Zusammenfassung
In der Forschung zu Friedrich Hölderlins ›Der Ister‹ besteht ein Konsens darüber, dass die beiden Sprechinstanzen des Gedichtes denselben Standort haben. Diese Deutung identifiziert vorschnell das lyrische Wir der ersten Strophe mit dem lyrischen Ich. Dagegen wird hier das Wir als eine rhetorische Funktion des lyrischen Ich aufgefasst, das die abwesende Sprechergruppe der Sänger anwesend macht (I–II). Die Prosopopoiia wird textgenetisch hergeleitet und als kontrastive Exposition erörtert (III). Sie dient der lyrischen Rede über den Fluss ab der zweiten Strophe als Negativfolie. Die Distanz gegenüber dem lyrischen Wir stellt das lyrische Ich gleichfalls gegen die Tradition der Stromdichtung, die nicht mehr affirmativ gestaltet wird, sondern literalisiert und negiert wird (IV–VI).
Abstract
In research on Friedrich Hölderlin’s ›The Ister‹ there is a consensus that the two speaking entities of the poem are located in the same place. Contrary to this opinion, it should be shown that the lyrical ›we‹ of the first strophe is a rhetorical fiction of the lyrical subject, through which the absent speaker group of the singers becomes present (I–II). Derived from text genetics, this prosopopoeia is discussed as a contrastive exposition (III). It serves as a negative foil for lyrical speech about the river. The distance from the lyrical ›we‹ also places the lyrical subject (›I‹) against the tradition of river poetry, which is no longer designed in an affirmative way, but is instead literalized and negated (IV–VI).
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Friedrich Hölderlin hinterließ ein teilweise auf der Rückseite der letzten Verse von »Andenken« (1803, Erstdruck 1808) niedergeschriebenes, Fragment gebliebenes Flussgedicht, das sein erster Herausgeber Norbert von Hellingrath 1916 unter dem Titel ›Der Ister‹ publizierte.Footnote 1 Die Titelwahl der Donaudichtung erfolgte analog zu Hölderlins Flussgedichten »Der Nekar« (1800, zuerst »Der Main«)Footnote 2 und »Der Rhein« (1808, entstanden 1801)Footnote 3 sowie mit Blick auf die beiden anderen Donaudichtungen Hölderlins: »Am Quell der Donau«Footnote 4 und »Die Wanderung« (1807).Footnote 5 Die Bezeichnung »Ister« (21) verwendet Hölderlin weniger für den gewaltigen Unterlauf der Donau, der ab dem Eisernen Tor Rumänien zunächst von Serbien, dann bald von Bulgarien trennt, schon gar nicht für den Mittellauf, sondern vielmehr für den kleinen, unscheinbaren schwäbischen Oberlauf.
›Der Ister‹ besteht aus drei Strophen zu zwanzig und einer letzten Strophe zu zwölf Versen, deren Ordnung sich aus den Reinschriften des Autors ergibt. Die Strophen zwei bis vier haben die Donau zum Gegenstand, die in ihrem schwäbischen Quellgebiet vom lyrischen Ich beobachtet, beschrieben, mythologisiert und mit dem Rhein verglichen wird. Trotz mancher semantischen Schwierigkeiten im Detail und des fehlenden Schlusses sind diese drei Strophen auf Makroebene wegen ihrer einheitlichen, nur modal variierenden Sprecherperspektive zugänglich.Footnote 6 Fundamentale Schwierigkeiten für das Verständnis bereitet dagegen die Exposition der ersten Strophe, genauer der Übergang von dieser zu den drei folgenden Strophen. Denn mit dem Übergang verbunden ist ein Wechsel der Sprechinstanz vom lyrischen Wir zum lyrischen Ich. In der Forschung wird dieser Wechsel meist nicht als kategoriale Veränderung des lyrischen Subjekts angesehen. Grund dafür ist die Annahme, beide Instanzen befänden sich am selben Ort, dem Ister. Das lyrische Ich sei »zunächst umgeben von einem gemeinschaftlichen ›Wir‹, dessen Tatkraft, Entschlossenheit und Begeisterung verwandt ist mit der des Herakles und des Rheins« und begebe sich dann »aus der Verborgenheit des anonymen ›Wir‹«.Footnote 7
Gegen die Ansicht einer Gemeinschaft des Ich mit dem Wir möchte ich die rhetorisch keineswegs unwahrscheinliche Möglichkeit in Betracht ziehen, dass das Sprecherkollektiv eine Erfindung des lyrischen Ich und damit Teil einer monologischen Rede ist. Folgt man dieser Hypothese, besteht eine ontologische Differenz zwischen dem lyrischen Subjekt der Exposition und demjenigen des Hauptteils. Ergebnis ist eine kontrastive Spannung zwischen den lyrischen Sprechern. Diese Relativierung der Autorität des lyrischen Ich besitzt Folgen für den Gegenstand des Gedichtes – den Fluss. Die kontrastive Exposition des lyrischen Wir bestimmt nicht nur negativ den Charakter des lyrischen Ich, sondern auch dessen dichterische Behandlung des Flusses und den Umgang mit der Tradition der Flussdichtung, die noch lange nach dem Sturm und Drang fest im Griff der Genieästhetik war.Footnote 8 Anstatt sie einmal mehr zu affirmieren, distanziert sich das lyrische Ich von ihr, indem es ihre Elemente analysiert. Begeistertes Sprechen, Kulturschöpfung, Pindar, die Metaphern des Fließens und des Wasserkreislaufes und mit ihnen verbundene Themen wie ethisches Streben, Vereinigung des Partikulären mit seinem Ganzen sowie das Verhältnis zum Göttlichen – alle diese Elemente werden nicht in ein stimmiges Bild überführt, sondern jedes für sich der Reihe nach behandelt.
I.
Bevor sich in der zweiten Strophe das lyrische Ich dem Ister zuwendet – »Man nennet aber diesen den Ister. […] So wundert mich nicht« (21 und 26) – und jene von Pindar in der dritten Olympischen Ode überlieferte Mythe nacherzählt, wonach sich Herkules ins Quellgebiet der Donau begeben habe, redet in der ersten, reinschriftlich überlieferten Strophe ein lyrisches Wir:
»Jezt komme, Feuer!
Begierig sind wir
Zu schauen den Tag,
Und wenn die Prüfung
Ist durch die Knie gegangen,
Mag einer spüren das Waldgeschrei.
Wir singen aber vom Indus her
Fernangekommen und
Vom Alpheus, lange haben
Das Schikliche wir gesucht,
Nicht ohne Schwingen mag
Zum Nächsten einer greifen
Geradezu
Und kommen auf die andere Seite.
Hier aber wollen wir bauen.
Denn Ströme machen urbar
Das Land. Wenn nemlich Kräuter wachsen
Und an denselben gehn
Im Sommer zu trinken die Thiere,
So gehn auch Menschen daran.« (1–20)
Einerseits ist die Rede dieser Gruppe emphatisch. Es ist nicht irgendein »Tag« (3) gemeint, sondern ein außergewöhnlicher. Die Emphase unterscheidet sich von allen anderen Tropen dadurch, dass das eigentlich Gemeinte, das Proprium, nicht ersetzt ist, sondern in seiner EigentlichkeitFootnote 9 erhalten bleibt, aber anders als in der Ironie nicht negiert, sondern affirmiert wird. Figürlich wird die Emphase verstärkt durch den affektiven Imperativ: »Jezt, komme Feuer!« (1):
»Jezt komme, Feuer!
Begierig sind wir
Zu schauen den Tag,« (1–3)
Andererseits ist die Rede von kausalen Sätzen durchflochten, die auf rationale Nüchternheit hinweisen. Auch besitzt der Plural eine objektivierende Funktion, weil durch ihn nicht eine subjektive Absicht, sondern eine gemeinschaftliche bekundet wird:
»Hier aber wollen wir bauen.
Denn Ströme machen urbar
Das Land.« (15–17)
Oder es gibt Sätze, die eine reflektierende Distanz und eine Metaebene schaffen. So singen die Protagonisten nicht nur, sondern reden auch über ihr Singen:
»Wir singen aber vom Indus her
Fernangekommen und
Vom Alpheus,« (7–9)
Über das Verständnis dieser drei Verse bestehen zwei gegensätzliche Auffassungen. Sind die Sänger von Indus und Alpheus an die Donau fernangekommen oder sind sie Fernangekommene an Indus und Alpheus? Je nach Antwort sind lyrisches Wir und lyrisches Ich, das ab der zweiten Strophe am Ister spricht, am selben Ort oder aber getrennt. Martin Heidegger hat 1942 die erste Lesart vorgeschlagen: »An einem Strom werden die von Strömen Fernangekommenen bauen.«Footnote 10 Tatsächlich kann man die Verse so lesen, dass es sich bei den lyrischen Sprechern um Sänger handelt, die vom fernen Indus und Alpheus hergekommen sind, um an einem neuen Strom zu bauen. Jene Ortsbestimmung »Hier« (15) bezöge sich dann auf den Standort des lyrischen Ich an der schwäbischen Donau, den Ort des lyrischen Geschehens ab der zweiten Strophe. Heideggers Ansicht teilt beispielsweise Anke Bennholdt-Thomsen: »Diese Entfernung«, gemeint ist die zwischen Indus und dem Donauquellgebiet, »wird überbrückt durch den Gesang der wandernden Dichter (7 f.) – auf der Suche nach einem Ort, an dem es möglich sein würde zu bauen (15). An der Donau haben sie ihn gefunden, für Menschen und Tiere geeignet.«Footnote 11 Für Rainer Nägele sind »wir, die Singenden, von dorther«,Footnote 12 d. h. vom Indus und Alpheus, »fernangekommen« (8).Footnote 13 Anschaulich hat Jürgen Link die Wanderung ausgemalt. Er bezieht in seine Argumentation die Vorstufe mit ein, wonach die Prüfung der Wanderer nicht »durch die Knie« (5), sondern »an die Brutfedern« (fol. 27v, 24) gegangen ist.Footnote 14 Die Knieprüfung deute auf die körperliche Strapaze der Wanderschaft von Ost nach West hin. Seine zweite Deutung versteht das Knie als Flussknie. Er meint, dass die Wanderer aus Indien (Indus) und Griechenland (Alpheus) die Donau aufwärts gekommen seien und Strapazen zu bewältigen hatten wie das Donauknie. Aufgrund des Plurals muss er allerdings von ›Knien‹ in der Donau sprechen, durch die das Schiff der Auswanderer gekommen sei. Auf das Schiff stößt er metonymisch, indem er den Kiel mit der Brust des Vogels vergleicht, die im Flug eine Bahn durch die Luft schneide:
»Da die ›Brutfedern‹ Brustfedern sind, die bei einem langen Flug wie der Kiel eines Schiffes die Luft durchschnitten hätten, könnte sich die Änderung einfach durch einen Isotopiewechsel von Vögeln zu Menschen erklären. Es würde sich bei der ›durch die Knie gegangenen Prüfung‹ um die Mühen früher Einwanderer bei ihrem Weg donauaufwärts nach Deutschland handeln. Konkret gäbe es mindestens die folgenden zwei Versionen: Entweder ein langer Fußmarsch oder aber – in gewisser Hinsicht noch plausibler – eine Bootsfahrt gegen den Strom durch die gefährlichen ›Knie‹ (scharfen Biegungen) der Donau.«Footnote 15
Hans Joachim Kreutzer hat an historische Diskurse erinnert,Footnote 16 die die ost-westliche Wanderungsbewegung und damit die These Heideggers, die Sänger kämen vom Indus und Alpheus ins Quellgebiet der Donau, plausibilisieren. Der Historiker Johannes von Müller, dessen Schriften Hölderlin hätte kennen können, hatte als Vertreter der sogenannten KaukasustheorieFootnote 17 1786 behauptet, die Menschheit habe sich vom Kaukasus aus in alle Himmelsrichtungen verbreitet und irgendwann den unbevölkerten Alpenraum betreten. Von den »hohen Ebenen des tatarischen Gebürges«, so Müller in Der Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft erstes Buch, »leitete sie der Gihon, der Indus, der Ganges und der Hoangho in die schönen Felder an den asiatischen Meeren hinab.«Footnote 18 Schließlich seien die Gallier aus dem »Morgenlande angezogen«Footnote 19 gekommen. Noch bei Konrad Mannert konnte man 1804 lesen, der Kelten »Einwanderung [sei] von Osten, längst [!] der Donau«Footnote 20 geschehen. Die Kaukasustheorie hatte Karl Dietrich Hüllmann bereits 1798 abgelehnt. »Die gemeine Meinung: daß die Keltische [hier germanische, A.N.] Nation vom Kaukasus über das schwarze Meer, längs der Donau, bis nach Spanien gewandert sey, und sich nach allen Richtungen verbreitet habe«,Footnote 21 basiere auf Mythen, die als Facta vorausgesetzt werden. Ob Hölderlin die Diskussion – die auch die hier außen vor gelassene und von Hölderlin in »Am Quell der Donau« und »Die Wanderung« aufgegriffene Frage nach den Völkerwanderungen gen Osten betrifft – bekannt war, ist nicht belegbar. Der Ausruf des Ich in »Die Wanderung«, es wolle »dem Kaukasos zu«,Footnote 22 spricht jedenfalls für ihre Kenntnis. Durchaus passt sie in seine Gedankenwelt. Abgesehen davon, gibt es in Hölderlins Werk ganz allgemein ein Interesse an Migrationsvorgängen aller Art. So erinnert Alexander Honold an Hölderlins »Aufmerksamkeit für objektive bzw. nicht-individuelle Wanderungsprozesse«.Footnote 23 Sonne, Tiere, d. h. Vogelzüge und Vögel wie Adler und Schwalben, Wind und fließende Wasser werden als »Formen biologischer Migration«Footnote 24 bezeichnet. Hölderlins Adler, der in »Germanien« und dem späten Entwurf »Der Adler« vom Indus über Griechenland nach Deutschland kommt, ist ein starkes Argument dafür, dass man es auch im ›Ister‹ mit einer solchen Wanderungsbewegung zu tun hat. Jochen Schmidt erkennt deshalb in der Anfangsstrophe, ohne von einer konkreten Wanderung zu sprechen, die »Bewegung vom äußersten Osten, vom ›Indus‹ […] über Griechenland […] nach Deutschland«.Footnote 25 Fraglich bleibt, ob man wie Heidegger die Bewegung als Wanderung von Menschen verstehen soll oder nicht vielmehr als eine abstrakte Bewegung, die sich aus der zu überbrückenden Differenz der drei von den Flüssen Indus, Alpheus und oberer Donau markierten Kulturräume ergibt.
Hölderlins ›Der Ister‹ bietet jedenfalls nicht genügend Anhaltspunkte, um im Kontext der um 1800 kursierenden prähistorischen Theorien präzisiert zu werden – ein Problem, das man auch mit dem Migrationsgedicht »Die Wanderung« hat, worin die entgegengesetzte Bewegung nach Osten thematisiert ist. Hölderlin, vermutet Honold, überblendet »mythische[] und kulturgeschichtlich überlieferte[] Migrationen mit den Projekten zeitgenössischer Auswanderer«.Footnote 26 Die historische Ordnung des Gedichtes gibt keine konkrete Auskunft darüber, wie man sich die Wanderung aus Indien oder Griechenland nach Westeuropa vorstellen soll.
Ein Grund für das Missverständnis könnte sein, Hölderlins Metaphern eigentlich zu lesen. Auffällig ist, wie er die Wanderer mit Vögeln vergleicht. Genauso gut könnte bereits der Wanderer eine Metapher sein, die nicht ein anderes Konkretum, sondern ein Abstraktum spezifiziert. Was eigentlich herüberkommt, sind Rede und Gesang der Wanderer. Um die symbolische Bedeutung dieser rhetorischen Bewegung von Ost nach West zu erkennen, sei der Beginn von »Am Quell der Donau« herangezogen. Zwar steht seit Peter Szondi die Parallelisierung thematisch ähnlicher Stellen im Werk Hölderlins in Misskredit,Footnote 27 aber dieses Gedicht ist dem ›Ister‹ zu ähnlich, als dass man sein heuristisches Potenzial ungenutzt lassen kann. Der Vergleich ist – wie am Schluss des Abschnitts II zu zeigen sein wird – auch in kontrastiver Hinsicht lehrreich, weil im ›Ister‹-Gedicht aufgrund der Differenzierung von Ich und Wir die anscheinend gleiche Bewegung ein fiktives Dasein erhält.
In »Am Quell der Donau« erscheint die Situation wenigstens äußerlich analog, nur wird das Proprium hier genannt und nicht verschleiert: Die Aufnahme des kulturstiftenden Logos aus Asien – jenes »Wort[es] aus Osten«Footnote 28 – vergleicht Hölderlin mit dem Zusammentreffen der melodischen Tonströme der Kirchenorgel auf die Chorstimmen der Gemeinde. Just diesen Vorgang wiederholt Hölderlin in der Gedichtexposition des ›Ister‹. Zu hören sind als Sänger bzw. Dichter vorgestellte Wanderer, die am Indus und Alpheus ihre Wanderschaft beenden, um dort zu siedeln. Die Bewegung nach Westen wird dadurch erzeugt, dass ein lyrisches Ich an der deutschen Donau den Gesang dieser Wanderer vernimmt.
Der Sichtweise, bei den Sängern handele es sich um Abwesende oder gar um den abstrakten Logos, kommt eine doppeldeutige Grammatik entgegen, die es erlaubt, die Wanderer nicht nur vom Indus und Alpheus nach Westen wandern zu lassen, um eine Kultur aufzubauen, sondern sie direkt an den beiden Flüssen zu verorten: Was von dort kommt, sind nicht die Wanderer, sondern ihre Rede und ihr Gesang. Liest man die erste Strophe so, sind lyrisches Wir und lyrisches Ich räumlich getrennt, aber die von Hölderlin geteilte Überzeugung des ost-westlichen Kulturganges kann weiterhin dem Gedicht entnommen werden.
Jedenfalls ist grammatisch die Lesart möglich, wonach die Sprecher von sich sagen, dass sie vom Indus und Alpheus her singen, und in einer adverbialen Bestimmung präzisieren, aus einer nicht näher bestimmten Ferne angekommen zu sein. Demnach bezöge sich das »Hier« und »Jezt« des Bauens (15, 1) auf den indischen respektive griechischen Strom und nicht auf die Donau. Das lyrische Ich holt die am Fluss siedelnden Sänger zu sich. Diese Ansicht teilt Hans-Dieter Jünger, daran erinnernd, dass auf der Rückseite des Manuskriptes die letzten Verse von Hölderlins »Andenken« stehen, wo von der Ausfahrt der Freunde »zu Indiern«Footnote 29 die Rede ist: »Wird in ANDENKEN zu Beginn der letzten Strophe die Ausfahrt ›zu Indiern‹ gedichtet, so kündet der ISTER-Gesang zu Beginn offenbar von der Ankunft ›am Indus‹, denn es heißt bezeichnenderweise, daß die Schiffer […] ›fernangekommen‹ sind und von dort ›her‹, vom ›Indus‹, nunmehr singen.«Footnote 30 Analog verhalte es sich mit dem Alpheus. Mag die Zusammenführung mit »Andenken« chronologisch wie topografisch verwirrend sein, ist es durchaus berechtigt, die Verse so zu lesen, dass die Ankunftsorte im ›Ister‹ Indus respektive Alpheus sind:
»Wir singen aber vom Indus her
Fernangekommen und
Vom Alpheus,« (7–9)
Jünger ist allerdings nicht konsequent. Denn wenig später wird die Differenz zwischen den östlichen Flüssen und dem Quellgebiet der Donau wieder aufgehoben. Der Ort des Bauens sei »›Indus-Alpheus-Ister‹«Footnote 31, womit impliziert wird, dass sowohl das Ich als auch das Wir kulturstiftend sein wollen. Die Frage ist jedoch: Will tatsächlich das Ich aktiv am Ister bauen oder nicht vielmehr nur die Gruppe der Sänger aus der ersten Strophe, und zwar am Indus respektive am Alpheus? Wer die eigentliche Rede des Ich in den Strophen 2–4 verfolgt, wird darin keinen Baumeister sehen. Die Baumeister sitzen in der Ferne und werden durch ihren Gesang vergegenwärtigt. Wenn die Forschung mit Heidegger dazu neigt, auch das Ich bauen zu lassen und ihm Aktivität zuzusprechen, dann geht sie von der Zugehörigkeit des Ich zu einer von Osten kommenden Gruppe von Sängern aus.
II.
Sowohl die Vorstellung von Wanderern, die vom Indus an die Donau kommen, als auch die Wahrnehmung eines indischen und griechischen Gesanges vom deutschen Standpunkt aus entsprechen Hölderlins eigenwilliger Kulturhermeneutik, die sich vor dem geschichtlichen Hintergrund entfaltete, dass »Hölderlins Generation […] als erste [erlebte], wie der Orient in weltpolitische Zusammenhänge einbezogen wurde.«Footnote 32 Hölderlin reagierte auf die Aufwertung im Osten liegender Kulturmächte mit Anerkennung ihrer Bedeutung für die eigene Kultur. Seine späte Dichtung ist ein Plädoyer für den gegenseitigen Austausch, nach welchem das eigene Deutsche von den fremden Kulturen AsiensFootnote 33 befruchtet wird und umgekehrt wieder auf diese zurückwirkt.
In dem Zusammenhang wird gewöhnlich auf den Böhlendorff-Brief verwiesen. Bennholdt-Thomsen ist dafür beispielhaft: »Hölderlin [!] appelliert als Sprecher der Siedler an das Tageslicht, aber – im Sinne seines Briefs an den Dichterfreund Böhlendorff vom 4. Dezember 1801 […] – eindeutig an das dem abendländischen, hesperischen Dichter von Hause aus fremde, das den Griechen dagegen eignete, das Feuer vom Himmel, an Apoll.«Footnote 34 Norina Procopan sieht ebenfalls im lyrischen Wir »die Hesperier, die Deutschen, die durch seinen [Hölderlins, A.N.] Gesang auf das Griechische und fernerhin auf das Asiatische zugehen, um sich ›das Feuer vom Himmel zu erwerben‹«.Footnote 35 Folgt man beiden Interpretinnen, müssen Hölderlin (Bennholdt-Thomsen) respektive die Deutschen (Procopan) zuerst an den Indus respektive Alpheus gewandert sein, um schließlich wieder an die Quellen der Donau zurückzukehren. Geschildert werde nicht nur der »Weg, auf dem über das Fremde das Eigene gesucht wird«, sondern »die notwendige Rückkehr«.Footnote 36 Nicht nur die Gleichsetzung von Ich bzw. Hölderlin und Wir sowie die Zugehörigkeit des Ich zur Wir-Gruppe möchte ich bestreiten – denn wie in Abschnitt III gezeigt wird, ist das Wir eine rhetorische Figur des Ich –, sondern ebenso die Strukturähnlichkeit der angesprochenen Flüsse. Indus und Alpheus stehen zwar für die östliche Kultur, nicht aber die Donau für das Hesperische. Die Donau ist ein Verbindungsmittel zwischen beiden Seiten und nicht wie etwa der Rhein Symbol der hesperischen Sphäre.
Geschuldet ist die folgenreiche Gleichsetzung von lyrischem Wir und Ich neben Hölderlins Kulturhermeneutik seinen beiden anderen Donaugedichten. Im schweizerischen Hauptwil hatte der Hofmeister im Februar 1801 die Hesperischen Gesänge in Form eines als »Deutscher Gesang« betitelten Gedichtes konzipiert. Zeitgleich war das Prosa-Konzept von »Am Quell der Donau« entstanden,Footnote 37 das in der dichterischen Ausführung, wie gesehen, jenes Denkmodell ankündigt. Anfang Dezember 1801 hatte Hölderlin seine Vorstellung über die Nationalcharaktere von Griechen und Deutschen formuliert. Griechen seien von der Begeisterung und dem Feuer bestimmt; den Deutschen eigne dagegen nüchterne Klarheit, woraus für die Kunst das genaue Gegenteil gefolgt sei: Die Griechen seien Meister apollinischer Klarheit geworden, die Deutschen beherrschten die dionysische Begeisterung.Footnote 38 Dieses chiastische Modell, das weit über den griechischen und deutschen Raum hinausgeht, begründet denn auch die anatolisch-hesperische Kultursymbiose, wie sie in den ersten beiden Donaugedichten – »Am Quell der Donau« und »Die Wanderung« – hymnisch besungen wird. In »Am Quell der Donau« erfolgt, wie gesehen, die Symbiose mit dem anatolischen Logos, dem »Wort aus Osten«Footnote 39, vergleichend im eindrucksvollen Bild der Stimme des Kirchenchors, die in der Orgelmusik aufgeht; in »Die Wanderung« strebt ein Ich dem Kaukasus zu, und erinnert werden Vorfahren, die zur Mündung der Donau gefahren waren, um mit den Völkern des Ostens eine neue Kultur zu stiften.Footnote 40 In beiden lyrischen Bewegungen ist das lyrische Ich eins mit der Gemeinschaft und fungiert als deren Sprecher. Der Strom dient der Veranschaulichung dieser Gesamtbewegung, setzt sie ins Bild, wobei ihr hymnischer Tenor das Gelingen der kulturpolitischen Mission verkündet.
Im Fragment gebliebenen letzten der drei Donaugedichte fehlt dieser Optimismus.Footnote 41 Das Ich ist von jener Gemeinschaft getrennt,Footnote 42 was nicht ausschließt, dass Hölderlins kulturgeschichtliches Anathema auch im ›Ister‹ auftaucht. Zweifellos thematisiert das Gedicht das Verhältnis zwischen der abendländischen und der östlich-griechischen Kultur. Aus diesem Grund wählt Hölderlin den Ost und West verbindenden Donau-Fluss zum lyrischen Gegenstand. Bennholdt-Thomsen geht also nicht fehl, wenn sie den ›Ister‹ als ost-westlichen Bildungsgang interpretiert.Footnote 43 Jedoch ist es unpräzise, die beiden lyrischen Sprechinstanzen des Gedichtes als gleichwertige Agenten der kulturellen Symbiose zu betrachten. Mit anderen Worten sind die mit Vögeln überblendeten Sänger – »Nicht ohne Schwingen mag / Zum Nächsten einer greifen« (11 f.)Footnote 44 – der ersten Strophe weit gewandert, aber die Vorstellung, sie seien vom Indus oder Alpheus ins Quellgebiet der Donau gekommen, um dort zu bauen, ist schon allein deshalb fragwürdig, weil sie ausblendet, wie denn die Wanderer überhaupt zum Indus respektive Alpheus gekommen waren und weshalb sie ihre Wohnstätte wieder verließen. Statt also anzunehmen, dass hier eine Gruppe an den Ister gewandert wäre, um zu bauen, wird davon ausgegangen, dass sich beide Gruppen auf der Suche nach einer neuen Kulturlandschaft an besagten Flüssen Indus und Alpheus – also in einer Flusslandschaft – niedergelassen haben.
Wenn Hölderlin am Beginn der zweiten Strophe das nun sprechende Ich sagen lässt: »Man nennet aber diesen den Ister.« (21), dann tritt nicht nur eine neue Sprechinstanz auf den Plan, sondern mit dieser eröffnet sich neben den beiden fiktiven Flussräumen ein realer Flussraum. Das Demonstrativum »diesen« (21) bezieht sich in Abgrenzung zum Indus (7) und Alpheus (9) auf den Strom, von dem aus das Ich spricht.Footnote 45 Dessen Standpunkt ist ein kategorial anderer als der Standpunkt der vom lyrischen Ich an Indus und Alpheus versetzten Sänger. Das Ich ist keinesfalls ein kollektiv gemeintes Ich.Footnote 46 Das lyrische Wir als Ausdruck gemeinschaftlicher Relevanz der Rede und rhetorischer Integration des LesersFootnote 47 ist ein typisches Merkmal der hymnischen Lyrik Hölderlins. Gedichte wie »Am Quell der Donau«, »Die Wanderung«, »Mnemosyne« und andere enthalten Interferenzen zwischen Wir und Ich. Doch anders als in diesen Fällen ist das Ich nicht mehr Sprecher der Gemeinschaft,Footnote 48 weil es diese Gemeinschaft als seine Erfindung kenntlich macht. Die Folge ist, dass das Ich nicht mehr präsentisch für sie spricht, sondern elegisch von ihr als einer abwesenden Gemeinschaft.
Der Dichter Hölderlin – so macht die erneute, nunmehr kontrastive Parallele mit anderen Gedichten Hölderlins deutlichFootnote 49 – grenzt sich von sich selbst bzw. seiner eigenen Dichtungspraxis ab, indem er im ›Ister‹ viel klarer als sonst Wir und Ich voneinander trennt und beide Instanzen nicht mehr synonym oder metonymisch, sondern als Antonyme gebraucht. Die Setzung des lyrischen Ich durch den empirischen Verfasser wird gewissermaßen im Gedicht wiederholt, nur dass er kein zweites Ich, sondern ein Wir einführt. Geklärt werden kann hier unmöglich die Frage, ob das lyrische Ich selbst real oder eine Fiktion ist. Stattdessen möchte ich auf die bewährte Unterscheidung von Margarete Susman zurückgreifen, nicht jedoch um das Verhältnis von Ich und Urheber (Hölderlin) zu erörtern, sondern um auf der internen Ebene des Gedichtes das Verhältnis von Ich und Wir zu bestimmen. Innerhalb des Gedichtes ist das Ich real, das Wir fiktiv. Um die Strukturanalogie zu Susmans Bestimmung zu verdeutlichen: So, wie das lyrische Ich eine Sprechfunktion des empirischen Ich ist, ist im ›Ister‹ das Wir eine Funktion des lyrischen Ich, die sich als Fiktion erweist.Footnote 50 Prinzipiell wäre es natürlich denkbar, dass der Wir-Entwurf Teil der Ich-Realität ist, aber die lyrische Argumentation Hölderlins, wie sie hier nachgezeichnet wird, läuft darauf hinaus, sich von diesem Wir abzugrenzen, weshalb diese Möglichkeit ausgeschlossen wird.
Für die hier behauptete Grundverschiedenheit der beiden lyrischen Sprechinstanzen spricht, dass die erste Strophe hinsichtlich der Modalität des Sprechens einen Gegensatz zu den Strophen zwei bis vier bildet. Die Sänger sind aktive Kulturschöpfer; das lyrische Ich präsentiert sich nirgends als schöpferischer Sänger mit kulturpolitischem und handlungssteuerndem Anspruch, sondern als kontemplierender Beobachter eines Kulturstroms aus Osten und eines Naturstroms, der nach Osten fließt. Weder ist das lyrische Ich bei den Sängern am Indus und Alpheus, noch sind diese bei ihm am Ister. Es befindet sich allein am Ister und teilt nicht die Absicht zu bauen. Jedoch macht es die Abwesenden anwesend und ergänzt zumindest rhetorisch das, was ihm abgeht. Wie aber stellt sich das Verhältnis des Ich zum Wir dar, wenn zwischen beiden Seiten keine soziale und räumliche Gemeinschaft besteht, sondern das lyrische Wir nur eine Funktion der monologischen Rede des lyrischen Ich ist?
III.
Um hierauf eine Antwort zu geben, sollen Hölderlins Entwürfe herangezogen werden. Die Genese des Textes offenbart, dass die Trennung einer Wir-Gruppe vom Ich erst allmählich, aber dann entschieden vollzogen wurde.
Hölderlin begann seine ›Ister‹-Dichtung nicht mit dem emphatischen Ausruf der Sänger. In der Urfassung standen der zweite Teil der ersten Strophe sowie die Anfänge der zweiten und dritten Strophe in einer gemeinsamen Strophe: gedanklich also die Absicht zu bauen (Strophe 1), die Standortbestimmung am Ister (Anfang Strophe 2) sowie der Eindruck, der Fluss komme von Osten (Anfang Strophe 3). Trennt man einmal die überarbeiteten Zeilen von dieser Fassung, ergibt sich folgender Textbefund:
» will
Hier aber wollen wir bauen
De\(\bar{\text{n}}\) Ströme mache urbar
Das Land. We\(\bar{\text{n}}\) nemlich Kräuter
An den Ufern, und es gehen zu trinken die Thiere,
So gehn auch Menschen daran.
Man ne\(\bar{\text{n}}\)et aber diesen den Ister
Hier aber bin ich an den Ister
Schön aber rükwärts
Scheint er zu gehn. Und
Ich mein’, er ko\(\bar{\text{m}}\)e von Osten.« (fol. 27v, 1–18)
Die Urfassung scheint die erste Lesart zu bestätigen, nach welcher das Ich als Teil der Sänger am Ister bauen will; zumal Hölderlin im ersten Vers noch unentschieden war, ob die Sprechinstanz das lyrische Wir oder das lyrische Ich sein soll: Er schrieb beide Verbformen »will« (fol. 27v, 1) und »wollen« (fol. 27v, 2) übereinander. Für eine Gruppenzugehörigkeit des Ich spräche ebenfalls Hölderlins Änderung des Verses »Hier aber bin ich an den Ister« (fol. 27v, 13) zu »Hier aber sind wir an den Ister« (fol. 27v, 12 f.). Demnach wären Ich und Wir gemeinsam am Ister. Allerdings ist in der Urfassung der Raum noch nicht pluralisiert. Es gibt weder Indus noch Alpheus und damit auch keine Wanderer, die dort hingegangen oder von dort gekommen wären. Die Erweiterung des Raumes sowie die Trennung zwischen Wir und Ich erfolgten erst in der Überarbeitung der ersten Zeilen, die dafür von Hölderlin zuvor auf selbiger Seite abgeschrieben worden waren.Footnote 51 Die Überarbeitung vollzog sich, von einzelnen Verbesserungen abgesehen, zunächst durch eine Verdopplung der Urstrophe bis zur Zeile: »So gehn auch Menschen daran« (fol. 27v, 14). Hölderlin setzte neu an, weil er den zweiten Teil der Urstrophe auf die Strophen zwei und drei verschieben wollte. Der wiederholende Neuansatz wurde in die untere Hälfte von fol. 27v geschrieben. Zwischen der Urstrophe und ihrer verkürzten Abschrift wurde ein Raum frei gelassen, der später gefüllt wurde (fol. 27v, 19–25). Ein weiterer Freiraum entstand durch das leichte Verrücken der Abschrift nach rechts. Just in diese beiden Freiräume wurde der bekannte Beginn der ›Ister‹-Dichtung samt Feueranrufung, Vorstellung der Sänger und Eröffnung des indischen und griechischen Kulturraumes gelegt. Wie die auf fol. 29r und fol. 28r von Hölderlin besorgte Reinschrift der ersten Strophe und des Anfangs der zweiten Strophe bezeugt, waren nunmehr Ich und Wir getrennt und der Ister aus der ersten Strophe verbannt. Auch wenn Christen es für denkbar hält, dass sich der Vers »Hier aber wollen wir bauen.« (15) auf den Ister bzw. sein Quellgebiet bezieht,Footnote 52 gibt es in der überarbeiteten Fassung keinen Beleg dafür. Nur wenn man annimmt, dass die räumliche Ordnung der Urstrophe von der Überarbeitung unbeschadet blieb, befindet sich der Redestandpunkt bereits in der ersten Strophe am Ister. Mit der Einführung von Indus und Alpheus wurde, so die These, der Ister in die zweite Strophe und der Standort der Wir-Gruppe nach Indien und Griechenland verlegt. Hier sind die euphorischen und kulturstiftenden Sänger, am Ister der distanzierte Beobachter. Heideggers Ansicht, Hölderlin imaginiere Rückkehrer, die fern von Osten nach Hause gekommen seien – eine Ansicht, die 1942, ein Jahr nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Sowjetunion, aber auch Jugoslawien und Griechenland, nicht ohne zeitgeschichtlichen Bezug ist –, verwechselt das Prädikat ›hersingen‹ (7) mit dem attributiven Partizip »Fernangekommen« (8).Footnote 53 Für die Lesart von Sängern, die »vom Indus her« (7) singen, spricht die Verszäsur: »Wir singen aber vom Indus her / Fernangekommen« (7 f.). Selbst wenn man sich mit Heidegger dafür entschiede, die Sänger vom Indus und Alpheus an den Ister kommen zu lassen, wäre es zweifelhaft, ob diese Gruppe vor Ort auf das Ich wirklich trifft. Auch in diesem Fall würde man es mit einer Fiktion zu tun haben, die Abwesende anwesend macht, schon allein deshalb, weil im Fortgang des Gedichtes von den Sängern nicht mehr die Rede ist.
Rhetorisch gesprochen, differenziert Hölderlin das lyrische Ich vom lyrischen Wir, indem er diesem in Form einer Prosopopoiia oder Sermocinatio eine eigene, vom Ich abgesonderte Rede in den Mund legt. Die Gedankenfigur der Prosopopoiia oder Sermocinatio meint »jene rhetorische Figur, die Toten oder Abwesenden eine Stimme verleiht«Footnote 54 und die den Redenden, hier dem lyrischen Ich, die Möglichkeit bietet, Abstrakta, abwesende Personen und »Kollektive[]«Footnote 55 durch NachahmungFootnote 56 direkter Rede als gegenwärtig vorzustellen. Da der Charakter und in diesem Fall auch ein Affekt sichtbar werden – »Jezt, komme Feuer!« (1) –, besitzt die Evidenzfigur Eigenschaften der Ethopoiia und der Pathopoiia.Footnote 57 Das lyrische Wir ist damit keine eigene Sprechinstanz, die mit dem Ich konkurriert oder kommuniziert, sondern ein grell maskierter, aus einem Mangel geformter utopischer Selbstentwurf des an sich kontemplativen lyrischen Ich, um Interesse zu wecken. Solche Evidenzfiguren sind gerade am Anfang, wo besonders aufwändig um die Aufmerksamkeit der Leser gekämpft wird, üblich. Hölderlin koppelt die Figurenrede, die das kulturstiftende Ethos dieser Sänger sichtbar werden lassen soll, mit Affektfigur (Anruf) und Affekttrope (Emphase). Die rhetorische Figur ahmt eine hymnische, von Osten kommende Rede nach, welche von der geglückten Erfahrung zeugt, das Eigene im Fremden gefunden zu haben. Feierlichkeit und Erhabenheit als Wesensmerkmale der Hymne konzentrieren sich vor allem in der Exposition, sodass man von einer im Gedicht ausgestellten Hymne sprechen kann. Strophe zwei, drei und vier dagegen sind bestimmt durch deskriptive, narrative und reflexive Ich-Rede, deren Gegenstand ein Gewässer ist, das nach Osten fließt, aber von Osten zu kommen scheint.
Die beiden Sprechinstanzen führen zu zwei kommunikativen Ordnungen. Sie stehen nicht nebeneinander, sondern bedingen sich: die Wir-Gruppe ist eine Vorstellung des Ich. Hölderlin entwirft, abweichend vom monologischen Normalzustand der lyrischen Rede, eine zweistimmige Rede,Footnote 58 in welcher nicht nur das Ich einem Wir entgegensteht, sondern in welcher auch das Ich seine Modalität vom beschreibenden und erzählenden zum reflektierenden Sprecher wechselt.
Den Plan, am Strom zu bauen, verfolgt in Hölderlins Gedicht allein jene aktive Wir-Gruppe, nicht aber das kontemplative Ich. Das Ich selbst ist nicht aktiv und will nicht bauen. Sein Modus ist passiv, distanziert, erzählend, beschreibend und reflektierend, meinend – aber keinesfalls aktiv. Nicht der Wille zur Praxis, sondern zur Theorie treibt das Ich an. Die Gewissheit des Handelns haben andere erlangt.Footnote 59
Die Funktion der Eröffnungsstrophe ist kontrastiv. Sie bildet die Folie, vor der der kontemplative Charakter des Ich hervortritt. Zwar ist die Rede des Wir ein Ruf aus dem Osten an das Ich im Westen, aber weder wird wie in »Am Quell der Donau« dieses Ich als Teil einer Gemeinschaft von diesem Ruf affiziert, noch strebt es wie in »Die Wanderung« dem Kaukasus zu. Die rhetorische Übertragung vom Wir zum Ich findet nicht statt, die Vereinigung unterbleibt, aber der Gesang am Indus und am Alpheus, d. h. von Osten, gibt das Stichwort, sich selbst an einem Fluss zu verorten. Somit besitzt die Prosopopoiia oder Sermocinatio eine motivierende Funktion für die Rede des lyrischen Ich. Das lyrische Ich imaginiert die Rede einer Gruppe von Ausgewanderten im Moment der Begeisterung und des Tatendrangs. Diese Rede dient als Kontrastfolie der eigenen Rede, gleichsam als negative Exposition. Eine solche Deutung sieht deshalb auch einen scharfen räumlichen Kontrast zwischen der ersten und den anderen Strophen.
Die affektive, ethische und gedankliche Redefigur der Prosopopoiia oder Sermocinatio ist für die rhetorische Ökonomie deshalb sinnvoll, weil sie Hölderlins Komposition von der umständlichen Ausschmückung einer vorgeschichtlichen Völkerwanderung entlang der Donau oder gar auf ihr befreit. Die Bewegung von Ost nach West ist erzeugt, und Heidegger wie viele andere haben sie berechtigterweise bemerkt. Nur erlaubt das Gedicht keinesfalls, sich den Vorgang körperlich vorzustellen. Stattdessen handelt es sich um eine rein rhetorische Bewegung des Wortes von Wanderern, die das Ich seinen Lesern vorstellt, um negativ den eigenen kommunikativen Standort zu bestimmen. Die für die weitere gedankliche Ordnung des Gedichtes zentrale Verbindung der östlichen mit der westlichen Kultur sowie Hölderlins Überzeugung, der Geist komme »aus dem Osten, aus Indien […] in das Vaterland des Dichters«,Footnote 60 werden in der Exposition mittels der Prosopopoiia oder Sermocinatio als Stimme aus dem Osten vorbereitet. Der Übergang ins Quellgebiet der Donau, der mit der zweiten Strophe einsetzt, strukturiert von der zweiten bis zum Beginn der dritten Strophe (21–46) die Rede des lyrischen Ich über den Fluss: Die Erzählung von Herkules’ Gang zu Quellen des Isters, Hölderlins damit verbundene übersetzerische Auseinandersetzung mit der Lyrik Pindars sowie die Meinung des lyrischen Ich, der Fluss »müsse kommen von Osten« (4), wiederholen die rhetorische Bewegung der Exposition. Indem Hölderlin gegenläufig zur Fließrichtung dichtet, das Gedicht sozusagen ›gegen den Strom schwimmt‹, mediatisiert er die Donau nicht nur für seine Lehre vom ›Fluss der Kultur‹ nach Westen, sondern distanziert sich parallel dazu von der Tradition der Stromdichtung, mit der der Lyriker seit seinen Anfängen vertraut war.Footnote 61
IV.
Mit dem Auftritt des Ich ab der zweiten Strophe verschwindet der hymnische Aktivismus, wie er für Stromgedichte typisch ist. Die kontemplative Einstellung des Ich schafft zwischen der lyrischen Sprechinstanz und dem Fluss eine Distanz, wodurch der Fluss, seine instrumentelle Bedeutung verlierend, unter Beobachtung gerät. Das lyrische Sprechen wechselt sozusagen auf die Metaebene mit der Folge, dass das traditionell tropische Sprechen über den Strom literalisiert, d. h. ins Buchstäbliche zurückgewendet, oder negiert, auf keinen Fall aber affirmiert wird. Die Rede des Ich erscheint als mythologischer Diskurs in Strophe 2, als hydrologischer Diskurs in Strophe 3 sowie als poetologischer Diskurs in Strophe 4 und bildet eine enzyklopädische Reihe,Footnote 62 die mit der in Abschnitt I bis III diskutierten Kulturgeografie der Donau in Verbindung steht.
Da sich die vierte Strophe des ›Ister‹ als besonders auffälliger Gegensatz zur aktiven ersten Strophe offenbart, folglich zwischen Anfang und Ende die größte Spannung besteht, geht die Analyse von ihr aus. Als Sinnbild des aktiven, prometheischen Genies kann der Ister nicht gelten, jedoch der Rhein, mit dem er kontrastiv verglichen wird. Der Gang rückwärts durch den ›Ister‹ von Strophe 4 zu Strophe 2 (IV–VI) ist der literaturgeschichtlichen Chronologie geschuldet, die die literarische Tradition des Stroms mit Pindar beginnen lässt. Daher setzt vorliegende Interpretation mit der Negation der an Pindar orientierten fluvialen Topik, wie sie die vierte Strophe vornimmt, ein und zeichnet Pindars Ästhetisierung in der zweiten Strophe abschließend nach (VI).
In Horaz’ berühmtem Vergleich Pindars bzw. seiner Verse mit einem Wild- oder SturzbachFootnote 63 kommt es zur Übertragung der Fülle und der Gewalt auf die dichterische Rede und zu einer folgenreichen Autorisierung solchen Sprechens. Horaz sagt, Pindars Rede sei mehr als reichhaltig, sie komme aus scheinbar unerschöpflichen Quellen, die zugleich von außen angereichert sind. Pindars Rede sei nicht künstlich, sondern natürlich und deshalb unkontrolliert wie unkontrollierbar. Horaz hebt durch den Vergleich mit einem Wildbach die ausgezeichnete Qualität des griechischen Dichters Pindar hervor.Footnote 64 Vorgestellt wird der ungebremste Handlungsdrang durch den Strom. Dichter sind ebenso Handelnde. Das, was Dichter ›tun‹, ist reden bzw. schreiben. Vergleicht man folglich die Dichtung mit einem unaufhaltsamen Strom oder benennt ein Gedicht nach einem Strom, dann ist damit nicht nur die außergewöhnliche Fülle der Rede (copia verborum) gemeint, sondern auch ihre große Wirkungskraft. Insofern die dichterische Rede als stromartige Rede handlungsrelevant ist, besitzt sie neben der ästhetischen eine ethische Dimension. Wenn Dichter wie Pindar mit Naturgewalten verglichen werden, so in der Überzeugung, dass sie sich keinen moralischen oder ästhetischen Regeln und Zwängen unterwerfen.
Sowohl die Emphase auf die Fülle als auch auf die über den Dingen stehende Gewalt des Stroms als auch seine Handlungsrelevanz werden in einem kontrastiven Vergleich mit dem Rhein vom ›Ister‹ negiert, was nicht notwendig ausschließt, dass auch diesem »Flusslauf Qualitäten zugeschrieben werden, die nur handelnde Subjekte haben können«.Footnote 65 Er wird als gastlich geschildert, »wohnt schön« (22), ist »allzugedultig« (58) und »zufrieden« (67). All dies sind zwar anthropomorphe Eigenschaften, aber ohne dass sich aus ihnen Handlungsziele ableiten ließen. Der Vergleich mit dem Rhein wird in neun Versen – »Ein Zeichen braucht es […] Sind sie Kinder des Himmels« (50–58) – umständlich vorbereitet. Dafür sieht das lyrische Ich zunächst vom konkreten Ister ab und kommt auf die himmlische Beziehung der Ströme im hydrologischen Verständnis des Wasserkreislaufes zu sprechen (vgl. Abschnitt V). Anschließend erfolgt der kontrastive Vergleich mit dem Rhein, dem Inbegriff des Geniestroms.
Vom Standpunkt des lyrischen Ich betrachtet, ist der »Ister« (21) kein gewaltiger Strom oder wilder Sturzbach. Nicht einmal eindeutig erkennbar ist, in welche Richtung er fließt. Wie gesehen, meint das Ich, der Fluss »müsse kommen von Osten« (4). Die Charakterisierung als »allzugedultig« (58) und »zufrieden« (67) hat einen realen Kern. Tatsächlich ist die Donau im Schwäbischen ein Flüsschen, das still vor sich hinfließt und bekanntlich bei Tuttlingen bisweilen für mehrere Monate im Jahr versickert.Footnote 66 In Stolbergs Roman Die Insel (1788) wird deshalb auch die poetische Relevanz der schwäbischen Donau diskutiert.Footnote 67 Hölderlins Vergleich mit dem Rhein entspricht dem realen Unterschied beider Flüsse an ihrem Anfang. Ist der Ister in seiner Jugend »zufrieden« (67), so gleicht der Rhein, der als »Freier« (60) bezeichnet wird, einem wilden Fohlen:
»Füllen gleich
In den Zaum knirscht er, und weithin hören
Das Treiben die Lüfte,« (64 –66)
Hölderlin hat dem Rhein mit der Hymne »Der Rhein« eine große, vollendete Hymne gewidmet. Dort wird seine Unbändigkeit zu Beginn ausführlich beschrieben.Footnote 68 Der Rhein nimmt einen Verlauf, der eigentlich nicht seinem Charakter entspricht.Footnote 69 Eine solche, die Allmacht relativierende Sichtweise offenbart auch in der »Rhein«-Hymne einen differenzierten Umgang mit der Topik des Stroms. Gleichwohl wird das Prometheische nicht aufgegeben und weiterhin mit dem Rhein verbunden. Prometheische Typen wie der erste Widmungsempfänger der »Rhein«-Hymne, der Sturm-und-Drang-Dichter Wilhelm Heinse, oder der zweite Widmungsempfänger, der Revolutionär Isaac von Sinclair, oder der besungene Held der europäischen Aufklärung Jean-Jacques Rousseau werden mit dem Rhein assoziiert, der wiederum ein Halbgott ist.Footnote 70 »Der Rhein« vertieft die Sturm-und-Drang-Idee des aktiven Genies; in ›Der Ister‹ wird sie nur kontrastiv realisiert.
Dass der Ister ein kontemplativer Gegenentwurf zum Rhein ist, ›Der Ister‹ ein Anti-»Rhein«, zeigt das Gedichtende. Nicht das Aktive – Handeln, Tat und Tun – wird besungen, sondern das Kontemplative ausgestellt. Der nicht-aktivistischen Einstellung des ›Isters‹ entsprechen die beiden Schlussverse:
»Was aber jener thuet der Strom,
Weis niemand.« (71 f.)
Dieser Schluss, der wegen der unvollständigen Zeilenzahl der Strophe auf einen Abbruch der Dichtung hinweist, zeigt das lyrische Ich außer Stande, den Strom als bildliche Analogie für innere Zustände, für den Fluss der Gedanken oder Worte zu gebrauchen.Footnote 71 Am Ende von ›Der Ister‹ wird deshalb der Kontrast zum enthusiasmierten Wir der Exposition noch einmal spürbar. Denn die Sänger werden nicht bloß durch das Merkmal der begeisterten Rede und die Rückkopplung ihres Tuns an den Strom gekennzeichnet, sondern sie verstehen sich als Kulturbegründer: »Hier aber wollen wir bauen.« (15) Das lyrische Ich, wie oben gezeigt, sagt nicht, dass es wie die fiktive Gemeinschaft des lyrischen Wir am Strom bauen will. Es steht einerseits zu den Sängern im Gedicht in Kontrast, andererseits zur Tradition der Stromdichtung, zu der das Bauen am Fluss seit Johann Wolfgang Goethes »Mahomets Gesang« (zuerst 1773 als »Gesang«) notwendig gehört.Footnote 72
Einschneidender für die Tradition der Flussdichtung war jedoch Goethes Überblendung von Strom und Ich. Für Goethe war dabei die Autorität Pindars bzw. der Vergleich des Horaz zwischen Pindar und dem Strom maßgeblich gewesen.Footnote 73 Völlig selbstverständlich identifiziert Goethe den Künstler mit einem Strom.Footnote 74
Die Neuartigkeit von Goethes Ansatz wird gegenüber Friedrich Gottlieb Klopstock deutlich. In dessen Dichtung zeigt der Strom dichterischen Enthusiasmus an, überbordende Fülle der Sprache und den Willen zur Regellosigkeit. In seinen Versen begegnet man hydrologischen Metaphern in unterschiedlichen Zusammenhängen: Gesang, Ausdruck, Rhythmus ströme, sei wie ein Strom, ströme zu Gott.Footnote 75 Obgleich er die poetische Sprache sakralisiert und zu einem Medium formt, um mit der göttlichen Sphäre zu kommunizieren, identifiziert er den Strom noch nicht mit seinem Ich oder mit einer anderen Person. Der Strom soll die Verbindung des Irdischen mit dem Göttlichen nur symbolisieren. Würde er den Menschen mit dem Strom identifizieren, würde er ihn vergöttlichen, mit anderen Worten: zum Genie erheben, zum prometheischen Schöpfer in Konkurrenz zu Gott.Footnote 76
Dass Goethe Menschen vergöttlicht, unterscheidet ihn und die jungen Dichter der 1770er Jahre von dem 25 Jahre älteren Vorbild Klopstock. Nicht der Dichter war bei Klopstock ein Strom, sondern seine Verse oder seine Seele. Goethe dagegen verzichtet auf die Metonymien des Selbst und setzt das Individuum mit dem Strom gleich: in »Mahomets Gesang« der muslimische Religionsstifter, aber zugleich das lyrische Ich, das den Zuwachs von dessen Gefolgschaft mit einem wachsenden Strom vergleicht und damit seine eigene Kraft als lyrisches Subjekt indirekt versinnlicht.Footnote 77
Hölderlins ›Der Ister‹ kann durchaus als Kontrafaktur der genieästhetischen Stromdichtung gelesen werden, da die seit Goethes »Mahomets Gesang« typische Identifikation von Ich und Strom ausbleibt;Footnote 78 ebenso die für Goethe typische Einheit von physikalischer Natur und moralischer Welt des Ich, von Objekt und Subjekt: Was der Strom tut, weiß man nicht; und über das Ich ist nur bekannt, dass es über den Strom meditiert, ohne dass dieser den Willen jenes Ich versinnbildlicht.
V.
Die vorausgehende dritte Strophe nähert sich dem Fluss nicht poetologisch, sondern hydrologisch, indem sie mit dem Kreislauf des Wassers einen Aspekt des Stroms aufgreift, der in Horaz’ Vergleich Pindars mit einem Sturzbach fehlt, für Klopstock, Goethe und Hölderlin aber zentral ist. Aufgrund der Qualität des Fließens sind Fluss, Strom oder Sturzbach niemals sinnlos, d. h. richtungslos. Sie sind gerichtet und verfolgen ein Ziel. Fragt man, wohin ein Fluss fließt, dann lautet die Antwort in der Regel, er fließe ins Meer oder in den Ozean. Es sei denn, er ist vorher in einen größeren Fluss geflossen oder in einem unterirdischen Flusssystem verschwunden. Diese Beobachtung, der Fluss münde im Ozean, gab Anlass zu einer theologischen Deutung des Flusses nach dem folgenden Schluss: Der Ozean ist Symbol des Unendlichen; der Fluss aber ist endlich und damit irdisch, besitzt aber einen göttlichen Ursprung; das Verhältnis von Fluss zu seinem Ziel ist analog zum Verhältnis des Irdischen zum Göttlichen. Dieser Aspekt war für das große Interesse am Strom in der deutschen Literatur der Aufklärung, die sich in steter Reibung mit theologischen Diskursen entfaltete, ebenso ausschlaggebend wie die von Horaz anhand von Pindar ins Spiel gebrachte Fülle und regellose Gewalt des genialischen Dichters. Der theologische Diskurs hat den Wasserkreislauf dabei vorinterpretiert.
Die Sprachgeschichtsforschung konnte zeigen, dass die deutsche Literatursprache des 18. Jahrhunderts von Wassermetaphorik getränkt ist.Footnote 79 Mystische Traditionen, vor allem der Pietismus haben das Verhältnis des einzelnen Menschen zu Gott in einer introspektiven, seelenanalytischen Sprache in zahlreichen Schriften ausdifferenziert.Footnote 80 Die Sehnsucht nach dem Unendlichen und der Wunsch nach Selbstauflösung sind mit dem Wasserkreislauf genauso adäquat darstellbar wie der göttliche Ursprung des Stroms respektive des sich mit ihm identifizierenden genialischen Ich. Der Strom ist nicht nur Ausdruck des aktiven Genies und seines kulturstiftenden Strebens, sondern auch Annihilation dieses Willens.
Goethe hatte die prometheische Kraft des Stroms mit dessen Tendenz der Selbstauflösung in Balance gebracht: Ziel des Stroms bleibe bei all seiner schöpferischen Kraft der Ozean. Individualisierung und Entindividualisierung halten sich die Waage. In »Mahomets Gesang« wird just diese zyklische Bewegung zum Prinzip des Gedichtes gemacht. Das Gedicht behandelt Entstehung und Wachstum des Stroms, der alles mit sich fortreißt, sich mit seinen Brüderquellen vereinigt und als Prophet Mohammed personifiziert wird. Schon zu Beginn kündigt der Strom an, sich mit seinem Vater zu vereinigen: »Jünglingsfrisch / Tanzt er aus der Wolke / Auf die Marmorfelsen nieder, / Jauchzet wieder / Nach dem Himmel.« In der eingeschalteten Rede der Brüder sagen diese: »›Bruder, nimm die Brüder mit, / Mit zu deinem alten Vater, / Zu dem ew’gen Ozean, / Der mit ausgespannten Armen / Unser wartet‹«.Footnote 81 Obgleich das Ich den »Himmel«, die Brüderflüsse aber den »Ozean« als Vater vorstellen, teilt Goethes Gedicht das neue hydrologische Wissen.Footnote 82 Die hydrologische Lehrmeinung war noch bis in das 18. Jahrhundert davon ausgegangen, dass der Wasserkreislauf ein rein irdisches Phänomen sei.Footnote 83 Dieses Wissen spiegelt die traditionelle Fluss-Mythologie wider. Die Aufklärungsepoche hat die Vorstellung einerseits verabschiedet, andererseits – wie den Sonnenaufgang – weitertradiert. So kommt es, dass man bei einem jüngeren Dichter als Goethe wie Friedrich Hölderlin immer noch mit beiden Versionen zu rechnen hat.Footnote 84
Die Besonderheit von Goethes »Mahomets Gesang« liegt im Ausgleich des aktiven und des passiven Stroms. Der Strom ist – mit zwei Gedichttiteln Goethes aus den 1770er Jahren gesprochen – sowohl »Prometheus« als auch »Ganymed«. Andere Stürmer und Dränger wie Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg blieben dagegen einseitig auf die Aktivität fokussiert.Footnote 85
Hölderlin vereinseitigte in seinen früheren Stromgedichten die andere Seite, indem er den Topos des personifizierten Stroms, der als freie Naturgewalt in den Armen des Schöpfers endet, fortschrieb. Seine Flüsse suchen das Ende, die Auflösung, das All.Footnote 86 Im ›Ister‹ spielt das Narrativ der Auflösung und Selbstaufgabe im Unendlichen keine Rolle mehr. Wenn sich Hölderlin in dieser Hinsicht gegen die Tradition der Stromdichtung wendet, dann grenzt er sich wie im Falle der Praxis, die Einheit von Ich und Wir aufzugeben, von sich selbst ab.
Trotz seiner Aufgabe des sich mit dem All vereinigenden Flusses – die durch eine gewisse Abnutzung bedingt sein mag – blieb der Wasserkreislauf für Hölderlin weiterhin interessant. Das hydrologische Phänomen wird, hier folge ich dem Vorschlag von Alexander Honold,Footnote 87 in der dritten Strophe thematisiert, um den Vergleich der beiden Flüsse Ister und Rhein in der letzten Strophe vorzubereiten. Zunächst wird gesagt, dass Flüsse nicht sinnlos (d. h. ohne Richtung und Ziel) in der Erde flössen bzw. gingen. Hölderlin verwendet für ›sinnlos‹ das Adverb »umsonst«Footnote 88 und für ›Erde‹ die Wendung »Im Troknen«: »Umsonst nicht gehn / Im Troknen die Ströme.« (49 f.) Die Passage läuft darauf hinaus, dass das Fließen der Flüsse im Erdreich nicht nur eine horizontale kulturgeografische Bedeutung zwischen Ost und West habe, sondern auch eine vertikale zwischen Himmel und Erde.Footnote 89 Diese vertikale Bedeutung ist rein sprachlich erfassbar durch ein »Zeichen«:
»Ein Zeichen braucht es
Nichts anderes, schlecht und recht, damit es Sonn
Und Mond trag’ im Gemüth’, untrennbar,
Und fortgeh, Tag und Nacht auch, und
Die Himmlischen warm sich fühlen aneinander.
Darum sind jene auch
Die Freude des Höchsten.« (50–56)
Der Ister schafft nicht nur einen irdischen Kulturraum, er ist nicht nur Kulturstrom zwischen Ost und West. Genauso schafft er wie jeder andere Fluss eine Brücke zwischen Himmel und Erde. Er ist ein »Zeichen« (50) dieser Verbindung, und Hölderlin versteht, wissenschaftlich auf dem neuesten Stand, nicht mehr wie in früheren Gedichten den Ozean als Vater des Flusses, sondern den Himmel, und als Mutter die Erde: »Denn wie käm er / Herunter? Und wie Hertha grün, / Sind sie die Kinder des Himmels.« (56–58) [mit anderen Worten: ›Die Flüsse sind die Kinder des Himmels und der grünen Erde.‹ A.N.]Footnote 90 Diese Stelle bestätigt Heideggers These, Hölderlins späte Hymnik könne nicht mehr sinnbildlich gelesen werden.Footnote 91 Erst sobald man diese Stelle metaphysisch liest, wird sie esoterisch und nicht mehr verständlich. Für die Argumentation des Gedichtes jedenfalls ist ihre Funktion eindeutig: Die allgemeine hydrologische Reflexion motiviert den Vergleich mit dem Rhein, dem Gegenstrom. Dagegen wird der Wasserkreislauf als ein zentrales Strukturelement der traditionellen Stromdichtung nicht mehr sinnbildlich, sondern eigentlich bzw. hydrologisch gebraucht. Der literale Gebrauch ist unüblich; anders gesagt, entspricht er nicht der Tradition der Stromdichtung. Nirgends gibt es Signale, die auf eine tiefere Bedeutung verweisen oder die es erlaubten, das Phänomen als Ausdrucksmittel für das Sehnen nach dem Göttlichen oder aber für ein göttlich begründetes Streben zu nutzen.
VI.
Die Literalisierung ist ebenfalls charakteristisch für die mythologische zweite Strophe. Sie gilt dem Autor Pindar. Wenn, wie an der vierten Strophe gesehen (IV), Hölderlin im ›Ister‹ die auf die Autorität Pindars gestützte Gleichsetzung zwischen Individuum und Strom aufgibt und den Strom zugleich nicht mehr als Genie denkt, dann gibt Hölderlin keinesfalls Pindar auf, d. h. die Autorität des stromartigen als genialischen Dichtens. Im Gegenteil – es gibt wohl kein Stromgedicht, in dem Pindar dermaßen präsent ist wie in ›Der Ister‹. Das gleiche gilt für den Strom als Halbgott. Der Strom wird nicht mehr wie noch in »Der Rhein« als Halbgott qualifiziert, und dennoch ist mit Herkules’ Erscheinen die denkbar folgerichtigste Verwendung des Halbgottes geschaffen worden. In der zweiten Strophe, die die gastliche Eigentümlichkeit des Flusses über die Beschreibung (descriptio) der Flusslandschaft und die Erzählung (narratio) einer Flussmythe zum Gegenstand hat und die einen ersten Gegensatz zur Exposition des lyrischen Wir eröffnet, ist Pindar zweifelsfrei gegenwärtig.
So wie Pindar zu dichten, bedeutete für Klopstock, Goethe oder Stolberg mehr Metapher als philologische Wirklichkeit. Hölderlin dichtet den ›Ister‹ buchstäblich in Gemeinschaftsarbeit mit Pindar. Pindar tritt nicht auf, wie es die Konvention vorsieht, ist weder emphatisch eine Geste noch metonymisch ein bestimmter Stil. Die Autorität Pindars ist für Hölderlin nicht geringer als für den jungen Goethe, aber seine Aneignung Pindars ist differenzierter und zugleich ganzheitlicher. Er ahmt Pindar bis ins kleinste Detail nach: motivisch, formal, sprachlich. Nägele weist darauf hin, dass das Einverständnis mit Pindars poetischer Welt so weit gehe, »dass es auch die Syntax tief greifend verändert. Bisher war die Syntax hart gefügt parataktisch: jeder Satz eine Setzung und Absetzung vom nächsten«.Footnote 92 Wenn Hölderlin die Pindars dritter Olympischer Ode entnommene Herkules-Mythe in sein Gedicht einbettet, dann wiederholt er nicht nur Pindars Verfahren, Mythen in die Lyrik einzuflechten, sondern holt aufgrund der formalen Mimikry zugleich den Originalautor zu sich: »In dem Moment, wo das Gedicht die Pindarische Geschichte erzählt, wie Herkules zu Gast zum Ister und dessen gastlichen Hainen geladen wird, lädt es auch die Pindarischen Satzperioden zu sich zu Gast.«Footnote 93 Pindars Autorität hat den Vergleich des Dichters mit einem Strom und manch Stromgedicht begründet; für Hölderlin spielt dieser Zusammenhang keine Rolle. Pindar erscheint zwar im Gedicht über den Strom, aber nicht mehr als Legitimation eines stromartigen Dichtens, sondern als Quelle für eine mit dem Ister verbundene Geschichte.
Nach einer Charakterisierung des Flusses qua Beschreibung seiner räumlichen Attribute am Oberlauf erfolgt die Narration der Mythe. Diese Mythe ist exemplarisch zu verstehen. Dass das lyrische Ich die Wortbewegung des lyrischen Wir von Ost nach West vernommen hat, demonstriert es durch die Tradierung jener Mythe, wonach Herkules an die Quellen der Donau gegangen sei. Die genaue Beschreibung der Flusslandschaft am Beginn der zweiten Strophe besitzt die Funktion, der auf sie folgenden Mythe einen geschichtlichen Raum zu geben. Er »wohnt schön« (22), weshalb er ein guter Gastgeber sei:
»So wundert
Mich nicht, daß er
Den Herkules zu Gaste geladen,
Fernglänzend, am Olympos drunten,
Da der, sich Schatten zu suchen
Vom heißen Isthmos kam,
Denn voll des Mutes waren
Daselbst sie, es bedarf aber, der Geister wegen,
Der Kühlung auch. Darum zog jener lieber
An die Wasserquellen hieher und gelben Ufer,
Hoch duftend oben, und schwarz
Vom Fichtenwald, wo in den Tiefen
Ein Jäger gern lustwandelt
Mittags, und Wachstum hörbar ist
An harzigen Bäumen des Isters,« (26–40)Footnote 94
Wie der hydrologische Diskurs der dritten Strophe mit dem Wasserkreislauf und der genieästhetische Diskurs der vierten Strophe mit dem aktiven Rhein greift der mythologische Diskurs der zweiten Strophe mit Pindar ebenfalls ein zentrales Element der Stromdichtung auf. Für die poetische Ökonomie ist der Pindar-Bezug deshalb glücklich, weil mit ihm ein weiteres Element der Stromdichtung, der Halbgott, ohne Aufwand mitverhandelt wird. Im Unterschied zur Strophe 4 erweist sich die kontemplative Einstellung des Ich in Strophe 2 nicht als Negation der traditionellen Stromdichtung und ihrer Elemente, sondern wie in Strophe 3 als Literalisierung. Pindar erscheint buchstäblich. Die intertextuelle Arbeit an der pindarischen Ode kann gleichfalls als Ästhetisierung Pindars begriffen werden, womit konkret die epideiktische Ausstellung seiner Rede gemeint ist.
Als entscheidend für das hier dargelegte Verständnis von Hölderlins ›Ister‹ hat sich der Vorgang einer Differenzierung erwiesen. Die Differenzierung der lyrischen Sprechinstanz in ein eigentliches Ich und uneigentliches Wir bildet die Möglichkeit für das lyrische Ich, sich vom Fluss bzw. seiner traditionellen literarischen Mediatisierung zu distanzieren, und verhindert die klassische Identifizierung des lyrischen Subjekts mit seinem Gegenstand. Die Bausteine der Flussdichtung werden nicht mehr instrumentell als Ausdrucksmittel für abstrakte theologische oder anthropologische Probleme verwendet, sondern sind lyrischer Selbstzweck. Sie werden vom lyrischen Ich im Gedicht ausgestellt, neu gerahmt und verfremdet.
Für die Verdeutlichung der literaturwissenschaftlichen Argumentation wurde im zweiten Teil dieses Aufsatzes (IV–VI) die Strophenfolge umgekehrt, da erst Strophe 4 den behaupteten Kontrast des Ich zum hymnischen und aktivistischen Wir der Strophe 1 poetologisch begründet. Dagegen erfolgen auf der internen Argumentationsebene des ›Ister‹ zunächst die Literalisierung der pindarischen Autorität der Stromhymnik in Strophe 2 und dann die Literalisierung des Wasserkreislaufes in Strophe 3, bevor in Strophe 4 der aktivistische Geniestrom und die damit verbundene Identifikation von Ich und Strom negiert werden. Hölderlins Vorgehen ist nachvollziehbar, da die Konsequenz aus der lyrischen Argumentation üblicherweise am Ende gezogen wird. Insofern das kontemplative, aus dem Gegensatz zu einer aktiven, aber fiktiven Sprechinstanz entstandene lyrische Ich als distanzierter Erzähler, Beobachter und Reflektor auftritt, der die Elemente der Stromdichtung literalisiert und negiert, darf man sagen, dass ›Der Ister‹ die traditionelle Stromdichtung verabschiedet.
Notes
›Der Ister‹ wird zitiert nach der emendierten Fassung der Stuttgarter Ausgabe ([Friedrich] Hölderlin, Sämtliche Werke, hrsg. Friedrich Beißner, Stuttgart 1951, II, 190–192) unter Angabe der Zeilenzahl direkt in Klammern (1–72). Für die textgenetischen Zitate der Handschrift aus der Homburger Mappe H wird unter Angabe des Kleinfolioblattes und der Zeilenzahl (fol. 27v, 1) verwiesen auf die Edition von Felix Christen, Das Jetzt der Lektüre. Zur Edition und Deutung von Friedrich Hölderlins Ister-Entwürfen, Frankfurt a.M. 2013, 84–88, der zudem hochauflösende Reproduktionen druckt. Die Entscheidung, Beißners emendierte Lesefassung zu wählen, ist durchaus kritisierbar. Christen, der programmatisch von ›Ister‹-Entwürfen spricht und deshalb auf einen emendierten Gesamttext verzichtet, muss freilich gestehen, dass die Entwürfe eine »Intention« ausmachten, »die sich auf einen linearen Text richtet.« (ebd., 89) – Die letzten Verse von »Andenken« (fol. 27r) sind faksimiliert in Friedrich Hölderlin, sämtliche werke. Frankfurter Ausgabe. historisch-kritische ausgabe, hrsg. D.E. Sattler, Frankfurt a.M. 2000, VII, 455 unpaginiert [die Handschriften und Transkriptionen zum dort titellosen ›Ister‹ ebd. 456–465]. Der Erstdruck von ›Der Ister‹ in: [Friedrich] Hölderlin, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. Norbert von Hellingrath, München 1916, IV, 220–222. – Die Editionsgeschichte referiert Christen (Anm. 1), 27–63, s. dazu auch die Rezension zu Christens Buch vom Verf. auf IASLonline [23.11.2013], URL <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3745>.
Ulrich Gaier, »Der ›Neccar Flus‹ und sein Dichter«, in: Valérie Lawitschka (Hrsg.), Hölderlin. Sprache und Raum, Tübingen 2008, 97–116; Thomas Traupmann, »Text-Spuren und Sinn-Schichtungen. Überschreibungsprozesse in Hölderlins Main-Nekar-Komplex«, Hölderlin-Jahrbuch 39 (2014/15), 208–232; Moritz Strohschneider, Neue Religion in Friedrich Hölderlins später Lyrik, Berlin 2019, 23–62.
Bernhard Böschenstein, Hölderlins Rheinhymne, Zürich 1959; Wolfgang Binder, »Hölderlins Rheinhymne«, Hölderlin-Jahrbuch 21 (1975/77), 131–155.
Bernhard Böschenstein, »›Am Quell der Donau‹. Zusammenfassung des in der Arbeitsgruppe entwickelten Gedichtverständnisses«, Hölderlin-Jahrbuch 32 (2000/01), 150–157.
Wolfgang Binder, »Hölderlins Hymne ›Die Wanderung‹«, Hölderlin-Jahrbuch 21 (1978/79), 170–205.
Das soll keinesfalls heißen, es handele sich um ein leicht zugängliches Gedicht. Gedanklich, syntaktisch und lexikalisch sind weiterhin viele Elemente nicht eindeutig bestimmbar. Lange stand die Diskussion im Bann der vor allem Strom und dichterisches Dasein verbindenden Anmerkungen von Martin Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, Gesamtausgabe, hrsg. Walter Biemel, Frankfurt a.M. 21993, II.LIII, 10 (zu Heideggers Vorlesung s. Walter Biemel, »Zu Heideggers Deutung der Ister-Hymne: Vorlesung S.S. 1942, GA 53«, Heidegger Studies 3/4 [1987], 41–60; Christen [Anm. 1], 95–148; Gunther Wenz, Der Ister. Heidegger deutet Hölderlin, München 2019). Vor dem Hintergrund von Hölderlins Theorie vom Wechsel der Töne liest das Gedicht Herta Schwarz, Vom Strom der Sprache. Schreibart und »Tonart« in Hölderlins Donau-Hymnen, Stuttgart 1994, 176–197. Daneben hat der ›Ister‹ gemeinsam mit den beiden anderen Donaugedichten Hölderlins zu Interpretationen geführt, die die Eigenschaft des Stroms als Kulturstifter und Kulturvermittler akzentuieren: Die kulturvermittelnde Funktion der Donau erörtert Anke Bennholdt-Thomsen, »Ost-westlicher Bildungsgang. Eine Interpretation von Hölderlins letztem Strom-Gedicht«, in: Gerhard Kurz (Hrsg.), Gedichte von Friedrich Hölderlin, Stuttgart 1996, 188–199; auf kulturgeografische Kontexte (in Anlehnung an Helmut Mottel, »Apoll envers terre«. Hölderlins mythopoetische Weltentwürfe, Würzburg 1998, bes.: 85–114) konzentriert sich Alexander Honold, »›Der scheinet aber fast / Rükwärts zu gehen‹. Zur kulturgeografischen Bedeutung der ›Ister‹-Hymne«, Hölderlin-Jahrbuch 32 (2000/01), 175–197; den kulturstiftenden Aspekt der Strommetapher stellt besonders in den Vordergrund die Untersuchung von Norina Procopan, Hölderlins Donauhymnen. Zur Funktion der Strommetapher in den späthymnischen Gesängen »Am Quell der Donau«, »Die Wanderung« und »Der Ister«, Eggingen 2004, 128–153 (die Arbeit enthält auch einen knappen Forschungsüberblick zu Hölderlins Stromdichtung, ebd., 7–19). – Die Kantische Philosophie bildet den Hintergrund der Studien von Rainer Nägele, Hölderlins Kritik der poetischen Vernunft, Basel 2005, 79–131, und Christen (Anm. 1), 149–192, wobei Letzterer mit Heidegger (95–148) und Kant den Strom als Zeit- und Lektürestrom analysiert (193–255).
Procopan (Anm. 6), 178.
Aus geistesgeschichtlicher Perspektive bietet einen breiten und belesenen Überblick über die lyrische Verwendung des Strommotivs im 18. Jahrhundert Richard M. Müller, Die deutsche Klassik. Wesen und Geschichte im Spiegel des Strommotivs, Bonn 1959, der den Strom als das Göttliche auf Erden, als Motiv mystischer Reflexion (13–22), als Ausdruck des Enthusiasmus vor allem bei Klopstock (23–47), als Genie-Strom bei Goethe (48–78) und als Strom der Sehnsucht bei Hölderlin (79–160) untersucht. Die Identifizierung von Strom und Genie erörtert auch Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Darmstadt 1985, I, 269–277. Siehe ferner Andreas Sieckmann, »›…nemlich zu Hauß ist der Geist / Nicht im Anfang, nicht an der Quell.‹ Deutsche Flußgedichte um 1800«, in: Claus Bussmann, Friedrich A. Uehlein (Hrsg.), Mythische Provokationen in Philosophie, Theologie, Kunst und Politik, Würzburg 1999, 1–43 [zu Goethes »Mahomets Gesang«, Stolbergs »Felsenstrom« und Hölderlins »Rhein«]; Markus Fischer, »Goethes Hymne Mahomets-Gesang im Kontext zeitgenössischer Flussgedichte«, in: Anton Schwob (Hrsg.), Brücken schlagen. Studien zur deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. FS George Guţu, München 2004, 129–145 [zu Goethes »Mahomets Gesang«, Karoline von Günderodes »Nil«, Stolbergs »Felsenstrom«, Hölderlins »Der gefesselte Strom«]. – Zur antiken Tradition vgl. Prudence J. Jones, Reading rivers in Roman literature and culture, Lanham 2005; Lukan (Marcus Annaeus Lucanus), den auch Hölderlin übersetzte, ist beispielsweise ein Autor, in dessen Werk Flüsse eine wichtige Rolle spielen, s. Christine Walde, »Eine poetische Hydrologie. Flüsse und Gewässer in Lucans Bellum Civile«, in: Jochen Althoff, Bernd Herzhoff, Georg Wöhrle (Hrsg.), Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, Trier 2007, XVII, 59–84.
Vgl. Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Frankfurt a.M. 1995, 223: »Faszinierend bei der Emphase ist der paradoxe Aspekt, daß dabei das Proprium, die eigentliche Bedeutung selbst, tropisch wird: Die eigentliche Bedeutung ersetzt die eigentliche Bedeutung. In diesem seltsamen Spiel mit dem Proprium entsteht die spezifische ›Bedeutsamkeit‹ des so gewendeten Ausdrucks: Die Emphase ist der ›Tropus der Eigentlichkeit‹.«.
Heidegger (Anm. 6), 10.
Bennholdt-Thomsen (Anm. 6), 190. Vgl. auch Schwarz (Anm. 6), die vom »Zug des ›wir‹ von Asien über Griechenland zum Oberlauf der Donau« (135) und »vom Zug der Dichter […] von Osten her« (139) spricht.
Nägele (Anm. 6), 106.
Differenzierter als Nägele, aber der Tendenz nach ähnlich beschreibt Christen (Anm. 1) die Bewegung von Ost nach West: »Das ›Wir‹ ist durch ein ›Singen‹ gekennzeichnet, welches räumlich als Herkunft exponiert wird, als Bewegung von zwei Strömen ›her‹, ›vom Indus‹ und ›vom Alpheus‹, wobei das Ende der Bewegung, ihr Ziel, nicht genannt wird. Sie ist aber gleichwohl eine Ankunft von weit her, vom Norden des indischen Subkontinents und dem Peloponnes« (203).
Die »Prüfung« (4) ging nicht »durch die Knie« (5), sondern »an die Brutfedern« (fol. 27v, 24). Sowohl das Brüten als auch die Vogelmetapher (für den Dichter) sind erkennbar. Friedrich Beißner, »Erläuterungen [›Der Ister‹]«, in: Hölderlin (Anm. 1), II, 812–816, hier: 812 f., sieht den Zusammenhang zwischen Brüten und Knien.
Jürgen Link, Hölderlin-Rousseau. Inventive Rückkehr, Opladen 1999 [zuerst Französisch 1995], 238. Seine kurze Deutung (237–241) führt das kulturbildende Bauen am Fluss auf Theorien Jean-Jacques Rousseaus zurück (bes.: 90); vgl. auch Honold (Anm. 6), 178.
Hans Joachim Kreutzer, »Kolonie und Vaterland in Hölderlins Lyrik«, Hölderlin-Jahrbuch 22 (1981), 18–47, hier: 41. Kreutzer nennt als Kronzeugen für den asiatischen Kulturimport Johann Gottfried Herder (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 3. Teil, 11. Buch [1787]); Jochen Schmidt, »[Kommentar zu ›Andenken‹]«, in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Gedichte, hrsg. Jochen Schmidt, Frankfurt a.M. 1992, 1023, weist auf den 2. Teil, 10. Buch, Kapitel VI (1785) hin, wo »Indien als Urheimat aller menschlichen Kultur und Religion« genannt ist; Eva Kocziszky, Hölderlins Orient, Würzburg 2009, 60, nennt weitere mögliche Quellen für Hölderlin: Christoph Meiners Grundriß der Geschichte der Menschheit (1786), Johann Friedrich Blumenbachs Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte (1798) und Joseph Görres’ Corruscationen (in: Aurora. Eine Zeitschrift aus dem südlichen Deutschland vom 13.6.1804).
Diese Theorie wurde erst 1821 unter Berufung auf Müller von Leo von Klenze ausgearbeitet und im Bildprogramm der »Walhalla« umgesetzt, vgl. Jörg Traeger, »Die Walhalla. Ein architektonischer Widerspruch und seine landschaftliche Aufhebung«, in: Ders. (Hrsg.), Die Walhalla. Idee, Architektur, Landschaft, Regensburg 1979, 19–40, und Wolfgang Frühwald, »Ästhetische Erziehung. Idee und Realisation der Kunstpolitik König Ludwigs I. von Bayern am Beispiel der ›Walhalla‹«, Hölderlin-Jahrbuch 22 (1981), 295–310, hier: 308.
Johannes Müller, Der Geschichten Schweizerischen Eidgenossenschaft erstes Buch, Leipzig 1786, 4 f.; vgl. Kreutzer (Anm. 16), 41. – Als die »Wiege des Menschen« bezeichnet den Kaukasus (die tatarischen Gebirge) in Friedrich David Gräters Bragur auch [Christian] H[einrich]. Delius, »Ueber die Menschenopfer der Teutschen«, Bragur. Ein literarisches Magazin der Teutschen und Nordischen Vorzeit 7.1 (1802), 25–59, hier: 27.
Müller (Anm. 18), 6.
Konrad Mannert, Geographie der Griechen und Roemer aus ihren Schriften dargestellt, Nürnberg 1804, II.I, 21.
Karl Dietrich Hüllmann, Historisch-etymologischer Versuch über den Keltisch-Germanischen Volksstamm, Berlin 1798, 12.
Friedrich Hölderlin, »Die Wanderung«, in: Hölderlin (Anm. 1), II, 138–141, hier: 138, Vers 25. Überlegungen zu Hölderlins Kenntnis prähistorischer Wanderungsbewegungen macht auch Link (Anm. 15), 241–244.
Alexander Honold, »Ströme, Züge, Richtungen. Wandern und Wanderungen bei Hölderlin«, in: Hartmut Böhme (Hrsg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart 2005, 433–455, hier: 446.
Ebd., 449.
Schmidt, »[Kommentar ›Der Ister‹]«, in: Hölderlin (Anm. 16), 1026. Vgl. auch die Erläuterung zu »Indus« von Beißner (Anm. 14), 813.
Honold (Anm. 23), 452. – Von zeitgenössischen Auswanderungsbewegungen nach Osten entlang der Donau konnte Hölderlin wissen. Die Donauschwaben verließen im 18. Jahrhundert Richtung Ungarn und Serbien (Vojvodina) ihre Heimat über die Donau, flussabwärts, zum Teil auf Flößen (Ulmer Schachteln), vgl. Márta Fata (Hrsg.), »Die Schiff’ steh’n schon bereit.« Ulm und die Auswanderung nach Ungarn im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2009. Wolf-Henning Petershagen, Kleine Geschichte der Ulmer Schachteln, Ulm 22010. Vgl. die Deutung zu »Die Wanderung« von Link (Anm. 15), 241–244.
Peter Szondi, »Über philologische Erkenntnis« [1962], in: Ders., Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1967, 9–34.
Friedrich Hölderlin, »Am Quell der Donau«, in: Hölderlin (Anm. 1), II, 126–129, hier: 127, Vers 36. Auch Nägele (Anm. 6), 106, weist auf die Parallele hin, um allerdings im ›Ister‹ nicht mehr von der Bewegung des kulturstiftenden Logos (»menschenbildende Stimme« [106]), sondern von der menschlichen Migrationsbewegung der Sänger zu sprechen. Allerdings handelt es sich innerhalb der lyrischen Rede nur um eine metonymische Verschiebung von der Stimme auf ihre Träger.
Friedrich Hölderlin, »Andenken«, in: Hölderlin (Anm. 1), II, 188 f., hier: 189, Vers 49.
Hans-Dieter Jünger, Mnemosyne und die Musen. Vom Sein des Erinnerns bei Hölderlin, Würzburg 1993, 308, vgl. auch 279.
Ebd., 313.
Jürgen Osterhammel, »Stratosphärische Phantasie. Räume, Karten und Sehepunkte zu Hölderlins Zeit«, Hölderlin-Jahrbuch 38 (2012/13), 9–34, hier: 26.
Die Verkürzung auf Griechenland lässt sich für den späten Hölderlin nicht mehr aufrechterhalten, vgl. Kreutzer (Anm. 16), 40. Vgl. auch zu dieser translatio culturae und dem Modell des Kulturstroms Schmidt, »[Kommentar zu ›Am Quell der Donau‹]«, in: Hölderlin (Anm. 16), 842–849, hier: 843–845; Kocziszky (Anm. 16), 53–63.
Bennholdt-Thomsen (Anm. 6), 193. Vgl. auch Nägele (Anm. 6), 108.
Procopan (Anm. 6), 129. Vgl. Nägele (Anm. 6), 106: »nicht nur sind wir von fernher gekommen, sondern als Angekommene bleibt die Ferne mit uns, sind wir immer auch noch Ferne«.
Procopan (Anm. 6), 129.
»Dich Mutter Asia! grüß ich […] tausendjahralt voll himmlischer Feuer […]. Nun aber ruhest du, und wartest, ob vielleicht dir aus lebendiger Brust ein Widerklang der Liebe dir begegne […] mit [der] Donau, wenn herab vom Haupte sie dem Orient entgegengeht, und die Welt sucht und gerne die Schiffe trägt, auf kräftiger Woge komm’ ich zu dir.« Zitiert nach Schmidt (Anm. 33), 843.
Friedrich Hölderlin, Brief an Casimir Ulrich Böhlendorff vom 4.12.1801, in: Hölderlin (Anm. 1), VI, Nr. 236, 425–428, hier: 425 f. »Wir lernen nichts schwerer als das Nationelle frei gebrauchen. Und wie ich glaube, ist gerade die Klarheit der Darstellung uns ursprünglich so natürlich wie den Griechen das Feuer vom Himmel. […] Es klingt paradox. […] [D]as eigentliche nationelle wird im Fortschritt der Bildung immer der geringere Vorzug werden. Deßwegen sind die Griechen des heiligen Pathos weniger Meister, weil es ihnen angeboren war, hingegen sind sie vorzüglich in Darstellungsgabe, von Homer an, weil dieser außerordentliche Mensch seelenvoll genug war, um die abendländische Junonische Nüchternheit für sein Apollonsreich zu erbeuten, und so wahrhaft das fremde sich anzueignen. // Bei uns ist es umgekehrt.«.
Hölderlin (Anm. 28), 127, Vers 36.
Vgl. Hölderlin (Anm. 22), 139 f., Vers 29–63.
Vgl. Schwarz (Anm. 6), 139, die ebenfalls einen Unterschied zu »Am Quell der Donau« erkennt. Der Fluss könne den »Zusammenhang der Kulturen« nicht mehr so sicher gewährleisten, er sei »nicht länger Träger des Austauschs mit dem Orient« (140).
Dieses Muster kennt man aus dem auf der Vorderseite der Handschrift stehenden Schluss von »Andenken« (vgl. Anm. 1). Auch hier ist das kontemplative Ich von einer Gruppe aktiver Männer getrennt, die »zu Indiern« gegangen sind. Das Ich bleibt zurück und verstummt mit dem Satz: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.« (Hölderlin [Anm. 29], 189, Vers 59).
Vgl. Bennholdt-Thomsen (Anm. 6), 188.
In einer frühen Fassung werden die Vögel metonymisch durch Brutfedern evoziert. Zuerst (fol. 27v) war die »Prüfung« (4) der wandernden Sänger »an die Brutfedern« (fol. 27v, 24) gegangen (vgl. Anm. 14). Die Parallelisierung von Vögeln und Dichtern liebt Hölderlin, vgl. Pierre Bertaux, »›frei, wie die Fittige des Himmels…‹«, Hölderlin-Jahrbuch 22 (1980/81), 69–97.
Christen (Anm. 1), 179, bezieht dagegen bereits das Ende der ersten Strophe auf den Satz.
Zu diesem, auf Theodor W. Adorno zurückgehenden Konzept vgl. Wolfgang G. Müller, Das lyrische Ich. Erscheinungsformen gattungseigentümlicher Autor-Subjektivität in der englischen Lyrik, Heidelberg 1979, 25– 27.
Mehr noch als für das Ich trifft für das lyrische Wir die rezeptionsästhetische Vorstellung zu, die lyrische Sprechinstanz sei eine Leerstelle, die durch den Leser besetzt werden müsse (zu solchen Modellen Müller [ebd., 21–23] und Matías Martínez, »Das lyrische Ich. Verteidigung eines umstrittenen Begriffs«, in: Heinrich Detering [Hrsg.], Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart 2002, 376–389, hier: 377). Zugleich handelt es sich aber auch um einen rhetorischen Versuch, textinterne Sprechinstanz und Leserrolle im Wir zu vereinen.
Schwarz (Anm. 6), 140, weist auf den veränderten Status des Wir gegenüber »Am Quell der Donau« hin, das sich dort trotz der anbahnenden Krise als »aktiv erinnernde Instanz« zeige. Procopan (Anm. 6), 175, bemerkt, dass in »Am Quell der Donau« das Ich zwar nicht »in der Existenz einer Gemeinschaft« aufgehe, kommt aber dennoch wie Schwarz zu dem Schluss eines aktiven Ich, das als Sprecher des Wir fungiert. In »Die Wanderung« stehe das Ich »im Dienste der Gemeinschaft, ohne dass es in dieser endgültig aufgeht« (177).
Zur Problematik der Parallelstellenmethode vgl. Anm. 27.
Margarete Susman, Das Wesen der modernen deutschen Lyrik, Stuttgart 1910, 16–18. Für die Frage nach dem realen Stellenwert des lyrischen Ich verweise ich auf Käte Hamburger, »Die Beschaffenheit des lyrischen Ich«, in: Dies., Die Logik der Dichtung, Stuttgart 31977, 217–232, bes.: 217.
Vgl. Christen (Anm. 1), 209.
Ebd., 179.
Heidegger (Anm. 6), 7, zitiert aus Hölderlins »Dichterberuf« die Stelle »als allerobernd vom Indus her / Der junge Bacchus kam«, wo tatsächlich »her« zu »kam« gehört. Im ›Ister‹ jedoch bezieht sich »her« auf »singen« (7). – Tatsächlich nahm Heidegger auf die Kriegsereignisse mehrfach Bezug. Nur einige Beispiele: Vom Raum ist die Rede, »um den Völkerkämpfe entbrennen« (56), das nationalsozialistische Konzept vom »›Lebensraum‹« wird erwähnt (59). Das »Heimischwerden des Menschen durch Wanderschaft und Ortschaft« wird dem »raumzeitlichen Ausgreifen der Weltbeherrschung und der in ihren Dienst genommenen Siedlungsbewegung« (60) entgegengestellt. Heidegger diskutiert den Kriegseintritt der USA (68), vergleicht »Bolschewismus« und »Amerikanismus« (86).
Bettine Menke, Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000, 137 f., die sich bezieht auf Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 31990, 412, §§ 827 f.
Ebd., § 828.
Zur Sermocinatio als Mimesis vgl. Ralf Simon, Die Bildlichkeit des lyrischen Textes. Studien zu Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Heine, Mörike, George und Rilke, München 2011, 51.
Vgl. Heinrich F. Plett, Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 2001, 86.
Die Polyphonie der Lyrik Hölderlins diskutiert Gunter Martens, »Hölderlins Poetik der Polyphonie. Ein Versuch, das Hymnenfragment ›Die Nymphe. / Mnemosyne.‹ aus den Handschriften zu deuten«, in: Valérie Lawitschka (Hrsg.), Hölderlin – Sprache und Raum. Turm-Vorträge. 1999–2007, Tübingen 2007, VI, 7–43.
Vgl. Procopan (Anm. 6), 178, die allerdings daraus nicht den Schluss zieht, dass es einen ontologischen Widerspruch zwischen Wir und Ich geben müsse.
Kreutzer (Anm. 16), 25.
Vgl. neben »Am Quell der Donau«, »Der gefesselte Strom [Ganymed]«, »Die Wanderung« und »Der Rhein« zum Beispiel die Gedichte von Friedrich Hölderlin, »Die Meinige«, in: Hölderlin (Anm. 1), I, 15–20, hier: 19, Verse 121–128 [der erhabene Strom, hier: Neckar]; »An die Nachtigall«, in: ebd., 22, Verse 6–8 [das strömende Lied]; »An meinen B.«, in: ebd., 23, Vers 2 [die Erms als Landschaftsdetail]; »Die Unsterblichkeit der Seele«, in: ebd., 31–35, hier: 35, Verse 95 f. [der Zusammenfluss als Vergleich]; »Die Bücher der Zeiten«, in: ebd., 69–74, hier: 73, Vers 129 [Personifikation des Stroms]; »An die Vollendung«, in: ebd., 75 f., hier: 70, Vers 8 [strömen]; »An die Ehre«, in: ebd., 94, Vers 3 [Waldstrom als locus amoenus]; »Einst und jezt«, in: ebd., 95, Vers 3 [Bächlein]; »Lied der Liebe«, in: ebd., 110 f., hier: 111, Verse 31 f. [Strom ins Meer]; »An die Stille«, in: ebd., 114 f., hier: 114, Verse 13 f. [Strom ins Meer]; »Hymne an die Göttin der Harmonie«, in: ebd., 130–134 [durchgehende Wassermetaphorik]; »Kanton Schweiz«, in: ebd., 143–145, hier: 143, Vers 18 [Rheinfall]; »Hymne an die Schönheit [2. Fassung]«, in: ebd., 152–156, hier: 154, Verse 58–60 [Quellfluss]; »Hymne an die Liebe«, in: ebd., 166 f., hier: 166, Verse 23 f. [Strom ins Meer]; »An die Natur«, in: ebd., 191–193, hier: 191, Vers 26 [Stromgesang], hier: 192, Verse 33–40 [Strom ins Meer]; »Der Wanderer«, in: ebd., 206–208, hier: 207, Verse 37 f. [Rheinstrom als Mittellage zwischen Eis und Feuer]; »An die klugen Rathgeber«, in: ebd., 223 f., hier: 223, Verse 5 f. [Streben als Strom ins Meer]; »Der Jüngling an die klugen Rathgeber«, in: ebd., 225 f., hier: 225, Verse 5–8 [Streben als Strom ins Meer], Verse 20–24 [Strom der Zeit]; »Einladung an Neuffer«, in: ebd., 232, Verse 19 f. [Neckar]; »Stimme des Volks«, in: ebd., 245, Verse 4–8 [Strom ins Meer]; »Die Heimath«, in: ebd., 251, Vers 1 [der stille Strom]; »An unsre großen Dichter«, in: ebd., 261, Verse 1 f. [Ganges und Indus], vgl. »Dichterberuf«, in: ebd., II, 46 f., Verse 1 f.; »Der Main«, in: ebd., I, 303 f. [Strom ins Meer]; »Gesang des Deutschen«, in: ebd., II, 3–5, hier: 3, Vers 17 [das Ich an den Strömen], Vers 21 [Strom als Kulturstifter]; »Der Frieden«, in: ebd., 6–8, Verse 1–8 [Stromflut als Krieg]; »Wie wenn am Feiertage«, in: ebd., 118–120, Vers 5 [Strom im Gestade]; »Heidelberg«, in: ebd., 14 f., hier: 14, Verse 13–20 [Strom ins Meer der Zeit]; »Der Neckar«, in: ebd., 17 f. [Strom ins Meer], vgl. I, 303 f.; »Die Heimath«, in: ebd., II, 19, Vers 1 [der stille Strom], vgl. I, 251; »Die Liebe«, in: ebd., II, 20 f., hier: 20, Vers 13 [Teil des Naturbildes]; »Der Abschied [2. Fassung]«, in: ebd., 26 f., hier: 27, Vers 36 [Bach]; »Rückkehr in die Heimath«, in: ebd., 29, Vers 2 [Anrede an den geliebten Strom, metonymisch]; »Der Archipelagus«, in: ebd., 103–112, hier: 104, Verse 47–53 [Ströme ins Meer]; »Menons Klagen um Diotima«, in: ebd., 75–79, hier: 77, Verse 78–80 [Wasserzyklus: Himmel und Strom]; »Stutgard«, in: ebd., 86–89, hier: 88, Verse 59–62 [Ströme als Quellen, Jünglinge und Kulturstifter, Neckar]; »Brod und Wein«, in: ebd., 90–95, hier: 91, Vers 34 [Wortstrom]; »Heimkunft«, in: ebd., 96–99, hier: 98, Verse 63 und 69 [Hydronyme Rhein und Neckar]; »Unter den Alpen gesungen«, in: ebd., 44 f., hier: 44, Verse 18 f. [Zeitmetapher]; »Der blinde Sänger«, in: ebd., 54 f., hier: 55, Verse 33–52 [Lied als Quelle, die dem Strome folgt]; »Andenken«, in: ebd., 188 f., hier: 188 und 189, Verse 6 und 55 [Garonne].
Das Verfahren erinnert an die enzyklopädische Gattung der Flussantiquarien, worauf hier nur verwiesen werden kann. Im 18. Jahrhundert, aber auch schon im 17. Jahrhundert erschienen sogenannte Flussantiquarien, die Landschaften und Orte eines Flusses von der Quelle bis zur Mündung antiquarisch, d. h. geschichtlich erkunden. Die Gattung der Flussantiquarien versammelt das gesamte hydrologische, mythologische, demografische, ökonomische, geografische und historisch-literarische Wissen über einen Fluss. Sigmund von Birken gab 1683 den Donau-Strand heraus, 1785 erschien ein Antiquarius des Donau-Stroms oder Ausführliche Beschreibung dieses berühmten Stroms, von seinem Ursprung und Fortlauf […] nebst allen daran liegenden Festungen, Städten, Marktflecken, Dörfern, Klöstern und hineinfallenden Flüssen bis ins verflossene [!] 1784. Jahr. Ob Hölderlin die Antiquarien zur Donau oder die berühmteren zum Rhein gekannt hat, weiß man nicht. Zumindest erinnert diese literarische Gattung daran, dass Flüsse im 18. Jahrhundert durchaus als ordnungsstiftendes und Wissen organisierendes Prinzip bekannt waren. Noch heute erfreuen sich Flussbiografien großer Beliebtheit auf dem Buchmarkt: Claudio Magris’ Donaubuch ist vielleicht die bekannteste unter ihnen. Claudio Magris, Donau. Biographie eines Flusses, München 1988.
»Einem Wildbach gleich, der vom Gebirg herabströmt, wenn ihn Regenfälle / über die vertrauten Ufer schwellen lassen: / so rauscht Pindar einher und bricht in unermesslicher Fülle / aus dem tiefen Quellmund hervor;« (Horaz, »Carminum IV.2«, in: Horaz, Oden und Epoden, Lateinisch und deutsch, nach der Übersetzung von Will Richter überarbeitet und mit Anmerkungen versehen von Friedemann Weitz, Darmstadt 2010, 214–219, hier: 215, Verse 5–8).
Eine ähnliche Verwendung der Metapher findet sich bei Homer – mit einem wichtigen Unterschied. Homer beschreibt nicht die Rede, sondern die Handlungen eines Kriegers durch die Strommetapher. Im fünften Gesang der Ilias wird Diomedes in der Schlacht mit einem Strom verglichen (Gesang V, Vers 85, vgl. Müller [Anm. 8], 15 f.), der alles mit sich reißt, was sich ihm entgegenstellt.
Honold (Anm. 6), 180.
Die Donauversickerung zwischen Immendingen und Möhringen sowie bei Fridingen verbindet Donau und Rhein, da das versickerte Wasser im Aachtopf wieder an die Oberfläche kommt und von dort dem Rhein zufließt. Dass Hölderlin dieses Phänomen im Gedicht reflektiert (vgl. Honold [Anm. 6], 188), sehe ich nicht. Der Satz, »Umsonst nicht gehn / im Troknen die Ströme« (49 f.), bezieht sich darauf, dass die Flüsse als himmlischer Niederschlag erst sichtbar im Irdischen sind. Das Trockene ist die Erde.
»Aber euch, ihr Herren Deutschen, würde selbst zu Fabeln diese Donau hier wenig Stof geben; sie ist noch ein Kind. – Aber ein schönes, hofnungsvolles, mächtiges Kind, sagte Sophron; spotte des Riesenknaben in der Wiege nicht!« (Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Die Insel, Leipzig 1788, 19).
Friedrich Hölderlin, »Der Rhein«, in: Hölderlin (Anm. 1), II, 142–148, hier: 142 f., 16–45.
Gegen seinen Willen wurde er nach Westen und Norden geleitet, anstatt seinem Willen gemäß nach Osten zu fließen wie die Donau: »Nach Asia trieb die königliche Seele«. Ebd., Vers 37.
Ebd., 142 (Widmung), 143, Vers 31 (der Rhein als Halbgott), 146, Verse 135–149 (Rousseau als Halbgott). Zu Hölderlins Konzept des Halbgottes, auch mit Blick auf Rousseau vgl. Link (Anm. 15), 121–154.
Vgl. dagegen Procopan (Anm. 6), 178, die zwischen Ich und Ister eine »Analogie« aufgrund von »Selbstaussagen mit erhöhter Unsicherheit« sieht. Dem kann ich nicht folgen. Vgl. auch Anm. 78.
In Goethes Gedicht gibt der Strom »[…] Ländern Namen, Städte / Werden unter seinem Fuß!« (Johann Wolfgang Goethe, »Mahomets Gesang«, in: [Johann Wolfgang] Goethe, Berliner Ausgabe, Berlin [DDR] 1965, I, 310–312, hier: 311, Verse 54 f.). Das Gedicht erschien zuerst 1773 als dialogischer »Gesang« im Göttinger Musen-Almanach auf das Jahr 1774, 49–53, hier: 52, wo statt von Ländern von Provinzen die Rede ist. Vgl. auch Fischer (Anm. 8), 135, der an dieser Stelle, der Mitte, den Übergang von Natur zur Kultur im Gedicht festmacht und damit eine Ablösung der »metaphorischen Prädikationen«. – Hölderlin hatte in der »Rhein«-Hymne den Gedanken formuliert, dass »Vater Rhein« das Land baue und »liebe Kinder nährt / In Städten, die er gründet.« (Hölderlin [Anm. 68], 144, Verse 88 f.), ohne ihn freilich durch eine zweite Sprechinstanz wie im ›Ister‹ zu relativieren. Hölderlins Theorie des kultur- und poesiestiftenden Flusses führt zu Rousseau zurück, vgl. Link (Anm. 15), 89–91.
Im berühmten Brief an Johann Gottfried Herder vom 10. Juli 1772 bezieht er sich auf die in Anm. 63 zitierte Horaz-Stelle. Er fühle sich einem Strom gleich: »Ich wohne ietzt im Pindar, und wenn die Herrlichkeit des Pallasts glücklich machte, müsst ich’s seyn. Wenn er die Pfeile ein übern andern nach dem Wolckenziel schiest steh ich freylich noch da und gaffe; Doch fühl ich indess, was Horaz aussprechen konnte, was Quintilian [Institutio Oratoria X,61, A.N.] rühmt, und was tätiges an mir ist lebt auf da ich Adel fühle und Zweck kenne.« (Johann Wolfgang Goethe, Brief an Johann Gottfried Herder vom 10.7.1772, in: J. W. Goethe, Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. Georg Kurscheidt, Norbert Oellers, Elke Richter, Berlin 2008, I, 230–233, hier: 230).
Im Juli 1775 steht er vor dem Grab Erwins von Steinbach »wie vor dem schaumstürmenden Sturze des gewaltigen Rheins« ([Johann Wolfgang Goethe], »Aus Goethes Brieftasche«, in: Goethe [Anm. 72], XIX, 65–72, hier: 71).
Zahlreiche Belegstellen bei Müller (Anm. 8), 23–29.
Ein einziges Mal allerdings identifiziert Klopstock Person und Strom. Das geschieht nicht zufällig im christlichen Heldenepos Messias in einer allegorischen Passage, die die Wirkung von Jesus Christus’ Auferstehung auf die Menschen, die in ihrer Erlösung besteht, demonstriert: »Fleuß, fleuß, ewiger Quell, zerreiß den Felsen und ströme, / Siehe, Du ruhst noch in Nacht, brich durch den Felsen und ströme, / Ewiger Quell des ewigen Lebens, und labe die Seelen / Aller Durstenden, Aller, die, gleich dem brennenden Rehe, / Schreien nach Dir! O Strom, der in die bessere Welt strömt, / […] Zerreiß den Felsen und ströme, / Ewiger Quell der ewigen Leben! Zu großen Wassern / Wirst Du werden, o Quell, zu Gottes Ocean, ströme!« (Friedrich Gottlieb Klopstock, Der Messias, Halle 1769, III, [13. Gesang], 125 f.). Vgl. Müller (Anm. 8), 47, der auf diese Stelle hinweist und urteilt: »Substantielle Göttlichkeit auf Erden, wie sie der Sturm und Drang wieder für jeden großen Menschen in Anspruch zu nehmen wagt, gibt es für ihn [Klopstock, A.N.] nur in dem einzigen Christus der Offenbarung.«.
Ein anderes Beispiel stammt aus der Tradition der Donaudichtung und ebenfalls aus dem Sturm und Drang. In Friedrich Leopold Graf zu Stolbergs »Die Schönheit« werden der Flug der Lerche dem Sonnenaufgang entgegen, das Strömen der Donau nach Osten und die Rede des Ich überblendet. »Wie freudig die Lerche / Schwebet entgegen / Dem röthlichen Morgen; / So schwebet im melodischen Fluge des Gesangs, / Lieblichste Tochter der Natur, / Schönheit, meine dürstende Seele dir nach. // […] Schweig indessen, Gesang, / Bis du einst der Göttin, / Wie die Donau der Sonne, / Von ihrem Glanze golden und roth, / Freudig und donnernd entgegenströmt!« (F[riedrich]. L[eopold]. Gr[af]. z[u]. Stolberg, »Die Schönheit«, Musenalmanach für 1777 [hrsg. Johann Heinrich Voß, Hamburg 1776], 55–57, hier: 57). – Stolbergs Idee, dass der Gesang des lyrischen Ich wie »die Donau der Sonne« (ebd., vgl. auch Stolberg [Anm. 67], 20: »Welcher Fluß rollet, wie dieser, seine Wasser der aufgehenden Sonne entgegen?«) entgegenströmt, hatte bei Hölderlin zunächst einen affirmativen Nachhall gefunden. So ist die Identifikation des dichterischen Strebens mit dem Lauf der Donau für »Die Wanderung« charakteristisch.
Dagegen Procopan (Anm. 6), 178, vgl. Anm. 71.
Vgl. August Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen 21968, 319–333. Zu ihrer poetologischen Bestimmung um 1800 s. Bernhard Judex, »Aspekte einer Poetologie des Wassers. Flüssiges bei Novalis und Hölderlin, Bachmann und Celan«, in: Axel Goodbody, Berbeli Wanning (Hrsg.), Wasser – Kultur – Ökologie. Beiträge zum Wandel im Umgang mit dem Wasser und zu seiner literarischen Imagination, Göttingen 2008, 195–215. Vgl. aus metaphorologischer Sicht Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge. Über Metaphern. Aus dem Nachlaß des berühmten Philosophen, Berlin 2012.
Eine Wendung wie ›die Seele ergießt sich im All‹ wäre ein typisches Beispiel für pietistischen Sprachgebrauch. – Eine wichtige Impulsgeberin war die französische Schriftstellerin Jeanne Guyon. Ihre quietistisch-mystischen Introspektionen wurden ins Deutsche übersetzt und waren in der theologisch geprägten deutschen Aufklärungsliteratur ein Bestseller – vor allem die Schrift Geistliche Ströme von 1704, deutsch 1728, deren vollständiger Titel lautet: Der Madame Guion Geistliche Ströme. Darinne unter dem Sinnbild eines Stroms vorgestellet wird, Wie Gott die Seelen, welche alhier zu einem neuen und gantz Göttlichen Leben gelangen sollen, läutere und auf das nächste zubereite durch den Weg des leidenden Gebets im Glauben. Die Seele, die ihren Weg zu Gott sucht, wird mit einem Strom verglichen.
Goethe (Anm. 72), 310 f., Verse 8–12 und 35–39. Zur Deutung Sieckmann (Anm. 8), 6–21; Fischer (Anm. 8), hier: 129–137, der auf den Widerspruch hinweist, dass Goethe im Gedicht am Beispiel des schöpferischen Menschen einen geschichtlich linearen Lebenslauf am Modell der zyklischen Natur gestalte (137).
Goethe teilt die neue Ansicht des meteorologischen Wasserkreislaufes ebenso im Gedicht »Gesang der Geister über den Wassern« [1779/1789]. Der Regen füllt die Wasserspeicher der Erde, das irdische Wasser verdunstet und wird in den Wolken wieder zu Regen. Das sinnbildliche Gedicht vergleicht den Lauf des Wassers mit dem der Seele: »Des Menschen Seele / Gleicht dem Wasser: / Vom Himmel kommt es, / Zum Himmel steigt es, / Und wieder nieder / Zur Erde muß es, / Ewig wechselnd.« (Johann Wolfgang Goethe, »Gesang der Geister über den Wassern«, in: Goethe [Anm. 72], 312 f., hier: 312, Verse 1–7).
Das Wasser wandere durch ein unterirdisches Kanalsystem von den Ozeanen zurück zu den Quellen. Zum Teil müsse das Wasser durch Gase im Erdinnern hochgepumpt werden, bevor es aus dem Gebirgsfelsen wieder austreten könne. Der Regen spiele nur eine marginale Rolle, vgl. Anke Bennholdt-Thomsen, Alfredo Guzzoni, »Regen und Quellen«, in: Dies., Marginalien zu Hölderlins Werk, Würzburg 2010, 211–239, hier: 218.
Ebd., 231.
Stolberg unterscheidet sich mit »Der Felsenstrom« (zuerst 1775) von Goethe dadurch, dass er den Akzent allein auf die prometheische Kraft des Stroms legt und seine Auflösung mit dem großen Ganzen ausdrücklich vermeiden will: »O eile nicht so / Zum grünlichen See! / Jüngling, noch bist du stark, wie ein / Gott! / Frei, wie ein Gott!« (Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg, »Der Felsenstrom«, in: Christian zu Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg, Gedichte, hrsg. Heinrich Christian Boie, Leipzig 1779, 124–127, hier: 126 und 127). Die poetologische Dimension ist offensichtlich. In »An Homer« vergleicht Stolberg dessen Gesang wie einst Horaz die Rede Pindars mit einem Strom (ebd., 140–142, hier: 140, vgl. Erik Schilling, Liminale Lyrik. Freirhythmische Hymnen von Klopstock bis zur Gegenwart, Stuttgart 2018, 102). Zum »Felsenstrom« s. auch Fischer (Anm. 8), 140–143, und Sieckmann (Anm. 8), 21–28.
In der postum veröffentlichten Elegie von 1795 »An die Natur« heißt es beispielsweise: »Oft verlor ich da mit trunknen Thränen / Liebend, wie nach langer Irre sich / In den Ozean die Ströme sehnen, / Schöne Welt! in deiner Fülle mich; / Ach! da stürzt’ ich mit den Wesen allen / Freudig aus der Einsamkeit der Zeit, / Wie ein Pilger in des Vaters Hallen, / In die Arme der Unendlichkeit. –« (Friedrich Hölderlin, »An die Natur«, in: Hölderlin [Anm. 1], I, 191–193, hier: 192, Verse 33–40. Vgl. Müller [Anm. 8], 83). – Am deutlichsten wird der Grundzug der Selbstaufgabe, der u. a. in der Ode »Heidelberg« (1801) und im Hyperion-Fragment Hyperions Jugend auftaucht, in der alkäischen Ode »Der gefesselte Strom«: »Was schläfst und träumst du, Jüngling, gehüllt in dich, / Und säumst am kalten Ufer, Geduldiger, / Und achtest nicht des Ursprungs, du, des / Oceans Sohn, des Titanenfreundes! // […] // Der Frühling komt; es dämmert das neue Grün; / Er aber wandelt hin zu Unsterblichen; / Denn nirgend darf er bleiben, als wo / Ihn in die Arme der Vater aufnimmt.« (Friedrich Hölderlin, »Der gefesselte Strom«, in: Hölderlin [Anm. 1], II, 67, Verse 1–4 und 21–24). Vgl. Müller (Anm. 8), 108–115; Fischer (Anm. 8), 139 f. – Vgl. auch Friedrich Hölderlin, »Heidelberg«, in: Hölderlin (Anm. 1), II, 14 f., Verse 13–16: »Und der Jüngling, der Strom, fort in die Ebne zog, / Traurigfroh, wie das Herz, wenn es, sich selbst zu schön, / Liebend unterzugehen, / In die Fluthen der Zeit sich wirft«, und Friedrich Hölderlin, Hyperions Jugend, in: Hölderlin (Anm. 1), III, 199–234, hier: 206: »Verdamme nicht, wenn in dem Sinnenlande das niebefriedigte Gemüth von einem zum andern eilt! es hoft unendliches zu finden: durch die Dornen irrt der Bach; er sucht den Vater Ozean. Wenn sein vergessen, des Menschen Geist über seine Gränze sich verliert, ins Labyrinth des Unerkennbaren, und vermessen seiner Endlichkeit sich überhebt, verdamme nicht! Er dürstet nach Vollendung. Es rollten nicht über ihr Gestade die regellosen Ströme, würden sie nicht von den Fluthen des Himmels geschwellt.« Zu beiden Stellen vgl. Müller (Anm. 8), 95–100, respektive 85. – »Der gefesselte Strom« erschien 1801 und wurde 1804 erneut publiziert – nunmehr jedoch unter dem bezeichnenden Titel »Ganymed« (Friedrich Hölderlin, »Ganymed«, in: Hölderlin [Anm. 1], II, 68, vgl. Jochen Schmidt, Hölderlins später Widerruf in den Oden »Chiron«, »Blödigkeit« und »Ganymed«, Tübingen 1978, 146–176). »Stimme des Volks« dagegen betont stärker das Eigenrecht des Irdischen und plädiert dafür, die Vereinigung mit dem All zu hemmen (Müller [Anm. 8], 105).
Vgl. Honold (Anm. 6), 189 f.
Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1936, XI.2, Sp. 1155.
Vgl. Schwarz (Anm. 6), 135.
Honold (Anm. 6), 189, weist darauf hin, dass anders als im »Archipelagus« das Modell des Wasserkreislaufes hier nur in »Spurenelementen« enthalten sei. – Zum Wasserkreislauf in »Archipelagus« und »Heimkunft« vgl. auch Chenxi Tang, »Wetterdienst und Poesie. Zum Verhältnis von meteorologischem Wissen und politischer Ordnung im neuzeitlichen Staat und bei Friedrich Hölderlin«, in: Georg Braungart, Urs Büttner (Hrsg.), Wind und Wetter. Kultur – Wissen – Ästhetik, Paderborn 2018, 245–260, hier: 256.
Heidegger (Anm. 6), 17–19, hat sinnbildliche Dichtung und metaphysische Hermeneutik kritisiert und für Hölderlins Hymnen als unangemessene Kategorien bezeichnet. Hölderlins Dichtung sei »nicht sinnbildlich metaphysisch« (20). Wenn Heidegger anschließend den Strom als Aufenthalt des Menschen (23–31) sowie als Ortschaft und Wanderschaft (39–55) versteht, fragt sich, ob er nicht doch wieder sinnbildlich vorgeht. – Vgl. auch Nägele (Anm. 6), 109 und 111 f., der Heideggers Hinweis aufgreift, um Hölderlins »Logik der poetischen Vernunft« (111) zu demonstrieren.
Nägele (Anm. 6), 113.
Ebd., 114. Hölderlins Auseinandersetzung im ›Ister‹-Gedicht mit Pindar hat Felix Christen kenntnisreich und genau nachgezeichnet (Christen [Anm. 1], 222–231).
Die Frage, ob hierauf die Strophe endet oder ob wegen des syntaktischen Anschlusses von Hölderlins Schlüsselgedanken, der Ister komme von Osten, nicht doch noch die Strophe fortgesetzt werde, ist nicht eindeutig zu beantworten. Hölderlin hat in der Reinschrift (fol. 28r), wo es keine Leerzeile gibt, den Gedanken aber mit einer linken Klammer am Rande markiert, so, als habe er erst nach der Niederschrift bemerkt, dass er die Abtrennung vergessen hat, vgl. Friedrich Beißner, »Lesarten [›Der Ister‹]«, in: Hölderlin (Anm. 1), 808–812, hier: 810. Da die Narration endet und das Folgende im Modus einer Meditation steht, schließe ich mich Beißners Vorschlag an, die zweite Strophe nach Vers 40 enden zu lassen. Die weitere Strophenteilung ist begründet in einer von Hölderlin gelassenen Lücke (fol. 28v).
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Nebrig, A. Der Standort des lyrischen Wir. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 94, 319–346 (2020). https://doi.org/10.1007/s41245-020-00113-3
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