I.

Das für die Schweiz wichtigste Stück der Weltliteratur ist bekanntlich der Wilhelm Tell eines Schwaben. Das für die Welt wichtigste Buch eines Schweizers dagegen – denn zu Jean-Jacques Rousseaus Zeit war Genf ja der Eidgenossenschaft noch nicht beigetreten – hat ein anderer Jean Jacques oder doch einer geschrieben, den die Seinen pro domo bei dieser gallisierten Form seines Namens zu nennen pflegten: Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Bachofens Mutterrecht bildet den Beginn einer diskursgeschichtlichen Entwicklung, die über die angelsächsische Ethnologie zu Karl Marx, Friedrich Engels und August Bebel führt, von dort aus zum modernen FeminismusFootnote 1 (mit einer allerdings älteren VorgeschichteFootnote 2) und weiter in die postmoderne Gendertheorie, samt den politischen Postulaten, die aus ihr ableitbar sind und mit denen wir uns nach wie vor schwertun, we too.

Zu fragen gilt es nun einmal, wie sich dieses für die Welt so wichtige Buch aus der Schweiz zu jenem für die Schweiz so wichtigen Stück aus der Weltliteratur verhält. In welchem Verhältnis steht Das Mutterrecht zu Wilhelm Tell, zum Tell- und dem ganzen Ursprungsmythos der Eidgenossenschaft? Gibt Das Mutterrecht zu erkennen, dass sein Verfasser Staatsbürger einer Nation war, der Schiller ihr endgültiges Gründungsnarrativ lieferte? Merkt man dem Mutterrecht und den damit unmittelbar verwandten Texten an, dass der Verfasser einer Alterskohorte angehörte, deren Selbstbild der deutsche Klassiker mit seinem Drama, der Pflichtlektüre an Schweizer Schulen, so nachhaltig bestimmt hat? Man braucht nur an Gottfried Keller und das Tell-Kapitel des Grünen Heinrich zu denken.

Um das Fazit schon einmal klipp und klar zu antizipieren: Ja, Das Mutterrecht und was Bachofen in dessen Umkreis sonst noch publizierte, verrät sehr wohl, dass es ein Schweizer war, der es geschrieben hat – übrigens schon der sprachlichen Form nach, nämlich in Form gelegentlicher Helvetismen der gröberen Sorte (»der Hand ihre hohe Bedeutung«Footnote 3 und dergleichen). Aber das nur nebenher.

Dass der Verfasser des Mutterrechts und seiner Kollateraltexte nicht nur Schweizer, sondern als Schweizer auch durch Schillers Drama oder durch den Mythos geprägt war, dem Schiller seine definitiven Lineaturen verlieh, das kann man dem einen wie den anderen sowohl im Großen und Ganzen als auch en détail immer wieder ansehen. Allen voran, aber eben nicht ausschließlich sieht man es dem ersten dickeren Buch an, das Bachofen nach dem Mutterrecht zu dessen Fragestellung veröffentlichte: Die Sage von Tanaquil. Eine Untersuchung über den Orientalismus in Rom und Italien. Wie dieser Untertitel besagt, geht es in der Sage von Tanaquil um orientalische, das heißt hier: präpatriarchale Erscheinungen in Rom und Italien, und das wiederum heißt: in exakt dem Segment »der alten Welt«, das im Mutterrecht noch ausgespart blieb oder dem dort jedenfalls noch kein eigenes Kapitel gewidmet war.

In der Vorrede und Einleitung der, man könnte also sagen, Fortsetzung oder Komplementärstudie zum Mutterrecht handelt Bachofen unter anderem ganz grundsätzlich von der Arbeit am Mythos. Thematisch wird namentlich der »Aeneasmythus«.Footnote 4 Insbesondere geht es um das Faktum, dass Vergil »nicht der erste und auch nicht der einzige« war, der an diesem einen Mythos arbeitete.Footnote 5 Das gibt Bachofen einmal mehr Gelegenheit, sein ceterum censeo zu platzieren, eine Mitgift noch aus seinen Gymnasialjahren,Footnote 6 zu der er sich beispielsweise auch schon in der Vorrede und Einleitung zum Mutterrecht bekannt hatte: »Es gibt nur einen einzigen mächtigen Hebel aller Zivilisation, die Religion.«Footnote 7 Und bereits im Versuch über die Gräbersymbolik der Alten, aus dem heraus sich Das Mutterrecht zu einem eigenständigen Projekt erst auswuchs,Footnote 8 erscheint »das religiöse Denken […] nicht nur als der mächtigste, sondern geradezu als der einzige Faktor der Zivilisation«.Footnote 9

Die Hebelwirkung religiöser und mythischer Überlieferungen besteht für Bachofen darin, dass sie »einem ganzen Volke« zur Selbstgewinnung seiner Ganzheit und Gruppenidentität zu verhelfen die Macht haben.Footnote 10 Sie nehmen so »maßgebende[n] Einfluß« auf »die Entwickelung seiner Geschichte«.Footnote 11 Heute würde man sagen, sie helfen einer imagined community bei der Selbstimagination ihrer Einheit. Oder noch einmal anders gesagt: Sie sind die Bildner einer Wir-Funktion, das Medium eines kollektiven Spiegelstadiums, durch das und in dem das Imaginäre einer Nation via Narration zu sich selbst findet.

Dass Bachofen den Wert solcher Traditionen wieder und wieder zu betonen sich genötigt fühlte, hatte eine besondere Ursache in dem Abstand, in dem sich seine Überzeugung zu den lebensweltlichen Gegebenheiten seiner eigenen Gegenwart befand. Diese Gegenwart, die »Menschen des neunzehnten Jahrhunderts«,Footnote 12 ihre nurmehr ephemer-banalen Lebensinhalte und -zwecke stellte er in der Vorrede und Einleitung zur Sage von Tanaquil der gewaltigen Energie gegenüber, welche die Römer einst dazu befähigte, ihre unendlich höher gesteckten Ziele zu erreichen. Um solches seinen unmittelbaren Zeitgenossen begreiflich zu machen und zumal auch seine Landsleute »heute richtig urteilen« zu lassen über den »Gang der Geschichte«,Footnote 13 schweifte er nun aber nicht nur in den »Fernen« des antiken Kulturraums und des Imperium Romanum;Footnote 14 sondern er zeigte auch auf die Schweiz. Er kam hier einmal, und unter seinen autorisierten Publikationen zum einzigen Mal,Footnote 15 auf »unsere[] Tellsage« zu sprechen:

Wir Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, denen es meist genügt, wenn sie wissen, was sie essen und trinken, wie sich kleiden, wie sich vergnügen sollen, sind kaum imstande die Gewalt zu ermessen, welche hohe Ziele einem ganzen Volke verleihen, noch weniger die Bedeutung zu würdigen, welche populäre Traditionen wie die Aeneassage für die Entwickelung der Volksgeschichte besitzen. Wir sehen in ihnen literarische Machwerke, betrachten sie als Gegenstände literarischer Streitfragen, halten sie für spät gedichtete Märchen oder mythische Vorbildungen geschichtlicher Ereignisse: dem Altertum sind sie Elemente der Kraft und gleich unserer Tellsage auf die Gesinnung des Volkes und die Entwickelung seiner Geschichte von maßgebendem Einfluß. Virgils Gedicht ist dem Römer nur darum das beliebteste Volksbuch, weil er in ihm sich, seine Schicksale, seinen leitenden Volksgedanken wieder erkennt.Footnote 16

Wie in der »Aeneassage«, die Vergil auf ihre seither fixierten Umrisse brachte, indem er mit der Aeneis kein literarisches Machwerk, sondern das aus gutem Grund bleibende Nationalepos der Römer schuf, so darf man also auch in der »Tellsage« nicht einfach einen trivialen Gegenstand literarischer Streitfragen sehen. Zu einem solchen war sie just zu Bachofens Lebzeiten wieder geworden, nachdem sich schon im Humanismus leise Zweifel daran geregt hatten, die seither nie mehr ganz verstummten. Schon Joachim Vadian äußerte eine vage »Bersorg[nis]«, dass da »vil fabelwerch« hineinspielen könnte »und anders darnebend, das sich der warhait nit verglicht«.Footnote 17 Zu den späteren Zweiflern an der »histoire […] bien suspecte« gehörte erwartungsgemäß auch VoltaireFootnote 18 oder in der Schweiz ein Franz GuillimannFootnote 19 und in Bachofens Vaterstadt der berühmte Isaak IselinFootnote 20 sowie schon dessen Nachnamensvetter Jakob Christoph.Footnote 21

Skandal machte aber erst ein anonymes Pamphlet, das 1760 auf Deutsch und Französisch erschien, verfasst von Uriel Freudenberger und dem ältesten Sohn des großen Berner Universalgelehrten, Gottlieb Emanuel von Haller.Footnote 22 Von Haller jedoch scheint dann als Staatsdiener gesetzteren Alters im Nachhinein Angst vor seinem eigenen Mut oder jugendlichen Übermut bekommen zu haben. In einer Rede, in der er sich nun plötzlich für die Verlässlichkeit der Überlieferung um Tell stark machte, 1772, gab er klein bei und distanzierte sich von »der so berüchtigten Schrift«,Footnote 23 die er in einem späteren Literaturverzeichnis wieder wie gehabt anonym aufführte,Footnote 24 als deren »Verfasser« er dagegen in der Rede den »sel. Pfarrer Freudenberger« nannte.Footnote 25 Der selige Pfarrer, dem das also nichts mehr anhaben konnte, galt seither allein, doch zu Unrecht, als der eigentliche Urheber der so berüchtigten Schrift, während offenbar von Haller bei Gelegenheit kolportiert haben soll, sein Anteil daran habe immerhin in einer Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsche bestanden.Footnote 26 Und ohnedies sei alles »nur ein Spaß, und nicht Ernst« gewesen.Footnote 27

Freudenberger und von Haller war aufgefallen, was man indessen schon bei Jakob Christoph IselinFootnote 28 oder etwa auch im Schweitzerisch HeldenBuch des Baslers Johann Jakob Grasser nachlesen kann,Footnote 29 dass nämlich Saxo Grammaticus in seinen Gesta Danorum, ein gutes Jahrhundert vor Tellenschuss und Rütlischwur, von einem Toko oder Tocco ein gestum überliefert, das frappant dem gleicht, was im und seit dem sogenannten Weißen Buch von Sarnen über »de[n] Thäll« oder »Thall« geschrieben steht:Footnote 30 »pomum […] e distantia«; »principis improbitas patris fidutiam ad filii periculum transtulit«; »in te […] errorem […] uindicarem«;Footnote 31 »cum exinaniendi uentris gratia arbustis insideret, a Tokone iniuriarum suarum ultionem sitiente sagitta uulnus excepit«.Footnote 32

Ob auch Schiller oder Bachofen hiervon wussten oder wie ernst sie es gegebenenfalls nahmen, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Es hängt zunächst einmal davon ab, wie genau der eine oder der andere den Paratext einer bestimmten Quelle studierte. Die »wichtigste Quelle des Dichters«Footnote 33 waren bekanntlich Johannes Müllers oder von Müllers Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft, deren erste Auflage,Footnote 34 um es genau zu nehmen. Denn sie beziehungsweise ihr (hier allein wichtiger) erster Band wurden schon zu Müllers Lebzeiten nicht weniger als drei-, je nach Zählung sogar fünfmal aufgelegt.Footnote 35 Wahrscheinlich in ihrer Ausgabe letzter HandFootnote 36 oder dann am ehesten in einer ihrer postumen Auflagen, die alle auf dieser Ausgabe basiert sind, müssen sie auch zu den allerältesten Beständen der Bachofen’schen Handbibliothek gehört haben. Wie nämlich anlässlich der »Promotio Frühling 1831« in einem Verzeichnis der ausgeteilten »Præmia« doppelt protokolliert ist, hatte der notorische, damals fünfzehnjährige Musterschüler »J. J. Bachofen……Müllers Gesch. d. Eidg.« für seine Bestleistungen in gleich vier von insgesamt acht Sparten überreicht bekommen (Latein und Deutsch, »Sittenloos« und »Schreibloos«).Footnote 37 Und aus seinen Schulaufsätzen der folgenden Semester oder den dort inserierten Zitaten geht Wort für Wort hervor, wie leidenschaftlich er den auch nach seinem späteren Dafürhalten »großen schweizerischen Historiker[]«Footnote 38 in seinen formativen Jahren las; eventuell, wenn denn in einer postumen, in einer Ausgabe der 1810er Jahre,Footnote 39 das aber hieße in einer, in der die sämtlichen Fußnoten in zwei Anmerkungsbände ausgelagert sind.

Allein schon aus den zahlreichen Auflagen seiner Geschichten und aus der Verwendung, die diese bei der Bildung heranwachsender Eliten fanden, lässt sich ersehen, welch eines hohen Status Johannes Müller sich einst erfreuen durfte. Er war zu seiner und zu Bachofens Zeit eine unbestrittene Autorität, in seinem Epitaph schlechterdings mit Thukydides und Tacitus auf eine Stufe gestellt. Dem Verfasser des Wilhelm Tell war sein Gewährsmann teuer und wichtig genug, um ihm im Sprechtext des Dramas sogar expressis nominibus zu huldigen und folglich für diese auch noch typografisch hervorgehobene Huldigung einen groben Anachronismus in Kauf zu nehmen (im Reflex vielleicht auf eine extrem ehrrührige Diffamierung seiner, Müllers, Person oder vielmehr seiner sexuellen OrientierungFootnote 40): »ein glaubenswerther Mann, / Johannes Müller […] von Schafhausen«.Footnote 41

In den Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft nun geht Müller von der ersten Auflage an auf jenen dänischen Meisterschützen zwar ein. Doch tut er es in einer sonderbar ambivalenten und in ihrer Ambivalenz Bände sprechenden Weise. Im Fließtext erwähnt er ihn nirgends. Aber er diskutiert die hier einschlägige Forschung in einer seitenlangen Fußnote, einer der überhaupt längsten: Es zeuge von »geringe[r] Erfahrung«, »die Aehnlichkeit« zweier separat tradierter Überlieferungen als Argument für eine stemmatisch-genetische Abhängigkeit der jüngeren und also gegen deren faktuale Zuverlässigkeit ins Feld zu führen.Footnote 42 »Daß Tell, Uraniensis libertatis propugnator, damals gelebt«Footnote 43 habe – ein Zitat aus der sogenannten Klingenberger ChronikFootnote 44 –, das stehe fest und außer jedem Zweifel. Dessen muss Müller sich und den Leser seiner Fußnote an deren Ende gleich nochmals versichern, nachdem er auch die »mit Scharfsinn […] ausgeführt[en]« »Beweise« gewürdigt hat, die namentlich »Herr von Haller der Sohn« dafür reumütig vorlegte.Footnote 45 Dieses bekräftigende Ende hat er in der Ausgabe letzter Hand eigens noch in Sperrdruck setzen lassen, wo er auch nominatim gegen Freudenberger austeilt – nichts sei »seichter« als solcherlei Auslassungen, »deren Ungrund die tägliche Erfahrung zeig[e]« –: »Gewiß hat dieser Held […] gelebt […], solche Unternehmungen wider die Unterdrücker […] gethan, durch die dem Vaterland Vortheil erwachsen, so daß er das dankbare Andenken der Nachkommen verdientFootnote 46

Dass Müller die Forschungsdiskussion in den Anmerkungsapparat versenkt, um seiner eigenen Position dann aber endlich doch im Druckbild und durch Redundanzen eine gleich mehrfache Emphase zu verleihen, ist so verdächtig wie der apodiktische, zuletzt auch polemische Ton, den er in der Fußnote anschlägt und dessen ira et studium sich eher schlecht mit dem taciteischen Abstinenzgebot vertragen. Solche angestrengten Bekräftigungen verraten nur, wie schlimm es um die historisch-faktische Belastbarkeit des Tell-Mythos schon zu der Zeit bestellt war, da ihm Schiller in blindem und hier ungerechtfertigtem Vertrauen auf seinen hier durchaus nicht mehr glaubenswerten Kronzeugen die bleibende Gestalt gab. Vollends geschehen war es um die Glaubwürdigkeit auch und gerade dieser Gestalt, als den Deutschschweizer Tacitus oder Thukydides die philologisch-quellenkritische Methodologie einholte, wie sie Barthold Georg Niebuhr eine knappe Generation später begründet und als Konsequenz seiner Auseinandersetzung mit Livius formalisiert hatte (dem Bachofen seinerseits aufs Wort zu trauen pflegte und auf dessen vorbehaltslos vorausgesetzter Verlässlichkeit die Sage von Tanaquil ganz und gar beruht): »Die Geschichte«, wie in diesem Fall die »Geschichte der vier ersten Jahrhunderte Roms«, müsse »anerkannt ungewiß« und im Dunkeln bleiben,Footnote 47 wenn keine je zeitgenössischen Zeugnisse sie dokumentieren.Footnote 48 Die hier jeweils klaffenden Wissenslücken zu schließen sei schlechtweg ein Ding der Unmöglichkeit.Footnote 49

So rigoros geprüft, hielten die Tell- und die Rütlisage einer Probe auf ihre Vertrauenswürdigkeit ebenso wenig stand wie alles, was in »der Livianischen Königsgeschichte«Footnote 50 aus den ersten Jahrhunderten ab urbe condita zu lesen ist. In den Dokumenten des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts kam schlicht und einfach nichts davon vor. Es war ein Landsmann und Zeitgenosse Bachofens, der zu diesem Schluss gelangte, als er mit der schweizerischen Geschichte ähnlich streng verfuhr, wie es mit der römischen etwas später Theodor Mommsen tat, der ihm, Bachofen, am tödlichsten verhasste unter allen seinen Kollegen. Gemeint ist Joseph Eutych Kopp, der vielleicht nicht von ungefähr keinen nennenswerten Platz im kollektiven Gedächtnis der Schweiz einnimmt, von dem aber schwer zu glauben ist, dass ihn auch Bachofen ignorieren konnte. Denn es wird ihm als einem Alumnus und Emeritus der Universität Basel kaum entgangen sein, als seine Alma Mater gleichsam vor seinen eigenen Augen »JOSEPHUM EUTYCHIUM KOPP« mit einem Ehrendoktorat auszeichnete, namentlich für seine »libri[] de fœderibus Helvetiorum conscripti[]« und für die Verdienste, die er sich damit um die »historia patria« erworben hatte.Footnote 51 Das war 1860, ein Jahr vor dem Mutterrecht, ein Jahrzehnt vor der Vorrede und Einleitung zur Sage von Tanaquil und für das Empfinden manch eines MitbürgersFootnote 52 längst überfällig, ein schon geschlagenes Vierteljahrhundert nachdem der so Geehrte die Geschichte vom Tell, Thäll oder Thall erstmals mit den urkundlichen Zeugnissen abgeglichen oder vielmehr abzugleichen ganz vergeblich versucht hatte.Footnote 53

Die Ergebnisse dieses Versuchs mochten noch so verheerend ausfallen, an der eidgenössisch-monumentalistischen Erinnerungskultur änderten sie kaum etwas. (Richard Kisslings Tell-Denkmal und Ferdinand Hodlers Portraitgemälde sind sechs Jahrzehnte jünger.) Nicht einmal einen ›radikalen‹ Fortschrittler wie Gottfried Keller konnte dergleichen anfechten, der das »treue[] Gedächtniß des Volkes« und dessen »lebendige[] Überlieferung« in ähnlicher Weise vor »den Gelehrten« in Schutz nahm wie Bachofen.Footnote 54 Und diesem vermochten Kopps Resultate erst recht nichts anzuhaben, so wenig wie etwa Mommsens vernichtendes Urteil über Vergils Aeneis,Footnote 55 wenn er es denn je zur Kenntnis nahm. Für Bachofen, der sich auch schon als praktizierender Christ »des neunzehnten Jahrhunderts« darauf verstanden haben wird, dem Glauben an die Überlieferung seine sacrificia intellectus darzubringen, war »unsere[] Tellsage« trotz aller historiografischer Evidenz, die Dr. h.c. Kopp zusammengetragen hatte, weder ein »spät gedichtete[s]« noch überhaupt ein »Märchen«. (Genau so, als »Mährgen«,Footnote 56 hatten sie bereits jene beiden Anonymi in ihrer berüchtigten Schrift bezeichnet.) Tell- und Rütlisage waren und blieben mehr als literarisches Machwerk und etwas anderes denn »mythische Vorbildungen«; ein Substantiv, das seinerzeit schlechtweg so viel wie ›Phantasmata‹ bedeuten konnte.Footnote 57

Mit seiner Auffassung des Tell-Mythos, die sich eben leicht an eine ›Vor-bildung‹ im Lacan’schen, aber ins Kollektive hochkopierten Sinn eines Spiegelstadiums anschließen ließe, bietet Bachofen eine griffige Erklärung für die Rezeptionskarriere, die Schillers Dramatisierung dieses Mythos in der Schweiz beschieden war. Es ist eine Erklärung auch dafür, dass die Laien von Interlaken Jahr für Jahr das Drama von immer wieder Neuem spielen, oder dafür, dass sich die Zuschauer bei seiner Rütlischwur-Szene erhoben, als es am Vorabend des Zweiten Weltkriegs am Zürcher Schauspielhaus gegeben wurde.Footnote 58 Und kein Zufall wird es sein, wenn man in den folgenden Kriegsjahren, im Zuge der Geistigen Landesverteidigung, das Erklärungs- oder Rettungsangebot Bachofens unter expliziter Berufung auf diesen wiederaufnahm: so Curt Englert-Faye in seinem Wälzer Vom Mythus zur Idee der Schweiz, 1940Footnote 59 (mit Motti des »Johannes Müller von Schaffhausen«Footnote 60); oder Friedrich Eymann in seiner schon ungleich alarmistischer titulierten Broschüre über Das schweizerische Geistesleben in der Krise der Gegenwart, 1943.Footnote 61

Wie also Vergil den Mythos von Aeneas und der Gründung Roms zwar weder als Erster noch als Einziger aufgriff, ihm aber die Form zu verleihen verstand, in welcher ›der‹ Römer sich selber, »seine Schicksale, seinen leitenden Volksgedanken« erkannte, »wieder« erkannte, geradeso sollte es Schiller vergönnt sein, den Schweizern ihr »beliebteste[s] Volksbuch« zu liefern, ihr Nationaldrama: »nur darum […], weil« sie sich darin am besten und in ihrem innersten, eigentlichen Wesen akkurat dargestellt fanden. Die Rezeptionsgeschichte des Schiller’schen Wilhelm Tell beglaubigt damit selber und immer schon dessen Wahrheitsgehalt, der als solcher über jede Quellenkritik und alles fact-checking, kurz über sämtliche Zweifel am Sachgehalt des Stücks erhaben bleibt.

Wo immer es darum geht, die selbstgratulatorische Überlieferung gegen kritische Zugriffe zu immunisieren, stellt diese Argumentationsweise eine zweifelsohne valable Option dar. Nicht umsonst vermochte sie sich weit über die Geistige Landesverteidigung hinaus zu halten, bis in die heutige Tagespolitik. Ebenso oder doch so ähnlich argumentiert hierzulande noch der Chefstratege der konservativsten und erfolgreichsten Großpartei, wenn er sich gegen Ikonoklasten und »pubertäre[] Mythenzerstörer[]« von der Sorte Max Frischs verwahrt und die eidgenössische Nationalmythologie vor Demontageaktionen wie dessen Wilhelm Tell für die Schule in Sicherheit bringt.Footnote 62

II.

So viel oder so wenig zu dem einen Passus, in dem Bachofen die »Tellsage« mit Namen erwähnt, ob mit oder ohne Seitenhieb auf den Basler Ehrendoktor, und der immerhin deutlich genug bezeugt, wie unverbrüchlich der Verfasser des Mutterrechts als Schweizer Patriot an diese »unsere[]« Sage glaubte. Unausgesprochen hat der Sagenkreis nun aber auch anderswo in Bachofens Œuvre seine Spuren hinterlassen, gerade auch im Mutterrecht und in dessen unmittelbarem Umfeld. Soweit sie die Imagination der alten Eidgenossen und besonders auch ihrer Innerschweizer Heimat betreffen, lassen sich solche Spuren hieb- und stichfest identifizieren. Der Rest ist Spekulation. Die Spekulation, um auch das schon vorwegzunehmen und einzugestehen, wird an ganz bestimmte und genau bestimmbare Grenzen stoßen.

Ihren äußersten Grenzverlauf demarkiert die Frage nach der national-kollektiven Prägung selbst noch durch ein Teil-, aber das Zentralnarrativ des schweizerischen Gründungsmythos: das Narrativ also vom heroisch-tatkräftigen Einzelnen, von Wilhelm Tell als dem einen, alles entscheidenden Eidgenossen, der ein solcher sensu strictissimo bei Schiller freilich gerade nicht ist, und zwar im Unterschied zur gesamten schriftlichen wie auch zur ikonisch-darstellerischen Überlieferung. »Un des conjurés«Footnote 63 war Tell von allem Anfang an. Schon in der ältesten Bezeugung, jenem Weißen Buch von Sarnen, hat »der Thäll […] ouch zu dem Stoupacher gesworn und sinen gesellen«.Footnote 64 Demzufolge ist er wiederum in einem Tellenspiel von 1512/13Footnote 65 oder im Schweitzerisch HeldenBuchFootnote 66 sowie namentlich bei Johannes Müller ausdrücklich »einer der Verschwornen«;Footnote 67 ebenso bei Tschudi:Footnote 68 »auch heimlich in der Pundts-Gesellschaft«Footnote 69 (was wohl noch in dem Satz leise nachklingt, den Schillers Tell im Ehestreit halb und halb negiert, indem er eigens nochmals bekräftigt, was die Zuschauer in der gleich vorhergehenden Szene schon gesehen haben: »du bist auch im Bunde« – »Ich war nicht mit dabei«Footnote 70).

Nicht anders steht es mit der ältesten bildlichen Darstellung des Rütlischwurs, die sich erhalten hat. In der Mitte des dreiteiligen Simultanbilds von 1578, eines Freskos an der Außenwand des sogenannten Tellenhauses von Ernen im Goms, Kanton Wallis, ist einer der drei Zugegenen eindeutig der Tell, erkennbar an seinem Gewand und seiner Kopfbedeckung (ein befiederter Hut wie noch im Grünen Heinrich,Footnote 71 noch nicht die abstrus-bergbäuerlicheFootnote 72 Haube oder Hemdkapuze, die den Berufsjäger seit Kissling und Hodler entstelltFootnote 73 und über die sich auch schon Max Frisch lustig machteFootnote 74): Denn er trägt das eine wie die andere auch links und rechts davon, jeweils zusammen mit der legendären Armbrust, die in der Mitte fehlt, ohne deswegen aber eben den geringsten Zweifel an der Identität seiner Person zu lassen.

Die wichtige Diskrepanz vorderhand einmal noch beiseite gehalten, die sich an dieser Stelle zwischen der älteren und alten Überlieferung einerseits und der durch Schiller festgeschriebenen Normalform des Mythos andererseits auftut, wie sie »auf die Gesinnung des Volkes« ihren »maßgebende[n] Einfluß« gewann: Die Gründungssage der Eidgenossenschaft kann einem durchaus dabei helfen, Das Mutterrecht sowohl im Einzelnen als vor allem auch im Großen und Ganzen besser zu verstehen. Besser verstehen lässt sie einen schon die Abfolge, in der Bachofen dieses sehr große Ganze arrangierte. Dazu müsste man allerdings etwas weiter ausholen und sich die kompositorischen Eigentümlichkeiten der Werkstruktur vor Augen halten, sofern man von einer durchstrukturierten Gliederung hier überhaupt noch reden kann, reden darf. Denn bei einem flüchtigen Blick auf das Inhaltsverzeichnis muss man an der Ordnung der Kapitelgruppen zweifeln, verzweifeln: Lycien – Kreta – Athen – Lemnos – Aegypten – Indien und Centralasien – Orchomenos und die Minyer – Elis – Die orphischen Locrer – Lesbos – Mantinea – Der Pythagorimus und die spätern Systeme – Kantabrer.Footnote 75

Die Untersuchung verläuft völlig kontraintuitiv. Ihr Gang scheint keiner ersichtlichen Regularität zu unterliegen. Es verhält sich nicht etwa so, dass er klar und kontinuierlich vom Orient in den Okzident führte. Dieser chaotische oder jedenfalls der Eindruck einer gewissen Kontingenz ergab sich unter anderem aus der verworrenen und langwierigen Drucklegung des Mutterrechts. Aber das gehört nicht hierher. Hierher gehört nur dessen Anfang. Der wird als solcher schon früh festgestanden haben. Denn er entspricht in etwa dem Anfang auch schon eines Vortrags, in dem Bachofen ein halbes Jahrzehnt zuvor, an der jährlichen Versammlung deutscher Philologen, Schulmänner und Orientalisten, mit seiner historischen Geschlechtersoziologie erstmals an die Öffentlichkeit getreten war;Footnote 76 und mochten es vorerst bloß »400 schwäbische Schulmeister« gewesen sein.Footnote 77

Hier wie dort beginnt es durchaus nicht bei einem oder mit dem Zentrum »der alten Welt« – Athen etwa, von Rom wie gesehen ganz zu schweigen –: Sondern an deren östlichem Rand seltsamerweise »muß« die »Untersuchung […] ihren Ausgang nehmen«.Footnote 78 Ihren Ausgang nimmt sie eben »von dem lykischen Volke«,Footnote 79 im Südwesten der heutigen Türkei; wobei dieser exzentrische Anfang, um es zu wiederholen, noch nicht einmal einer regelmäßigen Ost-West-Bewegung gehorcht. Denn im Buchinnern wird es den Leser ja noch bis nach Indien und Zentralasien verschlagen.

Dass Bachofen Das Mutterrecht mit Lykien und den Lykiern einsetzen ließ, ist also schon für sich genommen erklärungsbedürftig. Es ist umso auffälliger, als er im Erscheinungsjahr des Mutterrechts, neuerlich für die Jahresversammlung der deutschen Philologen, Schulmänner und Orientalisten, aus dessen so ungeheuer reichen Materialmassen einen (in letzter Minute zurückgezogenen) Vortrag just Über das lykische Volk ankündigte.Footnote 80 Und nur gerade ein Jahr danach veröffentlichte er ein weiteres Buch oder Büchlein, dessen knapp hundert Oktavseiten er einzig und allein diesem einen Thema widmete – wiederum eine Ehre, die keiner anderen der im Mutterrecht behandelten Ethnien, Kulturen oder Gegenden je zuteil werden sollte –: Das Lykische Volk und seine Bedeutung für die Entwicklung des Alterthums,Footnote 81 das erste unter den postum neuedierten Werken, das als corpus integrum erschien (oder ganz genau besehen als corpus fere integrum;Footnote 82 übrigens bei gleich zwei Verlagen und in einer Reihe, deren Titel jene epochal-transnationale Wirkmacht Bachofens einmal mehr widerspiegelt: Die Schweiz im deutschen GeisteslebenFootnote 83).

Für das lykische Volk hegte Bachofen offensichtlich ein ganz besonderes Faible. Dieses ist nicht oder nicht hinlänglich mit einer damals in Mode gekommenen Lykiomanie zu erklären,Footnote 84 wie sie sich nicht zuletzt in musealen Spezialsammlungen manifestierte, die Bachofen während seiner Auslandsjahre und -reisen mehrfach besuchte.Footnote 85 Erklären lässt sich seine Faszination auch nicht einfach und allein damit, dass ihm unter »allen Berichten […] über das Dasein […] des Mutterrechts […] die auf das lykische Volk bezüglichen die klarsten und wertvollsten«Footnote 86 zu sein schienen und dass Lykien aus seiner (seither überholten und widerlegtenFootnote 87) Sicht »der wahre Typus der mutterrechtlichen Gesittung des vorhellenischen Weltalters« war.Footnote 88 Sein Interesse daran reichte deutlich erkennbar über die Belange seiner Matriarchatstheorie hinaus. Denn Mutterrecht oder Gynaikokratie sind in jenem kleinen offshoot seines Hauptwerks zwar auch ein Thema, samt den mentalitären Auswirkungen, welche die typisch mutterrechtliche »Deisidaimonie« (Gottesfürchtig- oder aber AbergläubigkeitFootnote 89) auf »Volksgeist[]« und »Stammeseigentümlichkeit« haben soll.Footnote 90 Als da sind »friedliche[] Gesittung und unbesiegbare[r] Todesmut«, »Abneigung gegen kriegerische Unternehmungen und Löwenmut«, »Anhänglichkeit an die heimatliche Scholle« und der anderen Tugenden mehr.Footnote 91 Aber von dergleichen ist dort doch nicht ausschließlich die Rede.Footnote 92 Wovon sonst noch? Was sonst noch an dem lykischen Volk war es oder könnte es gewesen sein, das Bachofen so sehr fesselte, dass er damit sein Hauptwerk begann?

Um eine so plausible wie naheliegende Antwort auf diese Frage zu geben, braucht man nicht besonders lange in das Büchelchen vom Lykischen Volk und seiner Bedeutung für die Entwicklung des Alterthums hineinzulesen. Das lykische Volk unterscheidet sich laut Bachofen von allen seinen Nachbarn, nein es »überragt« sie bei Weitem.Footnote 93 Es bildet die Ausnahme einer desto nachhaltiger bekräftigten Regel. Namentlich »überragt es die Monotonie der vorzugsweise durch das Massenhafte und Ununterschiedene ausgezeichneten asiatischen Welt«.Footnote 94

Bachofen argumentiert hier entlang einer sattsam bekannten Topik aus dem Arsenal des Orientalismus, ›Orientalismus‹ selbstverständlich in dem Sinn, den Edward Said dem Wort verliehen hat, im Sinne also weder einer Disziplin noch auch einer kulturellen Affinität (wie im Untertitel der Sage von Tanaquil), sondern einer militanten Ideologie. Diese, für die sich Bachofen als eingefleischter Eurozentriker auch tagespolitisch-publizistisch engagierte, im Dunstkreis der sogenannten Orientalischen Frage,Footnote 95 schlägt an der gegebenen Textstelle bis in den Fußnotenapparat durch. Denn der hier aufgerufene Topos war dem Verfasser so lieb und teuer, dass er ihn um eine Anmerkung ergänzte, in der er das Monotone, Massenhafte und Ununterschiedene Asiens selbst noch auf die Physiognomien seiner Einwohner ausdehnte, unter Berufung auf einen oder den Gründungstext der abendländischen Medizin (wobei man Bachofens Paraphrase desselben mit triftigen Einwänden anfechten könnte): »Von den Asiaten bemerkt Hippokrates [folgt ein Nachweis der Fundstelle], sie seien auch in den Gesichtszügen einander weit ähnlicher als die europäischen Völker.«Footnote 96 (Was Bachofen hier mit »den Gesichtszügen« wiedergibt, τὰ εἴδεα, verstehen die Autoren der neusten deutschen Übersetzung an der nachgewiesenen Stelle anders: »die Bewohner […] unterscheiden sich voneinander in Gestalt […] am wenigsten.«Footnote 97)

Die Bedeutung der Lykier, für deren physisch-konkrete Gestalt oder Gesichtszüge Bachofen keinerlei Quellen vorgelegen zu haben scheinen, soll also in ihrer Sonderstellung innerhalb des asiatischen Kontinents liegen. Das beginnt schon bei der geografischen Lage und Eigenart des Landes, das sie ehedem besiedelten. Selbiges konnte Bachofen freilich aus keiner eigenen Anschauung kennen. Auch im Zuge seiner bestens dokumentiertenFootnote 98 Griechenlandreise hatte er »Kleinasien« ausdrücklich und gegen alle Erwartungen seiner Umwelt ausgelassen;Footnote 99 mochte er ihm dazumal auch noch so nahe gekommen sein,Footnote 100 so nahe, dass er sich anlässlich jener publizistischen Engagements sehr wohl doch als »eine[r]« auszugeben wagte, »der den Orient aus eigener Anschauung kenn[e]«.Footnote 101

Trotzdem, das Siedlungsgebiet der alten Lykier kannte Bachofen bloß aus zweiter Hand. Aus zweiter Hand, das hieß hier nicht nur,Footnote 102 aber vor allem aus einer seinerzeit druckfrischen Publikation. Es war eine Vergleichende Erdkunde des Halbinsellandes Klein-Asien. Zweiter Theil, 1859, vorgelegt in seinem Todesjahr von Carl Ritter, den und dessen gewissermaßen letztes Wort Bachofen nicht genug zu rühmen wusste: »Der große deutsche Geograph, der in Zukunft, wie bei den Alten Strabo, diesen Namen vorzugsweise tragen wird, verweilt mit Vorliebe bei Lykien, dessen Bild seinen Geist in den letzten Lebensjahren ganz erfüllt zu haben scheint.«Footnote 103

Auch den Geist Bachofens muss das Bild, das er sich mit Ritters Hilfe von Lykien machte, ganz erfüllt haben. Dies verraten schon der Duktus und die Wirkungsgeschichte seines schmalen Buchs. Es nimmt sich Zeile für Zeile so aus, als sei sein Autor mit seinem Gegenstand von langer Hand vertraut, ja als habe er diesen geradewegs autopsiert. Denn trotz seiner nur mittelbaren Kenntnis schildert Bachofen das Land wiederholt auch aus der Erlebnisperspektive »de[s] Wanderer[s]«, schon auf der ersten Seite.Footnote 104 So war zwar bereits Ritter verfahren,Footnote 105 ohne für sein Teil je vor Ort gewesen zu sein. Nur durfte der sich hierbei wenigstens auf das Reisetagebuch eines eben erst verstorbenen Schülers stützen,Footnote 106 der Lykien mehr als einmal erkundet hatte, eine terra antea incognita, und den er deswegen ehrerbietig als »unser[n] kühnen deutschen Wanderer« apostrophierte,Footnote 107 Julius August Schönborn.

Selbst aus zweiter oder eigentlich sogar dritter Hand noch gelangen Bachofen Schilderungen, durch die einem Lykien buchstäblich »vor die Augen gezaubert« wird.Footnote 108 Nach Ausweis ihres Rezeptionsschicksals tönen sie so authentisch, dass sie den einen oder den anderen über ihre rhetorische, ›hypotypotische‹ Natur hinwegtäuschen können. Einen dermaßen sinnlichen Eindruck können sie hinterlassen, dass sie den ersten Biografen Bachofens offenbar zu der Annahme verleiteten, jene Reise müsse über Griechenland hinaus und eben bis nach Kleinasien geführt haben.Footnote 109

Es sind nicht zuletzt die Besonderheiten der so herbeigezauberten Landschaft, was die Idiosynkrasie des hier einst ansässigen Volks mit ausmachen soll, »des lykischen Charakters«.Footnote 110 »Den lykischen Stammescharakter«Footnote 111 präsentiert Bachofen nämlich nicht nur als Folgeerscheinung jener mutterrechtlichen Deisidaimonie, sondern daneben auch als »Ausdruck« einer »innere[n] geheimnisvolle[n] Übereinstimmung« zwischen den »Mensch[en]« und der sie »umgebenden Natur«.Footnote 112 Sein Argument folgt hier also der Logik eines Geodeterminismus à la Johann Gottfried Herder,Footnote 113 den er damals indessen noch nicht gelesen zu haben scheint,Footnote 114 oder à la Alexander von Humboldt, dessen Ansichten der Natur er schon in einem viel älteren Manuskript zitiert:Footnote 115

[…] der Einfluß der Landesplastik darf nicht unterschätzt werden. Die reiche Naturausstattung eines Gebiets ist zwar weit entfernt, die einzige oder auch nur die vornehmste Ursache der Trefflichkeit seiner Bewohner zu sein, aber als eine der wesentlichen muß sie immer anerkannt werden. Ohne die Beachtung dieses Faktors kann kein Volk je Verständnis finden. […] Die großartige Gebirgswelt ergreift des Menschen innerstes Wesen mit einer Gewalt, die auf die Ausbildung der ganzen Denkweise einen mächtigen Einfluß ausübt. In der lykischen Geistesrichtung sind die charakteristischen Züge edler Bergvölker nicht zu verkennen. In der Begrenzung der Täler und Landschaften bildet sich jener heimische Sinn, dessen Innigkeit die Bewohner weiter Ebenen nicht kennen. Der stete Anblick überwältigender Naturgröße erfüllt die Seele mit der Ahnung des Göttlichen, der ewige Kampf gegen die Gewalt der Elemente mit lebendigem Gefühl der Abhängigkeit, und unter diesem doppelten Einfluß befestigt sich immer von neuem die Tugend der Sophrosyne, welche die Abneigung gegen jede Hybris mit der Hochhaltung der Arbeit, des ewigen Ringens und Kämpfens verbindet. Tiefer ist bei solchen Völkern das Naturgefühl, gesteigert die Energie und Frische des Lebens, inniger die Anhänglichkeit an das Erworbene, an örtliche Unabhängigkeit, an das Haus, die hergebrachte Sitte und jede Überlieferung. Manche einzelne Züge des lykischen Lebens werden durch diese Bemerkungen noch verständlicher oder beziehungsreicher. Wie in der Darstellung landschaftlicher Schönheiten durch Skulptur und Malerei jener gefühlvolle Sinn für das Naturleben sich ausspricht, der, genährt durch die unvergleichlichen Fernsichten der Städte, selbst bei der Anlage der Gräber bestimmend mitwirkt, so ist in den einheimischen Mythen ein enger Anschluß an die örtlichen Naturerscheinungen nicht zu verkennen.Footnote 116

Zur Zeit eines beginnenden Hochgebirgstourismus gemacht,Footnote 117 kurz vor der Erstbesteigung des Matterhorns, könnten »diese Bemerkungen« in der Tat »verständlicher oder beziehungsreicher« nicht sein. Spätestens dort, wo Bachofen in »der lykischen Geistesrichtung […] die charakteristischen Züge edler Bergvölker« erkennen zu können glaubt – nachdem wiederum schon auf der ersten Seite von der »alpine[n] Frische« des LandesklimasFootnote 118 die Rede war –, dürfte einem jeden klar geworden sein, was hier vor sich geht und was es mit der Faszinationsgeschichte auf sich hat, die den Verfasser so eng an das lykische Volk band. Seine eigene »Vorliebe« für dasselbe, wie sie sich bis in die suggestive Textur seiner Beschreibungen oder Hypotyposen niederschlägt, und die exklusive Bedeutung, die er ihm innerhalb des Altertums zumaß, haben zunächst und zuletzt mit seiner persönlichen Herkunft zu tun, mit seiner nationalen Identität. In den Lykiern sah er die Schweizer Kleinasiens. Dazu braucht man sich noch nicht einmal auf ohnehin wenig verwegene Spekulationen einzulassen. Bachofen selber ist es, der es mit den mehr oder minder gleichen Worten sagt. »Lykien ist die Schweiz des Alterthums«:Footnote 119

Wer vermöchte schweizerischen Geist, schweizerische Sitten und Geschichte getrennt von der Natur der schweizerischen Landschaften sich zu denken? Unter den Kulturländern der alten Welt zeigt aber keines mit Helvetien so viel Ähnlichkeit als das lykische. Seine Schneefirnen, seine reißenden Gießbäche, seine Täler und Gebirgspässe, die gewaltigen Kontraste seiner Bildungen erinnern den Wanderer auf jedem Schritte an die Erscheinungen unserer Alpen, und ebenso ruft dem Forscher die Betrachtung mancher politischen, geschichtlichen, ethischen Erscheinungen stets entsprechende Züge des helvetischen Volkes zur Vergleichung vor die Seele.Footnote 120

Was die Lykier mit dem seinerseits, wie es auch Schiller sah: »local-bedingte[n] […] Volk«Footnote 121 der Schweizer verbindet, weit über Produktions- oder Konsumptionsweise »des Ackerbau- und insbesondere des Hirtenlebens« hinaus,Footnote 122 ist ihre Mentalität. Deren Bachofen’sche Beschreibung mutet wie ein Sammelsurium schweizerischer Autostereotypen an: Bescheiden- und Besonnenheit; Arbeitsfleiß und Freiheitsliebe; Traditionssinn und Konservativismus; Innigkeit, Naturgefühl und Gottesfurcht. Wie sehr ihn solche lykisch-schweizerischen Gemeinsamkeiten anziehen, kann man an dem Preis ermessen, den Bachofen hierfür endlich in Kauf nehmen muss. Denn er lässt sich ein bisschen zu weit hinreißen; so weit nämlich, dass er unversehens den vorher ausgesteckten Theorierahmen sprengt, in den er seine »Betrachtung« der »politischen, geschichtlichen, ethischen Erscheinungen« eigentlich zu integrieren vorhatte.

So weit geht Bachofen, dass er an einer Stelle mit einer förmlichen »Verwandtschaft« der Lykier und der Schweizer rechnet.Footnote 123 Dadurch droht sein geodeterministisches Argument in sich zusammenzustürzen. Und dass er eine so empfindliche Einbuße an logischer Stringenz riskiert, zeugt eben seinerseits noch von der Stärke der Affekte, welche die Lykier in ihm hervorrufen. Dermaßen sympathisch müssen sie ihm sein, dass er nicht umhinkann, sich mit ihnen auch im wahren Wortsinn verwandt zu fühlen, verwandt zu glauben.

Ob er die so erzeugte Widersprüchlichkeit seiner Argumentation nun überhaupt wahrnahm oder ob er in seiner Vorstellungswelt das verwandtschaftsgenetische an das geodeterministische Argument zu vermitteln in der Lage gewesen wäre – daher vielleicht der erst nur vorsichtig postulierte, wenn hernach auch »wesentliche[]«, »doppelte[]« und noch so »mächtige[]« »Einfluß der Landesplastik« (»darf nicht unterschätzt werden«, »weit entfernt, die einzige oder auch nur die vornehmste Ursache […] zu sein«) –: Auf jeden Fall verrät sein Büchlein über die Lykier gerade durch jene Suggestion einer unmittelbaren Vertrautheit mit Land und Leuten, dass Bachofen immer auch »Helvetien« mitmeinen kann, sobald er von »der altberühmten lykischen Republik« oder von dem Völkchen redet, »das an Ausdehnung und Seelenzahl der heutigen Schweiz nicht gleichkommt«;Footnote 124 wie er anderweitig übrigens, am anderen Ende der Größenskala, Parallelen zwischen dem Imperium Romanum und dem British Empire auszuziehen liebt.Footnote 125 Dabei braucht er die virtuelle Identität »des helvetischen Volkes« mit dem lykischen nicht unbedingt auszuformulieren oder auch nur in dem Stil anzudeuten: »Die Anhänglichkeit an das Haus der Cäsaren verbindet sich mit der Liebe zu der demokratischen Republik des Heimatlandes, wie Ähnliches in der Geschichte der schweizerischen Gebirgskantone wiederkehrt.«Footnote 126

Aus den in Lykien wie in der Schweiz gegebenen Voraussetzungen »entstehen Staatsformen, die der Zeit Trotz bieten und in welchen ein Volk auf Jahrhunderte hinaus seine Ruhe finden mag«.Footnote 127 Lykien habe »die Ehre des republikanischen Prinzips gerettet, als sie in Rom längst untergegangen war, sein κοινόν [›Bund‹, ›Gemeinwesen‹] dem Volke die innere Ordnung auch dann noch erhalten, als die politischen Rechte durch die Entstehung des römischen Kaisertums zur Unmöglichkeit geworden waren«.Footnote 128 Dies oder das sei bei den Lykiern »zu jener vollendeten Gestaltung hindurchgeführt« worden, »in der sie noch heute als Vorbild und Muster eines Staatenbundes zahlreicher kleiner Republiken uns vorliegt«.Footnote 129 Auf diesem oder jenem basiere »vorzugsweise […] das Gedeihen demokratischer Republiken, die nicht in der geschriebenen Gesetzgebung, sondern in der Sitte ihren festen Halt haben«.Footnote 130 Und »in der ungeschmälerten Freiheit der lykischen Städte« sei »die Frucht ihrer Eunomie und bürgerlichen Zucht« zu sehen.Footnote 131 Dergleichen trete

uns noch heute unverkennbar entgegen. Kleinen Republiken kann kühnes Vorgehen, zu welchem demokratische Sinnesart oftmals drängt, nicht frommen. In diesem Sinne wird dem Lykier bedächtige Überlegung, Fernhalten von jeder Einmischung in fremden Streit, Abwarten, ja selbst fügsames Anschließen an die Macht gegebener Verhältnisse als Richtschnur seines Benehmens empfohlen. Durch solche Klugheit vermag der Schwache die Gefahren der Zeit zu überstehen und das, was ihm das Liebste ist, seine heimatliche Freiheit, zu erhalten. Aber je notwendiger die Behutsamkeit, um so größer die Ansprüche, welche an die Trefflichkeit des einzelnen gemacht werden. Ausdauer in jeder Anstrengung, Gehorsam gegen Gesetz und Recht, Zucht des Familienlebens, Scheu vor der Gottheit, Vertrauen auf ihre Hülfe, Glaube an einstige Belohnung, das ist […] Grundlage innerer Staatsblüte […]. Auf dieser Gesinnung allein ruht das Gedeihen republikanischer Gemeinwesen, denen mehr als den monarchischen die Tugend der Sophrosyne unentbehrlich ist.Footnote 132

Allein schon die Wortwahl, bei der Bachofen freilich gerne auf Ritter zurückgreift, evoziert hin und wieder Assoziationen mit »Helvetien«, die dieser indessen so nicht intendiert haben kann, die sich bei seinem Schweizer Leser jedoch zwingend einstellen mussten, als er in der Vergleichenden Erdkunde las und dort etwa mehrfach auf ein Wort wie »Alpen« stieß.Footnote 133 ›Vergleiche‹ mit der Schweiz zieht der große Geograf überhaupt nur sehr vereinzelt; und wenn, dann im Vorbeigehen, im Junktim mit weiteren Gebirgsgegenden Nord- und »Mitteleuropas«Footnote 134 (»Norwegen«, »Tyrol«Footnote 135 und »anderen Hochalpen[]«Footnote 136) oder unter Berufung auf den deutschen Wanderer Schönborn. Der »vergleich[e]« einmal einen einzelnen lykischen »Alpenpaß« und »Gebirgsweg wegen der romantischen Schönheit […] mit den hohen Alpenpässen Helvetiens«.Footnote 137 Schönborns, um das nochmals zu betonen, singuläre »Vergleichung«Footnote 138 hat Bachofen generalisiert und extrapoliert: generalisiert, weil es in seinem Lykien statt eines einzelnen schlechterdings alle »Gebirgspässe« und auch nicht mehr allein diese sind, die den von ihm imaginierten »Wanderer auf jedem Schritte an die Erscheinungen unserer Alpen« »erinnern«; extrapoliert, weil »dem Forscher die Betrachtung« jetzt »ebenso« auch der kulturellen »Erscheinungen stets entsprechende Züge des helvetischen Volkes zur Vergleichung vor die Seele« »ruft« und ihn in der Gewissheit bestärkt, dass kein anderes Land »mit Helvetien so viel Ähnlichkeit« aufweise.

So weit war weder der deutsche Strabo noch auch sein kühner Schüler je gegangen. Die paar wenigen und verstreuten Erwähnungen der Schweiz, die sich in der Erdkunde des Halbinsellandes Klein-Asien weniger finden, als dass sie unter den nahezu zweieinhalbtausend eng gesetzten Druckseiten versteckt sind, beschränken sich auf die alpine Naturlandschaft. Auch stehen sie großenteils in der ersten Hälfte des zweibändigen Werks oder jedenfalls in keinem der Kapitel, die Kopfzeilen tragen wie »Die alten Lycier«Footnote 139 oder »Die Lycier und ihre Altvorderen«.Footnote 140 Aber in solchen Kapiteln spricht Ritter gelegentlich eben doch von einer »lycischen Eidgenossenschaft«,Footnote 141 einer »Eidgenossenschaft […] der 23 Städte«, »dieser 23 Bundesstädte«,Footnote 142 oder bei anderen Gelegenheiten auch von einer »Bundesverfassung […] mit ihren 23 Städten«.Footnote 143

Obgleich von Ritter sicherlich noch ganz harmlos gemeint, werden solche Formulierungen einen Leser wie Bachofen wiederum unweigerlich an die Schweiz und namentlich auch an die Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft haben denken lassen, die vor einem runden Jahrzehnt unter ebendemselben Namen in Kraft getreten war. Und geradeso unweigerlich wird Bachofen mit an seine Heimat gedacht haben, als er in seinem eigenen Büchlein zu den nämlichen oder ähnlichen Formulierungen griff wie Ritter. Er sprach darin von »der Bundesverfassung der dreiundzwanzig zu einer republikanischen Eidgenossenschaft vereinigten lykischen Städte«.Footnote 144

Mit Bedacht hat Bachofen hier selbst noch die Anzahl der lykischen Bundesmitglieder ausbuchstabiert, die er seinerzeit auch in seiner Korrespondenz eigens bezifferte: »die Bundesverfassung der 23 Städte, wie sie Strabo beschreibt«.Footnote 145 Tatsächlich hat er wie Ritter die Zahl getreulich aus den GeographikaFootnote 146 Strabons abgeschrieben; nur dass es dazu eine überaus ernst zu nehmende Alternative gab. Bei Plinius Maior, und Bachofen wusste das nachweislich sehr genau,Footnote 147 wären es der Städte »XXXVI«.Footnote 148 Warum dieser sich dennoch so eng an die »dreiundzwanzig« hielt, liegt auf der Hand. Exakt dreiundzwanzig Kantone zählte die schweizerische Eidgenossenschaft seit der Basler Kantonsteilung, die mitten in Bachofens Jugendjahre fiel. Davon gleich etwas mehr. Und noch ein hübscher Zufall will, dass es auch heute wieder dreiundzwanzig Ganzkantone sind; wobei Zufall hier allerdings eine insofern problematische Kategorie ist, als sie gerade bei solchen numerischen Koinzidenzen weder Bachofens noch übrigens auch Müllers historischem Denken gerecht werden kann. Auch hiervon bald mehr.

Kein Zufall und schon gar nicht hübsch, sondern so bedrückend wie beschämend ist eine weitere, von Bachofen einmal mehr selber insinuierte Aktualisierbarkeit dessen, was er über das alte Lykien zu berichten weiß. So heißt es mit Blick wieder auf die Cäsaren oder vielmehr auf den einen Cäsar und seine Vorliebe für dieses eine Ländchen, die eben in der neueren Geschichte ihre Äquivalente habe – und heutzutage in den Despotenvillen am Gestade des Genfersees –: »Der Alleinherrscher liebte und begünstigte das republikanische Ländchen; eine Erscheinung, die in der neuern Geschichte ähnlich wiederkehrt und ihre psychologische Erklärung in dem Gesetze, das die Extreme verbindet, finden dürfte.«Footnote 149

Damit aber wahrscheinlich noch immer nicht genug. Bachofen scheint es an einer Stelle sogar oder wenigstens von fern auf das famose corpus delicti des Tell-Mythos und das besondere Geschick seiner Hauptfigur abgesehen zu haben, und zwar im Zusammenhang wohlgemerkt mit einer »Gründungssage« der alten Lykier (von denen er bei Ritter oder Herodot oder beiden lesen konnte, dass sie ihre »Hüte mit Federn verziert«Footnote 150 trugen). In unmittelbarem Zusammenhang nämlich mit der sagenhaften Gründung der Haupt- und Binnenstadt Pinara (keinen Tagesmarsch vom heutigen Fethiye entfernt) kommt er zu guter Letzt auf fernhintreffende Schusswaffen zu sprechen und auf den Beruf der dieselben meisterhaft handhabenden Jäger:

Die Aufmerksamkeit auf eigentümliche, von der Natur kühn aufgeworfene Felsformen erkennen wir aus der Gründungssage von Pinara […], den Einfluß waldreicher Bergabhänge auf die Liebe zur Jagd und die Meisterschaft in Handhabung fernhintreffender Schußwaffen, ebenso auf die Bauart aus der Vergleichung lykischer und schweizerischer Sitten, lykischer und schweizerischer Holzarchitektur und ihrer gegen die Gewalt der Stürme notwendigen Steinbelastung; das Vorbild des Ackerbau- und insbesondere des Hirtenlebens in der Bezeichnung der Kinder […]; endlich die in der Alpenwelt besonders majestätische Erscheinung des Sonnenaufgangs und der morgendlichen Erleuchtung hochragender Felsgipfel […].Footnote 151

Dass Bachofen gerade diese eine, weil exquisit erhabene »Erscheinung« eigens hervorhebt, selbst das noch könnte zumindest unterschwellig durch den Gründungsmythos der Schweiz motiviert sein, deren Landeshymne, der damals schon gedichtete und komponierte Schweizerpsalm,Footnote 152 mit ebender Erscheinung beginnt (um mit der Ehrfurcht vor dem Gewitter zu enden). Bachofens schwere Gewichtung des Sonnenaufgangs als einer »in der Alpenwelt besonders majestätische[n] Erscheinung« (wie anderwärts »insbesondere der in den Gebirgsgegenden so majestätischen Gewitterbildungen«Footnote 153) wäre dann wieder durch die finalen Konturen geleitet, die Schiller diesem Mythos zu geben wusste (und innerhalb derer Wetter oder Unwetter von Anfang an eine sehr wichtige Rolle spielen, von »Felsformen« und Tellsplatte ganz zu schweigenFootnote 154). Denn als er ihm diese Konturen gab, wies er der schon von ihm so genannten Erscheinung in jener auch aufführungsgeschichtlich wichtigsten Szene einen eminenten Part zu – einen Part beinahe im technischen Sinn des Theaters –, nachdem er in den Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft seinerseits einmal auf »diese[] Erscheinung«Footnote 155 aufmerksam geworden war. Dort hatte er aus dem Passus Engelberg teils wörtlich, teils sinngemäß exzerpiert: »Hohes Joch der Berge, mit ewigem Eis, / goldroth von der Sonne beschienen, wenn / schwarze Nacht die Thäler bedeckt.«Footnote 156 Dabei merkte er sich »NB« die dramaturgische Verwendbarkeit des Naturphänomens eigens vor: »NB. Mit dieser Erscheinung kann sich der Akt, wo man im Rütli ist, endigen.«Footnote 157 Und genau so bekanntlich endet der Akt denn auch, Szene II.2: »Indem sie zu drei verschiednen Seiten in größter Ruhe abgehen, fällt das Orchester mit einem prachtvollen Schwung ein, die leere Scene bleibt noch eine Zeitlang offen und zeigt das Schauspiel der aufgehenden Sonne über den Eisgebirgen.«Footnote 158

Der Akt »endig[t]« also auch mit einem eklatanten Affront gegen die Konventionen oder die Tabus des klassischen »Schauspiel[s]«. Er endet unter Verstoß gegen das Verbot der leeren Bühne, »vide entre deux scènes«.Footnote 159 Das Verbot der »leere[n] Scene«, das in den Worten der Regieanweisung eigens noch abgerufen ist, hat Schiller hier ›natürlich‹ auf kalkulierte Art und Weise verletzt. Die nicht wirklich verwaiste, sondern nur menschenleere Bühne grundiert die umso fasslichere Präsenz der eigentlichen Haupt-, -figur kann man schlecht sagen: der Natur, die, nun besonders »prachtvoll[]« in Szene gesetzt, dem eben geleisteten Schwur seine Legitimation verleiht.Footnote 160

III.

Quid erat demonstrandum? Bachofens Vorliebe für die Lykier, »diese Helvetier des Alterthums«,Footnote 161 und seine Affinität zur »eigentümlichen Kultur«Footnote 162 eines in Raum und Zeit so weit entrückten Volks sind Teil und Ausdruck seines lebenslangen Patriotismus. Diesen machte er zum Gegenstand schon seiner Promotions-, das heißt der Rede, die der ewige Klassenbeste coram publico zu halten die Ehre hatte, als er ins sogenannte Pädagogium übertrat (eine Art college oder Obergymnasium): Von der Liebe zum Vaterlande.Footnote 163 Und wie aus jenen späteren Schularbeiten hervorgeht, die der eben erst mit den Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft Prämierte schreiben würde, unterlag seine Liebe zum Vaterlande seither und unterliegt in eins damit seine patriotische Sympathie für die Lykier letztlich einer Idee, die ihm nach seiner eigenen Fundstellenangabe kein anderer als »Joh. v. Müller«Footnote 164 souffliert hatte. Diese Idee oder besser diese Gefühlserkenntnis – »was besser sich fühlen« denn »erweisen […] läßt«Footnote 165 – schlägt einem als eine solche, von Müller eingegebene, namentlich aus einem Aufsatz zum Thema Trost des Bürgers beim Unglücke seines Vaterlandes entgegen, den ein soeben frisch ans Pädagogium berufener Junglehrer mit der Zensur bewertete: »Recht gut, W.«

Wilhelm Wackernagel, denn kein Geringerer verbirgt sich hinter der Initiale, hatte das Aufsatzthema aus einem gegebenen Anlass gestellt. Gemeint sind die Spaltung des Kantons und die sogenannten Basler Wirren, über die auch ein lateinischer Aufsatz des Primus »Joh. Jak. Bachofen« erhalten ist und die wohl auch das Thema der nächsten öffentlichen »oratiuncula« mit initiierten, einer eigentlichen Abiturrede, wie er sie diesmal auf Latein halten durfte: De […] bello[] civili.Footnote 166

Den Bürgerkrieg, »inter cives Basileenses […] tanta ira odioque gestum«,Footnote 167 und was einen über ihn hinwegtrösten kann, behandelt der augenscheinlich aufgewühlte Obergymnasiast auch im deutschen Aufsatz mit der ihm schon damals eigenen Eloquenz. Sein »theures Vaterland hat die blutige Geißel des Bürgerkrieges gefühlt, obgleich nicht, Gott sei gedankt, mit all ihren Schrecken und Wehen«.Footnote 168 »Die Hauptquelle, woraus wir bei« dem »Unglück, das uns getroffen«, »Trost und Vertrauen«, »Trost und neuen Muth schöpfen können«, »ist die Religion«, man hätte es auch beim älteren und alten Bachofen nicht anders erwartet: »Trost in dem Gedanken an dem [W. korrigiert: ›n‹] unabänderlichen Willen der Gottheit«; »Vertrauen aber in der gewissen Hoffnung auf bessere Zeit und heitere Tage«, »auf Aussöhnung, auf Verbindung der allseitigen Interessen«.Footnote 169 Denn »die Möglichkeit neuer wahrer Eintracht, wie sie einst gewesen«, sei »noch nicht verschwunden«.Footnote 170

Um sich dessen zu versichern, argumentiert der junge Bachofen mit einem weiteren Einigungsnarrativ aus der Urgeschichte der Eidgenossenschaft: »Der Schweizer erinnert sich an die Zeiten des seligen Bruders Klaus [Niklaus von Flües Heiligsprechung erfolgte erst 1947], welcher durch die Kraft seines Wortes die schon sich trennenden Brüder wieder zu vereinigen vermochte.«Footnote 171 Überhaupt beweise die Landesgeschichte, dass es die »Gottheit« mit der Schweiz gut meine, sie besonders liebe und »vor anderen Nationen« gesegnet habe.Footnote 172 Mit der Formulierung, »vor anderen Nationen«, sucht Bachofen nicht von ungefähr die Nähe zum locus classicus des elektiven Sprechakts schlechthin, Deuteronomium 7,14, und zu dessen je nach Übersetzung vielsagend paradoxalem Wortlaut, der auch in jener Rütlischwur-Szene II.2 schon anklingt (»vor allen Völkern«,Footnote 173 »vber allen Völckern«,Footnote 174 »ob allen Völckern«,Footnote 175 »inter omnes populos«:Footnote 176 »Bei diesem Licht, das uns zuerst begrüßt / Von allen Völkern«Footnote 177).

Wie hier, so hält sich der bibelfeste Primaner immer wieder ans Alte, zuletzt auch ans Neue Testament, Römerbrief 8,13. Im unerschütterlichen und dann lebenslänglichen Glauben an die biblische Offenbarung setzt er seine Zuversicht ganz

auf Gott, welcher das Volk, das er so viele Jahrhunderte hindurch durch alle Mühen v. Innen und v. Außen siegreich hindurchgeführt hat, auch jetzt in dem Augenblick der Gefahr nicht verlassen wird; denn an diesem Gott haben treu und fest unsere Väter gehalten; an diesem haltet [W.: ›hält‹] auch das jetzige Geschlecht. Mag es auch sein, daß eine Anzahl, wie dem menschlichen Gesetz so dem göttlichen, sich zu entziehen geruht, daß sie in der Verwilderung ihres Sinnes, auch unabhängig von dem Lenker des Weltalls dastehen zu können, [W. lässt das Komma stehen] wähnen: die größere Zahl hält an Wahrheit, Treu und Glauben; diese hat sich Gott auserkohren; diese wird er nicht verlassen, um ihret Willen wird er dem Schweizervolke durchhelfen, wie er einst den Saamen Abraham’s beglückte, so lang er an seinem Gesetze festhielt. – Zwar hat sich Gott im neuen Bunde kein Volk so ausschließlich erwählt, als im alten das Volk Israel. Aber das Schweizervolk ist doch dasjenige, welches in seinen Verhältnissen [von W., der später die mangelhafte Leserlichkeit der Handschrift zu monieren scheint, durch eine unentzifferbare Korrektur ersetzt] am allermeisten dem Volke Israel, namentlich in den ersten Jahrhunderten seiner Geschichte entspricht. »Merkwürdig ist es, sagt Joh. v. Müller (Ges. 1. 25) [auch W. setzt kein Komma] wie die Bibel fast auf kein Volk eigenthümlicher paßt. Aus einem Geschlechte freier Hirten erhebt sich in so viel Stämmen, als Kantone sind, eine Eidgenossenschaft« – Ja, Großes hat Gott schon an dem Schweizervolke verrichtet, Großes vor anderen Nationen. Er hat es vor manchen Jahrhunderten ausgeführt aus der LandschaftFootnote 178 und [?] es erwählt, wie durch seinen Wohnsitz, also auch durch seine gesellschaftlichen Einrichtungen eines der glücklichsten Völker dieser Erde zu sein. Er hat es aus einem jeden der 3 Länder, welche Mitteleuropa bilden, Deutschland, Frankreich, Italien [hier trägt W. die Interpunktion nach] ein Völklein erwählt, um an ihm seine Weisheit, Macht und Güte auf eine besondere Weise in dem Schweizerbund [unsichere Lesung, auch W. hatte anscheinend Mühe, die Stelle zu entziffern] zu verherrlichen. Ihn wird er auch erhalten, ihn siegreich hinausführen durch Kampf u Gefahr. Darum laßt uns alle Vertrauen fassen, Vertrauen zu dem Gott unserer Väter! Auf menschliche Hülfte ist unsicher zu bauen; wenn aber Er mit uns ist, wer mag wider uns sein?Footnote 179

Die Schweizer sind »auserkohren«, »erwählt« und nochmals »erwählt«. Bachofens Patriotismus speiste sich also von früh auf aus einer sozusagen typologischen Denkfigur. Er beruhte auf einer Analogisierung von altem Bund und neuerer Geschichte, auf einer virtuellen Gleichsetzung der eigenen Nation mit »dem Volke Israel«. Diesem stehe »das Schweizervolk […] doch« am nächsten; womit die alttestamentliche Auserwähltheitsvorstellung eben »doch« auch wieder in die »doch« nicht mehr ganz so egalitären Verhältnisse des neuen Bundes hineingetragen wäre.

Mit seiner Aneignung oder Usurpation dieser Vorstellung befand sich Bachofen natürlich in großer Gesellschaft; bildet solch ein sakrosankter Glaube an die Erwähltheit und Sendung des je eigenen Volks doch die Basis oder den Effekt vermutlich aller Nationalmythologie. Aber hier liegt er dennoch in einer schon sehr speziellen Variante vor; so, dass er die föderalistisch-kleinstaatliche Selbstbescheidung des »Völklein[s]« in Hegels dreifachem Sinn des Verbs ›aufhebt‹, wenn er sie nicht gar in nationalistischen Größenwahn umzuschlagen verführt.

Dabei folgte Bachofen lediglich einem Einfall, den er nach seiner eigenen Referenz oder Reverenz in Müllers »Ges.« talis qualis schon vorgefunden hatte. Merkwürdig, eigentümlich und eben alles andere als zufällig fand es ja bereits Müller, wie stark die schweizerische der jüdischen Geschichte ähnele. Wie das Schweizervolk sei Israel ein »Geschlecht[] freier Hirten« gewesen. Die Zahl seiner Stämme habe »so viel« betragen, wie die Schweiz Kantone zähle, man sollte meinen: je zwölf; was allerdings auf diese Summe genau für die schweizerischen Kantone nie zutraf oder doch nur für das sehr kurze Intervall ein paar weniger Jahre – seit nämlich Schaffhausen, Müllers Heimatkanton, als zwölfter Stand der Alten Eidgenossenschaft beigetreten warFootnote 180 und bevor selbige schon ein gutes Jahrzehnt hernach zu einer dreizehnörtigen wurde, um als eine solche für mehr denn ein Vierteljahrtausend Bestand zu haben, hüben und drüben bekannt unter »le nombre de treize«.Footnote 181 Oder aber man hilft Müllers Arithmetik von der anderen Seite her etwas nach, stellt Jakobs Adoption seiner beiden ›ägyptischen‹ Enkel in Rechnung und setzt die resultierende Zweiteilung des Stamms Joseph an. Macht in summa dreizehn Stämme Israels, und die Kalkulation geht doch noch ohne Rest auf.

Auch wenn sie nicht oder dann nur mit ganz knapper Not aufging: Die Gleichung, die Müller hier aufstellte, hatte es dem Schüler J. J. Bachofen ganz offensichtlich angetan – und nicht nur dem Schüler. Denn als er es ein Menschenalter später unternahm, die Schweiz nun auch zu den »Verhältnissen« und »Einrichtungen« eines weiteren Volks von »Hirten[]« in Beziehung zu setzen – eines ebenfalls alten, ebenfalls kleinen, ebenfalls vorbildlichen –, da bediente er sich ebensolch einer mathematischen Methode. Auf dem Weg erst geriet ein ansonsten eher überflüssiges, für unsereinen rein zufälliges (und für sein Teil nicht unbedingt korrektes) Numerale von Strabon oder auch von Ritter in jene Erwähnung einer »Bundesverfassung der dreiundzwanzig zu einer republikanischen Eidgenossenschaft vereinigten lykischen Städte«.

Selbst als er zur Bezeichnung dieser »Eidgenossenschaft« ausgerechnet ein Nomen wählte, das zwar auch schon der große deutsche Geograf gelegentlich benutzt hatte, das aber unter Schweizern seit jeher für ihr Heimatland reserviert war und, von einem Schweizer auf ein exotisches Volk umgemünzt, notwendig zur Metapher mutierte, – auch da noch wandte Bachofen im Grunde wieder nur an, was er bei seinem »Joh. v. Müller« einst gelesen und gelernt hatte. Zu der nämlichen Metapher hatte ja bereits Müller gegriffen, als er von dem alttestamentlichen »Geschlechte freier Hirten« sagte, dass es »eine Eidgenossenschaft« gebildet habe; eine Metaphorik, die Bachofen also bloß ein bisschen weiterspann und von den »Stämmen« des Volks Israel auf die »lykischen Städte« übertrug.

Allerdings baute er sie bei der Gelegenheit auch aus und reicherte sie um ein weiteres Element an. Denn der rhetorischen Strategie, allein schon durch die gewählten Begriffe eine wesenhafte Identität zweier räumlich und zeitlich weit auseinander liegender Völker zu insinuieren, folgte er ja auch mit dem Wort von »der Bundesverfassung«, indem er es für die »republikanische[] Eidgenossenschaft« der Lykier verwendete. In dieser Verwendung übernahm er es zwar seinerseits aus Ritters Erdkunde, um es aber dennoch neu zu assoziieren und wiederum anders zu besetzen. Er versah es, weil er es eben als ein Schweizer benutzte, mit einem in seinem Fall wieder unausweichlichen Konnotat.

Umso unausweichlicher war das spezifisch schweizerische Konnotat, als es mit den entsprechenden Konnotationen der in einer und derselben Nominalphrase mit eingeschlossenen Lexeme eine Isotopie bildete (»republikanisch[]«, »Eidgenossenschaft«). Und dass es Bachofen just auf diese Isotopie und solche Konnotierbarkeiten sehr entschieden ankam, dem deutschen Geografen aber noch keineswegs, zeigen ex negativo die Kollokationen, an denen in den lykischen Kapiteln der Erdkunde von »Bundesverfassung« oder »Eidgenossenschaft« die Rede ist. Nirgends gehen die beiden Nomina dort eine syntaktische Verbindung ein, wie sie Bachofen also ganz offensichtlich gesucht und gewollt hat; und das Adjektiv ›republikanisch‹ taucht dort gar nicht erst auf (das Substantiv »Republik[]« allein als zoologisch gewendete Metapher, in einem Kapitel über die »Fauna des lycischen Meeres«Footnote 182).

Es scheint demnach letztlich seine jugendliche Lektüre der Müller’schen Geschichten gewesen zu sein, die Bachofen viel später dazu inspirierte oder befähigte, in seiner Heimat so etwas wie die Wiedergängerin nicht nur einer alttestamentlichen »Eidgenossenschaft« zu sehen. Entlang oder in Verlängerung der von Müller gebrochenen Denkbahn konnte er die Schweiz von einem anderen, neuzeitlichen Volk Israel auch noch zum Lykien Mitteleuropas, wenn man so will, morphen. Wie weit genau die Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen sonst noch reichten, die er jetzt auch zwischen dem lykischen und dem Schweizervolk ausmachen zu können glaubte, bleibt ungewiss. Über ihre Erstreckungsgrenzen kann man nur noch, aber darf man vielleicht auch ein wenig spekulieren. Im Brennpunkt solcher Spekulationen müsste naturgemäß stehen, was den alten Lykiern in Bachofens Hauptwerk allererst zu ihrer im Wortsinn prominenten Stelle verhalf.

Ihren quasi oberflächlichen, rein sachlichen Grund hat ihre hervorragende Stelle darin, dass Bachofen in ihnen wie gesehen ein Prachtbeispiel »mutterrechtliche[r] Gesittung« erblickte. Als ein solches paradiert er sie erst anhand der angeblich »klarsten und wertvollsten« »Berichte[]«, die er in der historio- und geografischen Literatur der Antike dazu auffinden konnte; sodann aber, und viel extensiver, anhand des Mythos vom »lykische[n] Bellerophon«.Footnote 183 Bellerophon hat, immer nach Bachofen, das Mutterrecht bei den Lykiern eingeführt. Eingeführt hat er es auch in einem streng spatialen Sinn des Verbs. Er hat es den Lykiern gebracht. Denn Bellerophon war gar kein gebürtiger Lykier, sondern uxorilokal aus Korinth nur angeheiratet – ähnlich wie Schillers Tell der Schwiegersohn Walther FürstsFootnote 184 und gerade kein eigentlicher Eidgenosse ist.

Der Held oder Recke – ein ungenaues, dafür etymologisch sinnreiches Synonym, ›der Ausgestoßene‹ – bleibt hier wie dort randständig. Hier wie dort darf er nicht voll und ganz der Gemeinschaft angehören, die ihm ihre Gründung beziehungsweise ihre gegebene Verfasstheit schuldet oder zu schulden behauptet.Footnote 185 Es scheint sich dabei um eine morphologische Regelmäßigkeit des Heldentums und Helfermärchens zu handeln. Und dieser gewann Peter von Matt bei seiner exemplarisch-psychoanalytischen Interpretation des Schiller’schen Tell-Dramas ihren guten Sinn ab, indem er die hier so eigenwillige Dissoziation der Eidgenossen und des eponymen Helden mit Totem und Tabu las,Footnote 186 einer Vorarbeit gewissermaßen für den Mann Moses und der einzigen autorisierten Publikation übrigens, in der Freud sich explizit auf Bachofen beruft.Footnote 187

Ob dieser freilich die märchenmorphologische Verwandtschaft des lykischen und des schweizerischen Urhelden im Ganzen oder sogar bis ins Einzelne bereits auswitterte – auch Bellerophon zum Beispiel ist ein fernhintreffender SchützeFootnote 188 –, so zu fragen wäre müßig. Ohne belastbare Zeugnisse dafür lässt sich die Frage nicht mehr entscheiden. Bleibt aber die andere, allgemeinere Frage nach den sozialen Isomorphien der beiden Hirten- und Bergvölker, die in der Schuld des einen und des anderen Helden stehen. Oder anders gefragt und einmal unabhängig davon, ob oder wie bewusst und wie genau Bachofen solche Isomorphien wahrnahm: Erstrecken sie sich auch noch auf das, was Bachofen an den Lykiern vor allem interessierte und worin er die ›deisidaimonische‹ Ursache ihrer charakterologischen Vortrefflichkeit ausmachte? Betreffen sie auch das eine Moment, in dem er ihre Bedeutung für die Entwicklung des Altertums entdeckt zu haben meinte und um dessentwillen sein Hauptwerk mit einer Beschreibung ihrer Kultur und einer Interpretation ihrer Gründungsmythologie einsetzt? Oder noch schärfer zugespitzt: Haben auch die Vorstellungen, die Schiller sich und der Nachwelt von der alten Zentralschweiz machte, gynaikokratische Züge? Ist sein Wilhelm Tell auch eine Erzählung von der Durchsetzung, Konsolidierung oder Reinstallation eines naturgegebenen Mutterrechts?

IV.

Die Frage ist nicht ganz so blöd, wie sie klingt. Sie führt nämlich zur Vorgeschichte des modernen Feminismus zurück. Ins Einzugsgebiet seiner Vorgeschichte gehört auch die Weimarer Klassik. Die Weimarer Klassik und ihre Zeit sind, man kann fast sagen, obsediert von gender troubles. Gerade ihre kanonischsten und zu ihrer Zeit am euphorischsten akklamierten Erzeugnisse wimmeln von starken, bewaffneten, gewalttätigen Frauen: von der Jungfrau von OrleansFootnote 189 über Wilhelm Meisters Lehrjahre, deren weibliches Hauptpersonal samt und sonders oder doch mit nur einer, desto signifikanteren Ausreißerin transsexuelle Tendenzen aufweistFootnote 190 – allen voran die mit stehendem Ausdruck so genannte »schöne«Footnote 191 oder auch »eine wahre Amazone«Footnote 192 –, bis zur »Heldengröße« einer Dorothea, die in der insgesamt, will heißen der auch indirekt erzählten Zeit ihren ersten Auftritt mit einem »Säbel […] bewaffnet« bestreitet.Footnote 193 Ihrem »Herrmann« ist sie haushoch überlegen, der volksetymologischen, gedoppelt männlichen SchreibungFootnote 194 seines Namens zum Trotz. So weit überlegen ist sie ihm, dass Goethe sie mit wohlweislicher KalkulationFootnote 195 erst im letzten Drittel des Epos in persona auftreten ließ – von noch rabiateren Exemplaren ganz zu schweigen. Als da wären Kleists Penthesilea oder auch Hölderlins und Wilhelm von Humboldts Übersetzungen der neunten Pythischen Ode, genauerhin der Pindarischen Erzählung von Kyrene, die »des Gewebes / ewig wiederkehrende Wege« oder »des häuslichen Mahles Ergötzung« »an der Gespielinnen Seite« verschmähte und stattdessen lieber »mit ehernem Wurfspieß / und mit dem Schwerdte«,Footnote 196 ja sogar »mit einem Löwen […] ohne / Spieße« kämpfte.Footnote 197 Dabei versteht es sich von selbst oder kann es jedenfalls niemanden überraschen, dass Bachofen bei seinem Interesse für die amazonische »Ausartung«Footnote 198 der Gynaikokratie seinerseits wieder auf den Penthesilea-MythosFootnote 199 und auf Pindars Schilderung der »Nymphe« KyreneFootnote 200 zu sprechen kommt.

In der Forschung fanden die gender troubles der Zeit eine bequeme Erklärung.Footnote 201 Erklärbar sind sie als Bearbeitung der Folgeprobleme, welche die Urheber der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen sich und ihren Artgenossen mit diesem Titel eingehandelt hatten. Damit hatten sie die Auslegungsfrage nach dem Geltungsumfang der Vokabel homme aufgeworfen, die Frage nach dem Universalitätsgrad der droits dieses homme oder kurzum nach den droits de la femme, wie sie eine Olympe de Gouges prompt einforderte. Herausgefordert war nun insbesondere auch das männliche Gewaltmonopol. Am handgreiflichsten wurde es das in Gestalt bewaffneter Frauen,Footnote 202 die man seinerzeit ihrerseits als amazones zu bezeichnen pflegte.Footnote 203

Insofern liegt es nicht nur nahe, sondern drängt es sich geradezu auf, nach der Macht der weiblichen Rollen auch in Schillers Tell zu fragen, im Wilhelm Tell als einem Schauspiel, das notgedrungen mit der Französischen Revolution und ihren gesellschaftlichen Verwerfungen kommuniziert. Die Fahndung nach mächtigen Frauen hat hier durchaus ihre Berechtigung; und sei es nur, dass sie uns einen etwas schärferen Blick auf einen aktuellen Aspekt des Schiller’schen Dramas eröffnet – das heißt, um es nochmals klarzustellen, ganz abgelöst zunächst von der anderen, nur noch spekulativ beantwortbaren Frage: ob auch schon Bachofen solche Frauenfiguren darin fand, wiederfand; oder ob er wenigstens ihre Mächtigkeit irgendwie herausspürte, subkutan und unwillkürlich.

Von einer unwillkürlichen, zwangsläufigen Wahrnehmung auszugehen wäre so abwegig nicht. Denn zu fahnden gibt es in Schillers Schauspiel nicht viel. Der Fall ist ein wünschbar klarer. Selbst ein unbefangener Leser oder Zuschauer kann hier sozusagen ohne zu suchen schon fündig werden; geschweige denn einer, der wie Bachofen einem permanenten und höchstgradigen confirmation bias ausgeliefert ist.

Um sich ihrer Stärke zu vergewissern, braucht man die Frauen des Wilhelm Tell nur wieder mit Schillers Quellen oder mit anderweitigen Adaptionen des Stoffs zu konfrontieren. Die Suisse primitive ist in diesem Schauspiel entschieden gynaikokratischer oder doch viel weniger patriarchalisch, als sie es beispielshalber in einer nächstälteren Dramatisierung des Tell-Mythos noch war, die Schiller nachweislich kannte und deren Verfasser er in der hinzuerfundenen Figur des Unterwaldner Eidgenossen »Burkhardt am Bühel« sogar seine Reverenz erwies: Johann Ludwig Am Bühl oder Ambühl, Der Schweizerbund, Zürich 1779; ein Stück, das Matthias Luserke-Jaqui in der neusten Schiller-Edition heranzieht, um die dramatis personae des Wilhelm Tell zu kommentieren, namentlich im Zusammenhang mit Hedwig, »Tells Gattinn, Fürsts Tochter«, und mit Bertha von Brunek, »eine[r] reiche[n] Erbin«.Footnote 204

Schon bei Ambühl seien »beide Gestalten belegt«.Footnote 205 Belegt sind bei Ambühl freilich, nimmt man es etwas genauer, allein ihre Vornamen; und die bezeichnen dort sehr anders beschaffene Gestalten als bei Schiller. »Hedwig« heißt dort nicht Tells, sondern die Gattin »Kunrad« »Baumgartner[s]«Footnote 206 – in der Überlieferung wie dann wieder bei Schiller das Sexualobjekt und beinahe das Sexualopfer eines männlichen Übergriffs –, die auch bei Ambühl keinen persönlichen Auftritt erhält und die in der Rede der Männer über sie lediglich in ihrer subsidiären Funktion als Braut oder Ehefrau Erwähnung findet. Dafür heißt »Tells Weib« dort »Gertrud«;Footnote 207 ein Frauenname, der bekanntermaßen bei Schiller ebenfalls vorkommt, als derjenige nämlich, den dieser »Stauffachers Gattin« gab, nachdem er dieselbe »[u]rsprünglich« hatte »anonym« bleiben lassen.Footnote 208 Und was die bei Schiller ökonomisch potente Erbin betrifft, »Bertha von Brunek«, dereinst verheiratete von Rudenz, da bleibt es auf Ambühls Rollenliste sub hoc praenomine bei einem denkbar lakonischen Eintrag: »Bertha.«Footnote 209

Luserke-Jaquis Kommentar wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Um die beiden Berthas erst einmal beiseite zu lassen: Wieso hat Schiller einen neuen Vornamen für Hedwig alias Gertrud Tell aufgebracht? Weshalb hat er dafür den Namen »Gertrud« von Tells auf Stauffachers Frau verschoben? Und das, obwohl diese in der von Schiller konsultierten Literatur einen Namen bereits hatte? In den Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft, jedenfalls in der Auflage, die Schiller benutzte, war sie zwar noch namenlos, bevor ihr Müller 1806, in der Auflage letzter Hand, den Namen »Margareth Herlobig« geben sollte.Footnote 210 Bei Ambühl aber hieß sie »Melchtilde« [sic!]; ein Name wiederum, den Schiller mutatis mutandis, »Mechthild«, noch der Randfigur einer Bäuerin angehängt hat.

Es macht ganz den Anschein, als habe der Name »Gertrud« in Schillers Ohr besser zu Stauffachers denn zu Tells Gattin gepasst. Warum wohl? – Man denke nur wieder an Keller und seine Frau Glor im Verlorenen Lachen, eine eigens so genannte »Stauffacherin« und Tochter einer »wahre[n] Stauffacherin«:Footnote 211 Die Stauffacherin war und blieb der Inbegriff einer Schweizer Matriarchin, bis selbst noch in den Film, in Leopold Lindtbergs Landammann Stauffacher, 1941. Insofern ließe sich allenfalls auch die Namensgebung »Gertrud« notdürftig motivieren. Von der einzig bühnennotorischen Namensschwester her, einer indessen nicht gerade sympathischen Figur – auch deswegen mochte er schlecht zur weniger durchsetzungskräftigen Frau des Haupthelden passen –, konnotiert der Name »Gertrud« weibliche agency. Und ohne die agency der Stauffacherin käme die Dramenhandlung wie diejenige des Hamlet gar nicht erst ins Rollen. Oder um es auf die Worte zu bringen, die Bachofen in der Sage von Tanaquil auf diese sagenumwobene Königsmacherin münzte, Tanaquil, »geht der Anstoß zur Tat von« ihr »aus«.Footnote 212 Die Stauffacherin ist es, die den ersten der späteren Eidgenossen auf den Gedanken einer Verschwörung gegen die Habsburger bringt.

Allerdings gehört dieser weibliche Anteil an der Befreiungsgeschichte noch durchaus nicht zu den Verdiensten oder den Erfindungen Schillers. Die »wyjse sinnriche Frow« des »Stouffacher«Footnote 213 und ihr »rat«, »wise«,Footnote 214 wie er und wie sie ist, waren eh und je integrale Bestandteile der eidgenössischen Gründungssage, seit Tschudi und dem Weißen Buch von Sarnen. Dem entsprechend sind sie auch bei Schillers hauptsächlichem Gewährsmann schon vorgegeben. Schon bei Johannes Müller stand zu lesen: »[…] als die Stauffacherin, mit Unruhe bedachte, wie dieser gewaltthätige Mann [scil. Geßler] ihr Haus beneidet, redete sie mit ihrem Mann (die alten Sitten gaben den Hausfrauen männlichen Sinn), und bewog ihn dem drohenden Unfall vorzukommen [sic!].«Footnote 215

Die weibliche agency hat Müller allein für die eine Stauffacherin vermerkt. Und zwar vermerkte er sie als etwas so Ungewöhnliches, dass er sich veranlasst fühlte, sie sich oder seinen Lesern eigens zu erklären. Daher die Klammerbemerkung von den alten Sitten und dem in ihrer Tradition männlichen Sinn der Hausfrauen. Deren männlicher Sinn erscheint hier als einer, der vor Zeiten unter den alten Eidgenossinnen wo nicht landesüblich, so doch vor Ort erwartbar war und durchaus im Rahmen des immer wieder Möglichen lag.

Das war eine fraglos berechtigte Induktion. Ihre Berechtigung und Bestätigung findet Müllers Verallgemeinerung darin, dass der eine Fall der Stauffacherin bei Tschudi oder im Weißen Buch von Sarnen noch mit der allergrößten Selbstverständlichkeit daherkommt. Weder beim einen noch im anderen braucht er erst ausgewiesen zu werden als Ausnahme von einer folglich jüngeren Regel. Die »Frowen« der alten Eidgenossen müssen samt »der Frowen Rat«Footnote 216 wirklich mehr gezählt haben als Müllers oder Schillers Zeitgenossinnen; ein Befund, der präzise auf der Trajektorie der Bachofen’schen Vorstellungen vom Verlauf der Geschlechtergeschichte liegt. Bachofen wird sich also kaum darüber gewundert haben, wenn ihm dieser eine Zug an Schillers Schauspiel besonders plastisch und drastisch entgegentrat oder wenn er ihn daraus nachgerade ansprang.

Denn gerade hier, was also den männlichen Sinn auch der Frauen und die Ubiquität einer so gearteten Sitte angeht, scheint Schiller seinen Müller beim Wort genommen zu haben. Er hat es nicht bei dem männlichen Sinn der eigens umbenannten Gertrud Stauffacher belassen. Vielmehr infiziert dieser nun auch andere Frauenfiguren des Dramas.

Aufzeigen ließe sich das etwa an Tells hier Hedwig heißender Ehefrau. Hedwig für ihre Person weiß weisen Rat zu erteilen – nur dass ihn ihr Mann ausschlägt, dumm oder einfältig, wie er nach Ausweis seines mutmaßlich sprechenden Namens ist.Footnote 217 Er solle doch ja nicht nach »Altorf« gehen oder wenigstens die Armbrust daheim lassen und auf gar keinen Fall den Sohn dorthin mitnehmen;Footnote 218 ein Ratschlag, dem sich der Sohn selber widersetzt: »Ich gehe mit dem Vater.«Footnote 219

Während dieser Sohn sich als nur allzu willig erzeigt, das allein von ihm so diminuierte und verniedlichte »Mütterchen« zu »verlassen«,Footnote 220 hält sein jüngerer Bruder zu seiner nun wieder in der Normal- oder Vollform angeredeten Mutter: »Mutter, ich bleibe bei dir!«Footnote 221 Sie »umarmt« ihr »liebes Kind« und »folgt den Abgehenden lange mit den Augen«.Footnote 222 So endet die erste Szene im Hause Tell. An ihrem Ende, und durch diese Position natürlich emphatisiert, stehen eine Mutter-Kind-Dyade und die Kontrastierung zweier Söhne.

Deren älterer heißt bekanntlich Walther oder »Wälty«.Footnote 223 Dafür trägt der jüngere den Namen des Vaters, Wilhelm. Diesen Namen nota bene hat Schiller Hedwigs Zweitgeborenem gegen die Quellen zugeteilt. Bei Ambühl gibt es überhaupt nur einen einzigen Sohn, »Walther, ihr Junge«.Footnote 224 Bei Müller sind es zwar zwei der Brüder, »Wilhelm und Walther genannt« – in der Reihenfolge.Footnote 225 Bis auf eine allfällige Implikation dieser Reihenfolge jedoch bleibt das Altersverhältnis der beiden namentlich aufgezählten Kinder unbestimmt.

Aber just einer solchen Implikation gemäß, das heißt gerade umgekehrt als Schiller, bestimmt es der fabelhafte »Klingenberg«, auf den Müller sich bei seiner namentlichen Aufzählung beruft,Footnote 226 wohl ohne ihn aus erster Hand zu kennen. Nach der Klingenberger Chronik, von der Müller wahrscheinlich auch, doch nicht nur aus Tschudi wusste,Footnote 227 oder nach mindestens einer ihrer Abschriften soll Gwalterus Tell ausdrücklich der ›von Geburt Kleinste‹ gewesen sein: »Wilhelmus Tello […] cum suis liberis Guilielmo & Gwaltero natu minimo«.Footnote 228

Desto bemerkenswerter sind die Namen des Brüderpaars in Schillers Wilhelm Tell: dass es hier eben doch der ältere zu sein hat, der nach seinem »Ehni«Footnote 229 oder Großvater »Walther« heißt – wie der bei Ambühl einzige Sohn –; und dass der Name des Vaters damit erst auf den jüngeren kommt, wie ihn Schiller gegenüber Ambühls Dramenpersonal wiedereingeführt hat. Oder wenigstens könnte es einem mutterrechtstheoretisch informierten Leser, der von Ambühl nichts weiß, unerhört bedeutsam vorkommen, wie die zwei Namen hier auf Hedwigs Söhne verteilt sind, der Name ihres Mannes und der Name ihres Vaters, des Großvaters mütterlicherseits; wobei sich solch eine Spezifikation unter dem Mutterrecht noch erübrigen würde. Denn wie Bachofen gerade auch im Kontext »der Namengebung« behauptet, die typischerweise »mit der frühern mutterrechtlichen Familienorganisation« einhergehe, sei der »Muttervater« vordem der wichtigere, nein der einzig wichtige der beiden Großväter gewesen.Footnote 230

Dass Hedwigs Erstgeborener den Namen des Muttervaters und gerade nicht seines eigenen Vaters trägt, läuft der Norm einer patriarchal-dynastischen Taufpraxis zuwider, deren Verbindlichkeit für die Zeit auch der Dramenhandlung ja schon die Klingenberger Chronik oder zumindest einer ihrer Abschreiber verbürgt. Es durchkreuzt die Erwartung, die zu erzeugen die Usanzen der patrilinearen Namensweitergabe geeignet sind oder immerhin zu Bachofens Zeit noch waren. Im Haus und in der Familie Johann Jakob Bachofens des Älteren, des Jüngeren und des ganz Jungen hatten sie ihre nach wie vor robuste Gültigkeit.Footnote 231

Das antagonistische Verhalten nun, das die beiden gleichsam über Kreuz benannten Brüder gegenüber Hedwig an den Tag legen, der Muttersohn und der Vatersohn sozusagen, entspricht dem Code von Natur- und positivem Recht, von Mutterrecht und Vaterrecht. Oder genauer gesagt entspricht es den Zuordnungen, denen Bachofen die Privilegien der Ultimogenitur respektive der Erstgeburt anhand dieses Codes unterzog.Footnote 232 Nicht ganz umsonst konnte man denn in Hedwig Tell auch schon die Repräsentantin eines Mutterrechts avant la lettre sehen,Footnote 233 dessen Verletzung der Mann sühnt, indem er wohlgemerkt jene Tatwaffe zu guter Letzt ablegt; ein Accessoire von ohne weiteres und umso leichter durchschaubarer Sexualsymbolik, als der Besitzer bei der erstbesten Gelegenheit mit der scheinbar sprechenden Bezeichnung seiner Armbrust spielt und diese als Teil oder Extremität seines viril-wehrhaften Körpers definiert: »Mir fehlt der Arm, wenn mir die Waffe fehlt.«Footnote 234

Ein noch besseres und das zweifellos schlagendste Beispiel dafür, dass jene alte Sitte und der männliche Sinn der Stauffacherin sich unter dem weiblichen Personal des Wilhelm Tell gewissermaßen konzentrisch ausgebreitet haben, ist »Bertha von Brunek eine reiche Erbin«. (Weibliches Erbe und Erbrecht standen ganz am Anfang der Bachofen’schen Theoriebildung.Footnote 235) Am sinnfälligsten tritt ein gynaikokratischer Wesenszug der reichen Erbin dann hervor, wenn man ihn neben den Merkmalssatz der Bertha hält, von der sie wohl ihren Vornamen hat, doch sonst gar nichts. Diese Bertha ist weder eine reiche Erbin, noch auch nur erhält sie einen Zunamen, geschweige denn einen adligen.

Tochter Walther Fürsts,Footnote 236 »Schwester«Footnote 237 der hier so genannten Gertrud Tell und nicht Ulrichs von Rudenz, sondern Arnolds von Melchthal Gattin in spe, ist Ambühls Bertha ein passives und fügsames Mädchen, das sich ihrem Angebeteten hingebungsvoll liebend unterwirft. Zwar sehr nahe am Wasser gebaut, nimmt sie doch alles williglich hin und fügt sich züchtiglich in alles und jedes, was immer ihr Liebster an männlich-einsam gefällten Ratschlüssen ihr zumutet. Sie ist kurzum eine einzige Aufgipfelung oder Übererfüllung bürgerlich-matrimonialer Weiblichkeitsideale, wie sie zu Ambühls und Schillers Zeiten im Schwange waren und für deren Attraktivität gerade Ambühls Frauenpersonal auch sonst die aufschlussreichsten Belege hergibt.

Sogar die Stauffacherin damit zu imprägnieren hat Ambühl sich nicht gescheut. An seiner Melchtilde Stauffacher ist auch mit dem Mikroskop kein Fäserchen wiederzuerkennen von jenen alten Sitten, die Ambühls Landsmann und Altersgenosse an den Schweizerfrauen der Vorzeit zu preisen wusste. An ihr ist es keineswegs, ihrem Mann in politicis et militaribus auf die Sprünge zu helfen. Im Gegenteil, wegen der topischen Geschwätzigkeit der Weiber sieht Werner Stauffacher den Schweizerbund in Gefahr, den die verschworenen »Bundsgenoßen«Footnote 238 ganz ohne weibliches Zutun geschmiedet haben (und im Übrigen wieder oder noch mit Tells ausdrücklicher BeteiligungFootnote 239).

Die Stauffacherin des Ambühl’schen Schweizerbunds ist keine phallische Frau mehr. Oder sie ist es doch nur noch bis auf den desto kläglicheren Rest eines ehelich neckischen Drohfingers. Denn »mit dem Finger« sind immerhin die Worte gesprochen, die sie in einer zum Fremdschämen peinlichen Stichomythie ihrem Werni entgegnet, als der aus Sorge um das Geheimnis der Verschwörung sich zu einem Stoßseufzer hinreißen lässt – »Wenns keine Weiber gäbe« –, um so gleich ihr ganzes Geschlecht zu verwünschen: »(mit dem Finger.) Werner! Werner!«Footnote 240

Man sieht es, die Handlung verläuft in Ambühls Schweizerbund, ein Jahrzehnt vor der Französischen Revolution, noch brav in den Bahnen der seinerzeit zu erwartenden Geschlechterdiathesen. Der Schweizer- ist immer schon und immer nur ein purer Männerbund. Die Weiber haben nichts zu melden und, außer reinen Mund zu halten, nichts beizutragen. Und die exklusiv männliche Tat der Selbstbefreiung geht so vonstatten, dass sich die Eidgenossen damit im wahrsten Sinne des Wortes ermannen und eine Beschädigung ihrer Männlichkeit wettmachen.

Bei Ambühl hat der »Reichs-Vögte« einer, »Herman Geßler«, dem »Willhelm Tell«Footnote 241 das männliche Geschäft des Jagens untersagt. Statt der Liebe zur Jagd zu frönen, der Meisterschaft in der Handhabung seiner fernhintreffenden Schusswaffe, bleibt Tell in die »Haushaltung« eingepfercht.Footnote 242 Seiner »Kräfte« beraubt, kann er dort wie seinesgleichen die ganze Zeit nur »durch[]gähnen«.Footnote 243 Ein jeder müsse tagein, tagaus »sich mit einem weib abgeben« oder wie ein, wenn nicht »als weib« vor sich hin vegetieren – so die Grimm’sche Bedeutungsumschreibung für solche intransitiven Verwendungen des VerbsFootnote 244 –: »Das Weiben! das Weiben!«Footnote 245 Und die Solidarisierung mit der »Heldenthat« sodann, durch die Willhelm Tell die Wiederermannung der ›Kastrierten‹ besiegelt und die kollektive Erniedrigung an Herman Geßler gerächt hat (mit neuerlich deutungsfähiger Orthografie der Vornamen), wird als Selbstvergewisserung der Virilität vollzogen, mit einem seinerseits reduplizierten Ausruf: »Wie Männer! […] Wie Männer!«Footnote 246

Dieses so ganz eindeutige und einseitige gendering des vorrevolutionären Stücks sollte man sich vergegenwärtigen, um die diesbezügliche Eigenwilligkeit des Schiller’schen Schauspiels zu ermessen und die Geschlechterpolitik desselben zu würdigen. Während Ambühl die alte Sitte weiblicher Initiative oder Mitsprache selbst noch bei der Stauffacherin zu kassieren sich nicht entblödet, für die sie von jeher bezeugt war, bleibt es bei Schiller nicht etwa nur dabei, dass er an dieser einen Frau den männlichen Sinn einfach restituiert. Sondern er hat ihn auch noch auf andere Frauenfiguren übertragen; so auf Hedwig TellFootnote 247 oder eben ganz besonders auf Bertha von Brunek, »unter allen Gestalten Schillers eine der emanzipiertesten Frauen« überhaupt.Footnote 248

Die reiche Erbin sticht aufs schärfste gegen ihre mutmaßliche Namensspenderin ab, die Ambühl ein Vierteljahrhundert zuvor zusammenphantasiert hatte. Ganz anders als diese Bühnenfleisch gewordene Männerphantasie eines submissiven Fräuleins und bedingungslos gefügigen Frauchens hat Schillers Bertha ihrerseits agency. Genau wie die Stauffacherin wirkt auch sie quasi als Katalysatrix der Handlung, aus der sie womöglich noch weniger wegzudenken wäre als diese Stauffacherin. Bertha von Brunek ist es ja, sie erst und sie allein,Footnote 249 die den vormaligen Hofschranzen Ulrich von Rudenz für die Sache der Eidgenossen gewinnt, indem sie die Erwiderung oder Befriedigung seines sexuellen Begehrens von solch einem Seitenwechsel abhängig macht.

Das quid pro quo von männlicher Parteinahme und weiblicher Partnerwahl bildet sogar das happy ending des Stücks. Auf den ersten Blick und innerhalb eines durch die Gattungskonvention ausgehärteten Erwartungshorizonts ist es einfach ein Komödienende, wie es im Buch steht. Es endet mit einer Paarbildung. Poetisch versinnlicht diese der Schlussreim der letzten, Blankverse wird man sie deswegen ungern nennen wollen – ein sinnigerweise ›weibliches‹ Reimpaar.

Denn vollzogen wird die Verlobung durch die Frau und »freie Schweizerin«. Das allerletzte Wort und Reimwort darf zwar der Mann oder »Jüngling« behalten. Mit seinem einen Vers aber vollbringt er einen politischen Sprechakt, zu dem ihn erst die Frau ermuntern oder bewegen musste. Sein Schlussvers reimt und reagiert denn auch nur auf deren Sprechakt und vorletztes Wort. Und dieses weiblich-vorletzte Wort besteht eben in einem Vollzug dessen, was nach Bachofen das primordiale Spezifikum des so geradezu definierbaren Mutterrechts ausmacht, die Damenwahl:Footnote 250

bertha: Wohlan!

So reich ich diesem Jüngling meine Rechte,

Die freie Schweizerin dem freien Mann!

rudenz: Und frei erklär’ ich alle meine Knechte.Footnote 251