Friedrich Hölderlin hinterließ ein teilweise auf der Rückseite der letzten Verse von »Andenken« (1803, Erstdruck 1808) niedergeschriebenes, Fragment gebliebenes Flussgedicht, das sein erster Herausgeber Norbert von Hellingrath 1916 unter dem Titel ›Der Ister‹ publizierte.Footnote 1 Die Titelwahl der Donaudichtung erfolgte analog zu Hölderlins Flussgedichten »Der Nekar« (1800, zuerst »Der Main«)Footnote 2 und »Der Rhein« (1808, entstanden 1801)Footnote 3 sowie mit Blick auf die beiden anderen Donaudichtungen Hölderlins: »Am Quell der Donau«Footnote 4 und »Die Wanderung« (1807).Footnote 5 Die Bezeichnung »Ister« (21) verwendet Hölderlin weniger für den gewaltigen Unterlauf der Donau, der ab dem Eisernen Tor Rumänien zunächst von Serbien, dann bald von Bulgarien trennt, schon gar nicht für den Mittellauf, sondern vielmehr für den kleinen, unscheinbaren schwäbischen Oberlauf.

›Der Ister‹ besteht aus drei Strophen zu zwanzig und einer letzten Strophe zu zwölf Versen, deren Ordnung sich aus den Reinschriften des Autors ergibt. Die Strophen zwei bis vier haben die Donau zum Gegenstand, die in ihrem schwäbischen Quellgebiet vom lyrischen Ich beobachtet, beschrieben, mythologisiert und mit dem Rhein verglichen wird. Trotz mancher semantischen Schwierigkeiten im Detail und des fehlenden Schlusses sind diese drei Strophen auf Makroebene wegen ihrer einheitlichen, nur modal variierenden Sprecherperspektive zugänglich.Footnote 6 Fundamentale Schwierigkeiten für das Verständnis bereitet dagegen die Exposition der ersten Strophe, genauer der Übergang von dieser zu den drei folgenden Strophen. Denn mit dem Übergang verbunden ist ein Wechsel der Sprechinstanz vom lyrischen Wir zum lyrischen Ich. In der Forschung wird dieser Wechsel meist nicht als kategoriale Veränderung des lyrischen Subjekts angesehen. Grund dafür ist die Annahme, beide Instanzen befänden sich am selben Ort, dem Ister. Das lyrische Ich sei »zunächst umgeben von einem gemeinschaftlichen ›Wir‹, dessen Tatkraft, Entschlossenheit und Begeisterung verwandt ist mit der des Herakles und des Rheins« und begebe sich dann »aus der Verborgenheit des anonymen ›Wir‹«.Footnote 7

Gegen die Ansicht einer Gemeinschaft des Ich mit dem Wir möchte ich die rhetorisch keineswegs unwahrscheinliche Möglichkeit in Betracht ziehen, dass das Sprecherkollektiv eine Erfindung des lyrischen Ich und damit Teil einer monologischen Rede ist. Folgt man dieser Hypothese, besteht eine ontologische Differenz zwischen dem lyrischen Subjekt der Exposition und demjenigen des Hauptteils. Ergebnis ist eine kontrastive Spannung zwischen den lyrischen Sprechern. Diese Relativierung der Autorität des lyrischen Ich besitzt Folgen für den Gegenstand des Gedichtes – den Fluss. Die kontrastive Exposition des lyrischen Wir bestimmt nicht nur negativ den Charakter des lyrischen Ich, sondern auch dessen dichterische Behandlung des Flusses und den Umgang mit der Tradition der Flussdichtung, die noch lange nach dem Sturm und Drang fest im Griff der Genieästhetik war.Footnote 8 Anstatt sie einmal mehr zu affirmieren, distanziert sich das lyrische Ich von ihr, indem es ihre Elemente analysiert. Begeistertes Sprechen, Kulturschöpfung, Pindar, die Metaphern des Fließens und des Wasserkreislaufes und mit ihnen verbundene Themen wie ethisches Streben, Vereinigung des Partikulären mit seinem Ganzen sowie das Verhältnis zum Göttlichen – alle diese Elemente werden nicht in ein stimmiges Bild überführt, sondern jedes für sich der Reihe nach behandelt.

I.

Bevor sich in der zweiten Strophe das lyrische Ich dem Ister zuwendet – »Man nennet aber diesen den Ister. […] So wundert mich nicht« (21 und 26) – und jene von Pindar in der dritten Olympischen Ode überlieferte Mythe nacherzählt, wonach sich Herkules ins Quellgebiet der Donau begeben habe, redet in der ersten, reinschriftlich überlieferten Strophe ein lyrisches Wir:

»Jezt komme, Feuer!

Begierig sind wir

Zu schauen den Tag,

Und wenn die Prüfung

Ist durch die Knie gegangen,

Mag einer spüren das Waldgeschrei.

Wir singen aber vom Indus her

Fernangekommen und

Vom Alpheus, lange haben

Das Schikliche wir gesucht,

Nicht ohne Schwingen mag

Zum Nächsten einer greifen

Geradezu

Und kommen auf die andere Seite.

Hier aber wollen wir bauen.

Denn Ströme machen urbar

Das Land. Wenn nemlich Kräuter wachsen

Und an denselben gehn

Im Sommer zu trinken die Thiere,

So gehn auch Menschen daran.« (1–20)

Einerseits ist die Rede dieser Gruppe emphatisch. Es ist nicht irgendein »Tag« (3) gemeint, sondern ein außergewöhnlicher. Die Emphase unterscheidet sich von allen anderen Tropen dadurch, dass das eigentlich Gemeinte, das Proprium, nicht ersetzt ist, sondern in seiner EigentlichkeitFootnote 9 erhalten bleibt, aber anders als in der Ironie nicht negiert, sondern affirmiert wird. Figürlich wird die Emphase verstärkt durch den affektiven Imperativ: »Jezt, komme Feuer!« (1):

»Jezt komme, Feuer!

Begierig sind wir

Zu schauen den Tag,« (1–3)

Andererseits ist die Rede von kausalen Sätzen durchflochten, die auf rationale Nüchternheit hinweisen. Auch besitzt der Plural eine objektivierende Funktion, weil durch ihn nicht eine subjektive Absicht, sondern eine gemeinschaftliche bekundet wird:

»Hier aber wollen wir bauen.

Denn Ströme machen urbar

Das Land.« (15–17)

Oder es gibt Sätze, die eine reflektierende Distanz und eine Metaebene schaffen. So singen die Protagonisten nicht nur, sondern reden auch über ihr Singen:

»Wir singen aber vom Indus her

Fernangekommen und

Vom Alpheus,« (7–9)

Über das Verständnis dieser drei Verse bestehen zwei gegensätzliche Auffassungen. Sind die Sänger von Indus und Alpheus an die Donau fernangekommen oder sind sie Fernangekommene an Indus und Alpheus? Je nach Antwort sind lyrisches Wir und lyrisches Ich, das ab der zweiten Strophe am Ister spricht, am selben Ort oder aber getrennt. Martin Heidegger hat 1942 die erste Lesart vorgeschlagen: »An einem Strom werden die von Strömen Fernangekommenen bauen.«Footnote 10 Tatsächlich kann man die Verse so lesen, dass es sich bei den lyrischen Sprechern um Sänger handelt, die vom fernen Indus und Alpheus hergekommen sind, um an einem neuen Strom zu bauen. Jene Ortsbestimmung »Hier« (15) bezöge sich dann auf den Standort des lyrischen Ich an der schwäbischen Donau, den Ort des lyrischen Geschehens ab der zweiten Strophe. Heideggers Ansicht teilt beispielsweise Anke Bennholdt-Thomsen: »Diese Entfernung«, gemeint ist die zwischen Indus und dem Donauquellgebiet, »wird überbrückt durch den Gesang der wandernden Dichter (7 f.) – auf der Suche nach einem Ort, an dem es möglich sein würde zu bauen (15). An der Donau haben sie ihn gefunden, für Menschen und Tiere geeignet.«Footnote 11 Für Rainer Nägele sind »wir, die Singenden, von dorther«,Footnote 12 d. h. vom Indus und Alpheus, »fernangekommen« (8).Footnote 13 Anschaulich hat Jürgen Link die Wanderung ausgemalt. Er bezieht in seine Argumentation die Vorstufe mit ein, wonach die Prüfung der Wanderer nicht »durch die Knie« (5), sondern »an die Brutfedern« (fol. 27v, 24) gegangen ist.Footnote 14 Die Knieprüfung deute auf die körperliche Strapaze der Wanderschaft von Ost nach West hin. Seine zweite Deutung versteht das Knie als Flussknie. Er meint, dass die Wanderer aus Indien (Indus) und Griechenland (Alpheus) die Donau aufwärts gekommen seien und Strapazen zu bewältigen hatten wie das Donauknie. Aufgrund des Plurals muss er allerdings von ›Knien‹ in der Donau sprechen, durch die das Schiff der Auswanderer gekommen sei. Auf das Schiff stößt er metonymisch, indem er den Kiel mit der Brust des Vogels vergleicht, die im Flug eine Bahn durch die Luft schneide:

»Da die ›Brutfedern‹ Brustfedern sind, die bei einem langen Flug wie der Kiel eines Schiffes die Luft durchschnitten hätten, könnte sich die Änderung einfach durch einen Isotopiewechsel von Vögeln zu Menschen erklären. Es würde sich bei der ›durch die Knie gegangenen Prüfung‹ um die Mühen früher Einwanderer bei ihrem Weg donauaufwärts nach Deutschland handeln. Konkret gäbe es mindestens die folgenden zwei Versionen: Entweder ein langer Fußmarsch oder aber – in gewisser Hinsicht noch plausibler – eine Bootsfahrt gegen den Strom durch die gefährlichen ›Knie‹ (scharfen Biegungen) der Donau.«Footnote 15

Hans Joachim Kreutzer hat an historische Diskurse erinnert,Footnote 16 die die ost-westliche Wanderungsbewegung und damit die These Heideggers, die Sänger kämen vom Indus und Alpheus ins Quellgebiet der Donau, plausibilisieren. Der Historiker Johannes von Müller, dessen Schriften Hölderlin hätte kennen können, hatte als Vertreter der sogenannten KaukasustheorieFootnote 17 1786 behauptet, die Menschheit habe sich vom Kaukasus aus in alle Himmelsrichtungen verbreitet und irgendwann den unbevölkerten Alpenraum betreten. Von den »hohen Ebenen des tatarischen Gebürges«, so Müller in Der Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft erstes Buch, »leitete sie der Gihon, der Indus, der Ganges und der Hoangho in die schönen Felder an den asiatischen Meeren hinab.«Footnote 18 Schließlich seien die Gallier aus dem »Morgenlande angezogen«Footnote 19 gekommen. Noch bei Konrad Mannert konnte man 1804 lesen, der Kelten »Einwanderung [sei] von Osten, längst [!] der Donau«Footnote 20 geschehen. Die Kaukasustheorie hatte Karl Dietrich Hüllmann bereits 1798 abgelehnt. »Die gemeine Meinung: daß die Keltische [hier germanische, A.N.] Nation vom Kaukasus über das schwarze Meer, längs der Donau, bis nach Spanien gewandert sey, und sich nach allen Richtungen verbreitet habe«,Footnote 21 basiere auf Mythen, die als Facta vorausgesetzt werden. Ob Hölderlin die Diskussion – die auch die hier außen vor gelassene und von Hölderlin in »Am Quell der Donau« und »Die Wanderung« aufgegriffene Frage nach den Völkerwanderungen gen Osten betrifft – bekannt war, ist nicht belegbar. Der Ausruf des Ich in »Die Wanderung«, es wolle »dem Kaukasos zu«,Footnote 22 spricht jedenfalls für ihre Kenntnis. Durchaus passt sie in seine Gedankenwelt. Abgesehen davon, gibt es in Hölderlins Werk ganz allgemein ein Interesse an Migrationsvorgängen aller Art. So erinnert Alexander Honold an Hölderlins »Aufmerksamkeit für objektive bzw. nicht-individuelle Wanderungsprozesse«.Footnote 23 Sonne, Tiere, d. h. Vogelzüge und Vögel wie Adler und Schwalben, Wind und fließende Wasser werden als »Formen biologischer Migration«Footnote 24 bezeichnet. Hölderlins Adler, der in »Germanien« und dem späten Entwurf »Der Adler« vom Indus über Griechenland nach Deutschland kommt, ist ein starkes Argument dafür, dass man es auch im ›Ister‹ mit einer solchen Wanderungsbewegung zu tun hat. Jochen Schmidt erkennt deshalb in der Anfangsstrophe, ohne von einer konkreten Wanderung zu sprechen, die »Bewegung vom äußersten Osten, vom ›Indus‹ […] über Griechenland […] nach Deutschland«.Footnote 25 Fraglich bleibt, ob man wie Heidegger die Bewegung als Wanderung von Menschen verstehen soll oder nicht vielmehr als eine abstrakte Bewegung, die sich aus der zu überbrückenden Differenz der drei von den Flüssen Indus, Alpheus und oberer Donau markierten Kulturräume ergibt.

Hölderlins ›Der Ister‹ bietet jedenfalls nicht genügend Anhaltspunkte, um im Kontext der um 1800 kursierenden prähistorischen Theorien präzisiert zu werden – ein Problem, das man auch mit dem Migrationsgedicht »Die Wanderung« hat, worin die entgegengesetzte Bewegung nach Osten thematisiert ist. Hölderlin, vermutet Honold, überblendet »mythische[] und kulturgeschichtlich überlieferte[] Migrationen mit den Projekten zeitgenössischer Auswanderer«.Footnote 26 Die historische Ordnung des Gedichtes gibt keine konkrete Auskunft darüber, wie man sich die Wanderung aus Indien oder Griechenland nach Westeuropa vorstellen soll.

Ein Grund für das Missverständnis könnte sein, Hölderlins Metaphern eigentlich zu lesen. Auffällig ist, wie er die Wanderer mit Vögeln vergleicht. Genauso gut könnte bereits der Wanderer eine Metapher sein, die nicht ein anderes Konkretum, sondern ein Abstraktum spezifiziert. Was eigentlich herüberkommt, sind Rede und Gesang der Wanderer. Um die symbolische Bedeutung dieser rhetorischen Bewegung von Ost nach West zu erkennen, sei der Beginn von »Am Quell der Donau« herangezogen. Zwar steht seit Peter Szondi die Parallelisierung thematisch ähnlicher Stellen im Werk Hölderlins in Misskredit,Footnote 27 aber dieses Gedicht ist dem ›Ister‹ zu ähnlich, als dass man sein heuristisches Potenzial ungenutzt lassen kann. Der Vergleich ist – wie am Schluss des Abschnitts II zu zeigen sein wird – auch in kontrastiver Hinsicht lehrreich, weil im ›Ister‹-Gedicht aufgrund der Differenzierung von Ich und Wir die anscheinend gleiche Bewegung ein fiktives Dasein erhält.

In »Am Quell der Donau« erscheint die Situation wenigstens äußerlich analog, nur wird das Proprium hier genannt und nicht verschleiert: Die Aufnahme des kulturstiftenden Logos aus Asien – jenes »Wort[es] aus Osten«Footnote 28 – vergleicht Hölderlin mit dem Zusammentreffen der melodischen Tonströme der Kirchenorgel auf die Chorstimmen der Gemeinde. Just diesen Vorgang wiederholt Hölderlin in der Gedichtexposition des ›Ister‹. Zu hören sind als Sänger bzw. Dichter vorgestellte Wanderer, die am Indus und Alpheus ihre Wanderschaft beenden, um dort zu siedeln. Die Bewegung nach Westen wird dadurch erzeugt, dass ein lyrisches Ich an der deutschen Donau den Gesang dieser Wanderer vernimmt.

Der Sichtweise, bei den Sängern handele es sich um Abwesende oder gar um den abstrakten Logos, kommt eine doppeldeutige Grammatik entgegen, die es erlaubt, die Wanderer nicht nur vom Indus und Alpheus nach Westen wandern zu lassen, um eine Kultur aufzubauen, sondern sie direkt an den beiden Flüssen zu verorten: Was von dort kommt, sind nicht die Wanderer, sondern ihre Rede und ihr Gesang. Liest man die erste Strophe so, sind lyrisches Wir und lyrisches Ich räumlich getrennt, aber die von Hölderlin geteilte Überzeugung des ost-westlichen Kulturganges kann weiterhin dem Gedicht entnommen werden.

Jedenfalls ist grammatisch die Lesart möglich, wonach die Sprecher von sich sagen, dass sie vom Indus und Alpheus her singen, und in einer adverbialen Bestimmung präzisieren, aus einer nicht näher bestimmten Ferne angekommen zu sein. Demnach bezöge sich das »Hier« und »Jezt« des Bauens (15, 1) auf den indischen respektive griechischen Strom und nicht auf die Donau. Das lyrische Ich holt die am Fluss siedelnden Sänger zu sich. Diese Ansicht teilt Hans-Dieter Jünger, daran erinnernd, dass auf der Rückseite des Manuskriptes die letzten Verse von Hölderlins »Andenken« stehen, wo von der Ausfahrt der Freunde »zu Indiern«Footnote 29 die Rede ist: »Wird in ANDENKEN zu Beginn der letzten Strophe die Ausfahrt ›zu Indiern‹ gedichtet, so kündet der ISTER-Gesang zu Beginn offenbar von der Ankunft ›am Indus‹, denn es heißt bezeichnenderweise, daß die Schiffer […] ›fernangekommen‹ sind und von dort ›her‹, vom ›Indus‹, nunmehr singen.«Footnote 30 Analog verhalte es sich mit dem Alpheus. Mag die Zusammenführung mit »Andenken« chronologisch wie topografisch verwirrend sein, ist es durchaus berechtigt, die Verse so zu lesen, dass die Ankunftsorte im ›Ister‹ Indus respektive Alpheus sind:

»Wir singen aber vom Indus her

Fernangekommen und

Vom Alpheus,« (7–9)

Jünger ist allerdings nicht konsequent. Denn wenig später wird die Differenz zwischen den östlichen Flüssen und dem Quellgebiet der Donau wieder aufgehoben. Der Ort des Bauens sei »›Indus-Alpheus-Ister‹«Footnote 31, womit impliziert wird, dass sowohl das Ich als auch das Wir kulturstiftend sein wollen. Die Frage ist jedoch: Will tatsächlich das Ich aktiv am Ister bauen oder nicht vielmehr nur die Gruppe der Sänger aus der ersten Strophe, und zwar am Indus respektive am Alpheus? Wer die eigentliche Rede des Ich in den Strophen 2–4 verfolgt, wird darin keinen Baumeister sehen. Die Baumeister sitzen in der Ferne und werden durch ihren Gesang vergegenwärtigt. Wenn die Forschung mit Heidegger dazu neigt, auch das Ich bauen zu lassen und ihm Aktivität zuzusprechen, dann geht sie von der Zugehörigkeit des Ich zu einer von Osten kommenden Gruppe von Sängern aus.

II.

Sowohl die Vorstellung von Wanderern, die vom Indus an die Donau kommen, als auch die Wahrnehmung eines indischen und griechischen Gesanges vom deutschen Standpunkt aus entsprechen Hölderlins eigenwilliger Kulturhermeneutik, die sich vor dem geschichtlichen Hintergrund entfaltete, dass »Hölderlins Generation […] als erste [erlebte], wie der Orient in weltpolitische Zusammenhänge einbezogen wurde.«Footnote 32 Hölderlin reagierte auf die Aufwertung im Osten liegender Kulturmächte mit Anerkennung ihrer Bedeutung für die eigene Kultur. Seine späte Dichtung ist ein Plädoyer für den gegenseitigen Austausch, nach welchem das eigene Deutsche von den fremden Kulturen AsiensFootnote 33 befruchtet wird und umgekehrt wieder auf diese zurückwirkt.

In dem Zusammenhang wird gewöhnlich auf den Böhlendorff-Brief verwiesen. Bennholdt-Thomsen ist dafür beispielhaft: »Hölderlin [!] appelliert als Sprecher der Siedler an das Tageslicht, aber – im Sinne seines Briefs an den Dichterfreund Böhlendorff vom 4. Dezember 1801 […] – eindeutig an das dem abendländischen, hesperischen Dichter von Hause aus fremde, das den Griechen dagegen eignete, das Feuer vom Himmel, an Apoll.«Footnote 34 Norina Procopan sieht ebenfalls im lyrischen Wir »die Hesperier, die Deutschen, die durch seinen [Hölderlins, A.N.] Gesang auf das Griechische und fernerhin auf das Asiatische zugehen, um sich ›das Feuer vom Himmel zu erwerben‹«.Footnote 35 Folgt man beiden Interpretinnen, müssen Hölderlin (Bennholdt-Thomsen) respektive die Deutschen (Procopan) zuerst an den Indus respektive Alpheus gewandert sein, um schließlich wieder an die Quellen der Donau zurückzukehren. Geschildert werde nicht nur der »Weg, auf dem über das Fremde das Eigene gesucht wird«, sondern »die notwendige Rückkehr«.Footnote 36 Nicht nur die Gleichsetzung von Ich bzw. Hölderlin und Wir sowie die Zugehörigkeit des Ich zur Wir-Gruppe möchte ich bestreiten – denn wie in Abschnitt III gezeigt wird, ist das Wir eine rhetorische Figur des Ich –, sondern ebenso die Strukturähnlichkeit der angesprochenen Flüsse. Indus und Alpheus stehen zwar für die östliche Kultur, nicht aber die Donau für das Hesperische. Die Donau ist ein Verbindungsmittel zwischen beiden Seiten und nicht wie etwa der Rhein Symbol der hesperischen Sphäre.

Geschuldet ist die folgenreiche Gleichsetzung von lyrischem Wir und Ich neben Hölderlins Kulturhermeneutik seinen beiden anderen Donaugedichten. Im schweizerischen Hauptwil hatte der Hofmeister im Februar 1801 die Hesperischen Gesänge in Form eines als »Deutscher Gesang« betitelten Gedichtes konzipiert. Zeitgleich war das Prosa-Konzept von »Am Quell der Donau« entstanden,Footnote 37 das in der dichterischen Ausführung, wie gesehen, jenes Denkmodell ankündigt. Anfang Dezember 1801 hatte Hölderlin seine Vorstellung über die Nationalcharaktere von Griechen und Deutschen formuliert. Griechen seien von der Begeisterung und dem Feuer bestimmt; den Deutschen eigne dagegen nüchterne Klarheit, woraus für die Kunst das genaue Gegenteil gefolgt sei: Die Griechen seien Meister apollinischer Klarheit geworden, die Deutschen beherrschten die dionysische Begeisterung.Footnote 38 Dieses chiastische Modell, das weit über den griechischen und deutschen Raum hinausgeht, begründet denn auch die anatolisch-hesperische Kultursymbiose, wie sie in den ersten beiden Donaugedichten – »Am Quell der Donau« und »Die Wanderung« – hymnisch besungen wird. In »Am Quell der Donau« erfolgt, wie gesehen, die Symbiose mit dem anatolischen Logos, dem »Wort aus Osten«Footnote 39, vergleichend im eindrucksvollen Bild der Stimme des Kirchenchors, die in der Orgelmusik aufgeht; in »Die Wanderung« strebt ein Ich dem Kaukasus zu, und erinnert werden Vorfahren, die zur Mündung der Donau gefahren waren, um mit den Völkern des Ostens eine neue Kultur zu stiften.Footnote 40 In beiden lyrischen Bewegungen ist das lyrische Ich eins mit der Gemeinschaft und fungiert als deren Sprecher. Der Strom dient der Veranschaulichung dieser Gesamtbewegung, setzt sie ins Bild, wobei ihr hymnischer Tenor das Gelingen der kulturpolitischen Mission verkündet.

Im Fragment gebliebenen letzten der drei Donaugedichte fehlt dieser Optimismus.Footnote 41 Das Ich ist von jener Gemeinschaft getrennt,Footnote 42 was nicht ausschließt, dass Hölderlins kulturgeschichtliches Anathema auch im ›Ister‹ auftaucht. Zweifellos thematisiert das Gedicht das Verhältnis zwischen der abendländischen und der östlich-griechischen Kultur. Aus diesem Grund wählt Hölderlin den Ost und West verbindenden Donau-Fluss zum lyrischen Gegenstand. Bennholdt-Thomsen geht also nicht fehl, wenn sie den ›Ister‹ als ost-westlichen Bildungsgang interpretiert.Footnote 43 Jedoch ist es unpräzise, die beiden lyrischen Sprechinstanzen des Gedichtes als gleichwertige Agenten der kulturellen Symbiose zu betrachten. Mit anderen Worten sind die mit Vögeln überblendeten Sänger – »Nicht ohne Schwingen mag / Zum Nächsten einer greifen« (11 f.)Footnote 44 – der ersten Strophe weit gewandert, aber die Vorstellung, sie seien vom Indus oder Alpheus ins Quellgebiet der Donau gekommen, um dort zu bauen, ist schon allein deshalb fragwürdig, weil sie ausblendet, wie denn die Wanderer überhaupt zum Indus respektive Alpheus gekommen waren und weshalb sie ihre Wohnstätte wieder verließen. Statt also anzunehmen, dass hier eine Gruppe an den Ister gewandert wäre, um zu bauen, wird davon ausgegangen, dass sich beide Gruppen auf der Suche nach einer neuen Kulturlandschaft an besagten Flüssen Indus und Alpheus – also in einer Flusslandschaft – niedergelassen haben.

Wenn Hölderlin am Beginn der zweiten Strophe das nun sprechende Ich sagen lässt: »Man nennet aber diesen den Ister.« (21), dann tritt nicht nur eine neue Sprechinstanz auf den Plan, sondern mit dieser eröffnet sich neben den beiden fiktiven Flussräumen ein realer Flussraum. Das Demonstrativum »diesen« (21) bezieht sich in Abgrenzung zum Indus (7) und Alpheus (9) auf den Strom, von dem aus das Ich spricht.Footnote 45 Dessen Standpunkt ist ein kategorial anderer als der Standpunkt der vom lyrischen Ich an Indus und Alpheus versetzten Sänger. Das Ich ist keinesfalls ein kollektiv gemeintes Ich.Footnote 46 Das lyrische Wir als Ausdruck gemeinschaftlicher Relevanz der Rede und rhetorischer Integration des LesersFootnote 47 ist ein typisches Merkmal der hymnischen Lyrik Hölderlins. Gedichte wie »Am Quell der Donau«, »Die Wanderung«, »Mnemosyne« und andere enthalten Interferenzen zwischen Wir und Ich. Doch anders als in diesen Fällen ist das Ich nicht mehr Sprecher der Gemeinschaft,Footnote 48 weil es diese Gemeinschaft als seine Erfindung kenntlich macht. Die Folge ist, dass das Ich nicht mehr präsentisch für sie spricht, sondern elegisch von ihr als einer abwesenden Gemeinschaft.

Der Dichter Hölderlin – so macht die erneute, nunmehr kontrastive Parallele mit anderen Gedichten Hölderlins deutlichFootnote 49 – grenzt sich von sich selbst bzw. seiner eigenen Dichtungspraxis ab, indem er im ›Ister‹ viel klarer als sonst Wir und Ich voneinander trennt und beide Instanzen nicht mehr synonym oder metonymisch, sondern als Antonyme gebraucht. Die Setzung des lyrischen Ich durch den empirischen Verfasser wird gewissermaßen im Gedicht wiederholt, nur dass er kein zweites Ich, sondern ein Wir einführt. Geklärt werden kann hier unmöglich die Frage, ob das lyrische Ich selbst real oder eine Fiktion ist. Stattdessen möchte ich auf die bewährte Unterscheidung von Margarete Susman zurückgreifen, nicht jedoch um das Verhältnis von Ich und Urheber (Hölderlin) zu erörtern, sondern um auf der internen Ebene des Gedichtes das Verhältnis von Ich und Wir zu bestimmen. Innerhalb des Gedichtes ist das Ich real, das Wir fiktiv. Um die Strukturanalogie zu Susmans Bestimmung zu verdeutlichen: So, wie das lyrische Ich eine Sprechfunktion des empirischen Ich ist, ist im ›Ister‹ das Wir eine Funktion des lyrischen Ich, die sich als Fiktion erweist.Footnote 50 Prinzipiell wäre es natürlich denkbar, dass der Wir-Entwurf Teil der Ich-Realität ist, aber die lyrische Argumentation Hölderlins, wie sie hier nachgezeichnet wird, läuft darauf hinaus, sich von diesem Wir abzugrenzen, weshalb diese Möglichkeit ausgeschlossen wird.

Für die hier behauptete Grundverschiedenheit der beiden lyrischen Sprechinstanzen spricht, dass die erste Strophe hinsichtlich der Modalität des Sprechens einen Gegensatz zu den Strophen zwei bis vier bildet. Die Sänger sind aktive Kulturschöpfer; das lyrische Ich präsentiert sich nirgends als schöpferischer Sänger mit kulturpolitischem und handlungssteuerndem Anspruch, sondern als kontemplierender Beobachter eines Kulturstroms aus Osten und eines Naturstroms, der nach Osten fließt. Weder ist das lyrische Ich bei den Sängern am Indus und Alpheus, noch sind diese bei ihm am Ister. Es befindet sich allein am Ister und teilt nicht die Absicht zu bauen. Jedoch macht es die Abwesenden anwesend und ergänzt zumindest rhetorisch das, was ihm abgeht. Wie aber stellt sich das Verhältnis des Ich zum Wir dar, wenn zwischen beiden Seiten keine soziale und räumliche Gemeinschaft besteht, sondern das lyrische Wir nur eine Funktion der monologischen Rede des lyrischen Ich ist?

III.

Um hierauf eine Antwort zu geben, sollen Hölderlins Entwürfe herangezogen werden. Die Genese des Textes offenbart, dass die Trennung einer Wir-Gruppe vom Ich erst allmählich, aber dann entschieden vollzogen wurde.

Hölderlin begann seine ›Ister‹-Dichtung nicht mit dem emphatischen Ausruf der Sänger. In der Urfassung standen der zweite Teil der ersten Strophe sowie die Anfänge der zweiten und dritten Strophe in einer gemeinsamen Strophe: gedanklich also die Absicht zu bauen (Strophe 1), die Standortbestimmung am Ister (Anfang Strophe 2) sowie der Eindruck, der Fluss komme von Osten (Anfang Strophe 3). Trennt man einmal die überarbeiteten Zeilen von dieser Fassung, ergibt sich folgender Textbefund:

»              will

Hier aber wollen wir bauen

De\(\bar{\text{n}}\) Ströme mache urbar

Das Land. We\(\bar{\text{n}}\) nemlich Kräuter

An den Ufern, und es gehen zu trinken die Thiere,

So gehn auch Menschen daran.

Man ne\(\bar{\text{n}}\)et aber diesen den Ister

Hier aber bin ich an den Ister

Schön aber rükwärts

Scheint er zu gehn. Und

Ich mein’, er ko\(\bar{\text{m}}\)e von Osten.« (fol. 27v, 1–18)

Die Urfassung scheint die erste Lesart zu bestätigen, nach welcher das Ich als Teil der Sänger am Ister bauen will; zumal Hölderlin im ersten Vers noch unentschieden war, ob die Sprechinstanz das lyrische Wir oder das lyrische Ich sein soll: Er schrieb beide Verbformen »will« (fol. 27v, 1) und »wollen« (fol. 27v, 2) übereinander. Für eine Gruppenzugehörigkeit des Ich spräche ebenfalls Hölderlins Änderung des Verses »Hier aber bin ich an den Ister« (fol. 27v, 13) zu »Hier aber sind wir an den Ister« (fol. 27v, 12 f.). Demnach wären Ich und Wir gemeinsam am Ister. Allerdings ist in der Urfassung der Raum noch nicht pluralisiert. Es gibt weder Indus noch Alpheus und damit auch keine Wanderer, die dort hingegangen oder von dort gekommen wären. Die Erweiterung des Raumes sowie die Trennung zwischen Wir und Ich erfolgten erst in der Überarbeitung der ersten Zeilen, die dafür von Hölderlin zuvor auf selbiger Seite abgeschrieben worden waren.Footnote 51 Die Überarbeitung vollzog sich, von einzelnen Verbesserungen abgesehen, zunächst durch eine Verdopplung der Urstrophe bis zur Zeile: »So gehn auch Menschen daran« (fol. 27v, 14). Hölderlin setzte neu an, weil er den zweiten Teil der Urstrophe auf die Strophen zwei und drei verschieben wollte. Der wiederholende Neuansatz wurde in die untere Hälfte von fol. 27v geschrieben. Zwischen der Urstrophe und ihrer verkürzten Abschrift wurde ein Raum frei gelassen, der später gefüllt wurde (fol. 27v, 19–25). Ein weiterer Freiraum entstand durch das leichte Verrücken der Abschrift nach rechts. Just in diese beiden Freiräume wurde der bekannte Beginn der ›Ister‹-Dichtung samt Feueranrufung, Vorstellung der Sänger und Eröffnung des indischen und griechischen Kulturraumes gelegt. Wie die auf fol. 29r und fol. 28r von Hölderlin besorgte Reinschrift der ersten Strophe und des Anfangs der zweiten Strophe bezeugt, waren nunmehr Ich und Wir getrennt und der Ister aus der ersten Strophe verbannt. Auch wenn Christen es für denkbar hält, dass sich der Vers »Hier aber wollen wir bauen.« (15) auf den Ister bzw. sein Quellgebiet bezieht,Footnote 52 gibt es in der überarbeiteten Fassung keinen Beleg dafür. Nur wenn man annimmt, dass die räumliche Ordnung der Urstrophe von der Überarbeitung unbeschadet blieb, befindet sich der Redestandpunkt bereits in der ersten Strophe am Ister. Mit der Einführung von Indus und Alpheus wurde, so die These, der Ister in die zweite Strophe und der Standort der Wir-Gruppe nach Indien und Griechenland verlegt. Hier sind die euphorischen und kulturstiftenden Sänger, am Ister der distanzierte Beobachter. Heideggers Ansicht, Hölderlin imaginiere Rückkehrer, die fern von Osten nach Hause gekommen seien – eine Ansicht, die 1942, ein Jahr nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Sowjetunion, aber auch Jugoslawien und Griechenland, nicht ohne zeitgeschichtlichen Bezug ist –, verwechselt das Prädikat ›hersingen‹ (7) mit dem attributiven Partizip »Fernangekommen« (8).Footnote 53 Für die Lesart von Sängern, die »vom Indus her« (7) singen, spricht die Verszäsur: »Wir singen aber vom Indus her / Fernangekommen« (7 f.). Selbst wenn man sich mit Heidegger dafür entschiede, die Sänger vom Indus und Alpheus an den Ister kommen zu lassen, wäre es zweifelhaft, ob diese Gruppe vor Ort auf das Ich wirklich trifft. Auch in diesem Fall würde man es mit einer Fiktion zu tun haben, die Abwesende anwesend macht, schon allein deshalb, weil im Fortgang des Gedichtes von den Sängern nicht mehr die Rede ist.

Rhetorisch gesprochen, differenziert Hölderlin das lyrische Ich vom lyrischen Wir, indem er diesem in Form einer Prosopopoiia oder Sermocinatio eine eigene, vom Ich abgesonderte Rede in den Mund legt. Die Gedankenfigur der Prosopopoiia oder Sermocinatio meint »jene rhetorische Figur, die Toten oder Abwesenden eine Stimme verleiht«Footnote 54 und die den Redenden, hier dem lyrischen Ich, die Möglichkeit bietet, Abstrakta, abwesende Personen und »Kollektive[]«Footnote 55 durch NachahmungFootnote 56 direkter Rede als gegenwärtig vorzustellen. Da der Charakter und in diesem Fall auch ein Affekt sichtbar werden – »Jezt, komme Feuer!« (1) –, besitzt die Evidenzfigur Eigenschaften der Ethopoiia und der Pathopoiia.Footnote 57 Das lyrische Wir ist damit keine eigene Sprechinstanz, die mit dem Ich konkurriert oder kommuniziert, sondern ein grell maskierter, aus einem Mangel geformter utopischer Selbstentwurf des an sich kontemplativen lyrischen Ich, um Interesse zu wecken. Solche Evidenzfiguren sind gerade am Anfang, wo besonders aufwändig um die Aufmerksamkeit der Leser gekämpft wird, üblich. Hölderlin koppelt die Figurenrede, die das kulturstiftende Ethos dieser Sänger sichtbar werden lassen soll, mit Affektfigur (Anruf) und Affekttrope (Emphase). Die rhetorische Figur ahmt eine hymnische, von Osten kommende Rede nach, welche von der geglückten Erfahrung zeugt, das Eigene im Fremden gefunden zu haben. Feierlichkeit und Erhabenheit als Wesensmerkmale der Hymne konzentrieren sich vor allem in der Exposition, sodass man von einer im Gedicht ausgestellten Hymne sprechen kann. Strophe zwei, drei und vier dagegen sind bestimmt durch deskriptive, narrative und reflexive Ich-Rede, deren Gegenstand ein Gewässer ist, das nach Osten fließt, aber von Osten zu kommen scheint.

Die beiden Sprechinstanzen führen zu zwei kommunikativen Ordnungen. Sie stehen nicht nebeneinander, sondern bedingen sich: die Wir-Gruppe ist eine Vorstellung des Ich. Hölderlin entwirft, abweichend vom monologischen Normalzustand der lyrischen Rede, eine zweistimmige Rede,Footnote 58 in welcher nicht nur das Ich einem Wir entgegensteht, sondern in welcher auch das Ich seine Modalität vom beschreibenden und erzählenden zum reflektierenden Sprecher wechselt.

Den Plan, am Strom zu bauen, verfolgt in Hölderlins Gedicht allein jene aktive Wir-Gruppe, nicht aber das kontemplative Ich. Das Ich selbst ist nicht aktiv und will nicht bauen. Sein Modus ist passiv, distanziert, erzählend, beschreibend und reflektierend, meinend – aber keinesfalls aktiv. Nicht der Wille zur Praxis, sondern zur Theorie treibt das Ich an. Die Gewissheit des Handelns haben andere erlangt.Footnote 59

Die Funktion der Eröffnungsstrophe ist kontrastiv. Sie bildet die Folie, vor der der kontemplative Charakter des Ich hervortritt. Zwar ist die Rede des Wir ein Ruf aus dem Osten an das Ich im Westen, aber weder wird wie in »Am Quell der Donau« dieses Ich als Teil einer Gemeinschaft von diesem Ruf affiziert, noch strebt es wie in »Die Wanderung« dem Kaukasus zu. Die rhetorische Übertragung vom Wir zum Ich findet nicht statt, die Vereinigung unterbleibt, aber der Gesang am Indus und am Alpheus, d. h. von Osten, gibt das Stichwort, sich selbst an einem Fluss zu verorten. Somit besitzt die Prosopopoiia oder Sermocinatio eine motivierende Funktion für die Rede des lyrischen Ich. Das lyrische Ich imaginiert die Rede einer Gruppe von Ausgewanderten im Moment der Begeisterung und des Tatendrangs. Diese Rede dient als Kontrastfolie der eigenen Rede, gleichsam als negative Exposition. Eine solche Deutung sieht deshalb auch einen scharfen räumlichen Kontrast zwischen der ersten und den anderen Strophen.

Die affektive, ethische und gedankliche Redefigur der Prosopopoiia oder Sermocinatio ist für die rhetorische Ökonomie deshalb sinnvoll, weil sie Hölderlins Komposition von der umständlichen Ausschmückung einer vorgeschichtlichen Völkerwanderung entlang der Donau oder gar auf ihr befreit. Die Bewegung von Ost nach West ist erzeugt, und Heidegger wie viele andere haben sie berechtigterweise bemerkt. Nur erlaubt das Gedicht keinesfalls, sich den Vorgang körperlich vorzustellen. Stattdessen handelt es sich um eine rein rhetorische Bewegung des Wortes von Wanderern, die das Ich seinen Lesern vorstellt, um negativ den eigenen kommunikativen Standort zu bestimmen. Die für die weitere gedankliche Ordnung des Gedichtes zentrale Verbindung der östlichen mit der westlichen Kultur sowie Hölderlins Überzeugung, der Geist komme »aus dem Osten, aus Indien […] in das Vaterland des Dichters«,Footnote 60 werden in der Exposition mittels der Prosopopoiia oder Sermocinatio als Stimme aus dem Osten vorbereitet. Der Übergang ins Quellgebiet der Donau, der mit der zweiten Strophe einsetzt, strukturiert von der zweiten bis zum Beginn der dritten Strophe (21–46) die Rede des lyrischen Ich über den Fluss: Die Erzählung von Herkules’ Gang zu Quellen des Isters, Hölderlins damit verbundene übersetzerische Auseinandersetzung mit der Lyrik Pindars sowie die Meinung des lyrischen Ich, der Fluss »müsse kommen von Osten« (4), wiederholen die rhetorische Bewegung der Exposition. Indem Hölderlin gegenläufig zur Fließrichtung dichtet, das Gedicht sozusagen ›gegen den Strom schwimmt‹, mediatisiert er die Donau nicht nur für seine Lehre vom ›Fluss der Kultur‹ nach Westen, sondern distanziert sich parallel dazu von der Tradition der Stromdichtung, mit der der Lyriker seit seinen Anfängen vertraut war.Footnote 61

IV.

Mit dem Auftritt des Ich ab der zweiten Strophe verschwindet der hymnische Aktivismus, wie er für Stromgedichte typisch ist. Die kontemplative Einstellung des Ich schafft zwischen der lyrischen Sprechinstanz und dem Fluss eine Distanz, wodurch der Fluss, seine instrumentelle Bedeutung verlierend, unter Beobachtung gerät. Das lyrische Sprechen wechselt sozusagen auf die Metaebene mit der Folge, dass das traditionell tropische Sprechen über den Strom literalisiert, d. h. ins Buchstäbliche zurückgewendet, oder negiert, auf keinen Fall aber affirmiert wird. Die Rede des Ich erscheint als mythologischer Diskurs in Strophe 2, als hydrologischer Diskurs in Strophe 3 sowie als poetologischer Diskurs in Strophe 4 und bildet eine enzyklopädische Reihe,Footnote 62 die mit der in Abschnitt I bis III diskutierten Kulturgeografie der Donau in Verbindung steht.

Da sich die vierte Strophe des ›Ister‹ als besonders auffälliger Gegensatz zur aktiven ersten Strophe offenbart, folglich zwischen Anfang und Ende die größte Spannung besteht, geht die Analyse von ihr aus. Als Sinnbild des aktiven, prometheischen Genies kann der Ister nicht gelten, jedoch der Rhein, mit dem er kontrastiv verglichen wird. Der Gang rückwärts durch den ›Ister‹ von Strophe 4 zu Strophe 2 (IV–VI) ist der literaturgeschichtlichen Chronologie geschuldet, die die literarische Tradition des Stroms mit Pindar beginnen lässt. Daher setzt vorliegende Interpretation mit der Negation der an Pindar orientierten fluvialen Topik, wie sie die vierte Strophe vornimmt, ein und zeichnet Pindars Ästhetisierung in der zweiten Strophe abschließend nach (VI).

In Horaz’ berühmtem Vergleich Pindars bzw. seiner Verse mit einem Wild- oder SturzbachFootnote 63 kommt es zur Übertragung der Fülle und der Gewalt auf die dichterische Rede und zu einer folgenreichen Autorisierung solchen Sprechens. Horaz sagt, Pindars Rede sei mehr als reichhaltig, sie komme aus scheinbar unerschöpflichen Quellen, die zugleich von außen angereichert sind. Pindars Rede sei nicht künstlich, sondern natürlich und deshalb unkontrolliert wie unkontrollierbar. Horaz hebt durch den Vergleich mit einem Wildbach die ausgezeichnete Qualität des griechischen Dichters Pindar hervor.Footnote 64 Vorgestellt wird der ungebremste Handlungsdrang durch den Strom. Dichter sind ebenso Handelnde. Das, was Dichter ›tun‹, ist reden bzw. schreiben. Vergleicht man folglich die Dichtung mit einem unaufhaltsamen Strom oder benennt ein Gedicht nach einem Strom, dann ist damit nicht nur die außergewöhnliche Fülle der Rede (copia verborum) gemeint, sondern auch ihre große Wirkungskraft. Insofern die dichterische Rede als stromartige Rede handlungsrelevant ist, besitzt sie neben der ästhetischen eine ethische Dimension. Wenn Dichter wie Pindar mit Naturgewalten verglichen werden, so in der Überzeugung, dass sie sich keinen moralischen oder ästhetischen Regeln und Zwängen unterwerfen.

Sowohl die Emphase auf die Fülle als auch auf die über den Dingen stehende Gewalt des Stroms als auch seine Handlungsrelevanz werden in einem kontrastiven Vergleich mit dem Rhein vom ›Ister‹ negiert, was nicht notwendig ausschließt, dass auch diesem »Flusslauf Qualitäten zugeschrieben werden, die nur handelnde Subjekte haben können«.Footnote 65 Er wird als gastlich geschildert, »wohnt schön« (22), ist »allzugedultig« (58) und »zufrieden« (67). All dies sind zwar anthropomorphe Eigenschaften, aber ohne dass sich aus ihnen Handlungsziele ableiten ließen. Der Vergleich mit dem Rhein wird in neun Versen – »Ein Zeichen braucht es […] Sind sie Kinder des Himmels« (50–58) – umständlich vorbereitet. Dafür sieht das lyrische Ich zunächst vom konkreten Ister ab und kommt auf die himmlische Beziehung der Ströme im hydrologischen Verständnis des Wasserkreislaufes zu sprechen (vgl. Abschnitt V). Anschließend erfolgt der kontrastive Vergleich mit dem Rhein, dem Inbegriff des Geniestroms.

Vom Standpunkt des lyrischen Ich betrachtet, ist der »Ister« (21) kein gewaltiger Strom oder wilder Sturzbach. Nicht einmal eindeutig erkennbar ist, in welche Richtung er fließt. Wie gesehen, meint das Ich, der Fluss »müsse kommen von Osten« (4). Die Charakterisierung als »allzugedultig« (58) und »zufrieden« (67) hat einen realen Kern. Tatsächlich ist die Donau im Schwäbischen ein Flüsschen, das still vor sich hinfließt und bekanntlich bei Tuttlingen bisweilen für mehrere Monate im Jahr versickert.Footnote 66 In Stolbergs Roman Die Insel (1788) wird deshalb auch die poetische Relevanz der schwäbischen Donau diskutiert.Footnote 67 Hölderlins Vergleich mit dem Rhein entspricht dem realen Unterschied beider Flüsse an ihrem Anfang. Ist der Ister in seiner Jugend »zufrieden« (67), so gleicht der Rhein, der als »Freier« (60) bezeichnet wird, einem wilden Fohlen:

»Füllen gleich

In den Zaum knirscht er, und weithin hören

Das Treiben die Lüfte,« (64 –66)

Hölderlin hat dem Rhein mit der Hymne »Der Rhein« eine große, vollendete Hymne gewidmet. Dort wird seine Unbändigkeit zu Beginn ausführlich beschrieben.Footnote 68 Der Rhein nimmt einen Verlauf, der eigentlich nicht seinem Charakter entspricht.Footnote 69 Eine solche, die Allmacht relativierende Sichtweise offenbart auch in der »Rhein«-Hymne einen differenzierten Umgang mit der Topik des Stroms. Gleichwohl wird das Prometheische nicht aufgegeben und weiterhin mit dem Rhein verbunden. Prometheische Typen wie der erste Widmungsempfänger der »Rhein«-Hymne, der Sturm-und-Drang-Dichter Wilhelm Heinse, oder der zweite Widmungsempfänger, der Revolutionär Isaac von Sinclair, oder der besungene Held der europäischen Aufklärung Jean-Jacques Rousseau werden mit dem Rhein assoziiert, der wiederum ein Halbgott ist.Footnote 70 »Der Rhein« vertieft die Sturm-und-Drang-Idee des aktiven Genies; in ›Der Ister‹ wird sie nur kontrastiv realisiert.

Dass der Ister ein kontemplativer Gegenentwurf zum Rhein ist, ›Der Ister‹ ein Anti-»Rhein«, zeigt das Gedichtende. Nicht das Aktive – Handeln, Tat und Tun – wird besungen, sondern das Kontemplative ausgestellt. Der nicht-aktivistischen Einstellung des ›Isters‹ entsprechen die beiden Schlussverse:

»Was aber jener thuet der Strom,

Weis niemand.« (71 f.)

Dieser Schluss, der wegen der unvollständigen Zeilenzahl der Strophe auf einen Abbruch der Dichtung hinweist, zeigt das lyrische Ich außer Stande, den Strom als bildliche Analogie für innere Zustände, für den Fluss der Gedanken oder Worte zu gebrauchen.Footnote 71 Am Ende von ›Der Ister‹ wird deshalb der Kontrast zum enthusiasmierten Wir der Exposition noch einmal spürbar. Denn die Sänger werden nicht bloß durch das Merkmal der begeisterten Rede und die Rückkopplung ihres Tuns an den Strom gekennzeichnet, sondern sie verstehen sich als Kulturbegründer: »Hier aber wollen wir bauen.« (15) Das lyrische Ich, wie oben gezeigt, sagt nicht, dass es wie die fiktive Gemeinschaft des lyrischen Wir am Strom bauen will. Es steht einerseits zu den Sängern im Gedicht in Kontrast, andererseits zur Tradition der Stromdichtung, zu der das Bauen am Fluss seit Johann Wolfgang Goethes »Mahomets Gesang« (zuerst 1773 als »Gesang«) notwendig gehört.Footnote 72

Einschneidender für die Tradition der Flussdichtung war jedoch Goethes Überblendung von Strom und Ich. Für Goethe war dabei die Autorität Pindars bzw. der Vergleich des Horaz zwischen Pindar und dem Strom maßgeblich gewesen.Footnote 73 Völlig selbstverständlich identifiziert Goethe den Künstler mit einem Strom.Footnote 74

Die Neuartigkeit von Goethes Ansatz wird gegenüber Friedrich Gottlieb Klopstock deutlich. In dessen Dichtung zeigt der Strom dichterischen Enthusiasmus an, überbordende Fülle der Sprache und den Willen zur Regellosigkeit. In seinen Versen begegnet man hydrologischen Metaphern in unterschiedlichen Zusammenhängen: Gesang, Ausdruck, Rhythmus ströme, sei wie ein Strom, ströme zu Gott.Footnote 75 Obgleich er die poetische Sprache sakralisiert und zu einem Medium formt, um mit der göttlichen Sphäre zu kommunizieren, identifiziert er den Strom noch nicht mit seinem Ich oder mit einer anderen Person. Der Strom soll die Verbindung des Irdischen mit dem Göttlichen nur symbolisieren. Würde er den Menschen mit dem Strom identifizieren, würde er ihn vergöttlichen, mit anderen Worten: zum Genie erheben, zum prometheischen Schöpfer in Konkurrenz zu Gott.Footnote 76

Dass Goethe Menschen vergöttlicht, unterscheidet ihn und die jungen Dichter der 1770er Jahre von dem 25 Jahre älteren Vorbild Klopstock. Nicht der Dichter war bei Klopstock ein Strom, sondern seine Verse oder seine Seele. Goethe dagegen verzichtet auf die Metonymien des Selbst und setzt das Individuum mit dem Strom gleich: in »Mahomets Gesang« der muslimische Religionsstifter, aber zugleich das lyrische Ich, das den Zuwachs von dessen Gefolgschaft mit einem wachsenden Strom vergleicht und damit seine eigene Kraft als lyrisches Subjekt indirekt versinnlicht.Footnote 77

Hölderlins ›Der Ister‹ kann durchaus als Kontrafaktur der genieästhetischen Stromdichtung gelesen werden, da die seit Goethes »Mahomets Gesang« typische Identifikation von Ich und Strom ausbleibt;Footnote 78 ebenso die für Goethe typische Einheit von physikalischer Natur und moralischer Welt des Ich, von Objekt und Subjekt: Was der Strom tut, weiß man nicht; und über das Ich ist nur bekannt, dass es über den Strom meditiert, ohne dass dieser den Willen jenes Ich versinnbildlicht.

V.

Die vorausgehende dritte Strophe nähert sich dem Fluss nicht poetologisch, sondern hydrologisch, indem sie mit dem Kreislauf des Wassers einen Aspekt des Stroms aufgreift, der in Horaz’ Vergleich Pindars mit einem Sturzbach fehlt, für Klopstock, Goethe und Hölderlin aber zentral ist. Aufgrund der Qualität des Fließens sind Fluss, Strom oder Sturzbach niemals sinnlos, d. h. richtungslos. Sie sind gerichtet und verfolgen ein Ziel. Fragt man, wohin ein Fluss fließt, dann lautet die Antwort in der Regel, er fließe ins Meer oder in den Ozean. Es sei denn, er ist vorher in einen größeren Fluss geflossen oder in einem unterirdischen Flusssystem verschwunden. Diese Beobachtung, der Fluss münde im Ozean, gab Anlass zu einer theologischen Deutung des Flusses nach dem folgenden Schluss: Der Ozean ist Symbol des Unendlichen; der Fluss aber ist endlich und damit irdisch, besitzt aber einen göttlichen Ursprung; das Verhältnis von Fluss zu seinem Ziel ist analog zum Verhältnis des Irdischen zum Göttlichen. Dieser Aspekt war für das große Interesse am Strom in der deutschen Literatur der Aufklärung, die sich in steter Reibung mit theologischen Diskursen entfaltete, ebenso ausschlaggebend wie die von Horaz anhand von Pindar ins Spiel gebrachte Fülle und regellose Gewalt des genialischen Dichters. Der theologische Diskurs hat den Wasserkreislauf dabei vorinterpretiert.

Die Sprachgeschichtsforschung konnte zeigen, dass die deutsche Literatursprache des 18. Jahrhunderts von Wassermetaphorik getränkt ist.Footnote 79 Mystische Traditionen, vor allem der Pietismus haben das Verhältnis des einzelnen Menschen zu Gott in einer introspektiven, seelenanalytischen Sprache in zahlreichen Schriften ausdifferenziert.Footnote 80 Die Sehnsucht nach dem Unendlichen und der Wunsch nach Selbstauflösung sind mit dem Wasserkreislauf genauso adäquat darstellbar wie der göttliche Ursprung des Stroms respektive des sich mit ihm identifizierenden genialischen Ich. Der Strom ist nicht nur Ausdruck des aktiven Genies und seines kulturstiftenden Strebens, sondern auch Annihilation dieses Willens.

Goethe hatte die prometheische Kraft des Stroms mit dessen Tendenz der Selbstauflösung in Balance gebracht: Ziel des Stroms bleibe bei all seiner schöpferischen Kraft der Ozean. Individualisierung und Entindividualisierung halten sich die Waage. In »Mahomets Gesang« wird just diese zyklische Bewegung zum Prinzip des Gedichtes gemacht. Das Gedicht behandelt Entstehung und Wachstum des Stroms, der alles mit sich fortreißt, sich mit seinen Brüderquellen vereinigt und als Prophet Mohammed personifiziert wird. Schon zu Beginn kündigt der Strom an, sich mit seinem Vater zu vereinigen: »Jünglingsfrisch / Tanzt er aus der Wolke / Auf die Marmorfelsen nieder, / Jauchzet wieder / Nach dem Himmel.« In der eingeschalteten Rede der Brüder sagen diese: »›Bruder, nimm die Brüder mit, / Mit zu deinem alten Vater, / Zu dem ew’gen Ozean, / Der mit ausgespannten Armen / Unser wartet‹«.Footnote 81 Obgleich das Ich den »Himmel«, die Brüderflüsse aber den »Ozean« als Vater vorstellen, teilt Goethes Gedicht das neue hydrologische Wissen.Footnote 82 Die hydrologische Lehrmeinung war noch bis in das 18. Jahrhundert davon ausgegangen, dass der Wasserkreislauf ein rein irdisches Phänomen sei.Footnote 83 Dieses Wissen spiegelt die traditionelle Fluss-Mythologie wider. Die Aufklärungsepoche hat die Vorstellung einerseits verabschiedet, andererseits – wie den Sonnenaufgang – weitertradiert. So kommt es, dass man bei einem jüngeren Dichter als Goethe wie Friedrich Hölderlin immer noch mit beiden Versionen zu rechnen hat.Footnote 84

Die Besonderheit von Goethes »Mahomets Gesang« liegt im Ausgleich des aktiven und des passiven Stroms. Der Strom ist – mit zwei Gedichttiteln Goethes aus den 1770er Jahren gesprochen – sowohl »Prometheus« als auch »Ganymed«. Andere Stürmer und Dränger wie Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg blieben dagegen einseitig auf die Aktivität fokussiert.Footnote 85

Hölderlin vereinseitigte in seinen früheren Stromgedichten die andere Seite, indem er den Topos des personifizierten Stroms, der als freie Naturgewalt in den Armen des Schöpfers endet, fortschrieb. Seine Flüsse suchen das Ende, die Auflösung, das All.Footnote 86 Im ›Ister‹ spielt das Narrativ der Auflösung und Selbstaufgabe im Unendlichen keine Rolle mehr. Wenn sich Hölderlin in dieser Hinsicht gegen die Tradition der Stromdichtung wendet, dann grenzt er sich wie im Falle der Praxis, die Einheit von Ich und Wir aufzugeben, von sich selbst ab.

Trotz seiner Aufgabe des sich mit dem All vereinigenden Flusses – die durch eine gewisse Abnutzung bedingt sein mag – blieb der Wasserkreislauf für Hölderlin weiterhin interessant. Das hydrologische Phänomen wird, hier folge ich dem Vorschlag von Alexander Honold,Footnote 87 in der dritten Strophe thematisiert, um den Vergleich der beiden Flüsse Ister und Rhein in der letzten Strophe vorzubereiten. Zunächst wird gesagt, dass Flüsse nicht sinnlos (d. h. ohne Richtung und Ziel) in der Erde flössen bzw. gingen. Hölderlin verwendet für ›sinnlos‹ das Adverb »umsonst«Footnote 88 und für ›Erde‹ die Wendung »Im Troknen«: »Umsonst nicht gehn / Im Troknen die Ströme.« (49 f.) Die Passage läuft darauf hinaus, dass das Fließen der Flüsse im Erdreich nicht nur eine horizontale kulturgeografische Bedeutung zwischen Ost und West habe, sondern auch eine vertikale zwischen Himmel und Erde.Footnote 89 Diese vertikale Bedeutung ist rein sprachlich erfassbar durch ein »Zeichen«:

»Ein Zeichen braucht es

Nichts anderes, schlecht und recht, damit es Sonn

Und Mond trag’ im Gemüth’, untrennbar,

Und fortgeh, Tag und Nacht auch, und

Die Himmlischen warm sich fühlen aneinander.

Darum sind jene auch

Die Freude des Höchsten.« (50–56)

Der Ister schafft nicht nur einen irdischen Kulturraum, er ist nicht nur Kulturstrom zwischen Ost und West. Genauso schafft er wie jeder andere Fluss eine Brücke zwischen Himmel und Erde. Er ist ein »Zeichen« (50) dieser Verbindung, und Hölderlin versteht, wissenschaftlich auf dem neuesten Stand, nicht mehr wie in früheren Gedichten den Ozean als Vater des Flusses, sondern den Himmel, und als Mutter die Erde: »Denn wie käm er / Herunter? Und wie Hertha grün, / Sind sie die Kinder des Himmels.« (56–58) [mit anderen Worten: ›Die Flüsse sind die Kinder des Himmels und der grünen Erde.‹ A.N.]Footnote 90 Diese Stelle bestätigt Heideggers These, Hölderlins späte Hymnik könne nicht mehr sinnbildlich gelesen werden.Footnote 91 Erst sobald man diese Stelle metaphysisch liest, wird sie esoterisch und nicht mehr verständlich. Für die Argumentation des Gedichtes jedenfalls ist ihre Funktion eindeutig: Die allgemeine hydrologische Reflexion motiviert den Vergleich mit dem Rhein, dem Gegenstrom. Dagegen wird der Wasserkreislauf als ein zentrales Strukturelement der traditionellen Stromdichtung nicht mehr sinnbildlich, sondern eigentlich bzw. hydrologisch gebraucht. Der literale Gebrauch ist unüblich; anders gesagt, entspricht er nicht der Tradition der Stromdichtung. Nirgends gibt es Signale, die auf eine tiefere Bedeutung verweisen oder die es erlaubten, das Phänomen als Ausdrucksmittel für das Sehnen nach dem Göttlichen oder aber für ein göttlich begründetes Streben zu nutzen.

VI.

Die Literalisierung ist ebenfalls charakteristisch für die mythologische zweite Strophe. Sie gilt dem Autor Pindar. Wenn, wie an der vierten Strophe gesehen (IV), Hölderlin im ›Ister‹ die auf die Autorität Pindars gestützte Gleichsetzung zwischen Individuum und Strom aufgibt und den Strom zugleich nicht mehr als Genie denkt, dann gibt Hölderlin keinesfalls Pindar auf, d. h. die Autorität des stromartigen als genialischen Dichtens. Im Gegenteil – es gibt wohl kein Stromgedicht, in dem Pindar dermaßen präsent ist wie in ›Der Ister‹. Das gleiche gilt für den Strom als Halbgott. Der Strom wird nicht mehr wie noch in »Der Rhein« als Halbgott qualifiziert, und dennoch ist mit Herkules’ Erscheinen die denkbar folgerichtigste Verwendung des Halbgottes geschaffen worden. In der zweiten Strophe, die die gastliche Eigentümlichkeit des Flusses über die Beschreibung (descriptio) der Flusslandschaft und die Erzählung (narratio) einer Flussmythe zum Gegenstand hat und die einen ersten Gegensatz zur Exposition des lyrischen Wir eröffnet, ist Pindar zweifelsfrei gegenwärtig.

So wie Pindar zu dichten, bedeutete für Klopstock, Goethe oder Stolberg mehr Metapher als philologische Wirklichkeit. Hölderlin dichtet den ›Ister‹ buchstäblich in Gemeinschaftsarbeit mit Pindar. Pindar tritt nicht auf, wie es die Konvention vorsieht, ist weder emphatisch eine Geste noch metonymisch ein bestimmter Stil. Die Autorität Pindars ist für Hölderlin nicht geringer als für den jungen Goethe, aber seine Aneignung Pindars ist differenzierter und zugleich ganzheitlicher. Er ahmt Pindar bis ins kleinste Detail nach: motivisch, formal, sprachlich. Nägele weist darauf hin, dass das Einverständnis mit Pindars poetischer Welt so weit gehe, »dass es auch die Syntax tief greifend verändert. Bisher war die Syntax hart gefügt parataktisch: jeder Satz eine Setzung und Absetzung vom nächsten«.Footnote 92 Wenn Hölderlin die Pindars dritter Olympischer Ode entnommene Herkules-Mythe in sein Gedicht einbettet, dann wiederholt er nicht nur Pindars Verfahren, Mythen in die Lyrik einzuflechten, sondern holt aufgrund der formalen Mimikry zugleich den Originalautor zu sich: »In dem Moment, wo das Gedicht die Pindarische Geschichte erzählt, wie Herkules zu Gast zum Ister und dessen gastlichen Hainen geladen wird, lädt es auch die Pindarischen Satzperioden zu sich zu Gast.«Footnote 93 Pindars Autorität hat den Vergleich des Dichters mit einem Strom und manch Stromgedicht begründet; für Hölderlin spielt dieser Zusammenhang keine Rolle. Pindar erscheint zwar im Gedicht über den Strom, aber nicht mehr als Legitimation eines stromartigen Dichtens, sondern als Quelle für eine mit dem Ister verbundene Geschichte.

Nach einer Charakterisierung des Flusses qua Beschreibung seiner räumlichen Attribute am Oberlauf erfolgt die Narration der Mythe. Diese Mythe ist exemplarisch zu verstehen. Dass das lyrische Ich die Wortbewegung des lyrischen Wir von Ost nach West vernommen hat, demonstriert es durch die Tradierung jener Mythe, wonach Herkules an die Quellen der Donau gegangen sei. Die genaue Beschreibung der Flusslandschaft am Beginn der zweiten Strophe besitzt die Funktion, der auf sie folgenden Mythe einen geschichtlichen Raum zu geben. Er »wohnt schön« (22), weshalb er ein guter Gastgeber sei:

»So wundert

Mich nicht, daß er

Den Herkules zu Gaste geladen,

Fernglänzend, am Olympos drunten,

Da der, sich Schatten zu suchen

Vom heißen Isthmos kam,

Denn voll des Mutes waren

Daselbst sie, es bedarf aber, der Geister wegen,

Der Kühlung auch. Darum zog jener lieber

An die Wasserquellen hieher und gelben Ufer,

Hoch duftend oben, und schwarz

Vom Fichtenwald, wo in den Tiefen

Ein Jäger gern lustwandelt

Mittags, und Wachstum hörbar ist

An harzigen Bäumen des Isters,« (26–40)Footnote 94

Wie der hydrologische Diskurs der dritten Strophe mit dem Wasserkreislauf und der genieästhetische Diskurs der vierten Strophe mit dem aktiven Rhein greift der mythologische Diskurs der zweiten Strophe mit Pindar ebenfalls ein zentrales Element der Stromdichtung auf. Für die poetische Ökonomie ist der Pindar-Bezug deshalb glücklich, weil mit ihm ein weiteres Element der Stromdichtung, der Halbgott, ohne Aufwand mitverhandelt wird. Im Unterschied zur Strophe 4 erweist sich die kontemplative Einstellung des Ich in Strophe 2 nicht als Negation der traditionellen Stromdichtung und ihrer Elemente, sondern wie in Strophe 3 als Literalisierung. Pindar erscheint buchstäblich. Die intertextuelle Arbeit an der pindarischen Ode kann gleichfalls als Ästhetisierung Pindars begriffen werden, womit konkret die epideiktische Ausstellung seiner Rede gemeint ist.

Als entscheidend für das hier dargelegte Verständnis von Hölderlins ›Ister‹ hat sich der Vorgang einer Differenzierung erwiesen. Die Differenzierung der lyrischen Sprechinstanz in ein eigentliches Ich und uneigentliches Wir bildet die Möglichkeit für das lyrische Ich, sich vom Fluss bzw. seiner traditionellen literarischen Mediatisierung zu distanzieren, und verhindert die klassische Identifizierung des lyrischen Subjekts mit seinem Gegenstand. Die Bausteine der Flussdichtung werden nicht mehr instrumentell als Ausdrucksmittel für abstrakte theologische oder anthropologische Probleme verwendet, sondern sind lyrischer Selbstzweck. Sie werden vom lyrischen Ich im Gedicht ausgestellt, neu gerahmt und verfremdet.

Für die Verdeutlichung der literaturwissenschaftlichen Argumentation wurde im zweiten Teil dieses Aufsatzes (IV–VI) die Strophenfolge umgekehrt, da erst Strophe 4 den behaupteten Kontrast des Ich zum hymnischen und aktivistischen Wir der Strophe 1 poetologisch begründet. Dagegen erfolgen auf der internen Argumentationsebene des ›Ister‹ zunächst die Literalisierung der pindarischen Autorität der Stromhymnik in Strophe 2 und dann die Literalisierung des Wasserkreislaufes in Strophe 3, bevor in Strophe 4 der aktivistische Geniestrom und die damit verbundene Identifikation von Ich und Strom negiert werden. Hölderlins Vorgehen ist nachvollziehbar, da die Konsequenz aus der lyrischen Argumentation üblicherweise am Ende gezogen wird. Insofern das kontemplative, aus dem Gegensatz zu einer aktiven, aber fiktiven Sprechinstanz entstandene lyrische Ich als distanzierter Erzähler, Beobachter und Reflektor auftritt, der die Elemente der Stromdichtung literalisiert und negiert, darf man sagen, dass ›Der Ister‹ die traditionelle Stromdichtung verabschiedet.