I.

André Jolles’ Einfache Formen (1930)Footnote 1 darf mittlerweile als literaturwissenschaftlicher Klassiker des 20. Jahrhunderts gelten. In neun Kapiteln erschließt Jolles der Literaturwissenschaft Gegenstände, die zuvor ins Metier der vergleichenden Volkskunde fielen, darunter das Rätsel, den Mythos und den Spruch. Im Zuge der Auseinandersetzung mit diesen meist mündlich und anonym tradierten literarischen Gebilden entwickelt Jolles einen übergreifenden Ansatz zur Untersuchung der von ihm so genannten Einfachen Formen. Dabei führt Jolles einige neuartige Begriffe ein, entwirft aber kein geschlossenes Theoriegebäude. Für diese methodische Offenheit gibt es vermutlich auch werkgenetische Gründe, denn zum einen entstand der Band unter Mitarbeit zweier Schüler auf der Grundlage von Vorlesungsmanuskripten.Footnote 2 Zum anderen ging der Veröffentlichung eine langjährige Arbeit an einer Reihe der Einfachen Formen voraus, wobei Jolles mitunter Bezug auf die kulturphilosophische und sprachwissenschaftliche Forschung seiner Leipziger Kollegen nahm. Während der Herausgeber der zweiten Auflage der Einfachen Formen 1956 Jolles’ ›gestaltdeutende‹ bzw. ›morphologische Methode‹ ganz selbstverständlich in dessen akademischem Umfeld verortet, wurde diese Einschätzung mit Blick auf Jolles’ idiosynkratisch erscheinende Terminologie gelegentlich revidiert oder relativiert.Footnote 3 Zu Jolles’ politisiertem akademischen Umfeld der 1920er und 1930er Jahre zählen der Sprachwissenschaftler Walter PorzigFootnote 4, der disziplinenübergreifend arbeitende Gunther IpsenFootnote 5 sowie der Soziologe Hans Freyer.Footnote 6 Zwar lässt sich eine direkte Übernahme von Begriffen in den meisten Fällen nicht nachweisen, nimmt man jedoch Jolles’ Veröffentlichungen in den Jahren vor und nach der Publikation der Einfachen Formen in den Blick, wird deutlich, dass es einen Austausch mit seinem sprachwissenschaftlich-soziologischen Umfeld gegeben hat, der auf ein geteiltes Interesse schließen lässt: die Objektivationen einer Kultur, etwa eine Sprache oder eine literarische Form, in ihrem eigengesetzlichen Aufbau zu beschreiben und dadurch Rückschlüsse auf die jeweilige ›Welt‹ einer Gemeinschaft zu gestatten. Dabei wird vorausgesetzt, dass eine formgebende Kraft die ›innere‹ Gliederung des Ganzen (der Sprache oder der Form) gesetzmäßig aus- und umbildet. Diese Ideen waren zeitgenössisch eng mit den Namen Johann Wolfgang von Goethe und Wilhelm von Humboldt verbunden. Goethe verfolgte die regelhaften Bildungen und Umbildungen des »bewegliche[n] Leben[s] der Natur«Footnote 7 in seiner Studie zur Metamorphose der Pflanzen sowie in seinen morphologischen Arbeiten. Humboldts dynamisch-energetischer Sprachauffassung liegt ebenfalls ein verzeitlichter Gegenstand zugrunde: das »jedesmal Gesprochene[]«Footnote 8, das die Sprache als System erzeugt und wiederum gemäß diesem System erzeugt wird.

Jolles greift diese miteinander verbundenen Ideen der Ganzheit und Verzeitlichung auf und gestaltet sie auf eigentümliche Weise aus – in seiner Vorrede zum Essayband Bezieling en vormFootnote 9 (1923), im Aufsatz zur Form des RätselsFootnote 10 (1925), dann im Buch Einfache Formen und schließlich in seinem Beitrag »Antike Bedeutungsfelder«Footnote 11 (1934), der einen zentralen Begriff der von Porzig und Ipsen vertretenen Sprachinhaltsforschung adaptiert. In diesem Zeitraum formuliert Jolles immer wieder den Anspruch, in aufsteigender Perspektive die formbildenden Prozesse zu beobachten, die »von den elementen der sprache bis zu den gebilden der dichtung« führen.Footnote 12 Auch Porzig hatte 1928 in einer von Ipsen, Freyer und Jolles herausgegebenen Reihe am Beispiel von Aischylos’ Tragödien den Versuch unternommen, »die Brücke von der syntaktischen Form zur literarischen Kunstform zu schlagen«Footnote 13 und damit Sprachwissenschaft und Literaturforschung in Beziehung zu setzen. Eine Bemerkung in Porzigs Buch dürfte den Lesern der Einfachen Formen äußerst bekannt erscheinen: »So zeigt sich die Welt in der Sprache gleichsam in flüssigem Aggregatzustande, alle ihre verschiedenen Formen erweisen sich als stetige Wandlungen derselben einfachen Grundbestandteile«.Footnote 14 Jolles verwendet eben dieses Bild des Aggregatzustands, um zu veranschaulichen, dass sich die Einfachen Formen auf Dauer nicht verfestigten (vgl. EF 10). Als holistische Metapher transportiert die Vorstellung des Aggregatzustandes zwei wichtige Prämissen ihrer Forschung: Es gibt kleinste Elemente, die sich innerhalb eines Ganzen in einer mehr oder weniger beweglichen bzw. wandelbaren Anordnung befinden; wenn sich ein Teil verändert, hat dies Auswirkungen auch auf die anderen Elemente. Die Formen der Sprache seien folglich »nicht als greifbare Gebilde, sondern als Beziehungsgesetzlichkeiten« gegeben, meint Porzig.Footnote 15 Weil diese »Beziehungsgesetzlichkeiten« nicht gleich mit Blick auf die gesamte Sprache untersucht werden können, setzen Porzig und Ipsen voraus, dass es in einer Sprache abgezirkelte und gegliederte semantische Gebiete gibt. In solchen ›Feldern‹ werde die Bedeutung der sprachlichen Elemente über ihre wechselseitigen Beziehungen etabliert. Diese ›Felder‹ strukturierten dann ihrerseits den ›Bau‹ der gesamten Sprache. Porzig und Ipsen entfalten diesen Gedanken im gleichen Zeitraum, in dem Jolles an den Einfachen Formen arbeitet. Während sich das Bild des ›flüssigen Aggregatzustands‹ der Sprache für Porzig und Ipsen letztlich insofern als unpassend erweist, als sie sich für Fragen des eher langwierigen Bedeutungswandels in der Geschichte einer Sprache interessierenFootnote 16, trifft es den Kern der Jolles’schen Unternehmung, die um den besonderen ›Aggregatzustand‹ der Einfachen Formen, d. h. um Fragen der Wandelbarkeit und Zeitlichkeit, kreist.

In seinen Publikationen zu den Einfachen Formen führt Jolles verschiedene Zeitbegriffe an, die alle darauf hindeuten, dass Zeit hier nicht einfach mit Geschichte gleichgesetzt werden kann, dass Wandelbarkeit und historischer Wandel zu differenzieren sind. Zu diesen Begriffen zählt neben der ›Unaufhörlichkeit‹ und der ›Jedesmaligkeit‹ auch die ›Beweglichkeit‹, die Goethe in seinen Heften zur Morphologie dem vielgestaltigen osteologischen Typus zuschrieb.Footnote 17 Jolles verquickt damit die Frage der Zeitlichkeit der Einfachen Formen mit dem Problem der Vielgestaltigkeit, das in Goethes Morphologie als Verhältnis von Konstanz und Variation verhandelt wird. Daraus folgt eine Paradoxie. – Jolles’ Einfache Formen erscheinen als wandelbar und unwandelbar zugleich. In der Forschung hat dies zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen geführt. Die Einfachen Formen seien ›historisch konstant‹ heißt es einerseitsFootnote 18, sie träten nicht in die historische Überlieferung ein andererseits.Footnote 19 Die Historizität der Einfachen Formen bleibt auch darum unklar, weil Jolles den Gedanken der Wandelbarkeit der Einfachen Formen aus mehreren Quellen speist. Die genannten Zeitbegriffe lassen sich nämlich auf unterschiedliche Kontexte zurückführen – der Begriff der ›Unaufhörlichkeit‹ auf Jacob Grimm, der Begriff der ›Jedesmaligkeit‹ auf Humboldt und der Begriff der ›Beweglichkeit‹ auf Goethe. Alle diese Begriffe haben einen gewissen Anteil an den um 1800 statthabenden Veränderungen im Denken über die Formen der Natur wie der Kultur. Genauer gesagt: Sie alle deuten auf Momente des von David E. Wellbery so genannten ›endogenen Formbegriffs‹, der für eine Aufwertung von Bildungsprozessen steht, die sich in der Zeit vollziehen. Dabei wird in vielen Fällen ein ›generatives Prinzip‹ vorausgesetzt, das die Bildung und Umbildung von Form leitet.Footnote 20

Die verschiedenen Zeitbegriffe bringen allerdings Probleme und Fragestellungen ihrer ursprünglichen Kontexte ein, die Jolles nicht immer ausarbeitet oder reflektiert. Grimms Idee einer ›unaufhörlichen Wiedergeburt‹Footnote 21 der Sage steht im Hintergrund der von Jolles getroffenen Unterscheidung der Einfachen Formen, die sich gleichsam ›von selbst machen‹, und der Kunstformen, die von einem Autor ›zubereitet‹ sind. Jolles rekurriert damit auf Grimms Unterscheidung von Natur- und Kunstpoesie. Die diesbezügliche romantische Debatte zu Mündlichkeit und Schriftlichkeit lässt er hingegen weitestgehend außen vor, obwohl die Idee eines ›anderen Aggregatzustandes‹ der Einfachen Formen im Vergleich zu den ›fixierten‹ Kunstformen durchaus über die Variation dieser Formen in der mündlichen Tradierung erklärbar wäre.

Die Referenz auf Grimm überrascht mit Blick auf Jolles’ Gegenstände kaum, da es sich vielfach um ›volkstümliche‹ Genres wie die Sage, die Legende und das Märchen handelt. Auch die Auseinandersetzung mit Goethes Naturkunde ist nicht an sich verwunderlich, zirkulierten doch zu dieser Zeit in der deutschen Literaturwissenschaft zahlreiche Ideen und Begriffe aus dem Goethe-KosmosFootnote 22; sie ist gleichwohl in ihrer Ausrichtung bemerkenswert. In Jolles’ Umfeld war vermutlich auch Goethes Morphologie bekannt, immerhin hatte Gunther Ipsen die naturkundlichen Schriften Goethes in den späten 1920er Jahren im Rahmen einer Edition des Insel-Verlags herausgegeben.Footnote 23 Für Ipsen, der aus der gestalttheoretischen Schule Felix Kruegers kam, war der ›holistische Goethe‹ von größerer Bedeutung als für Jolles. Das ausgesprochen Ungewöhnliche an Jolles’ Goethe-Rezeption besteht nämlich darin, dass er die Morphologie nicht, wie viele seiner Zeitgenossen, als einen »Denkstil«Footnote 24 auffasst, sondern im Anschluss an Goethes Morphologie einen Bereich literaturwissenschaftlichen Arbeitens über einen besonderen Gegenstand absteckt. Die Einfachen Formen sind in Analogie zu den ›beweglichen Gebilden‹ der Natur konzipiert. Einschlägige Goethe-Begriffe, wie Metamorphose oder Typus, werden allerdings vermieden, womöglich auch weil die Unterscheidung der ›beweglichen‹ Einfachen Formen von den ›festen‹ Kunstformen kein Goethe’sches Äquivalent hat. Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem zentralen morphologischen Problem der Vielgestaltigkeit von Form führt Jolles ein neues Zeitkonzept ein, das er »Jedesmaligkeit« nennt (EF 237).

Hier kommt nun als dritte wichtige Referenz Humboldt ins Spiel, der anders als Goethe und Grimm in den Einfachen Formen nicht explizit genannt wird. Gleichwohl ist Jolles’ neuartiges Zeitkonzept mit großer Wahrscheinlichkeit als Begriffsschöpfung an Humboldt angelehnt, der die Sprache als Tätigkeit (Energeia), d.i. als ›jedesmaliges Sprechen‹ verstand. In der dynamisch-energetischen Sprachauffassung Humboldts ist auch die Sprache, wie die Gegenstände von Goethes Naturkunde, ein ›bewegliches Gebilde‹. Jolles hat Humboldt vermutlich nicht direkt rezipiert, aber er hat einige Konzepte zur Kenntnis genommen, die sich im Zuge der Humboldt-Rezeption in seinem sprachwissenschaftlichen Umfeld ausprägten. Dazu zählt das Konzept der ›inneren Sprachform‹, das Porzig 1923Footnote 25 für eine methodische Neuausrichtung der Sprachwissenschaften heranzieht, und das Konzept des ›Bedeutungsfeldes‹, das Ipsen 1924 einführte und das die Anfänge der sogenannten Wortfeldforschung markiert.Footnote 26 Wichtiger als die konkreten Fragen der Semasiologie und Onomasiologie ist für Jolles die mit dem Namen Humboldt verbundene Idee, dass Sprache die Weltsicht einer Sprachgemeinschaft prägt, sich also anhand des ›inneren Baus‹ einer Sprache auch etwas über die ›Welt‹ einer jeweiligen Gemeinschaft sagen lasse. Jolles betrachtet seine Einfachen Formen folglich im Zusammenhang jener ›Welt‹, in der sie Geltung hatten. Warum damit keine grundsätzliche historische Verortung der Einfachen Formen einhergeht, wird im Folgenden ausgehend von Jolles’ Zeitbegriffen zu zeigen sein.

Natürlich haben gerade diese Zeitbegriffe weitere Implikationen. Zuletzt wäre dahingehend auf die Relevanz lebensphilosophischer Denkfiguren hinzuweisen, die im Leipziger Umfeld über die Arbeiten des ›konservativen Revolutionärs‹ Hans Freyer Eingang fanden.Footnote 27 Wie auch Simmel und Cassirer ist Freyer im Rahmen seiner Kulturphilosophie mit dem Dualismus von Subjekt und Objekt, von beweglichem Leben und starrer Form befasst. Wenn Jolles von den ›beweglichen‹ Einfachen Formen spricht, schwingt die Konnotation einer ›Lebendigkeit‹ mit. Die lebensphilosophische Denkfigur eines konfliktären Verhältnisses von Leben und Form wird in Jolles’ Überlegungen zu den Einfachen Formen jedoch auf ungewöhnliche Weise variiert.Footnote 28

Damit steht mittelbar auch die politische Ausrichtung der Einfachen Formen auf dem Spiel.Footnote 29 Die methodischen Innovationen des Bandes sah etwa Jesinghausen-Lauster mit einer klaren politischen Stoßrichtung verbunden: In den Einfachen Formen vereinigten sich »Strukturalismus und regressiv-utopischer Kulturorganizismus«.Footnote 30 Auch Jolles’ Kollegen Porzig und Ipsen wurden zwar einerseits gelegentlich in der »Vor- und Frühgeschichte des Strukturalismus in Deutschland«Footnote 31 verortet, andererseits wurde diese Einordnung stark kritisiert, weil sie nicht nur sachliche Differenzen, sondern auch politische Hintergründe verunklart.Footnote 32 Die Spielart der Sprachinhaltsforschung bzw. inhaltbezogenen Grammatik, die Porzig und Ipsen im Zuge ihrer Suche nach ›gegliederten Ganzheiten‹ in der Sprache vertraten, wurde nicht nur zu fachpolitischen Zwecken eingesetzt, sondern auch in den Dienst nationalsozialistischer Politik gestellt.Footnote 33 Die Idee der Ganzheit bildete nämlich außerdem eine Grundlage für politische Gemeinschaftslehren. Vor allem bei Gunther Ipsen verbindet sich ein emphatischer Begriff von nationaler Sprachgemeinschaft mit der Idee einer völkischen Gemeinschaft.Footnote 34 In Jolles’ Fall hängt die Frage einer politischen Dimension seines Ansatzes vor allem am (unklaren) historischen Status der Einfachen Formen, zumal Jolles in die anscheinend systematische Unterscheidung von Einfachen Formen und Kunstformen eine geschichtsphilosophische Spur einträgt, die ebenfalls auf Jacob Grimm verweist.Footnote 35 Klausnitzer hat darum von einer »Verbindung von Wissen und Werten im Zeichen reaktiver romantischer Konzeptionen« gesprochen.Footnote 36 Reminiszenzen dieser Art unterscheiden Jolles von anderen Autoren, die sich zur gleichen Zeit mit sehr ähnlichen Gegenständen befassen. Zu denken wäre hier insbesondere an Vladimir Propp oder Roman Jakobson und Petr Bogatyrev, die im Zuge ihrer formalistischen bzw. (proto-)strukturalistischen Untersuchungen größtenteils mit den vorangegangenen romantischen Überzeugungen brechen. Allerdings spielt eine Instanz wie ›das Volk‹ für die Sage als Einfache Form ebenfalls keine Rolle mehr, denn Jolles erfasst das Potenzial der Einfachen Formen zur ›Selbsterzeugung‹ nun über temporale Begriffe.

Im Folgenden soll es darum gehen, Jolles’ Buch in der formorientierten Literatur- und Kulturtheorie der Zeit zu verorten, indem Jolles’ Auseinandersetzung mit mehreren zentralen Konzepten seines sprachwissenschaftlichen Umfelds diskutiert wird. Dabei wird besonderes Augenmerk auf Jolles’ Zeitbegriffe und sein Formdenken gelegt, denn daran zeigt sich die eigentümliche Weise, in der er die Ideen der Ganzheit und der Verzeitlichung von Form auffasst.

II.

In seiner Aufsatzsammlung Bezieling en vorm (1923) hat Jolles einige Grundgedanken seines Ansatzes niederlegt, die im späteren Buch Einfache Formen nicht in vergleichbarer Weise expliziert werden. Jolles erklärt im Vorwort der Aufsatzsammlung, dass die Frage der Wissenschaftlichkeit der Literaturforschung von einem Perspektivwechsel abhänge. Es komme darauf an, nicht länger nur das einzelne Werk als Schöpfung eines Künstlers in Betracht zu ziehen, sondern danach zu fragen, inwiefern die Formen der Literatur ein »Eigenleben haben und sich nach eigenen Gesetzen entwickeln«.Footnote 37 Während diese Gegenüberstellung als Differenzierung von Formtypen, den Kunstformen einerseits und den Einfachen Formen andererseits, im Buch ausgearbeitet ist, wird eines der Anliegen der Aufsatzsammlung dort nicht länger angeführt. In der Vorrede hatte Jolles noch argumentiert, dass sich die Literaturwissenschaft auf ein neues wissenschaftliches Niveau heben könne, wenn sie sich an der Sprachwissenschaft orientiere, die allgemeine Konzepte und Regeln suche, anstatt wie die Literaturwissenschaft eine Vorliebe für das Besondere und die Eigenheiten des einzelnen Werkes zu pflegen.Footnote 38 Jolles, der seit 1919 außerordentlicher Professor für flämische und niederländische Sprache und Literatur an der Universität Leipzig war, nimmt hier implizit Bezug auf eine ›Wende‹ der Sprachwissenschaften, die einige seiner Leipziger Kollegen ihrerseits in den 1920er Jahren vollziehen wollten. Walter Porzig hatte sich 1922 an der Universität Leipzig in der Sprachwissenschaft habilitiertFootnote 39; Gunther Ipsen übernahm 1925 nach einer sprachwissenschaftlich-gestalttheoretischen Habilitation eine Stelle an Hans Freyers Soziologischem Institut in Leipzig.Footnote 40 An den Veröffentlichungen von Porzig und Ipsen während der 1920er Jahre lässt sich eine gemeinsame Agenda ablesen. Zum einen suchten die beiden eine ›holistische‹ Perspektive in der Sprachwissenschaft zu etablieren, zum anderen eine (sprach-)philosophische Position gegen positivistische Ansätze in der Linguistik stark zu machen. Diese Anliegen bringt Porzig im gleichen Jahr, in dem Jolles seine Vorrede verfasst, im Begriff der ›inneren Sprachform‹ bzw. ›inneren Form‹ auf den Punkt.Footnote 41 Der auf Wilhelm von Humboldt zurückgeführte Begriff zählt zu einer Reihe von Konzepten aus André Jolles’ sprachwissenschaftlichem Umfeld, die er in seinem Buch Einfache Formen aufgegriffen hat und die bislang wenig Aufmerksamkeit erhalten haben. Porzig und Ipsen nutzen den Begriff der ›inneren Form‹, um eine Sprachwissenschaft zu legitimieren, die Sprache als ›Ganzes‹ adressiert. Sprache sollte als System oder – wie es bei diesen Autoren eher heißt – als ›gegliedertes Ganzes‹ untersucht werden. Anders als Saussure wollte man Sprache aber »nicht nur als Laut, sondern auch als Inhalt«, d. h. »in Beziehung auf den Menschen, die Kultur und das Weltbild« betrachten.Footnote 42 Im Sinne einer solchen ›holistischen‹ Betrachtung von Sprache wenden sich Porzig und Ipsen gegen die Untersuchung isolierter Elemente, insbesondere in Fragen der Semantik.Footnote 43 Ihr Begriff der inneren Form impliziert die gegliederte Einheit der sprachlichen Weltauffassung einer Gemeinschaft. Um grundlegende »Strukturierungen im Wortschatz«Footnote 44, d. h. bedeutungskonstitutive Beziehungen von Wörtern, zu beschreiben, entwickeln sie das Konzept des Bedeutungsfeldes. Diese Spielart der Sprachinhaltsforschung, für die auch Leo Weisgerber und Jost Trier stehenFootnote 45, sollte nicht zuletzt der Ausweitung des Zuständigkeitsbereichs der Sprachwissenschaften auf die Kulturphilosophie und -geschichte dienen.Footnote 46

Zum Zeitpunkt als Jolles jene ›Wende‹ der Literaturwissenschaft avisiert, stehen seine Kollegen noch am Beginn ihrer Unternehmung, sodass sich zwar ihre Anliegen und ihre Gegner abzeichnen, aber noch keine operationalisierbaren Konzepte vorliegen. Auch darum ist Jolles frei, in seiner Vorrede das sprachwissenschaftliche Programm in einer Terminologie zu fassen, die sich aus weiteren Quellen speist. Denn weder Porzig noch Ipsen geben an, nach »allgemeinen Gesetzen der Formbildung, des Formwachstums und der Formveränderung«Footnote 47 zu suchen. Jolles’ Interesse am »Eigenleben« von Formen mag im Austausch mit Aby Warburg geweckt worden seinFootnote 48, die Vorrede von 1923 eröffnet darüber hinaus bereits die Möglichkeit einer Verknüpfung der sprachwissenschaftlichen Ansätze mit Goethe’schem Denken. Denn Jolles’ zweite Referenz in der Vorrede von 1923 sind Goethes naturkundliche Arbeiten, die dieser unter dem Begriff der Morphologie als Ansätze zu einer Formenlehre der Natur versammelt hat. Seine alternative Methode der Literaturwissenschaft bezeichnet Jolles dann im Vorwort des Buches von 1930 als ›morphologisch‹ und stellt sie neben die Literaturgeschichte und die Ästhetik (vgl. EF 1‑7). Die ›morphologische‹ Aufgabe in der Literaturwissenschaft beziehe sich auf »Grundformen«, wie sie in allen menschlichen Kulturen zu finden seien.Footnote 49 Diese gelte es voneinander abzugrenzen, aber auch hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten zu vergleichen.

Im Buch treten neben jene Formen, mit denen sich Jolles schon vor der Publikation des Bandes immer wieder beschäftigt hatte (d.s. das Märchen, die Sage, die Legende, das Rätsel, der Mythos und der Spruch), noch der Kasus, die Memorabilien und der Witz. Die erweiterte Auswahl ist für Jolles keineswegs beliebig, denn als System stelle die Gesamtheit der neun Einfachen Formen ein »einheitliches, grundsätzlich angeordnetes, innerlich zusammenhängendes und gegliedertes Ganzes« dar (EF 7). Eine Erörterung dieses ›systematischen‹ Verhältnisses bleibt jedoch weitestgehend aus, da Jolles kaum mehr als zwei Formen vergleicht. Der Gedanke eines ›gegliederten Ganzen‹ spielt tatsächlich eine stärkere Rolle für die Untersuchung der einzelnen Formen. In Analogie zu sprachwissenschaftlichen Überlegungen seiner Zeit nimmt Jolles an, dass es »letzte[], nicht teilbare[] Einheiten« (EF 45) gibt. Jolles nennt diese elementaren Einheiten »Sprachgebärden« (ebd.).Footnote 50 Diese verdichteten sich gemäß einem kollektiven geistigen Prinzip in der Sprache zu den Einfachen Formen. Die Ansicht, in der Literatur (und mithin in der Sprache) gebe es Formen, in denen »gewisse geistige Beschäftigungen zur Darstellung kommen«Footnote 51, hat Jolles bereits Anfang der 1920er Jahre vertreten. In einem Aufsatz von 1925 bezeichnet er sie als »Lebenshaltung[en]« und als »Geistesbeschäftigungen«.Footnote 52 Geistesbeschäftigungen sind aber nicht lediglich Beschäftigungen des Geistes, Jolles begreift diese selbst als ›tätig‹, sofern sie ›formgebend‹ sind.Footnote 53 Aufgabe der Sprach- und Literaturwissenschaft sei es, diese (kollektive) geistige Tätigkeit zu untersuchen, insbesondere dort, wo sie sprachliche Gebilde auf einer höheren Ebene als der des einzelnen Zeichens hervorbringt.

III.

Jolles hat in der Vorrede seiner Sammlung Bezieling en vorm zwei entscheidende Momente der sprachwissenschaftlichen ›Wende‹, die Porzig und Ipsen vorantreiben wollten, erkannt: Sprache werde von nun an als Ganzheit und als Gemeinschaftsprodukt begriffen.Footnote 54 Seine Kollegen hatten diesbezüglich klare Feindbilder, die mit dem zeitgenössischen Krisenbewusstsein der Disziplin konvergierten.Footnote 55 Man sah zum einen die Deutungshoheit des Fachs durch eine inadäquate, weil atomistisch-positivistische Gegenstandskonstitution beschränkt. Denn die in den 1870er Jahren in Leipzig entstandene Schule der sogenannten Junggrammatiker hatte den Untersuchungsgegenstand Sprache im Individuum verortet und auf die faktenreiche Historisierung von Phänomenen auf der Lautebene gesetzt. Zum anderen glaubte man die disziplinäre Autonomie der Sprachwissenschaft durch die Psychologie bedroht.Footnote 56 In seinem Aufsatz »Der neue Sprachbegriff« (1932) erklärt Ipsen rückblickend, dass die Psychologie zum einen die (atomistische) »Elementaranalyse des Bewußtseins« eingeführt und zum anderen den »Zusammenhang von Logik und Grammatik« unterbrochen habe.Footnote 57 Ipsen hingegen wollte die Sprachwissenschaft ins Zeichen von Ganzheit und Logik stellen. Unter Rückgriff auf Humboldt und Husserl versuchte er eine sprachphilosophische ›Wende‹ einzuleiten und damit nicht zuletzt auch eine eigene, ›deutsche‹ Tradition zu (re‑)konstruieren. Freilich besteht eine Spannung zwischen Husserls Logik, zumal seinen Überlegungen zu einer reinen, apriorischen Grammatik, und dem dynamischen wie historischen Sprachverständnis Humboldts. Porzig und Ipsen nehmen im Sinne dieser divergierenden Tendenzen an, dass es grundlegende Gesetzmäßigkeiten gebe, die ›Sinnbezirke‹ in der Sprache etablierten, welche das menschliche Verhältnis zur Welt strukturierten, gingen aber zugleich von einer historischen wie kulturellen Spezifik dieses Verhältnisses aus. Dieses Forschungsprogramm ist eng mit der Idee einer ›inneren Sprachform‹ verbunden, die von Humboldts energetisch-dynamischem Sprachverständnis ihren Ausgang nahm.

Humboldt hatte den Gedanken einer ›Tätigkeit‹ (in) der Sprache in seiner bekannten Unterscheidung von Ergon (Werk) und Energeia (Tätigkeit) in der sogenannten Kawi-Arbeit eingeführt. Sobald die Vorstellung, dass Sprache Tätigkeit einer ›geistigen Kraft‹ sei, das Augenmerk auf das »jedesmalige[] Sprechen[]« lenkt, steht der Sprachforscher allerdings vor dem Problem, wie er die unübersichtlichen Einzelheiten einer Sprache ordnen, ihren historischen Wandel beschreiben und sie mit anderen Sprachen vergleichen kann.Footnote 58 Humboldt präsupponiert eine innere Einheit der Sprache mit dem Ziel der Vergleichung des »charakteristischen Bau[s]« der verschiedenen Sprachen, der sich gemäß der jeweiligen »Geisteskraft der Nationen« bilde.Footnote 59 Humboldts Ansichten zur Beziehung zwischen Geist und Sprache eines Volkes wurden später vielfach im Begriff der inneren Sprachform (im Gegensatz zu ihrer äußeren Form) kondensiert, den der Völkerpsychologe und Humboldt-Herausgeber Heymann Steinthal prominent gemacht hatte. Porzig und Ipsen suchten sich diesen Begriff anzueignen, denn mit Humboldt konnte in strategischer Abgrenzung von der französischen Linguistik und den Errungenschaften der Phonologie, namentlich von Ferdinand de Saussure, eine Sprachwissenschaft legitimiert werden, die Sprache als ›Ganzes‹ adressiert. Man war zwar mit Saussure einig, dass der Atomismus der junggrammatischen Schule zu überwinden und ein Verständnis von Sprache als System bzw. als ›gegliederte Ganzheit‹ zu entwickeln sei. Zugleich sah man aber ein Manko in Saussures Ansatz, weil dieser ›nur‹ die Opposition »sich gegenseitig bestimmender Einzelformen« in den Blick nehme.Footnote 60 Ipsen und Porzig hingegen erhoben den Anspruch, ein höheres »Ordnungsgesetz der Sprache« und damit »den Aufbau der Sprache als Aufbau einer Menschenwelt« aufzudecken.Footnote 61 Damit war die Vision verbunden, ausgehend vom einheitsstiftenden Prinzip der Sprache schließlich auch das Verhältnis der verschiedenen kulturellen Bereiche zueinander zu erhellen. Es ist daher bezeichnend, dass Porzig im gleichen Jahr wie Ernst Cassirer in seiner »Philosophie der symbolischen Formen« den Begriff der ›inneren Sprachform‹ bzw. ›inneren Form‹ aufgreift.Footnote 62 Für Jolles und seine Leipziger Kollegen galt als kulturphilosophischer Referenzpunkt indes nicht Ernst Cassirer, dessen neukantianische Erkenntniskritik man verwarfFootnote 63, sondern Hans FreyerFootnote 64, der in einem Schritt über Dilthey hinaus »den Aufbau der historischen Welt« in seiner ›objektiven‹ Beschaffenheit als »Strukturzusammenhang der menschlichen Kultur« zum Gegenstand der Kulturphilosophie machen wollte.Footnote 65 Während Freyer in seiner »Theorie des objektiven Geistes« (1923) die Sprache als einen Bereich im ›System der Kultursysteme‹ und den sprachlichen Ausdruck als einen Sonderfall der Zeichenkategorie bestimmt, deutet Porzig zur gleichen Zeit eine Privilegierung der Sprachwissenschaft an, die ein »Vorbild für die Hermeneutik der übrigen Kulturgebiete« aufstellen könne.Footnote 66 Trotz der Anerkennung der wechselseitigen Einflüsse von Kulturphilosophie, Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft bei der Begriffsbildung zentraler Konzepte wie Zeichen und Symbol, Form und Struktur wollte man letztlich der Sprache den Status als »erste und ursprünglichste aller Welten des Geistes«Footnote 67 sichern.

Wenn angenommen wird, dass Sprache eine konstitutive Bedeutung für das menschliche Verhältnis zur Welt hat, ist sowohl die Tatsache der Sprachenvielfalt zu bedenken als auch die Tatsache historischer Sprachstufen. Porzig und Ipsen beabsichtigten über die Identifikation und den Vergleich ›gegliederter Ganzheiten‹ in einer Sprache auch den sprachlichen Bedeutungswandel zu erforschen. Man wandte sich somit außerdem gegen Saussures strikte Trennung von synchroner und diachroner Sprachbetrachtung. In diesem Sinne hat die zeitgenössische Sprachinhaltsforschung von Humboldts Position eine komparative Perspektive abgeleitet: den Vergleich zweier oder mehrerer Sprachen oder verschiedener Sprachzustände einer Sprache.Footnote 68 Nun kann der Begriff der ›inneren Sprachform‹ deskriptiv oder normativ verwendet werden. Der normative Gebrauch erlaubt die Etablierung von Hierarchien zwischen den Sprachen und innerhalb verschiedener ›Bedeutungsfelder‹ einer Sprache. Während Porzigs frühe Einlassung zur ›inneren Form‹ noch eine produktive Erschütterung des »naive[n] Vertrauen[s] ins eigene Weltbild« durch den Vergleich verschiedener Sprachen in Aussicht stellt, nutzt Ipsen den Begriff zu Beginn der 1930er Jahre, um die ›Welt‹ einer Sprachgemeinschaft als »Schicksalsraum« aufzuladen.Footnote 69

IV.

Jolles teilt mit Porzig und Ipsen die Vision, kulturelle Objektivationen in ihrem wandelbaren ›Bau‹ als Manifestationen eines Weltverhältnisses zu erschließen. Während Porzig und Ipsen solche ›höheren Einheiten‹ in der Sprache allerdings erst einmal identifizieren müssen, kann Jolles die Einfachen Formen als Untersuchungsgegenstand voraussetzen, auch wenn er eine schrittweise aufsteigende Analyse formbildender Prozesse in der Sprache ankündigt. Da die Einfachen Formen und ihr »Eigenleben« im Vordergrund stehen, hat auch der Begriff der Gemeinschaft einen anderen Stellenwert als bei Porzig und Ipsen, wo er zumeist mit dem der Sprachgemeinschaft zusammenfällt. Jolles verwendet ihn auf verschiedene Weise. Es finden sich u. a. die (metaphorische) »Arbeitsgemeinschaft« der Sprache, deren Verfahren Jolles über drei typisierte Figuren in seinem Vorwort veranschaulicht (vgl. EF 11-20), die Gemeinschaft der Christen im Kapitel zur Legende und schließlich über ›Sondersprachen‹ konstituierte esoterische Gemeinschaften im Kapitel zum Rätsel.Footnote 70 Die zentrale Anregung, die er von seinen sprachwissenschaftlichen Kollegen aufgreift, ist daher eigentlich die Abwendung vom Individuum als forschungsleitender Kategorie. Dahingehend liest sich auch das Vorwort des Buches als eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Paradigmen der Literaturwissenschaft, die aus Jolles’ Sicht das Verhältnis von Individuum und Werk ins Zentrum stellten – sei das Individuum nun als schöpferisches Genie oder als Konvergenzpunkt diverser äußerer Einflüsse im Sinne der Milieutheorie verstanden. Die ›morphologische‹ Methode der Literaturwissenschaft sehe im Gegensatz dazu im vom Künstler vollendeten Kunstwerk den Abschluss der Forschung (vgl. EF 8), ihr Gegenstand sind die im Zuge von Geistesbeschäftigungen ausgebildeten Einfachen Formen. Dem präsupponierten Zusammenhang von Sprache, Gemeinschaft und Welt bei Porzig und Ipsen entspricht bei Jolles daher die Beziehung von Form, Geistesbeschäftigung und Welt. Damit vollzieht Jolles eine Absetzungsbewegung nicht nur von den bislang vorherrschenden Methoden der Literaturwissenschaft, sondern auch von der Volkskunde, die sich mit vielen der für Jolles interessanten Gegenstände befasst hatte.

Die vergleichende Volkskunde hatte zur Untersuchung von Märchen, Sage und Rätsel eine historisch-geografische Methode entwickelt, die es erlauben sollte, vorliegende Varianten auf eine historische Urform zurückzuführen. Bereits in seinem Aufsatz »Rätsel und Mythos« aus dem Jahre 1925 kritisiert Jolles die historisch-geografische Methode, da die Bestimmung von »Typen«Footnote 71 zu einer zirkulären Argumentation führe. Von überlieferten Beispielen werde auf eine hypothetische Urform geschlossen, um dann ausgehend von dieser Urform die geografische Verbreitung der bereits bekannten Varianten zu erläutern.Footnote 72 Dabei werde außer Acht gelassen, dass »dieselbe potentielle Form auch jetzt noch unter ganz verschiedenen Umständen wirksam ist«.Footnote 73 Solche ›potentiellen Formen‹ seien nämlich auch in gegenwärtigen und neuen Formen zu erkennen. Diese neuen Formen sollten keineswegs über einen historisch-genetischen Bezug zu vorangegangenen Formen erklärt oder auf einen vermeintlichen Ursprung zurückgeführt werden. Jolles betont, dass seine Absicht nicht darin bestehe, die verschiedenen Formen »in irgendeiner Weise evolutionistisch aufzureihen«.Footnote 74 Stattdessen bezieht er sie auf eine »jedesmal« wirkende »Lebenshaltung«Footnote 75 bzw. Geistesbeschäftigung. Unter einer Geistesbeschäftigung versteht Jolles die ordnende Auseinandersetzung mit der »Vielheit und Mannigfaltigkeit des Seins« (EF 45), die in der Sprache Einfache Formen ausbildet.Footnote 76 Die Abwendung von der historisch-geografischen Methode der vergleichenden Volkskunde legt daher die Vermutung nahe, Jolles’ Theorie der Einfachen Formen sei eine Typologie anthropologischer Möglichkeiten, sich qua sprachlicher Gebilde zur Welt zu verhalten. Von zeitgenössischen Kritikern wurde Jolles daher vorgeworfen, er stelle sich »in direkten Gegensatz zu einer historischen Betrachtungsweise«.Footnote 77 In der Forschung wurde diese augenscheinliche ›Ahistorizität‹ der Einfachen Formen als politisch suspekt markiert.Footnote 78 Zwar macht Jolles gegen die historisch-genetische Erklärung von Form zunächst typologische Aspekte stark. Einen anderen Akzent setzen allerdings die Zeitbegriffe, die er zur Beschreibung der Geistesbeschäftigungen bereits in seinem Rätsel-Aufsatz und zur Beschreibung der Einfachen Formen dann im Buch einführt.

Die Geistesbeschäftigungen, die den Einfachen Formen zugrunde liegen, seien, so Jolles, »unaufhörlich und universell; sie sind allgemein menschlich in der ausgedehntesten Bedeutung des Wortes; die Art ihres Ausdrucks ist konstant«.Footnote 79 Schon das Adjektiv »unaufhörlich« deutet an, dass daraus keine Überzeitlichkeit der Einfachen Formen folgt. Diesen Begriff hat Jolles von Jacob Grimm übernommen, der ihn zur Abgrenzung der Sage von der Historie herangezogen hatte: »Niemals wiederholt sich die Geschichte, sondern ist überall neu und frisch, unaufhörlich wiedergeboren wird die Sage.« (Grimm zitiert nach Jolles EF 93) Der historischen Einmaligkeit des schriftlich Erfassten wird das perpetuelle Werden in der mündlichen Überlieferung gegenübergestellt. Was unaufhörlich ist, dauert fort, ist aber nicht ewig im Sinne einer Zeitlosigkeit. Im Bild der ›unaufhörlichen Wiedergeburt‹ wird zugleich ein Moment der Erneuerung angedeutet. Im Buch hat Jolles diese Implikationen mit der Einführung des Begriffs Jedesmaligkeit herausgestellt und anders akzentuiert.

V.

Jolles entwickelt einen alternativen Forschungsansatz, indem er nicht mehr das empirische Sammeln und Vergleichen der Varianten eines jeweiligen Typus in den Vordergrund stellt, sondern die Vorstellung einer grundsätzlichen Wandelbarkeit der Einfachen Formen als Ausgangspunkt nimmt. Hier ist der Anschluss an Goethes naturkundliche Überlegungen offensichtlich. Aus Goethes vorsichtigem Umgang mit dem Gestalt-BegriffFootnote 80 zieht Jolles in seiner Einleitung den Schluss, dass nicht nur eine fixierte – wiewohl ideale – GestaltFootnote 81 ein wichtiges heuristisches Werkzeug sein kann, sondern auch solche Gebilde, die ›beweglich‹ sind. Jolles verwendet den Begriff der »Beweglichkeit« (EF 234), wie auch Goethe, zur Beschreibung einer Vielgestaltigkeit von Form. Solche ›Beweglichkeit‹ bzw. Versatilität schrieb Goethe beispielsweise dem osteologischen Typus zu.Footnote 82 Die Einfachen Formen sind also ›beweglich‹, weil ihre Gestalt variieren kann.Footnote 83 Jolles stellt ihre ›Beweglichkeit‹ der »Festigkeit« (ebd.) der nicht in dieser Weise veränderbaren literarischen Kunstformen gegenüber. Diese Unterscheidung der Einfachen Formen von den Kunstformen ist für seine Überlegungen konstitutiv. Jene Annäherungen an die Goethe’sche Terminologie dürfen indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass Jolles letztlich auf eine Unterscheidung zielt, die sich bei Goethe nicht findet, wohl aber in der romantischen Entgegensetzung von Natur- und Kunstpoesie. Aus der Gegenüberstellung der ›beweglichen‹ Einfachen Formen einerseits und den fixierten literarischen Kunstformen anderseits resultiert damit eine signifikante Verschiebung im Vergleich zu Goethes naturkundlichen Arbeiten. Für Goethe stellte der Formenwandel in der Natur immer auch ein Problem der Beobachtung dar. In seinen morphologischen Heften legte er die Nachteile einer analytisch-zerlegenden und den Gegenstand fixierenden Betrachtungsweise dar, da sie die besonderen Qualitäten einer lebendigen Form missachte.Footnote 84 Die Zerlegung wie Fixierung der Form bedeute nämlich nicht nur ihre Stillstellung, sondern auch den Verlust ihrer ›Lebendigkeit‹. Um die ›bewegliche‹ Form nicht (als Gestalt) zu arretieren, habe der Beobachter sich selbst so »beweglich und bildsam zu erhalten« wie die Natur.Footnote 85 Jolles verlagert dieses Problem, das sich für Goethe aus dem Verhältnis des Beobachters zu seinem Objekt ergibt, auf verschiedene Formtypen.Footnote 86 Beweglichkeit und Festigkeit sind somit nicht zwei unterschiedliche (und ggf. von einem Beobachter abhängige) Zustände eines Gegenstandes, sondern erscheinen als Eigenschaften verschiedener Formtypen. Die zwei Formtypen charakterisiert Jolles in Abgrenzung voneinander: Den Einfachen Formen schreibt er neben der Beweglichkeit noch Jedesmaligkeit und Allgemeinheit zu; den Kunstformen Festigkeit, Einmaligkeit und Besonderheit (EF 237).Footnote 87

Man könnte vermuten, dass die Gegenüberstellung von Allgemeinheit und Besonderheit auch jenes Verhältnis von Idee und Erfahrung tangiert, über das Goethes Streit mit Schiller hinsichtlich der Möglichkeit einer Urpflanze entbrannte.Footnote 88 Das Verhältnis von Idee und Erfahrung spielt für Jolles indes nur insofern noch eine Rolle, als die Allgemeinheit der Einfachen Formen einen Zustand markieren soll, der dem einer noch nicht verwirklichten bzw. vergegenständlichten Idee zu gleichen scheint. Eine Einfache Form könne als »potentielle Form«Footnote 89 oder als »Aktuelle« bzw. »Gegenwärtige Einfache Form« (EF 47) vorliegen. Während eine Einfache Form somit den Zustand der Möglichkeit oder Wirklichkeit einnehmen könne, sei die Kunstform nur als ein einzigartiges unveränderliches Werk gegeben, das in den Worten eines einzelnen Autors seine endgültige Gestalt gefunden hat.

Die mediale Unterscheidung von mündlich überlieferter und schriftlich fixierter Dichtung spielt bei dieser Unterscheidung erstaunlicherweise nur eine marginale RolleFootnote 90; viele der gegenübergestellten Formen – etwa Volksmärchen und Kunstmärchen – würden dies eigentlich nahelegen, zumal Jolles auf die romantische Debatte über die Unterschiede zwischen Natur- und Kunstpoesie Bezug nimmt. Im Anschluss an Jacob Grimm erklärt Jolles, dass Einfache Formen ›sich von selbst machten‹, wohingegen Kunstformen von Autoren ›zubereitet‹ seien (vgl. EF 234). Diese Bestimmung hat einige Kritik nach sich gezogen, weil sie eine ominöse Kraft (ähnlich des ›Volksgeistes‹) insinuiert, die keine schöpferischen Freiheitsgrade zulässt.Footnote 91 Da die Einfachen Formen somit den lebendigen Gebilden der Natur zu ähneln scheinen, hat sich daran zudem der Vorwurf des Organizismus geknüpft.

Es ist aber bemerkenswert, dass Jolles’ Terminologie solche Nähe zum Organischen und Lebendigen nicht hervorkehrt, sondern weiter gefasste Bestimmungen heranzieht, um die Variationsmöglichkeiten (Beweglichkeit vs. Festigkeit) und die Zeitlichkeit (Jedesmaligkeit vs. Einmaligkeit) der Formen zu erfassen. Diese Begriffe finden sich nicht bei Goethe. Gleichwohl gibt es bei Jolles kaum eine andere Begrifflichkeit, die so direkt mit Fragen der Goethe’schen Morphologie in Verbindung steht. Jedesmaligkeit bezeichnet für Jolles das Potenzial der Einfachen Form, sich »jedes Mal von neuem in derselben Weise [zu] vollziehen« (EF 235). Die Formulierung »jedes Mal von neuem in derselben Weise« kann nun offensichtlich nicht bedeuten, dass eine Einfache Form exakt reproduziert wird. Im Begriff Jedesmaligkeit wird die morphologische Vorstellung einer Vielgestaltigkeit von Form als ihre besondere Zeitlichkeit erfasst.

VI.

Der Ausdruck jedesmalig, im Sinne von ›jeweilig‹ oder ›bei jedem Male‹, war im Schriftdeutschen des 18. und 19. Jahrhunderts gebräuchlich. Im Grimm’schen Wörterbuch werden als Synonyme ›continuus‹ und ›perpetuus‹ verzeichnet.Footnote 92 Das Adjektiv ›jedesmalig‹ markiert somit eine anhaltende Dauer und zugleich (wie das literarische Beispiel der Grimms andeutet) die zuverlässige und beständige Wiederholung eines Geschehens. Die von Jolles verwendete Substantivierung Jedesmaligkeit ist ungewöhnlich, auch weil das Substantiv eine Eigenschaft der Einfachen Formen bezeichnet (die in Opposition zur Einmaligkeit der auktorialen Kunstformen steht). Jedesmaligkeit bedeutet somit nicht bloße Dauer oder Wiederholung der Form: sie bezeichnet das Potenzial einer Einfachen Form zur Aktualisierung.

Jolles hat den Begriff vermutlich mit Blick auf Humboldt gewählt, der vom Attribut vielfach Gebrauch macht, gerade auch in seiner einschlägigen Bestimmung der Sprache als geistiger Tätigkeit bzw. Energeia, die »den articulierten Laut zum Ausdruck des Gedanken« fähig macht. Dies, so Humboldt, sei die Definition des »jedesmaligen Sprechens«.Footnote 93 Bei Humboldt leitet sich daraus zum einen die Frage nach dem historischen Ort dieses Sprechens ab. Zum anderen stellt Humboldt die Frage, wie sich der ›jedesmalige Sprecher‹ zur Sprache als einem überlieferten, ihm somit gleichsam fremden Objekt verhalten kann.Footnote 94 Humboldt sieht die geringe »Kraft des Einzelnen« im Verhältnis zur »Macht der Sprache«Footnote 95 durch die Gewalt, welche »alles lebendig Geistige über das todt Überlieferte ausübt«Footnote 96, ins Gleichgewicht gebracht. – In der Kulturphilosophie des frühen 20. Jahrhunderts, zumal der lebensphilosophisch orientierten, wird dieser Dualismus bekanntlich weniger optimistisch bewertet (etwa bei Simmel). Auch bei Jolles findet sich die lebensphilosophische Denkfigur des Konfliktes von fließendem Leben und arretierender FormFootnote 97, doch spielt sich der Konflikt gewissermaßen in der Einfachen Form selbst und nicht zwischen Subjekt und Objekt ab. In diesem Licht erscheint auch die substantivierte Form Jedesmaligkeit folgerichtig, weil sie nicht länger die Tätigkeit eines Sprechers attribuiert, sondern eine Eigenschaft von Form bezeichnet. Was sagt der Begriff nun aber aus über den Anfang und das Ende der Einfachen Formen, ihre historische Kontinuität oder ihren potenziellen Neueinsatz?

An dieser Stelle werden heterogene Aspekte in Jolles’ Formkonzept deutlich. Man könnte das als Symptom historischer Verschiebungen im Formbegriff verstehen, die David E. Wellbery mithilfe der heuristischen Unterscheidung von eidetischem, endogenem und konstruktivistischem Formbegriff aufgezeigt hat.Footnote 98 Jolles rekurriert mit den Einfachen Formen sowohl auf den eidetischen Formbegriff, der ein Urbild/Abbild-Verhältnis voraussetzt, wie auf den endogenen Formbegriff, der von einem immanenten ›generativen Prinzip‹ ausgeht, das sich in der Bildung und Umbildung von Form manifestiert. Der erste Formbegriff etabliert eine ontologische Differenz zwischen einer zeitlosen Sphäre der Form und der zeitverhafteten Sphäre des Materiellen. Eine solche ontologische Differenz scheint gemeint zu sein, wenn Jolles konstatiert, »daß die Einfache Form dort, wo sie gegenwärtig wird, schon etwas von ihrer Wesenheit einbüßt« (EF 55). Im Gegensatz dazu, so Wellbery, sei im um 1800 geprägten ›endogenen Formkonzept‹ das Verhältnis von Form und Materie als »Durchdringung« konzipiert.Footnote 99 Damit verändert sich zum einen die Bewertung von Zeitlichkeit, da Wandel in der Zeit nun als Zeichen von Lebendigkeit verstanden wird. Zum anderen wird die Hierarchie von Hervorbringendem und Hervorgebrachtem umgekehrt. Während das Hervorgebrachte im Zusammenhang des eidetischen Form-Begriffs defizitär ist, weil es in der Sphäre von Zeit und Materie existiert, wird das Hervorgebrachte im Zusammenhang des endogenen Form-Begriffs aufgewertet, weil der Akt des Hervorbringens als Bildung bzw. Zeugung verstanden wird. An dieser Vorstellung hat auch der Entwurf der sich gleichsam von selbst bildenden und umbildenden Einfachen Formen teil. Jolles vermischt somit Aspekte beider Form-Begriffe: Einerseits geht er, wie das obige Zitat andeutet, von einem defizitären Status des Hervorgebrachten gegenüber dem Hervorbringenden aus – dies entspricht dem eidetischen Formbegriff im Sinne Platons oder Plotins. Andererseits begründet Jolles diesen defizitären Status des Hervorgebrachten gerade nicht mit dem Eintritt in Zeit und Materie, sondern damit, dass dieser die spezifischen Eigenschaften der virtuellen Einfachen Form, d. h. gerade auch ihre besondere Zeitlichkeit, mindert. Denn Jolles geht davon aus, dass das Potenzial der Einfachen Formen schwinde, je häufiger sie aktualisiert werden: »Jedesmal wenn sich eine Einfache Form vergegenwärtigt, tut sie einen Schritt in eine Richtung, die zu einer Verendgültigung, wie wir sie in der Kunstform schließlich besitzen, führen kann, betritt sie den Weg zur Festigkeit, Besonderheit, Einmaligkeit und büßt dabei etwas von ihrer Beweglichkeit, Allgemeinheit, Jedesmaligkeit ein.« (EF 237) Unter welchen Umständen Einfache Formen jene ›Richtung‹ zur Kunstform einschlagen, die ihre besonderen Eigenschaften mindert, gibt Jolles nicht an.Footnote 100 Für ihn steht allerdings fest, dass die Einfache Form als solche nicht verschwindet, auch wenn sie sich zur Kunstform ›verfestigt‹Footnote 101, da die den Einfachen Formen zugrunde liegenden Geistesbeschäftigungen ›unaufhörlich‹ sind und die (potenziellen) Einfachen Formen ›jedesmalig‹ bleiben.

Die Einfachen Formen sind daher beständig, können aber ebenfalls erneut einsetzen und somit diskontinuierlich auftreten.Footnote 102 Das hat wichtige methodische Implikationen: Es können nicht nur die Umwandlungen einer Einfachen Form im linearen und kontinuierlichen Geschichtsverlauf untersucht werden, die Kategorie der Einfachen Formen erlaubt es vielmehr, historisch und geografisch voneinander isolierte Beispiele in Beziehung zu setzen. Konventionelle Ordnungskategorien wie Autor, Epoche, Gattung, Thema treten demgegenüber in den Hintergrund. Jolles kann den Vergleich zeitlich wie räumlich weit auseinander liegender Formen andeuten: der europäischen Legende des Mittelalters mit der chinesischen Legende ebenso wie mit der modernen Sportberichterstattung. Die Idee der Jedesmaligkeit eröffnet damit auch die Möglichkeit einer radikalen Erweiterung des Gegenstandsbereiches jenseits der bisherigen Kanongrenzen, insofern die jeweiligen Formen als verschiedene Aktualisierungen ein und derselben Geistesbeschäftigung bzw. Lebenshaltung verstanden werden können.

VII.

Die Vorstellung »formgebende[r]« Geistesbeschäftigungen (EF 75) ist Grundlage einer weiteren Differenzierung von Formtypen, deren weder Goethes Naturkunde noch Humboldts Sprachtheorie bedurften. Neben die Einfachen Formen und die Kunstformen stellt Jolles solche, die Einfache Formen zu sein scheinen, die ihre Entstehung aber keiner Geistesbeschäftigung verdanken. Als Beispiel dienen ihm Kunst- und Volksmärchen. Ein Kunstmärchen sei eine Erzählung, »die in ihrer äußeren Gestalt absichtlich an das Märchen angelehnt, ihm angeähnelt ist, aber die wir von innen heraus dennoch nicht zum Märchen zählen« (EF 108, Herv. EA). Das Kunstmärchen fällt somit aus Jolles’ Sicht in eine andere Form-Kategorie, selbst wenn es sich formal nicht von der Einfachen Form Märchen unterscheidet. Diese dritte Form-Kategorie nennt er »Bezogene Form« bzw. »Analogon« (EF 108). Jolles’ Bemerkungen zur »äußeren Gestalt« einerseits und zum »inneren Bau« wie zur »inneren Form« andererseits (EF 82) könnten also nahelegen, dass Einfache Form und Analogon sich trotz oberflächlicher Ähnlichkeit aufgrund tiefenstruktureller Differenzen unterscheiden. Wenn Geistesbeschäftigungen als »formgebend[]« (EF 75) verstanden werden, sollten diese die Ebene der kleinsten, nicht weiter teilbaren Elemente organisieren, d. h. die Sprachgebärden und deren Beziehungen. Dies entspräche der Idee einer inneren Form, wie sie Porzig und Ipsen interpretieren. Porzig definierte 1923 die »innere Sprachform« als »die mit der äußeren Sprachform in Wechselwirkung stehenden eigentümlichen Apperzeptionsformen einer Sprachgemeinschaft«.Footnote 103 Damit wird zum einen eine systematische Einheit der vielfältigen sprachlichen Elemente vor dem Hintergrund einer »einheitlichen Anschauungsweise« postuliert.Footnote 104 Zum anderen wird die sprachliche Bedingtheit dieser Anschauungsweisen herausgestellt.Footnote 105 Jolles beschreibt eine sehr ähnliche wechselseitige Beeinflussung von Form und Geistesbeschäftigung mit Blick auf die Sprachgebärden, »in denen sich einerseits Lebensvorgänge unter der Herrschaft einer Geistesbeschäftigung in einer bestimmten Weise verdichtet haben und die andererseits von dieser Geistesbeschäftigung aus Lebensvorgänge erzeugen, schaffen, bedeuten« (EF 47). Allerdings stellt sich die Frage, wie die ›innere Form‹ in konkreten Einzelstudien erforscht werden kann, wie also eine Anschauungsweise oder Geistesbeschäftigung etwa in der Semantik und den grammatischen Strukturen einer Sprache bzw. Einfachen Form nachzuweisen ist. Porzig und Ipsen gingen davon aus, dass es ›gegliederte Einheiten‹ in einer Sprache gebe, innerhalb derer die Bedeutung einzelner Worte von der Bedeutung der anderen Wörter des gleichen Wortfeldes abhängt.

Der Begriff Bedeutungsfeld wurde 1924 von Gunther Ipsen eingeführtFootnote 106; die sogenannte Wortfeldforschung setzte aber intensiv erst zu Beginn der 1930er Jahre mit den Arbeiten von Jost Trier und Leo Weisgerber ein, deren Konzeptionen u. a. in Auseinandersetzung mit Ipsen und Porzig entstanden. Ipsen erläuterte den Begriff des Bedeutungsfelds 1932 als semantische Gruppenbildung, die eine Einheit auf einer höheren Ebene als der des einzelnen Wortes in der Sprache einzieht.

»[D]ie Einzelformen der Sprache [finden] nach ihrer Bedeutung nachbarlich zu wohlumschlossenen Gruppen zusammen[...], die eine gegenständliche Sphäre bilden. Das Bedeutungsfeld stellt also eine Sinneinheit höherer Ordnung dar, das so zustandekommt, daß die Einzelformen nach ihren Bedeutungskonturen streng aneinander passen und insgesamt lückenlos die Sphäre decken.«Footnote 107

Das Feld wird hier (anders als in Jolles’ Einfachen Formen) im Sinne eines Mosaiks oder Puzzles dargestellt. Der Begriff »Bedeutungskonturen« markiert dabei eine semantische Differenzierung von Wörtern, die als Abgrenzung räumlich ausgedehnter Gestalten gedacht wird.Footnote 108 Es waren vermutlich solche räumlichen Vorstellungen, die Jolles für seine ›morphologische‹ Untersuchung passend fand. Porzig hatte bereits in seinem Aischylos-Buch (1926) ausgehend vom Begriff des Bedeutungsfelds eine räumliche Metaphorik eingeführt und von der »Gruppierung« und der »gegenseitige[n] Lage« der Bedeutungen zueinander gesprochen.Footnote 109 Für Jolles mochte ein besonderer Vorteil des Feld-Begriffs wohl auch darin bestehen, dass er sich – wiederum metaphorisch – auf Goethes anatomische Studien zur konstanten relationalen Lage der Knochen des Säugetierskeletts beziehen lässt. So bemerkt Jolles, die Einfache Form der Legende sei »zunächst nichts anderes als die bestimmte Lagerung der Gebärden in einem Felde« (EF 46). Goethe sah in der konstanten Lage der Knochen zueinander die Voraussetzung für den Entwurf eines osteologischen Typus, der wiederum gestatten sollte, auch einander unähnliche Knochen in verschiedenen Skelett-Typen über ihre Lage als Varianten zu identifizieren. Im Buch Einfache Formen ist Jolles’ Begriff des Felds noch vage genug, um über räumliche Vorstellungen das morphologische Problem von Konstanz und Variation mit sprachwissenschaftlichen Problemen der Semasiologie und Onomasiologie zu konfrontieren. Dass Jolles nicht nur auf Porzig und Ipsen, sondern auch auf Goethes’ Morphologie verweist, legt eine Passage nahe, in der er Goethes Terminologie aufgreift, zugleich aber eine bemerkenswerte Verschiebung in Richtung der Sprachinhaltsforschung vornimmt. Goethe hebt mit folgenden Worten hervor, dass die Versatilität des Gegenstandes eine Entsprechung in der geistigen Beweglichkeit des Beobachters finden muss.

»Nun aber müssen wir, indem wir bei und mit dem Beharrlichen beharren, auch zugleich mit und neben dem Veränderlichen unsere Ansichten zu verändern und mannigfaltige Beweglichkeit lernen, damit wir den Typus in aller seiner Versatilität zu verfolgen gewandt seien und uns dieser Proteus nirgend hin entschlüpfe.«Footnote 110

In Anlehnung daran führt Jolles aus, der Weg zur Erfassung der Einfachen Formen »ist nicht, daß wir das Veränderliche in seinen Veränderungen beobachten, sondern daß wir aus dem Vergleich des Veränderlichen mit dem, was beharrt, die Bedeutung des Beharrlichen erschließen.« (EF 84, Hervorh. EA) Es fällt eine methodische Verschiebung auf – während Goethe eine besondere Beobachterposition anmahnt, die sich ihrem Gegenstand anähnelt, setzt Jolles auf die Möglichkeit eines Vergleichs des Variablen und Konstanten, um die »Bedeutung« des Letzteren zu eruieren. Die ›beharrenden‹ bzw. konstanten Elemente sind für Jolles offenkundig die Sprachgebärden. Neben den Sprachgebärden gebe es »›auswechselbare‹ vermittelnde Teile« einer Einfachen Form (EF 266), die mit den Geistesbeschäftigungen in keiner oder jedenfalls keiner signifikanten Beziehung stehen.Footnote 111 Im Kapitel zum Kasus unterscheidet Jolles entsprechend zwischen den Sprachgebärden, denen »trotz ihrer Notwendigkeit keine unbedingte Festigkeit eigen ist«, und jenen »auswechselbaren Hinzufügungen« (EF 183).Footnote 112 Die doppelte Qualifizierung der Sprachgebärden als ›notwendig‹ und ›beweglich‹ kann vor dem Hintergrund von Goethes naturkundlichen Arbeiten als Beispiel einer regelhaften Metamorphose erläutert werden.

Um sich dem in der Erfahrung vielgestaltig erscheinenden Typus zu nähern, hatte Goethe in Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790) zwischen einer regelhaften oder gesetzmäßigen Ausprägung von Variationen und einer zufälligen Metamorphose unterschieden und die Letztere aus seiner Untersuchung ausgeschlossen. Footnote 113 Eine ähnliche Unterscheidung nimmt Jolles vor, um einerseits solche Elemente aus der Untersuchung auszuklammern, die variiert werden können, ohne die Bedeutung der Einfachen Form zu verändern. Andererseits erscheinen die Sprachgebärden als bedeutungskonstitutive Elemente, die in gewisser Hinsicht ›beharrlich‹ bzw. konstant sind, in anderer Hinsicht wiederum ›beweglich‹ bzw. variabel. In Anlehnung an Goethes osteologische Studien würde sich diese Idee in eine räumliche Metaphorik übersetzen, bei der die ›Lage‹ das konstante Moment und die ›Ausrichtung‹ das variable Moment der Sprachgebärden darstellte. Die Sprachgebärden, schreibt Jolles, seien »so gelagert, daß sie jeden Augenblick bestimmt gerichtet und gebunden werden können, so daß sie eine gegenwärtige Bedeutsamkeit erlangen« (EF 46). Schossig nimmt daher an, dass die Sprachgebärden immer »im Zusammenhang des Ganzen« betrachtet werden müssen.Footnote 114 Die Vorstellung einer wechselnden oder zumindest dynamischen Ausrichtung der Elemente eines Felds ist so nicht bei Porzig oder Ipsen zu finden. Jolles nähert sich Ipsens Vorstellung eines festgefügten Mosaiks erst in seinem späteren Aufsatz »Antike Bedeutungsfelder« an, wo er primär Begriffspaare untersucht.Footnote 115

Im Buch Einfache Formen kann Jolles die Unterscheidung von Einfacher Form und Analogon offensichtlich nicht als formale Differenz etablieren, weder über das Konzept der inneren Form noch über das des Felds. Das ausschlaggebende Kriterium bleibt der Zusammenhang von Einfacher Form und Geistesbeschäftigung. Die Idee einer ›Tätigkeit‹ der Geistesbeschäftigungen ist zwar auf eine Verschränkung von Form und Funktion angelegt. Wo aber die ›formgebende‹ Rolle der Geistesbeschäftigungen für die Einfachen Formen nicht herausgestellt werden kann, dort wird ihre (soziale) Funktion ausgewiesen.

VIII.

Jolles’ Kapitel zur Einfachen Form des Rätsels ging ein Aufsatz voraus, der zusammen mit einem Beitrag Walter Porzigs unter der Rubrik Rätselforschung in einer Festschrift publiziert wurde.Footnote 116 Beide verstehen das Rätsel im Sinne einer von der Gemeinsprache unterschiedenen gruppen- bzw. gemeinschaftsspezifischen »Sondersprache«.Footnote 117 Sofern einer Sondersprache sehr viel engere Grenzen gesteckt sind als einer Gemeinsprache, wäre sie ein geeigneter Gegenstand, um die Erschließung von Bedeutungsfeldern zu erproben. Eine Sondersprache wird gemeinhin anders als eine sachbezogene Fachsprache über ihre soziale Funktion bestimmt. Für Porzig und letztlich auch für Jolles spielt gerade diese soziale Funktion, d. h. die durch die Sondersprache mögliche sprachliche Absonderung einer Gruppe, eine größere Rolle als die Möglichkeit einer Untersuchung des ›inneren Baus‹ der Sondersprache über die bedeutungskonstitutiven Relationen ihrer Begriffe.

Als Beispiel einer solchen Sondersprache wählt Porzig ein zeitlich entrücktes Beispiel aus dem Kontext seiner indogermanischen Forschung – die Rätsel der indischen Veden. Ebenso wie eine Sondersprache, erklärt Porzig, produziere das Rätsel eine »soziale Tatsache« – die »Existenz eines Standes der Wissenden gegenüber einer Masse der Nichtwissenden«.Footnote 118 Ähnlich argumentiert auch Jolles. Das Rätsel stifte eine Gemeinschaft, indem eine Unterscheidung zwischen »Eingeweihte[n]« und jenen etabliert wird, die die Lösung des Rätsels nicht kennen.Footnote 119 Im Rätsel konstituierten sich solche Bedeutungen über »aufeinander bezogene Sachverhalte« (EF 141). Während Jolles in seinem Beispiel eine syntagmatische Beziehung der Wörter andeutet (vgl. ebd.), scheint Porzig eher paradigmatische Beziehungen im Blick zu haben, nämlich Sachverhalte, die die ›gleiche Stellung‹ im »Ganzen der Welt« einnehmen.Footnote 120 Eine Erkenntnis dieses Ganzen der Welt als »durchsichtiges System«Footnote 121 sei möglich, so Porzig, weil in der Sondersprache das »Wesen« der Dinge gemeint sei. Der auf Wesenheiten bezogenen (esoterischen) Sondersprache stellt Porzig die (exoterische) Gemeinsprache gegenüber, die die Welt als »Tatsächlichkeit« darbiete.Footnote 122 Das hat nicht nur eine wissenschaftspolitische Dimension, Porzig streut hier einen antipositivistischen Kommentar einFootnote 123, es deutet sich auch eine Wertung der einander entgegengesetzten Bedeutungsweisen an. Porzig endet seine Abhandlung mit einer verallgemeinernden und zugleich emphatischen Beschreibung des Rätsels: »Der Priester, der für sich die Welt deutet, und seine Gemeinde – das ist die gelebte Form des Rätsels.«Footnote 124 Die mit dem Rätsel in Beziehung stehende soziale Funktion, d. h. die Konstitution der ›Welt‹ einer Gemeinschaft über die Inklusion und Exklusion von Gruppen, ist damit nicht nur unter Rückbezug auf Motive der zeitgenössischen Wissenssoziologie beschrieben, sondern auch mit Blick auf Gemeinschaftsformen, wie sie sich in literarischen Zirkeln ausbilden. Das lässt jedenfalls das George-Motto vermuten, das Porzig seinem Aufsatz als Motto vorangestellt hat. Die Sondersprache des Rätsels, die ihm vorschwebt, ist nicht pragmatisch, wie Stefan Georges Vers »Für heute laß’ uns nur von Sterndingen reden« andeutet. Jolles hingegen verfolgte bereits im Aufsatz die Frage ›was tut das Rätsel?‹ (vgl. auch EF 145) und erörtert verschiedene Funktionen der Verrätselung und der Lösung (auch in Abgrenzung zur Mythe). Anhand verschiedener Beispiele untersucht er die ›examinierende‹ Aufgabe, die das Rätsel erfüllt, und die damit einhergehende Spannung von Verbergung und Entbergung (vgl. EF 145). Porzig wäre aber missverstanden, wenn man seinen Begriff des Wesens im Sinne eines Mystizismus tiefgründiger und überzeitlicher Wesenheiten begriffe.Footnote 125 Die Idee einer Sichtbarmachung des ›verflochtenen Inneren‹ der WeltFootnote 126 steht mit der Vorstellung der inneren Form der Sprache in Beziehung. Ans Rätsel als Sondersprache ist die Fiktion geknüpft, der ›innere Bau‹ dieser sprachlich konstituierten Welt wäre erkennbar, weil »ein Begriff des Ganzen der Welt bewußt vorhanden« sei.Footnote 127 Was die Sprachwissenschaft anhand der Gemeinsprachen erst mühsam erarbeiten muss, scheint den in die Sondersprache Eingeweihten unmittelbar zugänglich.

IX.

Die Frage der Sondersprachen hätte das Problem der Pluralität von ›Welten‹ mit ihren je eigenen ›inneren Formen‹ beleuchten können, aber auch Ipsen, der das Thema zu Beginn der 1930er Jahre noch einmal aufgreift, nutzt es für eine ›sprachphilosophische‹ Einlassung, die in ihrem Pathos Porzigs Rätsel-Aufsatz bei weitem übertrifft.Footnote 128 An Aufsätzen wie diesen lässt sich erkennen, dass Porzig und insbesondere Ipsen der von ihnen betriebenen Sprachwissenschaft schließlich eine grundlegende Bedeutung für die Erkenntnistheorie und Kulturphilosophie zuschreiben wollten.Footnote 129 In seinen frühen Überlegungen zur ›inneren Form‹ aus dem Jahre 1923 hatte Porzig der Sprachwissenschaft zunächst nur eine Vorbildfunktion für die Erforschung der ›inneren Form‹ anderer Kulturgebiete zugeschrieben.Footnote 130 Die Vision, es könne ausgehend von der sprachlichen Struktur die Einheit einer Weltanschauung, der »Stil einer Epoche«Footnote 131, aufgedeckt werden, relativierte Porzig damals noch: nur bei ›primitiven‹ Völkern sei dieser Zusammenhang ohne weiteres nachzuvollziehen.Footnote 132

Es ließe sich vermuten, dass Jolles’ Erklärung, wie Einfache Formen qua Sprache eine Welt erzeugen, ebenfalls auf solche vermeintlich homogenen Gemeinschaften beschränkt ist, die eine Anschauungsweise uneingeschränkt zu teilen scheinen. Dann wäre die Vorstellung, dass die Einfachen Formen ein System bildeten, nur heuristisch zu verstehen (mit Blick auf ihre jeweiligen grundsätzlichen anthropologischen Funktionen). In seinem Ausblick am Ende des Buches stellt Jolles jedoch klar, dass er für den von ihm abgedeckten historischen Zeitraum durchaus eine Gleichzeitigkeit der Einfachen Formen annimmt (vgl. EF 263). Voraussetzung dafür ist seine Unterscheidung einer »allgemeine[n] Gültigkeit« (EF 56) und einer eingeschränkten Gültigkeit von Formen, wie er sie ebenfalls in der Gegenüberstellung von Legende und Sportberichterstattung andeutet. Statt der einheitlichen Weltanschauung einer großen (nationalen) Sprachgemeinschaft, könnten dann verschiedene, sich überschneidende Lebenswelten in den Blick kommen.

Dieses Potenzial von Jolles’ Geistesbeschäftigungen hat wohl auch Hans Robert Jauß gesehen, als er bemerkte, das Konzept könne die Untersuchung von sprachlich bzw. literarisch formierten »Einstellungen zur Wirklichkeit« leiten, die einen »unausdrücklichen Erfahrungshorizont« darstellten.Footnote 133 Der von Jauß anzitierten phänomenologisch inspirierten Wissenssoziologie, die sich mit der Vielfalt dieser je ›geschlossenen Sinngebiete‹ befasst, steht Jolles’ Ansatz trotz der möglichen Gleichzeitigkeit verschiedener Geistesbeschäftigungen und der mithin denkbaren Pluralität sozialer Welten aus mehreren Gründen fern. Anders als Ipsen oder Freyer hat Jolles sich offensichtlich nicht näher mit Hegel oder Husserl auseinandergesetzt, hat keinen elaborierten Begriff von Wirklichkeit, Welt oder Lebenswelt. Um jenes ›System‹ der Einfachen Formen, das in Analogie zum ›System‹ der Kultursysteme (Freyer) oder der symbolischen Formen (Cassirer) gedacht werden könnte, zu ergründen, steht Jolles nur die Vergleichung von Geistesbeschäftigungen und Einfachen Formen zur Verfügung. Schließlich scheint Jolles eine grundsätzliche Wertung verschiedener ›Welten‹ vorzunehmen, die er als historischen Wertewandel auf die Gegenstände seiner Untersuchung projiziert. Die ›Welten‹ der Einfachen Formen seien von der (neuzeitlichen) Welt der Historie unterschieden, in der das vormalige Register der ›Gültigkeit‹ ersetzt werde und jene Formen dominiertenFootnote 134, deren Geistesbeschäftigung auf die Frage der ›Tatsächlichkeit‹ gerichtet sind. Auch hier nimmt Jolles indirekt Bezug auf Jakob Grimm. Dieser hatte in »Gedanken: wie sich die Sagen zur Poesie und Geschichte verhalten« bedauert, dass mit der Einführung der Historie und ihres kritischen Prinzips der Sage jegliche Wahrheit abgesprochen werde.Footnote 135 Jolles hat zwar die Geistesbeschäftigungen in den Plural gesetzt und sich der romantischen Idee des Volks bzw. Volksgeistes entledigt (vgl. auch EF 154), bei der Beschreibung historischer Entwicklungen klingen hingegen romantische und modernekritische Motive an.

X.

Jolles hat gegenüber seinen sprachwissenschaftlichen Kollegen den Vorteil, dass ihm mit den Einfachen Formen größere konkrete Formeinheiten bereits vorliegen, deren Funktionen er teils voraussetzt, teils von seinen Beispielen ableiten kann. Die Analyse der Beziehungen der ›kleinsten Elemente‹, der Sprachgebärden, bereitet ihm jedoch methodische Schwierigkeiten. Es müsste der Status jener auswechselbaren Elemente geklärt sein, die Jolles von den Sprachgebärden unterscheidet, weil sie mit der jeweiligen Geistesbeschäftigung in keiner engen Beziehung zu stehen scheinen.Footnote 136 Daraus resultiert eine Diskrepanz hinsichtlich der Untersuchung längerer, narrativer Formen und kürzerer Formen, wie dem Spruch, die im Prinzip nur eine einzige Sprachgebärde darstellen. Im Fall des Spruchs beschreibt Jolles ein rhythmisches bzw. metrisches »Bewegungsschema« (EF 165). Von der Jedesmaligkeit und Beweglichkeit, die allen Einfachen Formen aufgrund ihrer Variationsmöglichkeiten zukommt, ist also ein »Bewegungsschema« zu unterscheiden, das sich in der Abfolge der Elemente einer konkreten Form realisiert. Diese temporale Signatur jeder Einfachen Form müsste individuell sein.Footnote 137 Für längere Formen wie die Legende oder die Sage hat Jolles aber keine vergleichbare Beschreibung der syntagmatischen Ebene vorgenommen, auch narrative Strukturen interessieren ihn nicht vordringlich.Footnote 138 Damit wird der Unterschied zu Vladimir Propp deutlich, der zur gleichen Zeit ebenfalls unter Rückbezug auf Goethes Morphologie das russische Zaubermärchen analysierte.Footnote 139 Propps syntagmatisches Modell des Zaubermärchens beruht auf der Zerlegung des kontinuierlichen Handlungsablaufs in eine konstante Reihenfolge von Funktionen handelnder Personen. Eine solche Segmentierung kann Jolles, auch weil er sich mit neun verschiedenen Formen beschäftigt, nicht leisten. Aber auch an einzelnen Beispielen unternimmt er keinen konsequenten Versuch, Varianten einer Einfachen Form zu vergleichen. Es steht ferner zu vermuten, dass Jolles, hätte er im Zuge eines solchen Variantenvergleichs auf die sprachwissenschaftlichen Überlegungen seines Umfeldes zurückgegriffen, nicht unbedingt von der Saussure’schen Unterscheidung von syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen ausgegangen wäre. Denn Porzigs und Ipsens Versuche, bedeutungskonstitutive Relationen zu analysieren, wenden sich teils von dieser Differenzierung Saussures ebenso ab wie von der strikten Trennung einer diachronen und einer synchronen Untersuchungsperspektive.

Jolles’ morphologisch inspirierter Entwurf zur Untersuchung der Einfachen Formen erscheint als eine dem Zeitgeist gemäße Variation zweier Paradigmen. Sein Versuch, den Systemgedanken der holistischen Sprachwissenschaft aufzugreifen, ist aufgrund seiner Zeitbegriffe recht eigentümlich. An erster Stelle ist die Idee einer Jedesmaligkeit der Einfachen Formen originell, da der Gedanke eines beständigen Formenwandels, der eben nicht notwendigerweise eine historische Chronologie voraussetzt, an ein neues Zeitkonzept gebunden wird. Diese Verzeitlichung von Form scheint mithin nicht in erster Linie an ein historisches Denken geknüpft zu sein. Die Insistenz auf der Zeitlichkeit, Beweglichkeit und somit auch auf der ›Lebendigkeit‹ der Einfachen Formen kann man als organologisches Moment oder als lebensphilosophischen Index des Ansatzes lesen. Dafür spricht auch die merkwürdige Verdopplung der Einfachen Formen, die einerseits als potenzielle ›fortleben‹ und andererseits als aktualisierte ›absterben‹. Das Verhältnis der Wandelbarkeit der Einfachen Formen zu ihrer Historizität bleibt daher letztlich ungeklärt. Ein Gegenbegriff der Jolles’schen Jedesmaligkeit steht allerdings fest – nämlich die (historische) Einmaligkeit. Die Beständigkeit der Einfachen Formen steht mit der ›unaufhörlichen Tätigkeit‹ der Geistesbeschäftigungen in Beziehung. Jedesmaligkeit bezeichnet also ein Fortwähren, aber es ist ein Fortwähren in der Zeit. Das ›jedesmalige Potenzial‹ der Einfachen Formen ist nicht mit den »allzeitigen Möglichkeiten« des Typischen gleichzusetzen.Footnote 140 Auf der einen Seite verweist der Begriff der Jedesmaligkeit auf das jeweilige Mal der Aktualisierung einer Form, die im Hinblick auf die ›Welt‹, in der sie Gültigkeit hat, betrachtet werden muss. Damit treten ein konkretes Beispiel und seine lebensweltliche Funktion in den Vordergrund.Footnote 141 Diesem Prinzip folgen die zumeist einem Gegenstand gewidmeten Kapitel in Jolles’ Buch. Auf der anderen Seite wird die Kontinuität von Form bzw. ihre mögliche (erneute) Aktualisierung in einem anderen Kontext vorausgesetzt und damit verschiedene und teils unerwartete Vergleichsperspektiven eröffnet. Neben der ›Jedesmaligkeit‹ und ›Beweglichkeit‹ ist daher die dritte Eigenschaft der Einfachen Formen ihre ›Allgemeinheit‹. Am Jolles’schen Formbegriff lassen sich folglich diese Anliegen ablesen: Erstens, Form als System bzw. ›gegliedertes Ganzes‹ zu untersuchen, und zwar in einer (systematischen) Perspektive, die der Wandelbarkeit des Gegenstandes Rechnung trägt. Zweitens, die (soziale) Funktion dieser (potenziellen) Formen auch in Abgrenzung zueinander zu bestimmen, wobei zwar eine historische Gleichzeitigkeit vorausgesetzt wird, aber nicht zwingend gegeben sein muss. Drittens, Vergleichsmöglichkeiten von (aktualisierten) Formen zu etablieren, die auch in unterschiedlichen (geografischen und historischen) Kontexten auftreten können. Viertens stellt die Rückführung auf Geistesbeschäftigungen, die nicht nur in der Sprache Formen ausbilden, eine Gegenstandserweiterung auf alle möglichen sprachlichen und letztendlich kulturellen Formen in Aussicht.

Damit steht zur Debatte, ob Jolles einen ähnlichen Ausgriff auf andere kulturelle Objektivationen von »Lebensvorgängen« (EF 47) wie seine Kollegen im Sinn hatte. Dies meinte jedenfalls Porzig, als er 1928 in einem Brief an den niederländischen Kulturhistoriker Johan Huizinga Jolles’ Ansatz als eine »Formenlehre des geistigen Lebens, d. h. der Kultur« bezeichnete.Footnote 142 Da Jolles’ Einfache Formen in je spezifischen »Formenwelten« stehen (EF 34), liegt der Schritt zu einer ›morphologischen Kulturtheorie‹ nahe. Allerdings wäre eine solche »Formenlehre« anders ausgerichtet als die von Porzig und Ipsen avisierte sprachwissenschaftlich fundierte Kulturphilosophie und -geschichte. Im Unterschied zu Porzig und vor allem zu Ipsen nivelliert Jolles’ Formbegriff bis zu einem gewissen Grad die Grenzen der (National‑)Sprachen, die für die beiden ein (erkenntnistheoretisches) Apriori bilden. Sein Ansatz ist daher weder dem Gedanken einer Kulturgebundenheit der Sprachen bzw. der Sprachgebundenheit der Kulturen gänzlich verpflichtet noch basiert er auf einem uneingeschränkten Universalismus des Formbegriffs (vgl. EF 266). Begriffe wie ›Unaufhörlichkeit‹ und ›Jedesmaligkeit‹ sollen zwar markieren, dass die Einfachen Formen nicht nur immer, sondern auch überall bestehen können. Aber die Einfachen Formen stehen schließlich in ihren jeweiligen ›Welten‹ und in der Zeit. Es ließe sich daher eine deskriptive (d. h. weder normative noch wertende) Verwendung für das von Humboldt eher beiläufig verwendete Adjektiv ›jedesmalig‹ denken, das Jolles vor dem Hintergrund von Goethes Morphologie als Zeitkonzept verstand. Jedesmaligkeit wäre dann keine Eigenschaft einer bestimmten Formgruppe, wie Jolles es in seinem Buch nahelegt, sondern würde eine Methode des Vergleichens anleiten, die Annahmen über das Verhältnis der verglichenen Gegenstände (etwa: deren genealogische Beziehung) aussetzt und stattdessen danach fragt, was eine Form kann und was sie jeweilig tut.Footnote 143