenden Subjekts eine gemeinsame Affektlage zwischen Erzählstimme und lesendem Subjekt suggeriert und letztlich beide miteinander identifiziert – »dessen Wille andern Regeln gehorcht als der unsrige«.Footnote 106
Die Erzählstimme ist inszeniert als eine des historischen Erzählens und beansprucht, aus dem Rückraum dieser vermeintlichen Autorität, Identitäten zuzuweisen: Während die Hauptfigur der Handlung als Angeklagter eines Gerichtsprozesses imaginiert werden soll, kommt es dem lesenden Subjekt zu, »selbst zu Gericht zu sitzen«.Footnote 107 Die Autorität, die in den Funktionszuordnungen wirksam wird, kann der Text wie selbstverständlich voraussetzen und die Lektüre dadurch in geeigneter Weise steuern. Dies Wechselspiel zwischen Erzählstimme und lesendem Subjekt lässt sich als eine doppelte Konstituierung im Sinne Althussers verstehen, bei der es gelingt, unterschiedliche Akteure anzurufen, um sie zugleich »zu Subjekte[n] zu ›konstituieren‹«.Footnote 108 Die Anrufung, die das lesende Subjekt an den Schauplatz des Gerichts versetzt, vollzieht die die Stimme der Wissenschaft imitierende Erzählstimme des Textes, ihre Autorität selbst entstammt dabei einem dem Subjekt unerreichbaren Ort. Die sich darin auftuende Lücke ist weder die der raum-zeitlichen Distanz des Erzählens noch die der verschiedenen Affektlagen, stattdessen eröffnet sich eine Distanz, die im Subjekt selbst zu lokalisieren ist. Die Instanz der Anrufung steht dabei noch außerhalb der Ordnung, in der das Subjekt angerufen wird: »[D]ie Anrufung der Individuen als Subjekte«, so gibt Althusser weiter Auskunft, »setzt die ›Existenz‹ eines Anderen, Einzigen und zentralen subjektes« voraus«.Footnote 109 Ein solches subjekt der Anrufung, das wiederum ist Dolars kritische Fortführung der Überlegungen Althussers, gibt es aber nicht materialiter, sondern das angerufene Subjekt muss es »erst zur Existenz bringen«.Footnote 110 Beide Instanzen bedingen einander, das subjekt der Anrufung braucht die Subjekte, die an es glauben, und umgekehrt bedarf das angerufene Subjekt einer solchen ominösen Instanz, weil es selbst »durch einen leeren Raum, durch eine mit der Einführung der symbolischen Ordnung geschaffene Lücke« definiert ist.Footnote 111 Die Lücke, die das Subjekt von der Instanz der Anrufung trennt, trennt es zugleich von sich selbst. Das ist auch der Grund, warum die Anrufung faktisch immer gelingt – sie trifft das Subjekt exakt am Punkt seiner Spaltung.
Schiller führt auf dem Feld der Literatur also eine Anrufungsszene zwischen Erzählstimme und lesendem Subjekt vor Augen, die das Zwischen der beiden Instanzen als ein sozial determiniertes begreiflich macht. Zwar spricht sich die Erzählstimme ausdrücklich gegen die »Usurpation des Schriftstellers« und zugunsten der »republikanische[n] Freiheit des lesenden Publikums« aus, doch diese manifeste Intention gibt sich bald als Form einer verinnerlichten Herrschaft zu erkennen.Footnote 112 Die Erzählstimme tritt auf als eine Stimme ohne eindeutigen Träger, die zugleich eine gewaltige Autorität für sich beanspruchen kann. Sie vollzieht im expositorischen Vorlauf in auffälliger Weise Sprachhandlungen, die für ihr Funktionieren die Instanz einer Anrufung, die Figur eines Herren voraussetzen. Die Praktiken, mit denen die Erzählung verfährt, setzen eine selbst unmarkierte Verankerung voraus, die das soziale Gefüge zugleich absichert und stabilisiert; in anderen Worten: einen Herrensignifikanten.Footnote 113 Von diesem trennt das lesende Subjekt eine Lücke, die weder in der von der Erzählstimme motivierten Lücke der Affektlagen noch in der in Schillers Schriften zur Erzähltheorie entwickelten Lücke von diegetischer Welt und lesendem Subjekt aufgeht, sondern im Subjekt selbst verortet werden muss. Der Ort dieser Lücke, das Zwischen, das ist die unweigerliche Konsequenz der Erzählstrategie, zeigt sich immer schon infiltriert von einer Figur des Anderen.
Christian Wolf, die Hauptfigur der Erzählung, tritt erst nach der ausführlichen Exposition auf. Es werden seine Physiognomie und wesentlichen Charakterzüge kurz beschrieben und sein bisheriges Leben in aller Kürze referiert, was vornehmlich dem Ziel dienen soll, sein Abkommen vom rechten Weg nachvollziehbar zu machen.Footnote 114 Neben den sozialen Widrigkeiten und Rückschlägen ist es Wolf demzufolge verwehrt geblieben, Lust in einem gesunden Maße zu erleben, was in ihm bald eine »Scheelsucht«Footnote 115 an Auftrieb hat gewinnen lassen. Es wird erzählt, wie Christian Wolf mehrfach zum Wilddieb wird und dafür schließlich im »Zuchthaus« landet.Footnote 116 Mit der Inhaftierung vollzieht sich ein für die Erzählordnung intrikater Wandel, der auf zwei Ebenen statthat: Wolf macht einerseits eine tiefgreifende charakterliche Veränderung durch; er verlässt die Festung »ganz anders, als er dahin gekommen war«.Footnote 117 In der Erzählung tritt von nun an eine Figur auf, die sich mit ihren Verbrechen in leidenschaftlicher Weise identifiziert – was in Teilen der Forschung als »Konstitution des Subjekts« verstanden worden ist.Footnote 118 Und andererseits hat im selben Zuge ein Wechsel der Erzählstimme statt, mit der die anonyme Stimme der Exposition zurück- und dafür das ›Subjekt‹ der Hauptfigur selbst als Stimminstanz auftritt: »Hier fängt eine neue Epoche in seinem Leben an; man höre ihn selbst, wie er nachher gegen seinen geistlichen Beistand und vor Gerichte bekannt hat. ›Ich betrat die Festung‹, sagte er, als ein Verirrter und verließ sie als ein Lotterbube«.Footnote 119 Schillers Erzählung erzeugt an der Stelle eine gänzlich neu zugeschnittene Perspektive auf die Handlung, die mit derjenigen Erzählstimme ineinandergreift, die zunächst als ›Rede‹ in den Text eingelassen ist und dann zur eigentlichen Erzählung selbst wird.Footnote 120 Den erzähltechnisch entscheidenden Stimmen- und Perspektivwechsel markiert die erzählende Prosa nur notdürftig und zeigt damit im Gegenzug, dass die Rahmung durch die erste Erzählstimme keineswegs allein dem Anspruch szientifischer Objektivität gegolten haben kann, sondern selbst als Teil eines narrativen Strategems verstanden werden muss. Wer die ›neutrale‹ Erzählstimme des Anfangs war, bleibt bis zum Ende ungeklärt. Die Klärung ist indessen auch nicht notwendig, denn ihre Identität besitzt die Stimme in der anonymisierten und homogenen Stimme der modernen Sachprosa, der gerade durch ihre Anonymität und Homogenität die ihr typische Autorität zukommt.
Die Rede Wolfs, die nachstehend die eigentliche Erzählung ausmacht, gibt sich nun ebenfalls als doppelbödig zu erkennen, denn sie ist zugleich die Rede vor Gericht, von der die Erzählstimme eingangs schon berichtete. Die Erzählstimme Wolfs spricht im Modus des Geständnisses zeitlich nach den begangenen Taten »gegen seinen geistlichen Beistand und vor Gerichte«, die auf der Handlungsebene erst noch in Aussicht stehen. Die handelnde Figur berichtet also nicht unmittelbar von einem simultanen Geschehen, sondern es erzählt dieselbe Figur – nur zu einem späteren Zeitpunkt und in einer Szene des Gerichts. Die Erzählung nutzt damit eine diachrone Perspektive, welche der Erzählung die Darstellung der Aufspaltung ihrer Hauptfigur – in zeitlicher Hinsicht – ermöglicht. In der Szene des Gerichtshofes nähme Wolf dann die Rolle des Verteidigers ein, die Stelle des Richters käme dem lesenden Subjekt zu, wie auch von der expositorischen Erzählstimme nahegelegt. Das Setting, das die Narration nicht wirklich ausführt, sondern nur in Aussicht stellt und damit als Nebenschauplatz der Handlung aufruft, besitzt auffällige Ähnlichkeit mit dem kantischen Modell des forum internum. Anstelle des Richterspruches des inneren Ideals ist es in der Szenerie der Erzählung aber das lesende Subjekt, welchem die Funktion der (freilich stummen) Richterstimme zukommt. Um diese Reflexion in vollem Umfang zu entfalten, ist jedoch erst das verhandelte Verbrechen festzustellen, was die Erzählung wiederum mittels unterschiedlicher Direktiven leistet.
V.
stimme des gewissens.
Während einer illegalen Wildjagd, der Christian Wolf (nicht aus Not, sondern aufgrund eines neu entstandenen Begehrens gegen das Recht)Footnote 121 nachgeht, begegnet ihm in einer schicksalhaften Szene der Jäger Robert, »der Mensch, den ich unter allen lebendigen Dingen am gräßlichsten haßte«, so Wolf.Footnote 122 Der »Anblick«Footnote 123 Roberts durchfährt den Protagonisten, so dessen mit ihm identische, aber nachträgliche Erzählstimme, wie »[e]ine tödliche Kälte«Footnote 124 – womit zugleich der inhaltliche Höhepunkt der Erzählung markiert ist: »In diesem Augenblicke dünkte michs, als ob die ganze Welt in meinem Flintenschuß läge und der Haß meines ganzen Lebens in die einzige Fingerspitze sich zusammendrängte, womit ich den mörderischen Druck tun sollte«.Footnote 125 Der bis zu diesem Zeitpunkt auf der Handlungsebene eher summarisch erfasste Lebenslauf gelangt nunmehr an einen Punkt, an dem sich die Extensität der Entwicklung in die Intensität des Augenblicks verkehrt. Das Aus-den-Fugen-Geraten der eigenen Existenz wird darstellerisch in der Zeiterfahrung einer »schwarze[n] Minute« reflektiert: »eine Minute lang blieb der Lauf meiner Flinte ungewiß zwischen dem Menschen und dem Hirsch mitten inne schwanken – eine Minute – und noch eine – und wieder eine«.Footnote 126 Die Beschreibung des Ablaufs der Minuten zeigt in ihrer Raffung eine Inkongruenz von erlebter Realität und der nachträglichen Darstellung durch die Erzählstimme: Obwohl das Subjekt der Erzählstimme den Augenblick selbst erlebt hat, kann es nachträglich kaum mehr den Exzess narrativ einholen und belegt mit der Zunahme der Geschwindigkeit der erzählten Zeit die Verunmöglichung der Identifizierung mit dem eigenen Selbst zur Tatzeit. Grund für die innere Distanzierung und die damit einhergehende Darstellungsproblematik ist der innere Zwiespalt im Augenblick des Gewissenskonflikts: »Rache und Gewissen rangen hartnäckig und zweifelhaft, aber die Rache gewanns, und der Jäger lag tot am Boden«.Footnote 127 Den Konflikt imaginiert Wolf als ein personifiziertes Ringen (von Rachegelüsten und Gewissen); und obwohl das Gewissen schon vor und während der Tat im Text nachweisbar ist, bleibt es in auffälliger Weise auf der Ebene der Handlung stumm.Footnote 128 Stattdessen wird die narrative Nachträglichkeit dazu genutzt, um eine Ununterscheidbarkeit der Akteure sowie von Gehörtem und Gesprochenem zu simulieren: »Mein Gewehr fiel mit dem Schusse... ›Mörder‹ ... stammelte ich langsam, – der Wald war still wie ein Kirchhof – ich hörte deutlich, daß ich ›Mörder‹ sagte«.Footnote 129 Wolf spricht zu sich selbst im Modus einer unwillkürlichen Selbstanzeige, und noch dies Gesagte wird an die nur äußerlich dargestellte Figur abgegeben – ihre intentionale Instanz bleibt derweil unbestimmt. Einerseits verurteilt sich Wolf sogleich, was als Merkmal einer inneren Spaltung verstanden werden kann, andererseits aber klassifiziert die Erzählstimme Wolfs die Selbstanzeige als Stimme eines Anderen. Noch in der aufwendig konstruierten Nachträglichkeit kann die Erzählstimme nicht den eigentlichen Agenten der Handlung benennen, sondern gestaltet eine szenische Veräußerung (»ich hörte deutlich, daß ich ›Mörder‹ sagte«), wodurch die Stimme eines Anderen in die Figur eingesetzt wird. Die Intensität des autoreferenziellen Schuldspruchs Wolfs korrespondiert mit der auffälligen Ambivalenz von Schweigen und eines an den inneren Exzess gemahnenden Gelächters:
Lange stand ich sprachlos vor dem Toten, ein helles Gelächter endlich machte mir Luft. ›Wirst du jetzt reinen Mund halten, guter Freund!‹ sagte ich und trat keck hin, indem ich zugleich das Gesicht des Ermordeten auswärts kehrte. Die Augen standen ihm weit auf. Ich wurde ernsthaft und schwieg plötzlich wieder stille. Es fing mir an, seltsam zu werden.Footnote 130
Die stimmlichen Äußerungen Wolfs, die Selbstanzeige: »Mörder«, die Sprachlosigkeit, das »helle Gelächter«, gefolgt von einem erneuten Schweigen, geben sich allesamt als sprachliche Grenzphänomene zu erkennen, und sie belegen eine rapide und extreme Affektabfolge, die als Symptome eines Schuldtraumas verstanden werden können.Footnote 131 Da das Trauma vornehmlich akustisch ausagiert wird, lässt dies auf die Wirkmacht der Stimme des Gewissens schließen, wenn sie auch selbst nicht zum Gegenstand der Handlung erhoben wird.Footnote 132 Die aufwendigen narrativen Strategien, die Erzählperspektive des Rückblicks auf die eigenen Erlebnisse und der übergangslose Wechsel der Stimminstanzen fügen sich so zu einem System von Beobachtungen und stimmlichen Arrangements zusammen, die um ein leeres Zentrum kreisen: der Darstellung der Stimme des Gewissens. Diese eklatante Leerstelle ist im eminenten Sinne anästhetisch; das Dargestellte ist vom darstellenden Subjekt (auf der Handlungsebene wie in der Erzählfunktion) stets verdeckt. Jene Leerstelle der Darstellung, von der keine Erzähl- oder Figurenstimme authentisch Auskunft zu geben vermag, ist zweifelsohne identisch mit dem unmöglichen Ort im Ich, an dem innerlich Gesprochenes und Gehörtes ununterscheidbar werden. Die Erzählung leistet dergestalt einen ungemeinen darstellerischen Aufwand, um letztlich den Nachweis zu erbringen, dass die Erfahrung der aktuellen akustischen Erschütterung durch das Gewissen ästhetisch unverfügbar ist. Der profunden Wirkmacht des Gewissens im Dargestellten steht paradoxerweise also die Absenz in der Darstellung entgegen. Weil die Erwähnung anhand der kontextuellen Bedingungen sicher zu erwarten wäre, sie aber dennoch ausbleibt, kann allein ein argumentum e silentio das Schweigen der Gewissensinstanz im Text erklären.
Der unmittelbare Wechsel von Perspektivierung und Stimmbesitz findet in der Prosa dann dasjenige Medium vor, das aufgrund der geringen formalen Voraussetzungen umso intensiver eine interne Reflexionsbewegung aktivieren kann. Simon hat in dem Zusammenhang dafür argumentiert, die Prosa als das dominante »Reflexionsmedium« für unterschiedliche theoretische und literarische Sachverhalte zu begreifen, das in der Zeit um 1800 eine Neustrukturierung – und zwar in Auseinandersetzung mit der Ästhetik – erfährt.Footnote 133 Die historische Loslösung der Prosa vom Vers, so lautet das Argument Simons (das von Agamben ausgeht), bewirkt eine umso intensivere sprachliche Rückwendung auf ein ›Nichts‹, ein der Prosa fortan Verunmöglichtes: »Prosa wäre dann von der Verssprache der Poesie nicht so sehr verschieden, sie wäre ebenfalls eine Figur der permanenten sprachlichen Rückwendung […]. Gerade dieser Mangel der offensichtlichsten Figur des textuellen Selbstbezugs nötigt es der Prosa auf, Wende und Kehre umso intensiver zu vollziehen«.Footnote 134 Auch im Schiller’schen Text lässt sich eine solch ungemeine Dynamik unterschiedlicher Reflexionsebenen feststellen. Die Desorientierung in der Lektüre, welche die erzählende Prosa im Zeilenablauf und ohne Rücksicht auf die möglichen kognitiven Verunsicherungen im lesenden Subjekt bewirkt, verstärkt dabei noch den Anteil am Exzess des Schuldtraumas der Hauptfigur. Die Stimme des Gewissens wird im Text aktiviert nur als ein leeres Zentrum, ein Abgrund, der gleichwohl nie im Artikulierten, sondern allein in den permanenten Verfahren der Rückwendung, den Effekten des Auslassens und der Nichtidentität einander reflektierender Stimm- und Blickinstanzen, das heißt zwischen den Zeilen, generiert wird.
Die exponierte Szene des Gewissens in der Erzählung bleibt nicht dessen einziger Auftritt, gleichwohl die Reflexionsleistung der Prosa hier am intensivsten in Gebrauch genommen ist. Nach der Szene der Ermordung Roberts hat das Gewissen noch einen zweiten, expliziteren Auftritt, der teils kontrastiv gestaltet ist. Kurze Zeit später begibt sich Wolf auf die Flucht sowohl vor der weltlichen Strafverfolgung als auch vor dem eigenen Schuldbewusstsein. Die physischen Anstrengungen der Flucht (»Bis zum hohen Mittag lief ich atemlos«Footnote 135) sollen gegen die Attacken des Gewissens helfen, letztlich erreicht die körperliche Verausgabung aber einen gegenteiligen Effekt: »Die Eilfertigkeit meiner Flucht hatte meine Gewissensangst zerstreut, aber sie kam schrecklicher zurück, wie meine Kräfte mehr und mehr ermatteten«.Footnote 136 Mit Abnahme der physischen Kräfte wirken die psychischen Martern des Gewissens umso stärker. Stand beim ersten Auftritt des Gewissens ein akustisches Ausagieren im Zentrum, greift die Erzählstimme nunmehr auf martialischere Bildbereiche aus: »Tausend gräßliche Gestalten gingen an mir vorüber und schlugen wie schneidende Messer in meine Brust. Zwischen einem Leben voll rastloser Todesfurcht und einer gewaltsamen Entleibung war mir jetzt eine schreckliche Wahl gelassen, und ich musste wählen«.Footnote 137 Die »Gestalten« werden nicht näher identifiziert, es lassen sich jedoch leicht die antiken Figuren der Erinnyen darin ausmachen. Weil es »kein fürchterlicheres und zugleich häßlicheres Bild als die Furien oder Erinnyen« gibt, so Schiller andernorts, »wenn sie aus dem Orkus hervorsteigen, einen Verbrecher zu verfolgen«, sind sie geeignete Metapher für die dezidiert somatische Gewissensfolter.Footnote 138 Bereits Schillers Dissertationsschrift diskutiert die »Gewissensangst« als neuralgischen Punkt des Zusammenfindens von Physiologie und Geist.Footnote 139 Auch wenn der Einsatzort ein »[g]eistiger Schmerz« ist, »pflanzen sich [die Konvulsionen des Denkorgans, P.W.] schnell durch den ganzen Umriß des Nervengebäudes fort, bringen die Kräfte des Lebens in jene Mißstimmung, die seinen Flor zernichtet und alle Aktionen der Maschine aus dem Gleichgewicht bringt«.Footnote 140 Ursache der dominierend somatischen Gewissensangst ist demnach der Geist, die in der Folge generierten »Bilder zukünftiger Strafgerichte« und übrigen Sensationen aber »sind allzu verworren, als daß der langsamere Gang der Vernunft sie einholen und noch einmal zerfasern könnte«.Footnote 141 Die physischen Gewissensqualen sind damit deutlich unterschieden von der Stimme des inneren Richters, welche die Dramentheorie Schillers vorstellt und die auch noch in der unwillkürlichen Selbstanzeige Wolfs statthat. Das verspätete Schuldempfinden ist dagegen gänzlich in den irdischen Komplex von Verbrechen und Strafe eingespannt:Footnote 142 »Geklemmt zwischen die gewissen Qualen des Lebens und die ungewissen Schrecken der Ewigkeit, gleich unfähig zu leben und zu sterben, brachte ich die sechste Stunde meiner Flucht dahin, eine Stunde voll gepreßt von Qualen, wovon noch kein lebendiger Mensch zu erzählen weiß.«Footnote 143 Der nochmalige Exzess der Hauptfigur ist erneut außerhalb jeder Möglichkeit erzählerischer Darstellung situiert – »wovon noch kein lebendiger Mensch zu erzählen weiß« – und damit auch für die Erzählstimme uneinholbar, welche doch die des Protagonisten ist. Es wird im zweiten Auftritt des Gewissens indes auf eine somatische Erfahrung abgestellt, die gerade nicht mit der Konfrontation mit der moralischen Autorität einer inneren Stimme identisch ist. Im »Zwischen« der »Qualen des Lebens« und der »Schrecken der Ewigkeit« spricht nicht die Stimme des Sittengesetzes und kein homo noumenon, sondern es fährt die Furcht vor irdischer und nachirdischer Strafe unter die Haut.
Im weiteren Verlauf der Erzählung schließt Wolf sich einer Räuberbande an und wird später ihr Anführer, womit die eindringlichen Qualen des Gewissens zunächst abgegolten werden. Auch wenn »das verstummte Gewissen« Wolfs im Laufe der Erzählung »seine Sprache« wiedergewinnt,Footnote 144 und dieser sich schließlich den Institutionen stellt,Footnote 145 wird die Erfahrung des Gewissens kein Teil der Erzählung mehr. Die Überführung der Schuldproblematik in die Sphäre des irdischen Gerichts nimmt den Aspekt des Gewissens aus dem Geschehen und etabliert stattdessen die neu gewonnene Identität Wolfs: »Ich bin der Sonnenwirt«.Footnote 146 Am Ende der Erzählung steht eine Gerichtsszene, die an das expositorische Setting anknüpft, bei der das lesende Subjekt die Funktion des Richters einzunehmen hätte. Bekannte die Erzählstimme der Exposition, »dem Ausspruch des Lesers nicht vorgreifen« zu wollen, so findet nach der Unterrichtung des Geschehens keine explizite Leseradresse mehr statt, sondern der eventuelle Richtspruch wird an die jeweilige Rezeptionshaltung abgegeben. Eine zumindest implizite Leseradresse erkennt Liebrand dergestalt am Ende der Erzählung, im Bild der fallenden Träne auf das Schreiben an den Fürsten: »Die Tränen des Amtmanns verweisen natürlich auf die Tränen, die der Leser vergießen soll«.Footnote 147 Das lesende Subjekt wäre dann nicht nur an die Rolle des Amtmanns verwiesen, es wird ihm auch eine vergebende Haltung nahegelegt. Der lose, vom lesenden Subjekt erst zu erzeugende Anschluss macht indessen die Analogie zum Gewissenskomplex perfekt: Ebenso wie das lesende Subjekt das Erzählte mitverfolgt, seine Stimme aber nicht in die erzählte Welt eingehen kann, bleibt die im Text verhandelte Stimme des Gewissens wiederum der erzählten Welt vorbehalten und dringt nicht zum lesenden Subjekt vor. Der verunmöglichte Punkt einer Berührung beider Stimmen, ihr Zwischen, verweist dann auf das Zwischen von mundus intelligibilis und mundus sensibilis, an dem das Subjekt transzendentaler Apperzeption steht. Die aufwendige Konzeption der Stimme des Gewissens, die Schiller für seine frühe Erzählung wählt, gleicht der von Kant konzipierten Stimme der Vernunft dann genau in dem Punkt, dass sie das Subjekt dort erreicht, wo es in seiner Spaltung kenntlich wird. Das lesende Subjekt aber wird durch diese Operation zum impliziten Gewissen des Textes. Es wird selbst zur Stimme des Anderen, einem außenstehenden Adressaten, der dem Text anästhetisch bleiben muss. Es ist dann nicht nur Richter, sondern im selben Augenblick erlebt es die Erfahrung der Anrede des Gewissens in der Identifikation, die zu Tränen rühren soll. Den unerreichbaren Ort des homo noumenon überträgt die Erzählung (zumindest indirekt) auf den des lesenden Subjekts, dem die diegetische Welt ebenfalls unerreichbar bleiben muss. Sie erinnert zugleich daran, dass die Stelle des Richters (und damit auch der idealischen Person im kantischen Schema) allein durch ein Subjekt zu besetzen ist. Schließlich bietet der Text dadurch auch eine Reflexion auf die Medialität der ›versachlichenden‹ Prosa auf. Denn von dem unerreichbaren Ort außerhalb des Textes kann gleichwohl eine Träne fallen, die das strikte Linear der Prosa verschwimmen und damit aus den Fugen geraten lässt.
VI.
fazit.
Die Stimme des Gewissens tritt im ausgehenden 18. Jahrhundert als eine Figur der Verständigung über einen psychoanalytischen Sachverhalt auf, der ein modernes Subjekt voraussetzt. Im Zustand der inneren Anrede durch das Gewissen ist Gehörtes und Gesprochenes in eins gesetzt, was die Spaltung des Subjekts kenntlich werden lässt. Dass eine solche Spaltung nicht allein in psychoanalytischen Termini zu fassen, sondern bereits in der kantischen Transzendentalphilosophie angelegt ist, zeigt eine Analyse der Wirkweise der Stimme der Vernunft unter Berücksichtigung der Kopernikanischen Wende des Subjekts. Mit dem Sittengesetz erlangt das Subjekt Autonomie, indem es zugleich Gesetzessprecher und -befolger in einer Person sein kann. Die Stimme hat ihren Ort in der kantischen Moralbegründung dann als Wirkmoment der Vernunft im Gefühl der Achtung. Das Subjekt findet sich in der Konzeption von der Stimme der Vernunft adressiert und erfährt sich als ein Zwischen von noumenaler Welt und der Welt der Phänomene. Die Konzeption der Stimme der Vernunft birgt derweil nicht nur die Grundlegung personaler Autonomie, sondern ebenfalls eine dialektische Form der Selbstherrschaft, was mit Blick auf die (später explizit so benannte) Gewissenskonzeption Kants deutlich wird. In der Szene des forum internum muss das Subjekt vor sich selbst Gericht halten und weiß sich dabei als dem eigenen Anspruch nach stets minderwertig. Der Sache nach im Einklang mit der Stimme der Vernunft wird die Stimme des Gewissens als innerer Richtspruch konzipiert; mit Blick auf die weitere geschichtliche Entwicklung erweist sich diese Anlage jedoch als problematisch. Denn im disziplinarischen Komplex des inneren Gerichthofs walten Kräfte, welche die Autonomie des Subjekts zu unterminieren drohen. Die Stimme einer inneren Richtinstanz ist mit Kant also einerseits unverzichtbares Element praktischer Autonomie, sie zeigt sich andererseits aber gekoppelt an soziale Disziplinierungstechniken, die der Vorstellung freiheitlicher Subjektivität widerstreiten müssen.
Friedrich Schiller übernimmt zentrale Elemente der kantischen Moraltheorie, er überträgt sie sogleich aber in das literarische Feld, wo sich Strategien ausmachen lassen, mit denen die Stimme des inneren Richters zum Einsatz gebracht und als Gegenstand befragbar wird. So stark Schiller für die Wirkung einer solchen Stimme im Bereich des Ästhetischen, vorzugsweise des Theaters, plädiert, so stark sind doch seine Vorbehalte gegenüber einer Erzählstimme; selbst wenn es ihr zukäme, authentische Einblicke in das Innenleben der Figuren zu bieten, und sie noch dazu intrikate Beziehungen zur inneren Stimme des lesenden Subjekts unterhält. Da die Erzählstimme aber das Geschehen abrücken lässt und ein »Zwischen« von lesendem Subjekt und erzählter Welt erzeugt, favorisiert (zumindest der späte) Schiller dagegen das Theater. Seine frühe Prosa, namentlich Der Verbrecher aus verlorener Ehre, weist indessen unterschiedliche Strategien auf, die insbesondere von diesem Zwischen für die literarische Wirkung Gebrauch machen. Auffällig sind in der Exposition der Erzählung Techniken der Anrede und der Perspektivierung, die eine Herrschaftsstruktur in sozialer Kommunikation voraussetzen und für sich zu nützen wissen. Das spezifische Zwischen der Erzählstimme kennzeichnet einen Ort, an dem unterschiedliche Stimmen eingenommen oder imitiert werden, die selbst wiederum handlungsanweisende Agenten sind. Mit Schillers Übersetzung der stimmlichen Autorität auf das Feld der Literatur wird der Ort des Zwischen damit als ein Ort des Sozialen lesbar, was eine Kritik derartiger Herrschaft zugleich erst ermöglicht. Schillers Erzählung geht über den Einsatz der Stimme auf der Darstellungsebene jedoch noch hinaus, wenn er auf der Ebene des Dargestellten einen moralischen Konflikt vorstellt, bei dem unverkennbar die Stimme des Gewissens elementarer Handlungsträger ist. Sie erweist sich sodann als dem Text anästhetisches, nicht-integrierbares Element, auf das die Erzählung gleichwohl wiederholend referiert. Die Stimme des Gewissens ist dem Text als Stimme eines Anderen eingelassen, von der die Hauptfigur nur über den Modus einer szenischen Veräußerung Bericht zu geben vermag. Die Ununterscheidbarkeit von Gehörtem und Gesprochenem verunmöglicht der darstellenden Figur die authentische Wiedergabe in der Erzählfunktion. Daneben wird eine Gewissensangst thematisch, die auf den Bereich der Furcht vor Strafverfolgung und der somatischen Erfahrung begrenzt ist. Die Stimme des Gewissens gelangt in der Erzählung also einerseits nur negativ, als Unverfügbarkeit, zur Darstellung, und es wird andererseits dennoch kenntlich gemacht, dass sie es ist, die im Hintergrund moralischer Entscheidungen agiert. Ein besonderes Raffinement kann dann darin gesehen werden, dass die Erzählung am Ende die Stimme des Gewissens auf der Ebene der Darstellung an ihr Lesepublikum abgibt.
Notes
Karl Philipp Moritz, Anton Reiser, Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde, hrsg. Heide Hollmer, Albert Meier, Frankfurt a. M. 2006, 83–518, hier: 100.
Moritz (Anm. 1), 100.
Moritz (Anm. 1), 100.
Moritz (Anm. 1), 100.
Die Katechismusübungen sind elementarer Bestandteil der pietistischen Strömung vor allem um Philipp Jakob Spener. Die in seinem Hauptwerk Pia Desideria (1675/76) präsentierten Lehren fußen auf Luthers reformatorischen Bestrebungen und setzen ganz auf die fromme Bibellektüre, als dem »Saame[n], aus dem alles Gute bei uns herkommen muß« (Philipp Jakob Spener, Pia Desideria […], Frankfurt am Main 1676, 61).
Siehe Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a. M. 2015 (1995), 404–407.
Kittsteiner (Anm. 6), 22.
Vgl. allgemeiner dazu Volker Gerhardt, »Kants kopernikanische Wende«, Kant-Studien 78 (1987), 133–152.
Folgt man Hegel, setzt dieser Prozess bereits mit Luther ein (siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Ders., Werke in zwanzig Bänden, hrsg. Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel, Bd. 20, Frankfurt a.M. 1979, 60 f.), findet dann aber bei Kant und Jacobi sowie in der Romantik seinen wesentlichen Austragungsort (siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Ders., Gesammelte Werke, hrsg. Wolfgang Bonsiepen, Reinhard Heede, Hamburg 1968, Bd. 9, 323–362).
Christoph Menke definiert das Subjekt als »ein Wesen, dessen Bezüge auf anderes – Objekte wie andere Subjekte – wesentlich dadurch bestimmt sind, daß sie von einem Selbstbezug ›begleitet‹ sind«, in: Christoph Menke, »Subjektivität«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart, Weimar 2003, Bd. 5, 734–787, hier: 734.
Mit der Psychoanalyse ist hier und im Folgenden die Tradition Freud-Lacan bezeichnet.
Breithaupt diagnostiziert in einem verwandten Zusammenhang die »Spannung zwischen dem im achtzehnten Jahrhundert zunehmend kursierenden Figurationen des ›Unbewußten‹ und der hochbewussten moralischen inneren Stimme des Gewissens«. Fritz Breithaupt, »Das romantische Gewissen«, in: Michael Forster, Klaus Vieweg (Hrsg.), Die Aktualität der Romantik, Berlin 2012, 205–220, hier: 205.
Vgl. Jürgen Blühdorn (Hrsg.), Das Gewissen in der Diskussion, Darmstadt 1976; Simon Bunke, Katerina Mihaylova (Hrsg.), Gewissen zwischen Gefühl und Vernunft. Interdisziplinäre Perspektiven auf das 18. Jahrhundert, Würzburg 2015; Hans-Joachim Eckstein, Der Begriff der Syneidesis bei Paulus. Eine neutestamentliche-exegetische Untersuchung zum »Gewissensbegriff«, Tübingen 1983; Gertrud Jung, »Syneidesis, conscientia, Bewusstsein«, Archiv für die gesammte Psychologie 89 (1933), 525–540; Kittsteiner (Anm. 6); Emmanuel Levinas, Totality and Infinity. An Essay on Exteriority, Boston 1979 (1969); Niklas Luhmann, »Die Gewissensfreiheit und das Gewissen«, Archiv des öffentlichen Rechts 90 (1965), 257–286; Don E. Jr. Marietta, »Conscience in Greek Stoicism«, Numen 17 (1970), 176–187; Vessela Misheva, Shame and guilt. Sociology as a poietic system, Uppsala 2000; Hans Reiner, »Die Funktion des Gewissens«, Kant-Studien 62 (1971), 467–488.
Zur Figur des daimonion siehe Platon, Apologie, 31, c8–d4.
Augustinus, Confessiones, X, 8, 15.
Der Katechismus der Katholischen Kirche gibt Auskunft über den Stellenwert der Gewissensautorität bis in die Gegenwart hinein. Im KKK Nr. 1777 heißt es: »Wenn er auf das Gewissen hört, kann der kluge Mensch die Stimme Gottes vernehmen, die darin spricht«. [http://www.vatican.va/archive/DEU0035/_P65.HTM, zuletzt gesehen: 27.03.2020].
Ausführlich findet sich diese Rezeption entfaltet bei Ernst Cassirer, Rousseau, Kant, Goethe, Hamburg 1991.
Vgl. dazu Charles Taylor, der die Stimme des Gewissens zugleich als die der Natur begreift: »Der orthodoxen Theorie zufolge ist die Gnade – der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs – der Ursprung der höheren Liebe. Bei Rousseau hat sie zwar nicht ganz aufgehört, Gott zu sein – zumindest der Gott der Philosophen –, aber inzwischen ist daraus die Stimme der Natur geworden. Die Lehre der Erbsünde im Sinne der orthodoxen Auffassung ist damit preisgegeben.« Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 1996 (1994), 622.
Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, übers. von Eleonore Sckommodau, hrsg. Martin Rang, Stuttgart 1963, 593 f.
Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Ders., Werke in sechs Bänden, hrsg. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 2011 (1998), Bd. 4, 107–302, hier: 139, A 53.
Kant, Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 20), 140, A 54.
Kant, Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 20), 140, A 54.
Die »Idee, dass die Form des Lebendigen die Form der Freiheit aufschließen kann«, stellt Khurana zufolge die Voraussetzung zum Verständnis des Freiheitsbegriffs bei Kant vor (Thomas Khurana, Das Leben der Freiheit. Form und Wirklichkeit der Autonomie, Berlin 2017, 136).
Kant, Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 20), 142, A 57.
Um nur zwei Beispiele zu nennen: »Nun soll eine Handlung aus Pflicht den Einfluß der Neigung, und mit ihr jeden Gegenstand des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als, objektiv, das Gesetz, und, subjektiv, reine Achtung für dieses praktische Gesetz« sowie: »Nun gebietet die Vernunft, ohne doch dabei den Neigungen etwas zu verheißen, unnachlaßlich, mithin gleichsam mit Zurücksetzung und Nichtachtung jener so ungestümen und dabei so billig scheinenden Ansprüche (die sich durch kein Gebot wollen aufheben lassen), ihre Vorschriften«. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Ders., Werke in sechs Bänden (Anm. 20), 11–102, hier: 27, BA 15 sowie 32, BA 23.
Die Achtung kann das Subjekt auf zweierlei Weise erfahren: negativ als Demütigung und positiv als Selbstliebe, siehe Kant, Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 20), 194 f., A 131–133.
Vgl. dazu exemplarisch aus dem weiten Feld der Forschung: Henry E. Allison, Kant’s theory of freedom, Cambridge 1990; Karl Ameriks, »Kant und das Problem der moralischen Motivation«, in: Karl Ameriks, Dieter Sturma (Hrsg.), Kants Ethik, Paderborn 2004, 97–116; Paul Guyer, Kant and the Experience of Freedom, Cambridge 1993; Richard McCarty, Kant’s Theory of Action, Oxford 2009; Steffi Schadow, Achtung für das Gesetz. Moral und Motivation bei Kant, Berlin, Boston 2013; Allen W. Wood, Kant’s ethical thought, Cambridge 1999.
Kant, Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 20), 203, A 144. Aus dieser Unterscheidung resultiert auch die Entgegensetzung des Handelns »pflichtmäßig und aus Pflicht« (Kant, ebd., 203, A 144).
Karl Ameriks formuliert in Bezug auf die Stimme der Vernunft: »The problem of moral motivation, roughly the question why we should be expected to follow the voice of ›pure reason‹ rather than our own ›given nature,‹ remains central for those who resist the general approach of Kant’s practical philosophy«. Karl Ameriks, »Kant and Motivational Externalism«, in: Heiner F. Klemme, Manfred Kühn, Dieter Schönecker (Hrsg.), Moralische Motivation. Kant und die Alternativen, Hamburg 2006, 3.
Allison (Anm. 27), 123.
Allison (Anm. 27), 125.
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Anm. 25), 69, BA 79.
Noch die neuere Studie Guyers nimmt wenig Rücksicht auf die stimmliche Funktion in Kants Werk, wobei er die Stimme durchaus mit der des Gewissens identifiziert: »[I]n sum we must have the duties to sharpen our attentiveness to the voice of conscience as well as to cultivate impartiality and sincerity in our self-assessment in light of this voice«. (Paul Guyer, Virtues of Freedom. Selected Essays on Kant, Oxford 2016, 253). In der älteren Forschung erkennt etwa Reiner die Analogie mit dem Gewissen, macht darin aber ebenfalls nicht die akustische Dimension zum Gegenstand noch wird die Relevanz für das Gefühl der Achtung eigens untersucht, vgl. Reiner (Anm. 13).
Auch wenn dabei psychoanalytische Aspekte in der Moraltheorie Kants aufgedeckt werden, bleibt die Analyse innerhalb einer begrifflichen Analyse des Phänomens. Zur Unterscheidung von philosophischer und psychologischer Theorie der Motivation bei Kant selbst, siehe Richard Stanley Peters, The Concept of Motivation. Studies in philosophical psychology, Michigan 1958, 43 ff.
Kant, Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 20), 201, A 142.
Der in der Passage daneben relevante Aspekt des »Anblicks« muss in der Analyse in den Hintergrund treten; es lässt sich dafür argumentieren, dass es sich hierbei um den imaginierten Blick des Anderen handelt, was wiederum für eine Spaltung des Ich spricht.
Vor allem die frühe Psychoanalyse fragt nach dem Ursprung der Wirkmacht Stimme in der richterlichen Autorität und vermutet ihn im Instrument des Schofars. Theodor Reik meint diesbezüglich, bereits die Gesetzgebung am Sinai vollziehe sich »unter den furchtbaren Tönen des Schofars« (Theodor Reik, Probleme der Religionspsychologie, 1. Teil: Das Ritual, Leipzig und Wien 1919, 185). Adressat des Rituals, das ist Lacans Weiterführung dieser Überlegungen, ist Gott selbst, als derjenige Herrensignifikant, auf dem die soziale Ordnung ruht: »[I]st derjenige, bei dem es in diesem Fall darum geht, die Erinnerung wieder zu wecken, dafür zu sorgen, dass er sich erinnert, nicht Gott selbst?« (Jacques Lacan, Die Angst. Das Seminar. Buch X, Wien 2016 (2010), 313). Vgl. dazu auch Michel Poizat, »Teuflisch oder göttlich? Der lyrische Genuß«, in: Friedrich Kittler, Thomas Macho, Sigrid Weigel (Hrsg.), Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin 2002, 215–232, hier: 223.
Ich folge hier der Interpretation Slavoj Žižeks. Er bezeichnet die letztliche Unvermittelbarkeit beider Welten als die »kantische Parallaxe« (Slavoj Žižek, Parallaxe, Frankfurt a. M. 2006, 23).
Das unterminiert Fichte und Hegel zufolge auch den objektiven Status des Gewissens bei Kant: Da das Gewissen Kants per definitionem subjektiv ist, kann es nicht zugleich einen Ursprung jenseits des Subjekts haben.
Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Ders., Werke in sechs Bänden (Anm. 20), Bd. 2, 344, A 346.
Dass die reine Vernunft indessen auch praktische Wirkkraft besitzt, dass also die Vernunft über den Willen vollauf verfügen kann, legt Kant bereits in den »Grundsätzen« dar: »Die Vernunft bestimmt in einem praktischen Gesetz unmittelbar den Willen, nicht vermittelst, eines dazwischen kommenden Gefühls der Lust und Unlust, selbst nicht an diesem Gesetze, und daß sie als reine Vernunft praktisch sein kann, macht es ihr möglich, gesetzgebend zu sein« (Kant, Kritik der praktischen Vernunft [Anm. 20], 133, A 46).
Žižek spricht sogar von einem »Fehler«, den Kant begeht, »wenn er in seiner Kritik der praktischen Vernunft Freiheit (das Postulat der praktischen Vernunft) als noumenales Ding begreift: Sein Grundkonzept, nach dem ich mein Vermögen als spontan-autonomer Agent nur insofern erlange, als ich für mich selbst als Ding unerreichbar bin, wird dadurch getrübt«, Slavoj Žižek, Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus, Wien 2015, 292.
Kant, Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 20), 282, A 265. Kursives – hier sowie im Folgenden – im Original gesperrt gedruckt.
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Anm. 25), 42 f., BA 39.
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Anm. 25), 43, BA 39.
Kant, Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 20), 147, A 63.
Vgl. Mladen Dolar, His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme, übers. von Michael Adrian und Bettina Engels, Frankfurt a. M. 2014 (2007), 97. Dolar arbeitet in seiner Studie die spaltende Funktion der Stimme anhand unterschiedlicher Wissensbereiche (Linguistik, Metaphysik, Physik u. a.) heraus und setzt damit die Arbeit Lacans fort. Neben Dolars Arbeit ist die Relevanz der Stimme in den vergangenen beiden Jahrzehnten durch eine Reihe von Arbeiten belegt worden, die Derridas Kritik des Phonozentrismus (Jacques Derrida, Grammatologie, übers. von Hans-Jörg Rheinberger, Hanns Zischler, Frankfurt a. M. 1983) zum Ausgang genommen haben, aber gleichwohl für die Randstellung des flüchtigen Mediums Stimme eingesprochen haben. Vgl. aus dem breiten Forschungsfeld die Arbeiten von: Friedrich Kittler, Thomas Macho, Sigrid Weigel (Hrsg.), Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin 2002; Doris Kolesch, Sybille Krämer (Hrsg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a. M. 2006. Bettine Menke, Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000.
Mladen Dolar, »Voice and Topology: The Tiny Lag«, in: Michael Friedman, Samo Tomšic (Hrsg.), Psychoanalysis: Topological Perspective. New Conceptions of Geometry and Space in Freud and Lacan, Bielefeld 2016, 63–94, hier: 74.
Wilhelm von Humboldt, Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, in: Ders., Werke in fünf Bänden, hrsg. Andreas Flitner, Klaus Giel, Bd. 3, Darmstadt 1963, 144–251, hier: 191.
Siehe Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, hrsg. Hans Dietrich Irmscher, Stuttgart 2015 (1966), 44–53.
Eine Auflistung unterschiedlicher Typen der inneren Stimme unternimmt ebenfalls Dolar. Siehe Dolar, Voice and Topology (Anm. 48), 80.
Dolar, His Master’s Voice (Anm. 47), 123.
Dolar, His Master’s Voice (Anm. 47), 123.
Eine Diskussion des Gewissens findet sich neben dieser Schrift noch in der Religionsschrift Kants. Dort definiert Kant das Gewissen als »die sich selbst richtende moralische Urteilskraft«, Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Ders., Werke in sechs Bänden (Anm. 20), 645–879, hier: 860 (B 288). Das Gewissen als Stimme erfährt in der Religionsschrift gleichwohl keine Berücksichtigung.
Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, in: Ders., Werke in sechs Bänden (Anm. 20), Bd. 4, 309–643, hier: 531, A 37 f.
Kant, Metaphysik der Sitten (Anm. 55), 532, A 39. Kant versteht das Gewissen als »ästhetisch«, wobei diese Definition vor weitere Schwierigkeiten stellt, sind hiermit sicherlich nicht die transzendentalen Grundbegriffe von Raum und Zeit der ersten Kritik gemeint (Kant, ebd., 530, A 35).
Die Vorstellung des Gewissens als einem Gerichtshof geht wahrscheinlich auf Philon von Alexandrien zurück. Der Terminus forum internum setzt sich nach dem Konzil von Trient (1545–1563) durch und ist zunächst fest in einem christlich-klerikalen Diskurs verankert. Mit der Reformation löst sich das Konzept aus dieser institutionellen Verankerung und gewinnt dann zunehmend an Bedeutung innerhalb einer neuzeitlichen Gesinnungsethik.
Kant, Metaphysik der Sitten (Anm. 55), 573, A 99.
Niehaus entwickelt aus der Szene des Verhörs eine Urszene der Fiktion, womit ihm zufolge zugleich die Stelle der Literatur bezeichnet ist: »Die Literatur kann die Instanz befragen, die die Fragen stellt. Im Anfang setzt die Literatur das Verhör als den abgründigen Umweg des unmöglichen Selbstverhörs in Szene.« (Michael Niehaus, Das Verhör. Geschichte – Theorie – Fiktion, München 2003, 15). Auch die kantische Verhörsituation regt zur Fiktion an, wie Kant ja umgehend bekennt. Vgl. zu der Thematik auch Alois Hahn, Volker Kapp, Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt a. M. 1987.
Kant, Metaphysik der Sitten (Anm. 55), 573, A 100.
Kant, Metaphysik der Sitten (Anm. 55), 573 f., A 100.
Das Ichideal findet sich an unterschiedlichen Stellen von Jacques Lacans Werk thematisiert. Hilfreich ist etwa die Bestimmung im Aufsatz: Jacques Lacan, »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten«, Schriften, hrsg. Norbert Haas, Wien 2015, Bd. 2, 325–368, hier: 345 f.
Lacan übernimmt die Termini »Ideal-Ich« und »Ichideal« von Freud, wobei beim Letzteren keine begriffliche Unterscheidung diesbezüglich festzustellen ist. Siehe dazu: Sigmund Freud, »Zur Einführung des Narzißmus [1914]«, in: Ders., Studienausgabe, hrsg. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Frankfurt a. M. 2000, Bd. 3, 37–67. Bei Lacan hingegen ist, kurzgefasst, das Ideal-Ich dem Bereich des Imaginären, das Ichideal dem des Symbolischen zu assoziieren.
Das Ichideal bleibt dabei im Zustand eines fortwährenden Urteilens. Dieses stets ausbleibende Urteil bedeutet für das Subjekt eine dauernde Angst vor der Verurteilung. Siehe dazu Jacques Lacan, Das Seminar. Buch V, Die Bildungen des Unbewussten, übers. von Hans-Dieter Gondek, Wien 2019 (2006), 342–385.
Kant spricht an anderer Stelle auch von der Achtung als dem »Gefühl der Unangemessenheit unseres Vermögens zur Erreichung einer Idee, die für uns Gesetz ist«. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Ders., Werke in sechs Bänden (Anm. 20), Bd. 5, 237–620, hier: 344, B 97 (§ 27). Zwar erzeugt die Achtung im Gegenzug stets auch eine Selbstschätzung, im Bild des forum internum aber ist dieser Affekt stets an die idealische Person abgegeben.
Kant, Metaphysik der Sitten (Anm. 55), 574, A 101.
Im Text spricht Kant dies gleich zweimal an: »Die zwiefache Persönlichkeit, [...] dieses doppelte Selbst«. Kant, Metaphysik der Sitten (Anm. 55), 574, A 101.
Kant, Metaphysik der Sitten (Anm. 55), 574, 573, A 99.
Kant, Metaphysik der Sitten (Anm. 55), 573, A 99.
Kant, Die Religion (Anm. 54), 864, B 294.
Hans Reiner spricht deshalb von einem autonomen Gewissen, das er scharf von einem »Gewissen als Folgsamkeit« trennt (Vgl. Reiner, »Die Funktion des Gewissens« [Anm. 13], 484). Mit Bezug auf die soziale Konstitution des Gewissens ist diese Unterscheidung indessen kritisch zu befragen, wie die Lektüre Schillers im Folgenden zeigt.
Alenka Zupančič, Das Reale einer Illusion. Kant und Lacan, Frankfurt a. M. 2001, 79: »In der Tat läßt sich in Kants Schriften – insbesondere in denen nach der Kritik der praktischen Vernunft – eine Tendenz erkennen, aus dem moralischen Gesetz eine Art ›Über-Ich‹ zu machen. Diese Tendenz wird begleitet vom Auftauchen eines Begriffs, der, was an sich schon bemerkenswert ist, in der Kritik praktisch überhaupt keine Rolle spielt und nicht zu deren Wortschatz gehört: das Gewissen«. Obgleich die Beobachtung dahingehend richtig ist, dass das Gewissen mehrfach Erwähnung findet an Positionen, wo man (aufgrund der früheren Schriften Kants) die Vernunft vermuten würde, ist es verkürzt, sogleich das Gewissen mit dem Über-Ich zu identifizieren. Das Gewissen ist im kantischen Entwurf eher als das Setting des Gerichtes selbst zu verstehen; die Stimmen, mit denen dort gesprochen wird, sind aber die der Vernunft wie die des Gewissens gleichermaßen.
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Götzen-Dämmerung, in: Ders., Philosophische Werke in sechs Bänden, hrsg. Claus-Artur Scheier, Hamburg 2013, Bd. 6, 78. Kursives im Original gesperrt gedruckt.
Freud betont ausdrücklich, das Über-Ich könne seine »Herkunft aus Gehörtem unmöglich verleugnen«, siehe Sigmund Freud, Das Ich und das Es [1923], in: Ders., Studienausgabe, (Anm. 63).
Sigmund Freud, »Das Unbehagen in der Kultur (1930 [1929])«, in: Ders., Studienausgabe (Anm. 63), Bd. 9, 191–270, hier: 252. Auf den Zusammenhang von Über-Ich und ›Gehör‹ wurde oben bereits hingewiesen.
Michel Foucault, »Das Subjekt und die Macht«, in: Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow (Hrsg.), Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1987, 243–261, hier: 249. Die Pastoralmacht bezeichnet bei Foucault klerikale Übungen und Praktiken, die nur zu wenigen Teilen mit Kants Vorstellung des Gewissens übereinkommen. Eine Diskussion der Pastoralmacht findet sich auch in dem kürzlich aus dem Nachlass veröffentlichten Band Michel Foucault, Die Geständnisse des Fleisches. Sexualität und Wahrheit, übers. von Andrea Hemminger, Bd. 4, Frankfurt a. M. 2019, 337 f.
Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, übers. von Reiner Ansén, Frankfurt a. M. 2001, 66. Butlers Kritik verortet sich selbst dabei in der Tradition von Foucaults Theorie der Gouvernementalität und der Pastoralmacht.
Die intensivste Kritik des Gewissens bei Kant findet sich in diesem Zusammenhang bei Zupančič, Das Reale einer Illusion (Anm. 72). Eine explizite Kritik der kantischen Morallehre und des Gewissens nimmt freilich schon Hegel vor. Siehe Hegel, Phänomenologie des Geistes (Anm. 9), 323–332.
Dieser Thematik widmet sich, mit dem Fokus auf Hegel, auch die kürzlich erschienene Arbeit von Christoph Menke, Autonomie und Befreiung. Studien zu Hegel, Frankfurt a. M. 2019, 19–50. Das Thema hat in der Gegenwart also keinesfalls an Aktualität eingebüßt.
Eine hilfreiche Bestimmung der philosophischen Bedeutung der Idee der Freiheit bei Schiller gibt Frederick Beiser, Schiller as Philosopher: A Re-examination, Oxford 2005, 150–154.
In den frühen Schriften Schillers zeigt sich der kantische Einfluss weniger deutlich, was sich im Gegenzug aber auch an der stärkeren Berücksichtigung sozialer und physischer Kontexte zeigt. So macht Schiller die »[p]ietistischen Schwärmerei« bei seinem Mitschüler in der Karlsschule dafür verantwortlich, dass sie zwar »sein Gewissen« schärfen, darüber aber auch »seine Begriffe« verwirren. Friedrich Schiller, Über die Krankheit des Eleven Grammont, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. Peter-André Alt, Albert Maier, Wolfgang Riedel, München 2004, Bd. 5, 268–280, hier: 269. In seiner medizinischen Dissertationsschrift von 1780 dient Schiller die »Gewissensangst« daneben als signifikantes Beispiel für den Konnex von Physiologie und geistiger Tätigkeit, vgl. Friedrich Schiller, Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, in: Ders., Sämtliche Werke (Anm. 81), Bd. 5, 287–324, hier: 309.
Friedrich Schiller, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, in: Ders., Sämtliche Werke (Anm. 81), Bd. 5, 358–371, hier: 367.
Zur Zeit der Konzeption seiner Kallias-Briefe schwebt Schiller bereits eine Konzeption der Schönheit als objektive Bedingung der Freiheit vor. Auch wenn Schiller zunehmend von diesem Standpunkt abrückt, stellt noch in den Briefen Über die ästhetische Erziehung der ästhetische Zustand die Bedingung der Erfahrung der Freiheit im Ich vor – so erlebt sich das Ich dort »augenblicklich von aller Bestimmung frei«, in: Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Ders., Sämtliche Werke (Anm. 81), Bd. 5, 570–669, hier: 633.
Schiller, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (Anm. 82), 358–371, hier: 366.
Friedrich Schiller, Anmut und Würde, in: Ders., Sämtliche Werke (Anm. 81), Bd. 5, 433–489, hier: 463.
Friedrich Schiller, Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten, in: Ders., Sämtliche Werke (Anm. 81), Bd. 5, 781–789, hier: 782. Die Formulierung fällt gleich zweimal auf der Seite, wenig später heißt es: »[D]ie Vernunft macht die Motion, und der Wille gehorcht ihr, ohne Anfrage bei den Sinnen«. Schiller, ebd., 785. Womit das von der Vernunft Gehörte eindeutig von der Sinnenwelt unterschieden ist.
Schiller, Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten (Anm. 86), 784.
Siehe dazu Schillers Bestimmung des Menschen, die er in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen gibt: »Seine [des Menschen, P.W.] Persönlichkeit, für sich allein und unabhängig von allem sinnlichen Stoffe betrachtet, ist bloß die Anlage zu einer möglichen unendlichen Äußerung; und solange er nicht anschaut und nicht empfindet, ist er noch weiter nichts als Form und leeres Vermögen« (Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen [Anm. 83], 570–669, hier: 603).
Hierauf geht bereits Hamacher ein, vgl. Bernd Hamacher, »Geschichte und Psychologie der Moderne um 1800 (Schiller, Kleist, Goethe). ›Gegensätzliche‹ Überlegungen zum ›Verbrecher aus Infamie‹ und zu ›Michael Kohlhaas‹«, Kleist Jahrbuch 2006, 60–74. Hamacher erkennt zudem in der Erzählung »Schillers Beitrag zur Geschichte und Psychologie der Moderne« (Hamacher, ebd., 62).
Auf die Randstellung der hier verhandelten Schriften innerhalb der Schiller-Forschung weist Zelle hin: »In der zweihundertjährigen Rezeptionsgeschichte von Schillers ästhetischen Essays spielen diese tragischen Schriften offenbar nur eine untergeordnete Rolle« (Carsten Zelle, »Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792)«, in: Matthias Luserke-Jaqui [Hrsg.], Schiller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011, 364–373, hier: 372).
Friedrich Schiller, Über die tragische Kunst, in: Ders., Sämtliche Werke (Anm. 81), Bd. 5, 372–393, hier: 383.
Aufschlussreich ist in dem Zusammenhang ein Brief Schillers an Goethe vom 22. Januar 1802, in dem die Gewissensqualen Orests in Goethes Iphigenie Thema sind, die dort einzig als innersubjektiver Vorgang dargestellt werden: »Orest selbst ist das Bedenklichste im Ganzen; ohne Furien kein Orest, und jetzt da die Ursache seines Zustands nicht in die Sinne fällt, da sie bloß im Gemüth ist, so ist sein Zustand eine zu lange und zu einförmige Qual, ohne Gegenstand; hier ist eine von den Grenzen des antiken und modernen Trauerspiels. […] Denn was ohne Götter und Geister daraus zu machen war, das ist schon geschehen« (Schiller an Goethe, in: Ueber Kunst und Alterthum [1824]. Von Goethe, Bd 5.1, 42–83, hier: 47). Das Drama Goethes wird von Schiller also deshalb als »modernes Trauerspiel« definiert, weil es den Gewissenskonflikt ganz in das Subjekt verlagert.
Friedrich Schiller, Die Jungfrau von Orleans, in: Ders., Sämtliche Werke (Anm. 81), Bd. 2, 687–812, hier: 761.
Schiller, Über die tragische Kunst (Anm. 91), 388.
Schiller, Über die tragische Kunst (Anm. 91), 388.
Die Narratologie und die Rezeptionsästhetik haben aufgezeigt, inwiefern im Vorgang des Lesens die Erzählstimme als Stimme des Ich wahrgenommen werden kann. Siehe dazu Richard Aczel, »Hearing Voices in Narrative Texts«, New Literary History 29.3 (1998), 467–500; Michael Scheffel, »Wer spricht? Überlegungen zur ›Stimme‹ in fiktionalen und faktualen Erzählungen«, in: Andreas Blödorn, Daniela Langer, Michael Scheffel (Hrsg.), Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen, Berlin 2006, 83–100; Klaus Weimar, »Lesen: Zu sich selbst sprechen in fremden Namen«, in: Heinrich Bosse, Ursula Renner (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg 1999, 49–62.
Schillers intensive ›Begegnung mit Kant‹ datiert die Forschung üblicherweise ab den 1790er Jahren.
Friedrich Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, in: Ders., Sämtliche Werke (Anm. 81), Bd. 5, 13–35, hier: 13.
Eine Analyse der Stimminstanz in Schillers Erzählung (unter anderen theoretischen Voraussetzungen) findet sich bei Sarah Seidel, die von einer »extradiegetischen Einführung« spricht. Sarah Seidel, »Vom Vorsatz bis zur Verurteilung. Gewissen als das ›Andere‹ in den Kriminalgeschichten von Meißner und Schiller«, in: Bunke, Mihaylova (Hrsg.) (Anm. 13), 289–300, hier: 292.
Nicolas Pethes, Literarische Fallgeschichten. Zur Poetik einer epistemischen Schreibweise, Konstanz 2016, 11. Die Fallgeschichte bedient sich demnach einer wissenschaftlichen Schreibweise, die »im 18. Jahrhundert das Prinzip der empirischen Einzelbeobachtung auch auf das Studium der Menschen überträgt« (Pethes, ebd., 22). Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist das Sammeln von Fallgeschichten fest verankertes Kulturanliegen, das in François Gayot de Pitavals Causes Célèbres die wohl prominenteste Publikation der Zeit besitzt.
Die »unpersönliche Objektivität« kennzeichnet derweil die Erzählstimme des Realismus, wie Inka Mülder-Bach anmerkt (Inka Mülder-Bach, »Einleitung«, in: Dies., Jens Kersten, Martin Zimmermann [Hrsg.], Prosa schreiben. Literatur – Geschichte – Recht, Paderborn 2019, 1–15, hier: 9). Wenn es also Tendenz der Erzählstimme im Realismus ist, »sich im Hintergrund« zu halten, um »die Verhältnisse ›in ihrer Objektivität‹ zur Sprache zu bringen«, so zeigt Schiller mit der ›prosaischen‹ Erzählstimme eine gegenteilige Funktion auf (Mülder-Bach, ebd.).
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 13.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 13 f.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 14.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 14.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 14.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 14. Die Rolle des Gerichtsprozesses auf der Handlungsebene untersucht ausführlich Gerhard Neumann, »Die Anfänge deutscher Novellistik. Schillers ›Verbrecher aus verlorener Ehre‹ – Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹«, in: Wilfried Barner, Eberhard Lämmert, Norbert Oeller (Hrsg.), Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik, Stuttgart 1984, 433–460.
Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate [1977], in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. Frieder Otto Wolf, Hamburg 2016 (2010), 1. Halbband, 37–102, hier: 55.
Althusser (Anm. 108), 94. Die entscheidende Differenz zu einer Vorstellung der vox dei liegt dabei darin, dass die Stimmhandlungen nur eine solche numinose Instanz zur Voraussetzung bedürfen, die Instanz selbst aber nicht hierbei auftritt. Vgl. für eine psychoanalytische Untersuchung dieses Zusammenhangs Michel Poizat, Vox populi, vox dei, Paris 2001.
Mladen Dolar, »Jenseits der Anrufung«, in: Slavoj Žižek (Hrsg.), Gestalten der Autorität. Seminar der Laibacher Lacan-Schule, Wien 1991, 9–27, hier: 24.
Dolar, »Jenseits der Anrufung« (Anm. 110), 24.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 14.
Eine solche Figur des Herren entwirft die Psychoanalyse Lacans im Ausgang von Althusser als Voraussetzung des Funktionierens einer symbolischen Ordnung in der sozialen Praxis. Lacan spricht erstmals in seinem Seminar 17 vom Herrensignifikanten. Siehe Jacques Lacan, Le séminaire. Livre 17, hrsg. Jacques-Alain Miller, Paris 1991, 101.
Hamacher betont die übermäßige Rolle der »Kontingenz« im vorgestellten Lebenslauf, siehe Hamacher (Anm. 89), 65.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 16.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 17.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 18.
Hamacher (Anm. 89), 62. Die These verfolgen sowohl Liebrand, Hamacher als auch Neumann, die sich hierbei vor allem auf einen Subjektbegriff Foucaults stützen. Freilich erfährt die Subjektkonstitution der Erzählung bei ihnen eine gegenläufige, dekonstruktive Lesart. Vgl. »Dem Autor ist es darum zu tun, seinen Deliquenten mit einer ›Seele‹, einem ›Innenraum‹ und einer integralen Identität zu versehen, ihn zu dem Subjekt zu machen, das hinter den (räuberischen und mörderischen) Taten und Performanzen steht« (Claudia Liebrand, »›Ich bin der Sonnenwirt‹. Subjektkonstitution in Schillers ›Der Verbrecher aus verlorener Ehre‹«, in: Roland Borgards, Johannes Friedrich Lehmann [Hrsg.], Diskrete Gebote. Geschichten der Macht um 1800. Festschrift für Heinrich Bosse, Würzburg 2002, 117–129, hier: 119). Vgl. dazu auch Hamacher (Anm. 89), Neumann (Anm. 107).
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 18.
Die flexible Fokalisierung bildet auch ein Argument für Aurnhammers Bestimmung des »engagierten Erzählens«, siehe Achim Aurnhammer, »Engagiertes Erzählen: ›Der Verbrecher aus verlorener Ehre‹«, in: Achim Aurnhammer, Klaus Manger, Friedrich Strack (Hrsg.), Schiller und die höfische Welt, Tübingen 1990, 254–270, hier: 261–264.
Das Gegeneinander von Triebstruktur und Gesetzesnorm in der Erzählung untersucht Neumann (Anm. 107), 443.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 21. Robert hatte zuvor die von Wolf geliebte Johanna für sich gewinnen können (siehe Schiller, ebd., 17). Wolf begegnet Johanna nach seiner Entlassung aus der Inhaftierung im desolatesten Zustand: »Hunger und Elend sprach aus ihrer Bedeckung, eine schändliche Krankheit aus ihrem Gesichte, ihr Anblick verkündigte die verworfenste Kreatur, zu der sie erniedrigt war«, Schiller, ebd., 20.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 21.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 21.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 21.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 22.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 22.
Breithaupt erkennt in der Szene gar eine Priorisierung des Gewissens: »Christian folgt insofern, wenn er mordet, seinem vom Unbewussten durchdrungenen Gewissen« (Breithaupt [Anm. 12], 218).
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 22.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 22.
Vogl erkennt in entsprechender Weise im sprachlichen Grenzphänomen des Schreis einen »Riss in der Zeit, als Nicht-Übergang von Augenblick zu Augenblick ist der Schrei eine zeitliche Ekstase; er ist das, was im Kontinuum der Zeit weder erscheint noch vergeht«, es wird darin die »Stummheit, das Unerhörbare der Stimme laut«, Joseph Vogl, Über den Schrei, Göttingen 2013, 23 u. 21.
Vgl. auch Seidel, die ihre Aufmerksamkeit bei der Lektüre der Szene auf die syntaktischen Tempuswechsel richtet. Seidel (Anm. 99), 293. Vgl. auch Aurnhammer (Anm. 120), 262.
Siehe Ralf Simon, Die Idee der Prosa, Zur Ästhetikgeschichte von Baumgarten bis Hegel mit einem Schwerpunkt bei Jean Paul, Paderborn 2013, 12. Den Terminus des Reflexionsmediums entlehnt er von Walter Benjamin. Vgl. zum systematischen Einsatzpunkt des »Reflexionsmediums« bei Benjamin: Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991 (1974), Bd. I/1, 7–122, hier: 62.
Den Zusammenschluss von rhetorischem Terminus und moderner Beschreibungsform im Begriff der Prosa untersuchen u. a.: Eva Eßlinger, Heide Volkening, Cornelia Zumbusch (Hrsg.), Die Farben der Prosa, Freiburg i.Br. u. a. 2016; Mülder-Bach, Kersten, Zimmermann (Hrsg.) (Anm. 101).
Simon (Anm. 133), 13. Agamben spricht in ähnlicher Weise von einem sich auftuenden Abgrund beim Versübergang: »In diesem Sturz in den Abgrund der Bedeutung überschreitet die rein lautliche Einheit des Verses ihr eigenes Maß wie ihre Identität«, in: Giorgio Agamben, Idee der Prosa, Frankfurt a. M. 2003, 23.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 23.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 23.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 23.
Friedrich Schiller, Zerstreute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände, in: Ders., Sämtliche Werke (Anm. 81), Bd. 5, 543–569, hier: 548.
Siehe Schiller, Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (Anm. 81), 309.
Schiller, Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (Anm. 81), 308.
Schiller, Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (Anm. 81), 309. Schiller entnimmt die Beispiele der alptraumhaften Schrecken interessanterweise dem zu dem Zeitpunkt noch unveröffentlichten Drama Die Räuber (das er als »Life of Moor. Tragedy by Krake« betitelt (Schiller, Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen [Anm. 81], 309 [Fn. 1]). In der medizinischen Schrift optiert Schiller damit für das Drama anstelle der Prosa, um die somatischen Qualen des Gewissens zu belegen (nachstehend verweist er noch auf »Lady Macbeth« [Schiller, ebd., 310]). Die dem Theater eigene Beobachtung von außen, die Darstellung des Konflikts im Objekt, erweist sich als passendes Analogon zum medizinischen Blick; die dargestellten Gewissensqualen sind damit aber auch medizinischer Natur und unterschieden von den Invokationen durch die akustischen Handlungen des Gewissens.
Tatsächlich sind es auch »ungefähr sechs Stunden« nach dem Mord in Dostojewskis Roman Verbrechen und Strafe, wenn Raskolnikow in seine Wohnung zurückkehrt und dort im Halbschlaf Töne vernimmt, die sich später als akustische Signale des einsetzenden Gewissens erweisen: »Mein Gott, was für ein Schrei! Solche unmenschlichen Töne, Geheul, und Wehgeschrei, solch ein Zähneknirschen, Schluchzen, solche Schläge und Flüche hatte er noch nie erlebt«, Fjodor Dostojewski, Verbrechen und Strafe, übers. von Swetlana Geier, München 1996, 158.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 23. Die sechste Stunde ist zugleich Referenz auf die Kreuzigung Christi (siehe Mk. 15.33). Es ist daneben auch diejenige Stunde, die das Ziffernblatt in zwei Hälften teilt. Die Spaltung des moralischen Subjekts findet sich damit auch in der Zeitmetaphorik reflektiert.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 29.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 34 f.
Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 35.
Liebrand (Anm. 118), 129. Siehe auch Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Anm. 98), 35. Vgl. dazu Hamacher (Anm. 89), 68.
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Weber, P. Abgrund zwischen den Zeilen. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 94, 287–317 (2020). https://doi.org/10.1007/s41245-020-00115-1
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