I.

Das Konzept der »Institution« wird von Vertretern der erstzuständigen Gesellschaftswissenschaft zu den »zentral wichtigen, aber nach wie vor nicht eindeutig geklärten Konzepten«Footnote 1 gezählt. Verschiedene Definitionsversuche »umreißen«, so muss das Lexikon Grundbegriffe der Soziologie auch in der jüngsten Auflage berichten, »ein heterogenes Feld, ohne dass sich dabei eine allgemeinverbindliche Kennzeichnung durchgesetzt hätte«.Footnote 2 Im Folgenden soll dieser Begriff mit einem zweiten, ebenso unbestimmten verbunden werden. Man zählt den Funktionsbegriff nämlich »zu den meistgebrauchten, vieldeutigsten und zumeist nur vage oder gar nicht definierten Grundbegriffen der Literaturwissenschaft, der sich je nach Ansatz und Kontext auf ganz unterschiedliche Phänomene beziehen kann«.Footnote 3 Was könnte die Verbindung dieser Grundbegriffe erbringen? Eine nähere Bestimmung beider, die sie für literarhistorische Studien geeignet macht.

Nun liegt eine Theorie der Literaturgeschichte als Funktionsgeschichte von Institutionen bereits vor. Wilhelm Voßkamp hat sie seit den mittleren 1970er Jahren in einer Reihe von Aufsätzen entwickelt. Und so versteht der vorliegende Beitrag sich als eine zunächst theoriegeschichtliche Sichtung und Reflexion. Sie muss Implikationen in einiger Ausführlichkeit entfalten, um im Lichte einer neueren Problem- und Aufgabenstellung, dazu gleich, nicht ausgeschöpfte Potenziale wie auch Hemmnisse ausmachen zu können. Sodann sind neuere soziologische Arbeiten, die von Voßkamp und teils von der Literaturwissenschaft überhaupt noch nicht zur Kenntnis genommen worden sind, für eine Heranführung des literaturwissenschaftlichen Ansatzes an die gegenwärtige Lage heranzuziehen.

Die erwähnten Aufsätze entwerfen, um einige Titel zu zitieren, »Literaturgeschichte als Funktionsgeschichte der Literatur«Footnote 4 und behandeln insbesondere »Gattungen als literarisch-soziale Institutionen«.Footnote 5 Als Beiträge zur »Romansoziologie«Footnote 6 fragen sie in sozialhistorischer Perspektive nach dem Zusammenhang von Gesellschafts- und Gattungsgeschichte vor allem des Bildungsromans. Dabei beschränken sie sich, den Rahmen der germanistischen Disziplin wahrend, auf den deutschsprachigen Raum. Wo ausnahmsweise ein vergleichender Blick geworfen wird, bestätigt sich die Erwartung, dass »eine Institutionalisierung des Bildungsromanmusters, wie sie in Deutschland erfolgt, in England nicht stattfindet«.Footnote 7 Mithin verfestigt sich der Eindruck, die »fiktive Darstellung der Bildung eines individuellen Charakters in der konfliktreichen Auseinandersetzung mit der äußeren Realität«Footnote 8 sei eine deutsche Besonderheit. Neuere Befunde sprechen dagegen: »The Bildungsroman, also known as novel of formation or education, is one of the Western forms most profusely used in postcolonial fiction.«Footnote 9 Die veränderte Befundlage sowie die transnationale Wende der Philologien, das ist der Ausgangspunkt der nachstehenden Überlegungen, fordern heute zu einer Revision des Ansatzes heraus.Footnote 10 Möglicherweise könnte die Germanistik damit zu einer Weltliteraturwissenschaft beitragen. Auch die institutionalistische Literaturgeschichtsschreibung rechnet seit jeher mit historischem Wandel. Ist sie aber auf kulturelle Differenz eingestellt und für eine Untersuchung grenzüberschreitender Prozesse geeignet? Neuere soziologische Ansätze, insbesondere jene, die unter dem Namen »Neoinstitutionalismus« firmieren, sind für die Gewinnung einer globalgeschichtlichen Perspektive hilfreich.

II.

Der Sozialgeschichte dient der Funktionsbegriff dazu, den Gesellschaftsbezug der Literatur zu beleuchten. Die Verwendungsweise entspricht in diesem Zusammenhang jener alltagssprachlichen, die in der Literaturwissenschaft allgemein vorherrscht: Man versteht Funktion als »Aufgabe, Rolle, Leistung oder Wirkung, die ein unselbständiger Teil bzw. ein Element in einem größeren Ganzen hat, spielt bzw. erfüllt«.Footnote 11 Gemäß einem »gemeineuropäischen Sprachgebrauch, der sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen läßt«, heißt »Funktion« auch in der Gesellschaftswissenschaft »die einem Teil im Rahmen eines Ganzen obliegende Verrichtung«.Footnote 12 Wir haben es offenkundig mit einer teleologischen Denkform zu tun, die in Analogie zum menschlichen Handeln Finalzusammenhänge herstellt. Die Literatur und ihre Elemente, Gattungen etwa, werden als zweckdienliche Teile aufgefasst, die Leistungen für eine größere und höhere Einheit des Sozialen erbringen. Dabei wird das leidliche Funktionieren des Ganzen immer schon unterstellt – ist diese Betrachtungsweise zu retten?

Zu seiner genauer bestimmten Fassung des Institutionenbegriffs gelangte Voßkamp in der Nachbarschaft von Helmut Schelsky und Niklas Luhmann an der Universität Bielefeld. Schelsky hatte 1970 den Band Zur Theorie der Institution herausgegeben, die erste Publikation des von ihm konzipierten und seit 1968 in Bielefeld ansässigen Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF). Der Band ist mit einer ausführlichen Einleitung versehen, die über die Geschichte des Begriffs Auskunft gibt. Daher bezog der Literaturwissenschaftler die Auslegung von Funktion als »Bedürfnissynthese«. Schelsky war dazu anhand der Arbeiten Bronisław Malinowskis gelangt.Footnote 13 Neben Émile Durkheim gilt der aus Polen stammende Anthropologe als Begründer und Namensgeber des »Funktionalismus«, einer Betrachtungsweise von Gesellschaft und Kultur, die, aus dem 19. Jahrhundert stammend, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Disziplinen lange Zeit dominant war. Vermehrte Kritik an einem »konservativen Funktionalismus, der den sozialen Konflikten gegenüber blind bleibt und lediglich überraschungsfreie Empirie einer theoretischen Stabilitätssuggestion betreibt«,Footnote 14 führte in den 1960er Jahre zur Verabschiedung.

Wie zu zeigen sein wird, überdauerte der Funktionalismus jedoch sein Ende und ist noch heute, zumal in der Literaturwissenschaft, in hohem Maße wirksam. Ein forschungsgeschichtlicher Rückblick könnte auch aus diesem Grund nützlich sein: Viele Theorieelemente des Funktionalismus sind zu Denkgewohnheiten geworden und werden mitunter auch dort reproduziert, wo die Theorieformation totgesagt wurde und in Vergessenheit geraten ist. Dabei gilt es zu bedenken, dass die Wissenschaften um 1900 ein seit Langem tradiertes, alltägliches Denkmuster aufgriffen und theoretisch reflektierten. Dass dieses Muster die Verabschiedung des Paradigmas auch überdauert, überrascht daher kaum. Auch waren einige Elemente des Funktionalismus längst Gegenstand gelehrter Reflexion. Seit der Antike hat man im Bereich der Poetik und Rhetorik versucht, Gattungen im Hinblick auf ihre Leistung zu bestimmen, was ein Überdauern solcher Denkweisen in der Literaturwissenschaft besonders begünstigt. Hinsichtlich der Anthropologie hat man festgestellt, dass spätere Entwicklungen durch die Auseinandersetzung mit dem Funktionalismus nicht nur angestoßen wurden. Insofern dessen Selbstkritik diese Entwicklungen vorgebahnt habe, könne mit Blick auf die jüngere Fachgeschichte von einer Auflösung der Formation in diverse Ansätze die Rede sein.Footnote 15

Für eine Verknüpfung der Begriffe »Institution« und »Funktion« spricht nicht zuletzt, dass sie dazu anleitet, nach Interdependenzen zu fragen. Vorbildlich war dafür anfangs die Biologie. Nachdem Durkheim im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Règles de la méthode die Soziologie als »la science des institutions«Footnote 16 bestimmt hatte, erklärte sein Schwiegersohn Marcel Mauss 1901 im Artikel »Sociologie« der Grande Encyclopédie: »L’institution est en somme dans l’ordre social ce qu’est la fonction dans l’ordre biologique: et de mème que la science de la vie est la science des fonctions vitales, la science de la société est la science des institutions ainsi définies.«Footnote 17 Der vergleichenden Religions- und Rechtsgeschichte verdanke sie die Einsicht, »que certains institutions forment avec certain autres un système«. Daher gelte es, »de ne pas isoler une institution du milieu où elle est apparue«, vielmehr sei die »interdépendance des phénomènes« zu beachten, und zwar in ihrer Dynamik: »Les institutions véritables vivent, c.-a.-d. changent sans cesse«.Footnote 18

Die Anfänge des Funktionalismus liegen weiter zurück. Auguste Comte, der als Erster von sociologie sprach, hatte in die damals neue Wissenschaft auch die Organismus-Analogie eingeführt. Herbert Spencer hatte sodann eine umfangreiche Gesellschaftslehre entwickelt, die das Verhältnis von Teil und Ganzem in stetiger Orientierung an der Wissenschaft vom Leben konzipiert. Daher rührt ein bis heute ungelöstes Problem: Wie ist die Bezugseinheit zu definieren?Footnote 19 Die Biologie hat das Lebewesen zum Gegenstand. Die Geistes‑, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften können keine vergleichbare Einheit aufweisen. Als sie im 19. Jahrhundert begründet und an staatlichen Universitäten eingerichtet wurden, half ihnen der Nationalismus aus dieser Verlegenheit, indem er die Bezugseinheit unfraglich machte und das fortbestehende Problem damit verdeckte, und zwar mit einer langen Dauer wie sie Institutionen zu eigen ist. Durch die in den 1970er Jahren anhebende Kritik am methodologischen Nationalismus der Soziologie – sie trifft auch die Literaturwissenschaft – wurde dieses Problem auf die Tagesordnung gesetzt, was zu einer schrittweisen, und sei es auch nur schleichenden Veränderung der institutionellen Strukturen beigetragen hat. Die Einrichtung einer Weltliteraturwissenschaft ist als Ziel immerhin vorstellbar.

Spencer fasst die Rede vom sozialen Organismus nicht als bloßes Sprachbild auf, er postuliert eine strukturelle Analogie: Organdifferenzierung und Funktionsteilung zeichne auch die Gesellschaft als ein lebendes Ganzes aus. Der Soziologe besteht darauf, »that in respect of this fundamental trait, a social organism and an individual organism are entirely alike«.Footnote 20 In beiden Fällen beruhe die höhere Einheit auf den stabilen Beziehungen zwischen relativ selbstständigen Teilen oder »Organen«, die sich allerdings prozesshaft veränderten. Die »mutual dependence of parts«, so postuliert Spencer in dem mit »Preparation in Biology« überschriebenen Kapitel von The Study of Sociology, sei »essential for the commencement and advance of social organization, as it is for the commencement and advance of individual organization«.Footnote 21 Beide sieht er dem gleichen Entwicklungsgesetz der fortschreitenden Differenzierung und Integration unterstellt.

Als »Organe« des sozialen Organismus werden die Institutionen angesehen. Ihre Funktion soll in der Aufrechterhaltung eines wohl integrierten Ganzen bestehen. Es ist dieser Kerngedanke des Funktionalismus, der in der jüngeren Vergangenheit vermehrt Kritik auf sich gezogen hat, so etwa von Anthony Giddens: »Der Terminus ›Funktion‹ impliziert eine Art teleologischer Qualität, die sozialen Systemen zugeschrieben wird: man hält soziale Gegenstände bzw. Aktivitäten für existent, weil sie funktionalen Erfordernissen entsprechen.«Footnote 22 Nicht umsonst hatte sich Immanuel Kant noch vor der Übertragung auf weitere Gegenstände bemüht, die Verwendung des Organismusbegriffs auf dem Wege einer transzendentalen Kritik in die Grenzen zu weisen. Allzu schnell gerät die funktionale Analyse zu einer funktionalen Erklärung: Jene höhere Einheit, die vorausgesetzt wird, wo einem vermeintlichen Bestandteil funktionale Notwendigkeit zugeschrieben wird, erscheint als dessen Existenzgrund.

Dabei wird Finalität wohl nur selten im Sinne eines individualistischen Utilitarismus unterstellt, etwa auf dem Wege einer Reduktion auf Absichten von Begründern. Schon Durkheim hatte an den sozio- wie biologischen Grundsatz erinnert, dass die Zwecke, denen ein Organ diene, von den Ursachen seines Daseins unabhängig seien.Footnote 23 Die Funktion ist demnach nicht festgelegt, sondern für Umbesetzungen offen – eine Voraussetzung der institutionengeschichtlichen Betrachtungsweise. Arnold Gehlen kennt eine »sekundäre objektive Zweckmäßigkeit«,Footnote 24 die auf den Ursprung der jeweiligen Institution nicht rückführbar ist. Wo er eine »allgemein durchscheinende großartige Zweckmäßigkeit des organischen Geschehens«Footnote 25 konstatiert, da ist eben nicht mehr von der Zwecktätigkeit eines externen Urhebers die Rede. Gemeint ist vielmehr die wechselseitige Bezogenheit und Bestimmung der Teile eines komplexen Ganzen, eine interne Zweckmäßigkeit also. Eine solche Konzeption scheint dem Autor zwingend: »Sobald Religion, Sitte und Recht neutral und als objektive Lebenserscheinungen betrachtet werden, drängt sich die teleologische Denkform auf und es entsteht die Frage nach ihrer Leistung.«Footnote 26

Kant hatte, diesem Drang entgegen, Zweckmäßigkeit als regulatives Prinzip einer solchen Betrachtungsweise erläutert, und Nicolai Hartmann hatte die Kritik an der Neigung des Menschen, alles nach der Analogie seiner selbst zu verstehen, fortgeführt: Der Anthropomorphismus bestimme über das mythische Denken hinaus auch die Philosophie und die Naturwissenschaft, wo das forschungsleitende Prinzip als ein konstitutives verkannt und Zweckmäßigkeit am Ende in Zwecktätigkeit verkehrt werde.Footnote 27 Auch Hartmann aber wollte dem teleologischen Denken nicht ein Ende machen, sondern Zweckmäßigkeit philosophisch als eine Fiktion erhellen, die für die Untersuchung organischer Gefüge notwendig ist.Footnote 28 Von diesem Stand ausgehend wäre die Funktionalismus-Diskussion heute fortzusetzen.

Indessen lässt das Zugeständnis der Notwendigkeit einer Als-ob-Betrachtung den anderen gegen-funktionalistischen Einwand bestehen: Die synchrone Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge unterliegt vielfach dem Eindruck eines statischen Gleichgewichtszustands, zu dessen Erhaltung die Institutionen eines als Organismus gedachten Kultur- oder Gesellschaftsganzen vermeintlich dienen. Daraus erhellt der konservative Zug dieser Betrachtungsweise – kaum zufällig trägt Schelskys erster, 1949 nach einem Weltkrieg vorgelegter Versuch in dieser Sache den Titel Über die Stabilität von Institutionen.Footnote 29

Seit 1947 hatte Schelsky gemeinsam mit Arnold Gehlen in der Karlsruher American Library Schlüsselwerke der US-amerikanischen Forschung studieren können und sich damit gegenüber deutschen Fachkollegen einen Vorsprung verschafft.Footnote 30 Bei Malinowski fand er jene Begriffsauslegung vor, auf der Voßkamps Verständnis von Institutionen als »Bedürfnissynthesen« beruht. Malinowski, der mit Argonauts of the Western Pacific (1922), dem Bericht von seinen Aufenthalten auf den Trobriand-Inseln, das Paradigma der teilnehmenden Beobachtung begründete, nahm die Perspektive des Feldforschers ein, als er 1926 im Eintrag »Anthropology« der Encyclopedia Britannica die »Functional Analysis of Culture« erläuterte: »He [the field-worker, Anm. MT] perceives that culture, above all, provides primitive man with the means of satisfying his wants, and of mastering his surroundings. The functional view of culture insists therefore upon the principle that in every type of civilisation, every custom, material object, idea and belief fulfils some vital function, has some task to accomplish, represents an indispensable part within a working whole.«Footnote 31 Wie Mauss so betont auch Malinowski, es gelte nicht einzelne kulturelle Objekte, sondern »complexes of such objects«Footnote 32 zu untersuchen, d. h. Kulturen, die Menschengruppen die Selbstbehauptung – hier wird das darwinistische Erbe greifbar – unter den jeweils gegebenen Umweltbedingungen erlauben.Footnote 33

Ausführlich hat Malinowski in A Scientific Theory of Culture (1944) die Hauptbestandteile einer Kultur als Institutionen und den Gegenstand seiner Disziplin dementsprechend bestimmt: »Culture is an integral composed of partly autonomous, partly coördinated institutions«;Footnote 34 »scientific anthropology consists in a theory of institutions, that is, a concrete analysis of the type units of an organization«.Footnote 35 In diesem Zusammenhang wird »Funktion« wie folgt bestimmt: »the satisfaction of a need by an activity in which human beings coöperate, use artifacts, and consume goods«.Footnote 36 Ersichtlich zielt diese Definition weniger auf die Leistung einer Institution für das Kulturganze als auf »the satisfaction of the organic or basic needs of man«.Footnote 37 Um eine literaturwissenschaftliche Relevanz dieser im engen Wortsinn anthropologischen Konzeption in Aussicht zu stellen, sei schon hier hinzugefügt, dass sie auch voraussetzungsreichere Funktionen, ästhetische etwa, umfasst, die durch die institutionelle Dauerbefriedigung basaler Bedürfnisse erst möglich gemacht würden: »Culture thus satisfies first the organic standard of living and then adds an increased artificial standard of enjoyment, in which aesthetic pleasures, joys of companionship; and creative achievements can be developed. In all this, culture is an organic unit«Footnote 38 – eine höhere Einheit, die aber der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse diene.

Indem Malinowski, so erläutert Schelsky, »den Institutionen die Leistung der sozialen Integration der auf Bedürfnisse bezogenen Funktionen zuschreibt, erklärt er den Systemcharakter der Gesellschaft aus Funktion und Institution, und nicht umgekehrt. Seine Vorgegebenheit ist ›der Mensch‹, nicht ›die Gesellschaft‹ oder ›die Kultur‹.«Footnote 39 Der Anthropologe hatte zunächst biologische Grundbedürfnisse wie die Ernährung im Blick. Diese Betrachtungsweise gewinnt in der Gegenüberstellung mit jener ihr Profil, die bei den höheren Ganzheiten ansetzt. Radcliffe-Brown, der sich auf Durkheim berufen kann,Footnote 40 ersetzt »needs« durch »necessary conditions of existence«,Footnote 41 um die Funktion auf die Gesellschaft zu beziehen.Footnote 42 Schelsky war um eine Vermittlung der unterschiedlichen Sichtweisen bemüht.Footnote 43 Zu seiner Zeit sah er sich vor allem durch die Systemtheorie Niklas Luhmanns zu einer Konzeption herausgefordert, die menschliches Handeln mit Systemstrukturen in Verbindung hält.

Wohlgemerkt wollte Malinowski kulturelle Erscheinungen nicht auf biologische Ursachen reduzieren,Footnote 44 das betont Schelsky bereits in seinem frühen Aufsatz.Footnote 45 Dem kulturellen Umweg der Befriedigung gilt das eigentliche Interesse. Der Anthropologe erkannte, dass kulturelle Einrichtungen auch abgeleitete Bedürfnisse freisetzen, die wiederum nach Befriedigung verlangen. Von »Synthesen« ist deshalb die Rede, weil Institutionen auf eine Pluralität sowohl biologischer Primärbedürfnisse als auch kultureller Sekundärbedürfnisse zu beziehen sind. Sie sind, wie mit Sigmund Freud gesagt wurde, »überdeterminiert«.Footnote 46 In der einen wie in der anderen Hinsicht kann nach ihrer Funktion gefragt werden, das ist Schelsky wichtig und bahnt einer literaturwissenschaftlichen Aneignung dieser Betrachtungsweise den Weg: »Zur Selbsterhaltung des Menschen oder der Gruppe dienen sie alle, das ist kein Unterschiedskriterium für biologische und kulturelle Bedürfnisse beim Menschen. Die Erfüllung kultureller Bedürfnisse kann genauso als ›Funktion‹ aufgefaßt werden wie die der biologischen Primärbedürfnisse.«Footnote 47

Um das Element der bedürfniserzeugenden Wirkung hat Voßkamp seine Theorie, mit Verweis auf Schelsky, erst später ergänzt.Footnote 48 Die früheren Aufsätze dokumentieren das Bestreben, literarische Formen als Antworten auf vorgegebene Probleme zu beziehen. Die anthropologische Sicht auf das Institutionelle erwies sich einer rezeptionsästhetisch informierten Romansoziologie auch deshalb als verwandt, weil deren Vorgegebenheit ebenfalls »der Mensch« war, genauer: »der Leser«: »Kommunikativer Erfolg und ›Wirkung‹ beim Rezipienten sind weitgehend davon abhängig, inwieweit der Leser durch den Roman ›eine Befriedigung seiner gegenwärtigen Bedürfnisse erfährt‹.«Footnote 49 Eben darin erkennt die Funktionsgeschichte den Grund für die erfolgreiche Institutionalisierung von Gattungen: dass sie »Möglichkeiten (zeitlich begrenzter) Bedürfnisbefriedigung für bestimmte Leserschichten eröffnen. Insofern sind Gattungen ›Bedürfnissynthesen‹, in denen nicht nur bestimmte Problemlagen artikuliert, sondern auch Lösungsstrategien diskutiert und angeboten werden.«Footnote 50

Die Problemlagen aber, in denen lesende Menschen nach Lösungen fragen, sollten aus der Gesellschaftsgeschichte resultieren. Es gibt wohl keine Gattung, an der die Bezogenheit auf ein nationales Ganzes sich besser zeigen ließe als eben den Bildungsroman. Voßkamps These lautet, die Konzeption des Bildungsromans sei begreifbar »aus der politisch-sozialen Funktion‚ die diese spezifische Zeitutopie als identitätsstiftende, politische Defizite ausfüllende literarisch-soziale Institution in Deutschland übernimmt«.Footnote 51 Es waren demnach hoch besondere, durch eine eigentümliche Nationalgeschichte bedingte Bedürfnisse, denen diese Erzählform entsprach.

Eine Revision dieser These muss das traditionell starke Interesse der deutschen Germanistik an dieser Gattung bedenken. Zu Zeiten wurde mit unverhohlenem Nationalstolz ein Besitzanspruch erhoben: »Seit Goethe besitzen wir«, so formuliert etwa Herman Anders Krüger im Jahr 1906, »eine Romanart, die ein ganz ausgesprochen nationales Gepräge trägt, wie sie eigenartiger, individueller kein anderes Volk aufzuweisen hat, den deutschen BildungsromanFootnote 52 Der Anspruch umfasst auch den Bildungsgedanken. Die von Herman Nohl zur gleichen Zeit begründete Vorstellung von einer »deutschen Bewegung« ist in der Historiografie und im Selbstverständnis der Pädagogik in Deutschland bis heute wirksam.Footnote 53

Auch unabhängig von manifest politischen Motiven ist – aus der nötigen Distanz – eine Tendenz zur nationalen Partikularisierung zu erkennen: »The Germanist is likely to insist that the Bildungsroman develops in a particular political and cultural climate in Germany«, so der Amerikaner Todd Kontje, »and that its history in critical discourse remains intimately linked to the shifting fortunes of German history. In contrast, those outside of German studies downplay the national connection and stress the genre’s close ties to modernity in general.«Footnote 54 Wohl zeigt der Gebrauch der deutschsprachigen Bezeichnung »Bildungsroman« in anderssprachigen Texten, dass man den Ursprung allgemein in Deutschland verortet; auch über die Musterfunktion von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) herrscht weitgehend Einigkeit. Dennoch ist das mythologische Moment einer germanistischen Literaturgeschichtsschreibung zu beachten, die das nationale Selbstverständigungsnarrativ eines »deutschen Sonderwegs« forterzählt.

Wie alle Erzählungen dieser Art so behauptet auch diese Einzigartigkeit – »there is nothing unusual about German exceptionalism«.Footnote 55 Identitätsbildend wirkt sie auch in ihren kritischen Varianten, ja noch in jener eines »›deutschen Sonderwegs‹ in den Abgrund« des Nationalsozialismus.Footnote 56 Wo Thomas Mann den Bildungs- und Entwicklungsroman als »typisch-deutsch, legitim national« bezeichnet, zielt er bekanntermaßen auf einen »deutschen Humanitätsbegriff«, der »das Produkt einer Epoche ist, in der die Gesellschaft in Atome zerfiel und die aus jedem Bürger einen Menschen machte, das politische Element von jeher fast völlig fehlte«.Footnote 57 Manns Ausführungen über »die vielleicht berühmteste Eigenschaft der Deutschen, diejenige, die man mit dem sehr schwer übersetzbaren Wort ›Innerlichkeit‹ bezeichnet«,Footnote 58 stehen im Einklang mit jenen Helmuth Plessners über die »verspätete Nation«.Footnote 59 Kurz gesagt: In Deutschland, wo das Bürgertum es unterließ, auf dem Wege einer Revolution die politische Macht zu erringen, bemühten die Angehörigen dieser gesellschaftlich gleichwohl aufstrebenden Schicht sich stattdessen um die Entfaltung ihrer Individualität. Ohne die genannten Stichwortgeber zu zitieren, spricht auch Voßkamp von einer »Wendung ins bloß Private«, von einer »melancholisch-weltfluchtartigen Verinnerlichung und Resignation«.Footnote 60 Wohl ist dieser Erzählung, ihres nationalmythologischen Charakters ungeachtet, ein gewisser Realitätsgehalt zuzugestehen. Die exzeptionalistische Überakzentuierung von Besonderheit im Sinne von Einzigartigkeit und folglich Unvergleichbarkeit verstellt aber, darauf kommt es hier an, den Blick auf das Gemeinsame verschiedener Nationen.

Größeres Gewicht als der nationalen Geschichte legt Voßkamp, recht besehen, einem gesellschaftsgeschichtlichen Prozess der zunehmenden Arbeitsteilung und funktionsorientierten Differenzierung bei. Dieser Vorgang sei mit einer krisenhaften Erfahrung der radikalen Autonomisierung und Zersplitterung verbunden gewesen; die Deutschen seien ihr mit der utopischen Vorstellung des allseitig gebildeten Individuums begegnet.Footnote 61 Mit der Veränderung von Strukturen ist jedoch ein wesentlicher Zug dessen angesprochen, was auch außerhalb der Germanistik »gesellschaftliche Moderne« heißt und als Entstehungsbedingung der Gattung angeführt wird. In welchem Maße Deutschland sich durch eine außergewöhnliche Wertschätzung für die allseitige Ausbildung menschlicher Fähigkeiten von anderen Nationen unterscheidet, bleibt genauer zu untersuchen. Hier nur so viel: Dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte des Jahres 1948 in Artikel 26 jedem Menschen ein – so zumindest der deutsche Wortlaut – »Recht auf Bildung« zuspricht und genauerhin »die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit« als deren Ziel deklariert, weist auf eine weite Verbreitung dieses Werts hin. Mit der deutschen Tradition – Joseph Slaughter, darauf wird zurückzukommen sein, hat das überzeugend dargelegt –, steht der Bildungsbegriff der Vereinten Nationen, auch dort, wo von education, éducation, educación, istruzione oder öğrenim die Rede ist, in einer hohen Kontinuität.Footnote 62

Jedenfalls ist der Bildungsroman ein besonders gut geeignetes Beispiel, vielleicht das beste, für die hier zu entfaltende Problematik: Wenn die Gattung mit anderen gesellschaftlichen Institutionen einer Nation dermaßen eng zusammenhängt, wie ist dann ihre grenzüberschreitende Mobilität zu beschreiben, hinsichtlich ihrer Funktion zu begreifen oder gar zu erklären? Dass funktionalistische Institutionengeschichte in diachroner Perspektive mit Wandel rechnet, ist ein erster Ansatzpunkt. Das statische Äquilibrium, das man vor allem in »traditionalen«, ebenso aber in »modernen« Gesellschaften erkennen wollte, war stets ein Theorieartefakt. Daher war die Dynamisierung der Konzeption ein notwendiger Schritt. Schelsky benutzte schon früh den Prozessbegriff »Institutionalisierung« und so auch Voßkamp.Footnote 63 Nichtsdestotrotz galt das primäre Interesse der Etablierung der Gattung im Sinne eines »Auskristallisierens, Stabilisierens und institutionellen Festwerdens von dominanten Strukturen«.Footnote 64 Immerhin wurde mit Verweis auf jüngere Bildungsromane bemerkt, dass die Geschichte der Gattung nicht abgeschlossen und ihre Funktion durchaus variabel sei. Dazu kam es jedoch nur am Rande, am Schluss eines Aufsatzes etwa.Footnote 65 Im Mittelpunkt standen die Musterromane und ihre kanonischen Nachfolger, an denen sich eine dauerhaft gleichbleibende Funktion dieser Romanform aufzeigen ließ. Möglicherweise ist dies dem konservativen Zug eines teleologischen Funktionalismus geschuldet, der die soziale Integration oder Stabilität eines gesellschaftlichen Gesamtsystems als Bezugspunkt der Analyse voraussetzt. Der Funktionsbegriff jedenfalls ist für die Beschreibung historischen Wandels durchaus geeignet.

Zumindest die Literaturwissenschaft versteht unter »Funktion« nämlich die »[p]otentielle Wirkung eines Textes oder Textelements«.Footnote 66 Damit steht zunächst eine »Disposition« oder »nachweisbare Eignung« in Rede. Der Begriff zielt »auf die potentielle Dienlichkeit einer Sache, nicht auf ihre tatsächliche Dienstbarkeit in einem einzelnen konkreten Fall«,Footnote 67 mag die Letztere auch Gegenstand einer historischen Untersuchung sein, die sich für Textauslegungen und darüber hinaus für deren Konsequenzen interessieren muss, wenn denn gilt: »Unter Funktionen von Texten sollen jene Auswirkungen auf das Verhalten und Handeln ihrer Hörer/Leser verstanden werden, die sich als Folgen der Textrezeption verstehen lassen.«Footnote 68 Wohl können Funktionen »nur über eine ästhetische Wirkungsstruktur realisiert werden«.Footnote 69 Die Analyse der Eigenstruktur eines Texts oder einer Gattung ist daher unerlässlich. Doch lässt sich ein Potenzial nicht als solches erschließen. Eine ästhetische Betrachtung allein reicht darum nicht hin; sie könnte über mögliche Wirkungen allenfalls spekulieren. Das Potenzial einer literarischen Gegebenheit entfaltet sich erst in der Geschichte seiner unterschiedlichen Realisierungen und kann nur an diesen studiert werden. So lassen sich anhand konkreter Einzeltexte und ihrer Rezeption exemplarisch Funktionsmöglichkeiten aufzeigen.

Wie bemerkt wurde, neigen funktionsgeschichtliche Ansätze allgemein dazu, eine bestimmte Realisierung des Potenzials dominant zu setzen und als kennzeichnend für den jeweiligen Gegenstand anzusehen.Footnote 70 Auch die Behandlung des Bildungsromans weist diese Neigung auf. Die Bestimmung des Funktions- als eines Dispositionsbegriffs hält hingegen dazu an, Gattungen nicht auf die jeweils behandelte Funktion zu reduzieren, mag sie historisch auch vorherrschend sein. Gattungen erfüllen mitunter auch zur gleichen Zeit und im selben gesellschaftlichen Zusammenhang unterschiedliche Funktionen. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz, der von der Überdeterminiertheit seines Gegenstands ausgeht, vermöchte einer solchen Multifunktionalität wohl Rechnung zu tragen. Ist er damit auch für die Untersuchung grenzüberschreitender Prozesse geeignet?

Dass diese Frage bislang kaum gestellt wurde, ist in dem methodologischen Nationalismus der Germanistik begründet wie auch in den Besonderheiten der deutschen Kolonialgeschichte und ihrer verspäteten Aufarbeitung. Während andere Philologien wie die Anglistik und die Romanistik, die auf eine sehr viel längere kolonialimperiale Vergangenheit zurückblickten, in der Folge der Dekolonisation von intellektuellen Repräsentanten der vormals Kolonisierten mit zunehmendem Nachdruck dazu angehalten wurden, Rechenschaft abzulegen, wirkten solche Impulse auf die Wissenschaft von der deutschen Literatur teils von außen, teils indirekt ein, vermittelt etwa durch die Globalgeschichte. Zweifellos gab der Postkolonialismus den stärksten Impuls zu einer transnationalen Wende. Aufgrund ihrer bevorzugten Behandlung der Literaturen Deutschlands und Frankreichs hatte die Komparatistik hierzulande die Naturalisierung der Nationalphilologien eher befördert. Wozu die Bestände der germanistischen Fachtradition unter den heutigen Bedingungen taugen, bleibt daher zu eruieren. Was die Funktionsgeschichte literarisch-sozialer Institutionen anbelangt, liegt es nahe, dabei die wissenschaftliche Vorgeschichte dieses Ansatzes einzubeziehen.

III.

Malinowski, der an der London School of Economics und später an der Yale University Anthropologie lehrte, hatte sich seinerzeit mit dem Kolonialismus und dessen Folgen zu befassen. Auf der Grundlage seiner funktionalistischen Kulturtheorie entwickelte er einen der ersten Versuche, Kulturkontakte systematisch in Betracht zu ziehen, was zu einer gewissen Dynamisierung seiner Konzeption führte. Das Hauptinteresse galt zu jener Zeit den Folgen der europäischen Kolonialherrschaft in Afrika.

Mit einem Begriff, der in den 1880er Jahren aufgekommen war, hatte man diese zunächst als acculturation erfasst. Malinowski, der zumeist von culture contact und culture change sprach, kannte bereits einen anderen Begriff, dem man heute, mit Blick auf die Verhältnisse des 21. Jahrhunderts, eine große Analysekraft beimisst: »›Transkulturalität‹ will, dem Doppelsinn des lateinischen trans- entsprechend, darauf hinweisen, dass […] die kulturellen Determinanten heute quer durch die Kulturen hindurchgehen, sodass diese nicht mehr durch klare Abgrenzung, sondern durch Verflechtungen und Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind.«Footnote 71 Der Begriff ist unter Berufung auf Malinowski von dem kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz geprägt worden. Er wollte damit die seinem Verständnis nach einseitige Anpassung meinende Rede von Akkulturation ersetzen.Footnote 72 Malinowski verfasste für Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar (1940) ein Vorwort, das Transkulturation als eine wechselseitige Wirkung zwischen unterschiedlichen Kulturen auslegt, aus der etwas Neues hervorgeht.Footnote 73 Mehr als punktuell verwandte er selbst diesen Begriff jedoch nur in dem letzten vor seinem Tode verfassten Aufsatz.Footnote 74

Dieser letzte Aufsatz behandelt dasselbe Thema wie das 1949 posthum erschienene Buch The Dynamics of Culture Change. Es hat weniger einen symmetrischen Austausch zum Gegenstand als vielmehr die einseitige Auswirkung der Kolonisierung auf die Gesellschaften Afrikas. Das Interesse an kulturellem Wandel entsprach einer allgemeinen Tendenz der Anthropologie, die Mitte des 20. Jahrhunderts auf den Untergang der meisten »primitiven Gesellschaften« – und somit auf den Verlust ihres angestammten Forschungsobjekts – mit einer Hinwendung zu »Übergangsgesellschaften« im Prozess der bald so genannten »Modernisierung« reagierte.Footnote 75 Die Wissenschaft wusste um ihre aktive Teilhabe an diesem Prozess. Eine »practical anthropology«Footnote 76 wollte »for the task of assisting colonial control«Footnote 77 nützlich sein. Daraus, dass er seine funktionalistische Theorie des Kulturkontakts mit der Perspektive und im Dienst kolonialer Herrschaft, und zwar zum Zweck ihrer Optimierung im Rahmen eines »social engineering«Footnote 78 entwickelte, machte Malinowski keinen Hehl: »The practical value of such a theory is that it teaches us the relative importance of various customs, how they dovetail into each other, how they have to be handled by missionaries, colonial authorities, and those who economically have to exploit savage trade and savage labour.«Footnote 79

Dessen ungeachtet ist der funktionalistische Grundsatz bedenkenswert, dass kultureller Wandel nicht an einzelnen, isolierbaren culture traits und ihrer Diffusion zu studieren ist, sondern nur ganzheitlich mit Blick auf Interdependenzen, und zwar auf der Ebene des Institutionellen erfasst werden kann.Footnote 80 Diese Auffassung erweist sich hinsichtlich der seit den 1970er Jahren so genannten »Globalisierung« als aktuell. Nach Giddens ist dieser Prozess nicht anders denn als »Ausbreitung der modernen Institutionen über die ganze Welt«Footnote 81 zu betrachten, wobei auf »Institutionenbündelungen«Footnote 82 zu achten sei. John W. Meyer spricht in dieser Hinsicht von einer »Weltkultur«. Da der von ihm begründete Neoinstitutionalismus im Folgenden für eine Reformulierung des literaturwissenschaftlichen Ansatzes im Lichte gegenwärtiger Probleme herangezogen werden soll, sei dessen Institutionenbegriff kurz erläutert: Er zielt auf »kulturelle Regeln, die bestimmten Einheiten und Handlungen kollektiven Sinn und Wert verleihen und sie in einen größeren Rahmen integrieren«.Footnote 83 Es sind vor allem drei Einheiten oder »Akteure«, die der Neoinstitutionalismus als die wichtigsten Strukturformen der modernen Gesellschaft behandelt: die formale Organisation, der souveräne Nationalstaat und das autonome Individuum.Footnote 84

Meyers Konzeption der Institution als basale gesellschaftliche Erwartungsstruktur ist an Max Webers Theorie der Rationalisierung angelehntFootnote 85 und im Sinne von Berger und Luckmann wissenssoziologisch fundiert.Footnote 86 Sie betont mithin ein kognitives Moment, zielt nämlich auf Modelle und »Skripts«, die Handlungsprobleme definieren und Handelnde mit Motiven versehen. In Prozessen der Institutionalisierung werden demnach sowohl Handlungsmuster konstituiert als auch allererst, darauf legt Meyer großes Gewicht, die Akteure. Das gilt für die drei genannten Formen von Akteurschaft gleichermaßen. Im Zusammenhang mit dem Bildungsroman ist Individualität eine besondere Relevanz einzuräumen, wenngleich die Bündelung mit anderen Formen untersucht werden muss. Zu neueren germanistischen Arbeiten über die »Erfindung« des Individuums im 18. Jahrhundert passt Meyers diesbezügliche These: »Das Individuum ist ein institutioneller Mythos, der aus rationalisierten Theorien ökonomischen, politischen und kulturellen Handelns entsteht«.Footnote 87

Die Erzählungen der Literaten, so wäre zu ergänzen, haben den »institutionalisierten Individualismus«Footnote 88 mitbegründet. Talcott Parsons, der diese Formel mit Blick auf die amerikanische Gesellschaft der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt hat, verband Webers Theorie des sozialen Handelns mit Durkheims Konzeption der sozialen Tatsachen zu der Annahme, dass sich Akteure an einem kollektiven Werte- und Normensystem orientieren, das im Zuge der Sozialisation internalisiert wird. Individualität zählt zu den zentralen Werten der modernen Gesellschaft. Schon Durkheim stellte zu seiner Zeit fest, der Individualismus stelle »fortan das einzige Glaubenssystem dar, das die moralische Einheit eines Landes sicherstellen kann«.Footnote 89 Seine Rede vom »Kult des Individuums« hebt hervor, dass dieser in der säkularisierten, arbeitsteiligen Gesellschaft die religiöse Moral ablöst: Das Individuum nimmt den Platz Gottes ein.

Neben der religionssoziologischen findet sich bei Durkheim auch die strukturtheoretische These, Individualisierung sei eine Begleiterscheinung gesellschaftlicher Differenzierung. Ähnlich ordnet Niklas Luhmann, dem die jüngere Germanistik folgt,Footnote 90 die »Semantik« der Individualität ein. Demgegenüber versteht Meyer institutionalisierten Individualismus in dem bereits angesprochenen Sinne als ein Kulturmuster, das sich nicht derivativ zu vermeintlich tiefer liegenden Sozialstrukturen verhält. Es ist deshalb, darauf kommt es hier an, hoch beweglich und kann als eigenständiger Faktor auch dort wirksam werden, wo die angeblich erforderlichen Strukturbedingungen wie in manchen »Entwicklungsländern« der »Dritten Welt« nicht aufweisbar sind. So ist der Befund einer erstaunlichen Gleichförmigkeit des Handelns erklärlich, auf dem die Theorie der Weltkultur fußt. Und zwar zieht sie zur Erklärung »institutioneller Isomorphie« drei unterschiedliche Mechanismen in Betracht: Nachahmung, normativer Druck und Zwang.Footnote 91

Der Hinweis auf kulturelle Prozesse der Diffusion stellt für funktionalistische Ansätze zunächst deshalb eine Herausforderung dar, weil er eine Rückführung von Institutionen auf Bedürfnisse problematisch erscheinen lässt – zumal dann, wenn kulturelle Muster oktroyiert werden. Jene kolonialzeitlichen Institutionentransfers, die Malinowski vor Augen hatte, beruhten auf asymmetrischen Machtverhältnissen. Seine besondere Aufmerksamkeit zog unter dem Aspekt des Kulturkontakts das koloniale Erziehungswesen auf sich: »Education, under normal conditions, is the transmission of culture from one generation to another. Under conditions of culture change or transculturation it implies not merely the transmission of one system but the welding-together of two.«Footnote 92 Literaturgeschichtlich ist diese Beobachtung insofern von besonderem Interesse, als man sich literarischer Texte im Rahmen des kolonialen Schulsystems zum Zweck der Verbreitung europäischer Normen und Werte bediente. Mit Blick auf Indien hat Gauri Viswanathan »literary education, as opposed to literature, as a major institutional support system of colonial administration« bezeichnet und auf die Funktion humanistischer Bildung in diesem Zusammenhang hingewiesen: »[C]ertain humanistic functions traditionally associated with literature – for example, the shaping of character or the development of the aesthetic sense or the disciplines of ethical thinking – were considered essential to the processes of sociopolitical control by the guardians of the same tradition.«Footnote 93 Zu den literarischen Werken, die auf diese Weise in die britischen Kolonien gelangten, zählten auch Bildungsromane. Eine transkulturelle Funktionsgeschichte dieser Gattung hat mithin dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ihre Institutionalisierung in manchen Gesellschaften erzwungen wurde – eine Rückführung auf Bedürfnisse der Leserschaft, die wohl an der Idee eines freien Markts orientiert ist, erweist sich in solchen Fällen als besonders fragwürdig.

Überhaupt ist festzustellen, dass der frühen Rede von »Transkulturation« ein Pathos der Grenzüberwindung und damit der euphorisch hoch gestimmte Ton, in dem sie heute vielfach vorgetragen wird, gänzlich fremd ist. Malinowski gelangte zu seiner Einschätzung der transkulturellen Situation afrikanischer Gesellschaften als »both complex and fraught with dangerous (not to say tragic possibilities)«Footnote 94 unter der Voraussetzung, dass es sich dabei um organische Einheiten handelt, die sich in einem Gleichgewichtszustand befinden oder nach einer Störung dessen Wiederherstellung anstreben. Dementsprechend betont er »forces of conservatism inherent in Native institutions«.Footnote 95 Eben die Stärke dieses Ansatzes: dass er Interdependenzen zwischen unterschiedlichen Institutionen erfasst, erweist sich als Schwäche, wo die innergesellschaftlichen Bezüge, der Organismus-Analogie folgend, überbetont werden.

Mit Blick auf die frühe Anthropologie »primitiver« Kulturen mag man dieser Betrachtungsweise eine gewisse Berechtigung zubilligen, insofern die Feldforschung anfangs vornehmlich kleine Gruppen in den Blick nahm, die teils weitgehend isoliert waren. Dass Kulturen wie jene der Trobriander im frühen 20. Jahrhundert vergleichsweise wenig dynamisch und somit der synchronen Analyse besser zugänglich waren als die Kulturen des unter europäischer Einwirkung stehenden Afrika etwa, ist gut vorstellbar. Im Falle der Geschichts-, der Sozial- und auch der Literaturwissenschaften, die sich mit »modernen« Gesellschaften befassen, zollt die Beschränkung der Perspektive auf den Raum eines Territorialstaats dagegen der Wertvorstellung nationaler Einheit Tribut. In beiden Zusammenhängen erwies sich, auch bedingt durch einen Wertewandel, die Voraussetzung räumlich begrenzter Untersuchungseinheiten zunehmend als problematisch, wenn nicht haltlos.

Daher rührt die jüngere Konjunktur von »Transkulturation« und anderen »Trans«-Begriffen. Programmatisch bekunden sie einen Willen zur analytischen Grenzüberwindung, der vielfach auch die Wahrnehmung entfernter Zeiten verändert. Die starke These, Transkulturation sei immer schon der Fall, bringt jede historische Darstellung unterschiedlicher Kulturen in Misskredit. Damit wird der Funktionsbegriff eigentlich unbrauchbar, setzt er doch den Bezugsrahmen einer begrenzten Einheit voraus. Es scheint indes ratsam, die traditionelle Vorstellung einer Mehrzahl unterschiedlicher Kulturen nicht pauschal zu verwerfen, sondern einem neueren Denkbild folgend zu revidieren. In der Auseinandersetzung mit der organologischen Tradition ist ein Konzept der »Assemblage« entwickelt worden, das dazu anleitet, dynamische Ensembles aus heterogenen Elementen zu beschreiben.Footnote 96 Der »nouveau fonctionalisme«Footnote 97 Michel Foucaults verwendet dazu den ähnlichen Begriff »dispositif«, wobei auch er davon ausgeht, ein solches Ensemble habe »pour fonction majeure de répondre à une urgence«.Footnote 98 Dass es mobile Elemente in sich aufnimmt oder aus sich entlässt, hindert nicht daran, es als temporär stabile Ganzheit aufzufassen. Begreift man Kulturen als Assemblagen, kann durchaus nach der Funktion ihrer zeitweiligen Bestandteile gefragt werden.

Der Befund einer historischen Variabilität lässt vermuten, dass Funktionen auch kulturell einer Veränderung fähig sind. Wo Institutionen sich räumlich verbreiten und über kulturelle Grenzen hinweggelangen, könnten sie sich mithin als geeignet für Zwecke erweisen, die man ihnen im Zusammenhang ihrer Entstehung nicht zugedacht hatte. Aus diesem Grund erkennt Andreas Reckwitz dem Konzept der nicht antizipierten Konsequenzen, das von Giddens der funktionalistischen Erbmasse entnommen wurde, eine besondere Aktualität zu: »Es sind die Beziehungen zwischen sozialen Praktiken an differenten Orten bzw. zu differenten historischen Zeitpunkten, denen das Interesse gilt und die unter dem Gesichtspunkt ›unintendierter Folgen‹ zu untersuchen sind.«Footnote 99 Im Unterschied zum herkömmlichen, teleologischen Funktionalismus habe ein kontingenztheoretischer Funktionalismus die Relation zwischen Praktiken unterschiedlicher Räume und Zeiten nicht als eine Sequenz von Ursache und Wirkung, sondern als nichtdeterminierten Prozess in den Blick zu nehmen. Im vorliegenden Zusammenhang ist die Beobachtung interessant, dass in vielen Analysen aus dem Umfeld der postkolonialen Theorie zumindest implizit unintendierten Handlungsfolgen ein prominenter Stellenwert zukommt.Footnote 100 Gemeint sind solche Analysen, die von der kreativen Aneignung kultureller, nicht zuletzt literarischer Praktiken handeln.

Es wurde eingangs bereits darauf hingewiesen: Selbst eine so spezifisch deutsche Gattung wie der Bildungsroman hat sich als grenzüberschreitend beweglich erwiesen, und zwar auch außerhalb von Europa. Nicht zuletzt fand sie den Weg in kolonisierte Länder, wo sie auch nach der Dekolonisation weiter Verbreitung fand. Bei der Untersuchung kultureller Mobilität, das wusste bereits Malinowski, ist stets von einer Veränderung auszugehen: »Just because no idea and no object can exist in isolation from its cultural context, it is impossible to sever mechanically an item from one culture and place it in another. The process is always one of adaptation in which the receiving culture has to re-evolve the idea, custom, or institution which it adopts.«Footnote 101 Dass dies auch für literarische Gattungen gilt, demonstrieren die Forschungsbeiträge zum Thema des postkolonialen Bildungsromans: Sie handeln von vielfältigen Adaptionen.

Die Rede von »generic transculturation« taucht in diesem Zusammenhang kaum überraschend auf. Sie ist zugleich beispielhaft für die lange Dauer funktionalistischer Denkgewohnheiten. Maria Helena Lima übernimmt den Transkulturationsbegriff nicht direkt von Ortiz, sondern vermittelt durch Ángel Rama, der ihn für eine Untersuchung lateinamerikanischer Erzählliteratur nutzbar gemacht hatte. Zuerst 1974 im Rahmen eines Aufsatzes und 1982 in Buchform hatte Rama Studien zur Entstehung eines literarischen Regionalismus vorgelegt, den er in Zusammenhang mit Prozessen der Modernisierung sieht, die von den Städten ausgingen. Er versieht Ortiz’ Begriff mit einem Akzent auf der »Energie« und »Kreativität« lebendiger kultureller Gemeinschaften des Hinterlands.Footnote 102 Während Rama neben Ortiz auch andere Anthropologen heranzieht, nimmt Limas Aufsatz aus dem Jahr 1993 auf diese Tradition nicht mehr Bezug. Gleichwohl liegen funktionalistische Annahmen auch ihrer Untersuchung zugrunde: »[D]ifferent cultures will transform the ›originary‹ genre to serve their particular needs«Footnote 103 – offenbar kommen auch Transkulturationsstudien nicht gut ohne die Annahme aus, es gebe unterscheidbare Kulturen, denen sich besondere Bedürfnisse zuschreiben lassen, in deren Erfüllung ein Zweck erkannt werden kann.

IV.

Die in postkolonialen Studien vielfach verfolgte Frage nach »nicht antizipierten Konsequenzen« hatte Robert K. Merton in einem früheren Aufsatz zunächst mit Blick auf einzelne Handlungen entfaltet,Footnote 104 bevor er sich Ende der 1940er Jahre institutionellen Handlungsmustern zuwandte. Unter dem Titel »Manifest and Latent Functions« hat er drei zentrale Postulate des Funktionalismus revidiert und den analytischen Rahmen derart erweitert, dass nun auch gesellschaftlichen Konflikten in einem gewissen Umfang Rechnung getragen werde konnte. So wird das Postulat, sämtliche Formen einer Gesellschaft hätten positive, insbesondere bestandserhaltende Funktionen, mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass sie mitunter aus Sicht von »subgroups sufficiently powerful to retain these forms intact, by means of direct coercion or indirect persuasion«,Footnote 105 wohl funktional, aus Sicht anderer Teilgruppen dagegen dysfunktional sein können. Unter dieser Voraussetzung ließen sich auch asymmetrische Machtbeziehungen berücksichtigen, wie sie in kolonialgeschichtlichen Zusammenhängen bestanden und auch seither fortbestehen.

Der wohl bedeutendste Diskussionsbeitrag ist die im Titel des Aufsatzes annoncierte Distinktion. Diese hebt nicht auf unterschiedliche Teilnehmerperspektiven ab, sondern setzt die Möglichkeit einer Außenperspektive voraus, wie sie im Fall der ethnologischen Untersuchung einer fremden Kultur gegeben zu sein scheint. Als »latent« werden solche Funktionen bezeichnet, die von den Absichten der Akteure abweichen und von diesen auch nicht erkannt werden.Footnote 106 Das wird exemplarisch an den Regentänzen der Hopi-Indianer verdeutlicht: Diese führten zwar nicht zum erklärten Ziel, festigten jedoch den Gruppenzusammenhalt. Es bedürfe der Perspektive eines externen Beobachters, eines Soziologen, um dies zu entdecken. Merton hält die Erkennung solcher Latenzen für die eigentliche Aufgabe der Soziologie und ihren gesellschaftlichen Beitrag – die manifesten Funktionen seien ja ohnehin bekannt.Footnote 107

Eine der Redeformen, in denen sie bekanntgemacht werden, sind jene Selbstverständniserklärungen, die vom Zweck einer Institution handeln und so legitimierend wirken sollen. Solche hatte auch Malinowski bereits im Blick. Er bezeichnete »the system of values for the pursuit of which human beings organize, or enter organizations already existing«Footnote 108 als charter. Schelsky rückt diesen neben Maurice Harious Begriff der idée directrice.Footnote 109 Gehlen hatte mit »Führungsnorm« übersetzt.Footnote 110 Gemeint sind grundlegende und leitende Ideen, die Zustimmung herbeiführen.

Malinowski unterstreicht, dass es dabei auf die Perspektive der Akteure ankommt, wenn er von »the recognized purpose of the group« und »the idea of the institution as entertained by its members and defined by the community«Footnote 111 spricht. Eben deshalb aber gilt es, die Charter einer Institution von ihrer Funktion zu unterscheiden. Damit ist einerseits die Konzeption einer nicht erkannten, latenten Funktion vorbereitet, anderseits aber auch die Funktionalismuskritik einer Wissenssoziologie, die eine konsequente Übernahme der Akteursperspektive einfordert – jenes »native’s point of view«Footnote 112 gewissermaßen, dessen Gewinnung Malinowski selbst einmal zur Maxime der Ethnografie erklärt hatte. Gegen die Funktionszuschreibung aus externer Beobachterperspektive erheben Peter L. Berger und Thomas Luckmann nämlich den Einwand, »daß ›Funktionen‹ wie ›Dys-Funktionen‹ nur auf der Ebene von Sinn analysiert werden können. Demzufolge bedeutet ›funktionale Integration‹ – will man den Ausdruck überhaupt verwenden – die Integration einer institutionalen Ordnung mithilfe ihrer Legitimationsprozesse.«Footnote 113

Diese Unterscheidung könnte für Zwecke der Literaturgeschichtsschreibung nützlich sein. Wer nach dem historischen Sinn des Bildungsromans fragt und bei seiner Charter ansetzt, der wird sich etwa für die erklärten Wirkungsabsichten von Autoren oder für poetologische Zwecksetzungen von Seiten der Kritiker und Philologen interessieren. Mitunter sprechen auch fiktive Romanfiguren die leitende Idee aus, so Goethes Wilhelm: »mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden«.Footnote 114 Christian Gottfried Körner teilte im Jahr der Romanpublikation in einem Brief an Friedrich Schiller seine Idealvorstellung mit: »Das Ziel dieser Ausbildung ist ein vollendetes Gleichgewicht – Harmonie mit Freiheit.«Footnote 115 Daniel Jenisch wies im Folgejahr auf die gesellschaftlich befriedende Wirkung des Romans hin: »Meisters Lehrjahre machen uns zufrieden mit einem eingeschränkten Lebens-Kreise, machen uns jede Pflicht menschlichen Verhältnisses nur desto heiliger, desto liebens- und achtungswerther.«Footnote 116 Auch Karl Morgenstern ist hier anzuführen, der den Begriff als erster verwandte und sich in Vorträgen der Jahre 1819 und 1820 ausführlicher zur Funktionsfrage äußerte: Mit dem »bisher nicht üblichen Worte […] Bildungsroman«Footnote 117 bezeichnet er einen solchen Roman, der Bildung erstens »darstellt« und zweitens »fördert«.Footnote 118 Mithin gibt der Name der Gattung nicht nur ihren Gegenstand an, sondern auch ihren Zweck: Der Bildunngsroman ist ein Mittel zur Bildung.

Wenn sie von einer harmonisierenden Vorstellung auch abrückte, so hielt die Poetologie an dieser instrumentellen Zuschreibung doch bis in die jüngste Vergangenheit fest. Die Deutung der Gattung als »Handlungsanleitung und Verstehenshilfe bürgerlicher Existenz«,Footnote 119 vermag auch deshalb zu überzeugen, weil sie einer allgemeineren Bestimmung entspricht: »[L]a littérature«, so äußerte sich Roland Barthes gleichfalls im funktionalistischen Duktus jener Zeit, »est cet ensemble d’objets et de règles, de techniques et d’œuvres, dont la fonction dans l’économie générale de notre société est précisément d’institutionnaliser la subjectivitéFootnote 120 Die Funktionsgeschichte des Bildungsromans scheint eben dies für das bürgerliche Zeitalter zu zeigen: Die Literatur vermittelt ihrem Leser ein Selbstverständnis als Individuum und dazugehörige Techniken der praktischen Selbstführung. Zweifellos zählt Bildung seit mehr als zwei Jahrhunderten zu den »obersten Führungssystemen«Footnote 121 einer abnehmend religiös orientierten Gesellschaft. Und der kunstvolle Umgang mit Schrift ist in diesen Zusammenhang stark eingebunden. Mit einem geweiteten Blick auf den europäischen Bildungsroman und die gesellschaftliche Moderne erklärt auch der Komparatist Franco Moretti, die literarische Darstellung von Sozialisation trage einen Widerspruch zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und dem Ideal der individuellen Selbstbestimmung aus und lehre den Leser, damit zu leben.Footnote 122 Ähnlich versteht Voßkamp diesen Romantyp als »Ausdruck der Moderne und Antwort auf die Moderne«,Footnote 123 wobei der Germanist allerdings die »eigentümlichen Dispositionen und Bedürfnisse des Bildungsbürgertums in Deutschland«Footnote 124 betont.

Bedenkt man den Unterschied von Charter und Funktion, dann scheint allerdings fraglich, ob Verlautbarungen wie jene der von Voßkamp in dieser Sache als Zeugen beigebrachten Körner, Jenisch und Morgenstern tatsächlich dazu geeignet sind, die gesellschaftliche Funktion des Bildungsromans zu erschließen. Wäre die frühe Romantheorie nicht besser als Rechtfertigungsmythos der entstehenden Institution zu behandeln? Morgenstern, von Beruf Professor für Eloquenz und Klassische Philologie, Ästhetik und Geschichte der Literatur und Kunst, teilte seine diesbezüglichen Überlegungen im Zusammenhang einer Reihe von Reden und Aufsätzen mit, die das universitäre Programm eines Studium generale empfehlen. Darin bezieht er, so Fritz Martini, das auf die antike Rhetorik zurückgehende Erziehungsideal einer allseitigen Entfaltung menschlicher Fähigkeiten auf die neue Romanform.Footnote 125 Ersichtlich dient das Programm nicht allein deren Rechtfertigung. Auch die Philologie soll damit legitimiert werden. Besonders der Neuphilologie musste daran gelegen sein, ihre gesellschaftliche Funktion auszuweisen. Generell ist der Aufstieg des Romans zur vorherrschenden Literaturform des 19. Jahrhunderts von der Etablierung dieser anderen Institution nicht zu trennen.Footnote 126 Im Verbund mit dem Bildungsroman arbeitete die universitäre »Literaturwissenschaft«, wie sie später heißen sollte, an der Institutionalisierung von Subjektivität im Modus der Individualisierung.

Am Ende des Jahrhunderts gab Wilhelm Dilthey, der lange Zeit als Erfinder des Begriffs galt, dem Mythos dann seine wohl wirksamste Formulierung.Footnote 127 Wer sich an solchen Deklarationen orientiert, der wird kaum einen Text finden, der ihnen entspricht. Er wird die wissenschaftliche Rede vom Bildungsroman zu den »many legends in literary history« zählen.Footnote 128 Wenn auch unbeabsichtigt, so doch treffend ist mit diesen Worten die institutionelle Funktion idealisierender Poetik bezeichnet. Ihre Betrachtung als Charter könnte eine in variierender Begrifflichkeit vielfach konstatierte Divergenz erhellen – zu unintendierten Folgen kam es schon vor jeder Transkulturation!

Voßkamp unterscheidet zwischen »Rezeptionsgeschichte (als Auslegungs- und Konzeptionsgeschichte)«Footnote 129 und »Werkgeschichte«. Welche Handlungen das Lesen tatsächlich nach sich zog, kommt dementsprechend allein hinsichtlich solcher Leser in Betracht, die zugleich Autoren waren und durch Bildungsromane zum Schreiben weiterer Bildungsromane veranlasst wurden. Diese Texte weichen nicht lediglich von den programmatischen Konzeptionen der Gattung ab. Sie leisten eine poetische Selbstreflexion, die nicht selten als Kritik einer idealistischen Ideologie ausgelegt wird, steht der Zielvorstellung harmonischer Bildung damit doch die literarische Darstellung gescheiterter Versuche gegenüber. Selbst Goethes vorbildlicher Held, das hat Kurt May bereits 1957 unter dem fragenden Titel »›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹, ein Bildungsroman?« dargelegt, vermag seine Leitidee ja nicht zu verwirklichen.Footnote 130 Schon für die ersten Leser des Romans war es »ein zarter und heikeligter Umstand, daß er, in der Person des Meister, weder mit einer entschiednen Individualität noch mit einer durchgeführten Idealität schließt«.Footnote 131 Geradezu als »Antibildungsroman« wird vielfach Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser bezeichnet, obwohl auch die Titelfigur dieses Romans eben jener utopischen Ganzheitsvorstellung anhängt, die der Neuhumanismus propagierte.Footnote 132

Und dennoch, betrachtet man die solchermaßen divergenten Rezeptions- und Werkgeschichten dieser »unerfüllten Gattung«Footnote 133 im Zusammenhang, lässt sich die »funktionale Zuschreibung von Bildungsroman und bewußtseinsbildender Sinnstiftung im deutschen Bürgertum«Footnote 134 wohl aufrechterhalten, kann sie sich doch auf die poetologischen Quellen beziehen, ohne die dort explizierten Zwecke mit den wirklichen Lektürefolgen gleichsetzen zu müssen: Leser, die das Bildungsideal bejahten und eine allseitige Entfaltung ihrer Fähigkeiten aktiv anstrebten, konnten sich anhand der Romane mit den widrigen Zwängen der Sozialisation gedanklich vertraut machen, ja womöglich schon auf halber Strecke von Wilhelm – »da ich aber nur ein Bürger bin« – lernen, Verzicht zu leisten; die Schauspielerei führt am Ende ja nicht zum Ziel.Footnote 135 Der Bürger sollte »einzelne Fähigkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird schon vorausgesetzt, daß in seinem Wesen keine Harmonie sei, noch sein dürfe, weil er, um sich auf eine Weise brauchbar zu machen, alles übrige vernachlässigen muß«.Footnote 136 Dagegen aber hält der Bildungsroman den Anspruch auf allseitige Selbstentfaltung aufrecht – und zwar im Einklang mit einem gesellschaftlichen Gebot, das, wie wir heute wissen, dem utilitaristischen nicht unbedingt widerspricht. Die jüngere Auseinandersetzung mit dem so genannten »Neoliberalismus« hat vielmehr zu der Einsicht geführt, dass Individualisierung die ökonomische Nützlichkeit von Menschen nicht mindert, sondern erhöht. Kultursoziologischen Zeitdiagnosen zufolge zählt Selbstentfaltung heute zu den leitenden Werten einer neuen, aufstrebenden Mittelklasse,Footnote 137 die weltweit anzutreffen ist.

V.

Die neoinstitutionalistische Theorie der Weltkultur beinhaltet eine aus der Organisationsforschung stammende Distinktion, die der Unterscheidung zwischen Charter und Funktion wie auch der zwischen manifesten und latenten Funktionen in einem gewissen Maße ähnelt, mit diesen aber nicht verwechselt werden sollte. Und zwar wird die formal-rationale Struktur institutionalisierter Akteure von ihrer alltäglichen Aktivitätsstruktur unterschieden. Dabei weist man der Ersteren eine legitimierende Funktion zu, darauf zielt die Rede von »myth« und »ceremony«. Doch klaffen organisationale Formalstrukturen und tatsächliche Abläufe nicht so weit auseinander wie die erklärte und die tatsächliche Funktion eines Regentanzes etwa. Sie sind vielmehr »lose gekoppelt«, das heißt: Die Ersteren leiten die Letzteren in begrenztem Maße an. Vor allem demonstrieren Organisationen in ihrer Außendarstellung Konformität im Verhältnis zur gesellschaftlichen Umwelt. Ebendies, das ist der springende Punkt, trägt in erheblichem Maße zu ihrem Fortbestand bei.Footnote 138 So gefährdet auch ein dauerhaftes Verfehlen erklärter Ziele nicht notwendig ihre Existenz. Durch diese Akzentsetzung hebt sich der Neoinstitutionalismus von einer funktionalistischen Betrachtungsweise ab und ebenso von derjenigen Webers, wenn dessen Beschreibung der Bürokratie denn besagen soll, dass diese Herrschaftsform ihre Legitimität einer hohen Leistungsfähigkeit verdankt, die in formaler Rationalität ursächlich begründet ist.Footnote 139

Das Theorem einer losen Verbundenheit von Darstellung und Performanz ist zentral für die Theorie der Weltkultur, macht es doch erklärlich, wie institutionelle Muster eine weltweite Verbreitung finden können. Dominante Akteure, so etwa bestimmte »führende« Nationalstaaten, werden imitiert, was eine formale Homogenisierung befördert und zu institutioneller Isomorphie auf der Schauseite führt. Nicht zuletzt an »Übergangsgesellschaften« und »Entwicklungsländern« ist aufgezeigt worden, dass die hinter den Modernisierungsfassaden unsichtbaren Aktivitätsstrukturen des Alltags den lokalen Gegebenheiten angepasst sind. Das macht einen Umbau der Theorie institutioneller Bedürfnisbefriedigung erforderlich, wie sich bereits in Gehlens Urmensch und Spätkultur abzeichnet. Am Beispiel der demokratischen Staatsform wird hier aufgezeigt, dass »Institutionen wie Kulturgüter, und mit ihnen ganze Sätze von normierten Verhaltensregeln [wandern]«.Footnote 140 Gehlen konnte in dieser Sache sein Theorem einer Verselbstständigung der Zwecke heranziehen. Durch Habitualisierung wird Verhalten demnach formalisiert und eigenstabil. Die Gewohnheit entlastet es nicht nur von subjektiven Motiven, die Institution wird überdies unabhängig von jenen Bedürfnissen, deren Befriedigung ihr ursprünglicher Zweck einmal gewesen sein mag. Sie kann dann – auch unter Beibehaltung der Charter, wie man mit Malinowski hinzusetzen könnte, – zum Selbstzweck, oder auch umgenutzt, also in den Dienst ganz anderer Zwecke gestellt werden. Mit Merton würde ein kontingenztheoretischer Funktionalismus hier von nicht antizipierten Konsequenzen sprechen. Nach Meyer ist, wie gesagt, eine lose Kopplung anzunehmen.

Was könnte die Literaturwissenschaft dem abgewinnen? Die neoinstitutionalistische Unterscheidung ist geeignet, die Eingebundenheit von Gattungen in soziale Institutionengefüge zu beleuchten. Mit der formalen Organisation, dem autonomen Individuum oder dem souveränen Nationalstaat ist der Bildungsroman insofern vergleichbar, als es sich auch dabei um ein weltweit legitimes Kulturmuster handelt, das zur Wiederholung bereitsteht. Auch lässt sich sagen, dass vor allem seine Poetologie die Konformität mit einer gesellschaftlichen Umwelt gewährleistet, in der Individualisierung und Bildung institutionalisiert sind. Man könnte sogar die These vertreten, dass die Literatur sich in diesem Fall ihrem Umfeld nicht lediglich angepasst, sondern die Entstehung der Institutionen stark befördert, wenn nicht initiiert hat. Anstatt die idealistische Poetologie einer bürgerlichen Ideologie zuzuschlagen und die Romane, besonders die vermeintlichen »Antibildungsromane«, als deren Kritik zu loben, wäre auch hier von einer losen Kopplung auszugehen, der sich sowohl die hohe Variabilität als auch die globale Mobilität des Erzählmusters verdanken.

Der Maxime gemäß, bei der Untersuchung von Globalisierungsprozessen auf Institutionenbündel zu achten, wäre zu fragen, ob sich die literarische Strukturform mit jenen des Individuums, des Nationalstaats und der Organisation gemeinsam verbreitet hat. Eine mögliche Verbundenheit mit den ersteren beiden liegt auf der Hand: Das Konzept der Bildung war eine Reaktion auf die von Rousseau konstatierte Unvereinbarkeit von homme und citoyen, zwischen dem unverwechselbaren autonomen Subjekt und dem Menschen als einem sozialen, einer politischen Ordnung angehörigen Lebewesen. Die Auseinandersetzung des Individuums mit der Gesellschaft, davon handelt der optimistische Bildungsroman, sollte idealerweise zu einem harmonischen Ausgleich führen. Einen Schritt weiter geht die Forderung, die gesellschaftliche Ordnung solle der freien Entfaltung des Einzelnen günstig sein. Unter dieser Voraussetzung unternahm es Wilhelm von Humboldt, »die Grenzen der Wirksamkeit des Staats« zu bestimmen: »Der höchste und letzte Zwek jedes Menschen ist die höchste und proportionierlichste Ausbildung seiner Kräfte in ihrer individuellen Eigenthümlichkeit«.Footnote 141 Dieser Gedanke fand sehr wohl auch in anderen Ländern Anklang. John Stuart Mill zitierte den Deutschen im Epigraf seiner Schrift On Liberty mit den Worten: »The grand, leading principle, towards which every argument unfolded in these pages directly converges, is the absolute and essential importance of human development in its richest diversity.«Footnote 142 Und auch Matthew Arnold, der im viktorianischen England die Idee einer Allgemeinbildung propagierte, erinnerte daran, dass »Wilhelm von Humboldt, one of the most beautiful souls that have ever existed, used to say that one’s business in life was first to perfect one’s self by all the means in one’s power«.Footnote 143

Die soziale Integration des Menschen als Bürger ist seit dem 18. Jahrhundert zu einem weltweiten Problem geworden. Nach dem Wiener Kongress hat das Modell des souveränen Nationalstaats eine starke Verbreitung erfahren. Heute stellt es eine nahezu alternativlose Form des Politischen dar. Damit zusammenhängend verbreitete sich ein Konglomerat von Mitgliedschaftsrechten und -pflichten. Im 20. Jahrhundert beförderte ein globales Regime der Menschenrechte die Verbreitung jener liberalen Konzeption des Staats, die seine Funktion auf die Sicherheitsgewährleistung beschränkt und die Bildung des Individuums zu einem seiner vornehmsten Zwecke erklärt. Mit der Charta der Vereinten Nationen des Jahres 1945 beginnend, über die politisch wegweisende, rechtlich aber nicht bindende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und zahlreiche völkerrechtliche Verträge, die ab den 1960er Jahren geschlossen wurden, erstreckt sich der Prozess ihrer gesellschaftlichen Verankerung bis in die Gegenwart.

Aus neoinstitutionalistischer Sicht sind die Menschenrechte beispielhaft für ein politisches System der Weltgesellschaft, in dem Nationalstaatlichkeit als Erwartung an lokale Zusammenhänge politischen Handelns gerichtet wird. Von dieser globalen Institution geht ein Anpassungsdruck auf sämtliche Länder aus, besonders auf jene der »Dritten Welt«, die um Legitimität ringen.Footnote 144 Die Menschenrechte statten Individuen mit subjektiven Rechten aus, die universelle Geltung beanspruchen, und auferlegen den Staaten zugleich Achtungs‑, Schutz- und Gewährleistungspflichten. Unter anderem berühren sie damit Belange der Erziehung und Bildung, eben jene Prozesse also, von denen Romane erzählen.

Welche Dynamik die Verbreitung des Bildungsromans in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfaltete, bleibt noch zu erforschen. Jedenfalls war das 1956 mit der Dekolonisation Afrikas beginnende Jahrzehnt neben der Zerfallsphase der Sowjetunion einer der beiden Zeitabschnitte, für die quantitativ eine besonders starke Zunahme der Nationenbildung aufgezeigt werden kann.Footnote 145 Vor dem Hintergrund des bisher Ausgeführten steht zu vermuten, dass in vielen Ländern der Welt Bedürfnisse entstanden, zu deren Befriedigung die Erzählform geeignet ist. Eine Prüfung dieser Vermutung würde umfangreiche Untersuchungen erfordern. Stattdessen folgt hier zum vorläufigen Abschluss ein kurzes Referat, das auf eine Typik unterschiedlicher Funktionalisierungen der Form aus ist.

Bei erster Sondierung der vorliegenden Forschung zum postkolonialen Bildungsroman zeigt sich wiederum die bereits angesprochene Neigung, eine bestimmte Realisierung des generischen Funktionspotenzials dominant zu setzen. Die einschlägigen Studien sind in hohem Maße einem Deutungsmuster verpflichtet, das in den 1990er Jahren aufkam. Es beruht auf einer Überzeugung, die in dem wegweisenden Band The Empire Writes Back explizit gemacht wurde: »A characteristic of dominated literatures is an inevitable tendency towards subversion, and a study of the subversive strategies employed by post-colonial writers would reveal both the configurations of domination and the imaginative and creative responses to this condition.«Footnote 146 So komme es an der kolonialen »Peripherie« zu einer Auseinandersetzung mit den aus den imperialen »Zentren« stammenden Formen, die auf dem Wege des writing back destabilisiert würden. In jedem Falle wird die imitative Übernahme von Gattungen diesem Interpretationsschema zufolge in kritischer Absicht vollzogen. Das wollte man auch für den Bildungsroman geltend machen: »One of the reasons why postcolonial writers turn to the Bildungsroman«, so formuliert etwa José Vázquez, »is the desire to incorporate the master codes of imperialism into the text, in order to sabotage them more effectively«.Footnote 147

Bedenkt man die angesprochene Funktionalisierung der Literatur durch die britische Kolonialverwaltung, scheint die Annahme, dass sich im kolonialen System ausgebildete Autoren nach der Dekolonisation von den oktroyierten Kulturmustern befreien wollten und nachfolgende Generationen dieses Ziel weiterverfolgten, nachgerade zwingend. Lima beschreibt die Situation solcher Autoren hegemonietheoretisch: Die Schwierigkeit kulturellen Widerstands bestehe darin, dass die Unterdrückten die Ideologie ihrer Unterdrücker internalisierten und reproduzierten, ihrer Unterdrückung mithin selbst zustimmten. Der Rückgriff auf die Form des Bildungsromans sei insofern »paradox«, als er einen kulturellen Imperialismus befördere, der die literarischen Akteure von der Kultur ihrer Herkunft trenne und entferne.Footnote 148 Jedoch erschöpfe sich die Aneignung fremder Kulturmuster nicht in einer bloßen Annahme des Gegebenen: »›Marginal‹ societies are not the passive recipients of conventions and images, and their writing dismantles conventional notions of genre since it moves between center and margins.«Footnote 149 Die literarische Auseinandersetzung mit den Mustern einer hegemonialen Kultur ist demnach als ein kreativer Versuch der Selbstbefreiung postkolonialer Autoren zu würdigen, dessen Wirkung nicht auf die Peripherie beschränkt bleibt; »their literature also destabilizes the conventions of identity traditionally found in the culture of the first world«.Footnote 150

So überzeugend diese Beschreibung eines Transkulturationsprozesses zunächst wirken mag: Mittlerweile haben sich die Grenzen eines vorgefertigten Deutungsmusters gezeigt, das invariant eine Dichotomie von Unterdrückten und Unterdrückern voraussetzt und alles Schreiben mit einer traumatischen Erfahrung der Kolonisation in Verbindung bringt.Footnote 151 Auch was den Bildungsroman anbelangt, wird neuerdings davon abgeraten, ihn pauschal als reaktive, im Dienst antikolonialer Politik stehende Form anzusehen.Footnote 152 Sehr wahrscheinlich war und ist die Bedürfnislage der Literaturschreibenden und -lesenden in vormals kolonisierten Ländern komplex. Mithin gilt es zumindest die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die überdeterminierte Institution auch andere Funktionen erfüllt. Nicht zuletzt scheint die Festlegung auf eine gegendiskursive Funktion deshalb fragwürdig, weil sie sich einseitig an der idealistischen Programmatik orientiert – dass die literarischen Texte seit jeher in einem spannungsvollen Verhältnis zur leitenden Bildungsidee stehen, bleibt außer Acht.

Unter Berücksichtigung dieser Spannung hat Horst Nitschak in seinen Arbeiten zum lateinamerikanischen Bildungsroman eine alternative Lesart erprobt: Mit der Erzählform sei zugleich ein Modell des Individuums und der Individualisierung aus Europa exportiert worden. Die Qualitäten des selbstständigen, verantwortlichen, moralisch handelnden und freien Individuums, nach denen die Helden solcher Romane strebten, würden vermittels der Literatur auch in anderen Teilen der Welt verbreitet.Footnote 153 Halten wir das fest: Wenn postkoloniale Romane von den Schwierigkeiten oder vom Scheitern dementsprechender Versuche erzählen, unterscheiden sie sich darin kaum von den europäischen Mustertexten. Eine Besonderheit der kulturellen Situation Lateinamerikas und des globalen Südens allgemein ist mit Nitschak allerdings darin zu erkennen, dass jene Werte und Ideale, die von den vorgeblich ehrwürdigen Eliten propagiert werden, nicht aus der eigenen Lebenswelt hervorgegangen, sondern aus den nördlichen Metropolen eingeführt worden sind.Footnote 154 Auch in dieser Situation, das ist entscheidend, werden »Bildung« und »Individualisierung« aber gesellschaftlich erwartet. Generell nahmen die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts konsolidierenden Nationen Lateinamerikas ja die Ursprungsländer der Romanliteratur zum Vorbild ihrer kulturellen und politischen Entwicklung und machten sich Strukturformen bündelweise zu eigen.Footnote 155 So überrascht es nicht, dass sich einem komparativen Blick auf das deutsche Erzählmuster und den Roman Macunaíma (1928) des Brasilianers Mário de Andrade erweist, »dass unter vergleichbaren historischen Herausforderungen, wie der Herausbildung eines Nationalstaates und der Suche nach einer subjektiven Moralität, die das Individuum gleichzeitig zu einem verantwortungsbewussten ›citizen‹ (cidadão) werden lässt, vergleichbare, wenn auch in sich wieder sehr unterschiedliche Antworten gegeben werden«.Footnote 156

Wie Joseph Slaughter deutlich gemacht hat, finden sich in der postkolonialen Literatur sehr wohl Texte, die sich einem Typus des »idealist (or affirmative) Bildungsroman« zuordnen lassen,Footnote 157 als dessen Muster er Goethes Lehrjahre ansieht, verstanden als optimistische Darstellung individueller Entfaltung. Darin konvergiert das literarische Erzählen mit der Zuerkennung eines Anspruchs auf freie Persönlichkeitsentfaltung durch die Menschenrechte. Slaughter räumt ein, dass diese im 20. Jahrhundert zum zentralen Bestandteil einer liberal-demokratischen Ideologie wurden, weist jedoch auf eine nicht antizipierte Folge hin, nämlich die »appropriation and transformative rearticulation of the egalitarian imaginary by historically marginalized subjects (e.g., women and members of racial, religious, sexual, and class minorities) not comprehended practically within its original enabling fiction«.Footnote 158 Bildung wird demnach von manchen Schriftstellerinnen und Leserinnen nicht als hegemoniale Direktive, sondern als eine befähigende Leitvorstellung aufgefasst. Auch in vormals kolonisierten Gesellschaften wird diese mitunter bejaht. Darin ist eine Funktion des Bildungsromans zu erkennen. Slaughter fragt ausdrücklich nach »the genre’s social function«:Footnote 159 ein weiterer Beleg für das Fortdauern der funktionalistischen Denkweise.

VI.

Eine theoriegeschichtliche Reflexion, das mag das Vorstehende immerhin deutlich gemacht haben, könnte der Literaturwissenschaft zu einem erhöhten Bewusstsein von den teils problematischen Implikationen verhelfen, die mit einer Funktionsgeschichte literarischer Institutionen verbunden sind, wie auch bei der Suche nach Problemlösungen orientierend wirken. Eine neoinstitutionalistische Aktualisierung älterer Ansätze würde zudem einen Blick auf transnationale Prozesse eröffnen, deren Dynamik sich im zurückliegenden Jahrhundert stark verändert hat – in zunehmendem Maße ist auch Literatur Teil eines größeren Ganzen, auf das der Begriff »Weltgesellschaft«, wie unzureichend auch immer, hindeutet.

Ein letztes Problem sei nochmals angesprochen, das Problem der Selbstimplikation: Schelsky hat Theorien im Hinblick darauf sortiert, und dafür haben wir viele Beispiele gesehen, dass sie Institutionen teils »vom Ganzen der Gesellschaft«, teils »vom gesellschaftlichen Handeln her« betrachten.Footnote 160 Diese Gegensätzlichkeit der Gesichtspunkte führe »bei denkkonsequenter Verfolgung des Theorieansatzes zu antagonistischen Problem- und Kategoriensystemen, […] so entstehen die endlos diskussionsfähigen, aber unlösbaren sozialwissenschaftlichen Probleme.«Footnote 161 Die eingangs angesprochene Vieldeutigkeit des Begriffs der Institution hängt wohl damit zusammen. Möglicherweise handelt es sich dabei nicht um einen behebbaren Mangel, sondern um die kennzeichnende Eigenschaft eines geschichtlichen Grundbegriffs, der wesentlich umstritten ist. Wissenschaftliche Institutionentheorien wären dann auch als mitunter gegensätzliche Stellungnahmen zu einem gesellschaftlichen Problem zu verstehen. Wenn es zutrifft, dass die Philologie im Verbund mit dem Bildungsroman eine bestimmte Weise der Subjektivierung, nämlich Individualisierung, vorangetrieben hat, dann ist sie in dieser Streitsache vermutlich voreingestellt, und zwar gegen Betrachtungen vom Ganzen, erst recht vom Weltganzen her, die bewusst nicht die Perspektive der institutionellen Akteure einnehmen. Es wäre also zu prüfen, ob die Literaturwissenschaft einem methodologischen Individualismus zuneigt, der zur Verfestigung eines hegemonialen Kulturmusters beiträgt, »driving the ›cult of individualism‹ to heights Durkheim could never have envisioned«.Footnote 162