Die folgenden Beiträge wurden zunächst als Vorträge auf einer Tagung zu Goethes »Zeitkonzepten« gehalten, die wir am 11. und 12. November 2016 am ZfL in Berlin veranstaltet haben. Finanziert wurde die Konferenz aus Mitteln des im DFG-Schwerpunktprogramm 1688 »Ästhetische Eigenzeiten« angesiedelten Projekts »Zeit und Form im Wandel«, in dem wir mit Alexandra Heimes das Nachleben von Goethes Morphologie in der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts untersucht haben. Die Ergebnisse werden im nächsten Jahr in einer gemeinsamen Monografie erscheinen.

Lange waren Formkonzepte dem Zug der Zeit entzogen, um dann am Ende des 18. Jahrhunderts, und prominent in Goethes Naturforschung, massiv unter ihren Einfluss zu geraten. Wenn Goethes Überlegungen zu Morphologie und Metamorphose Manifestationen der im späten 18. Jahrhundert auf breiter Front beobachtbaren Verzeitlichungsprozesse darstellen, drängt sich die Frage auf, wie das Verhältnis von Zeit und Form in der als Zeitkunst verstandenen Literatur des Autors wirksam wurde. Zu den besonderen Bedingungen, unter denen die nachstehenden Beiträge diese Frage verfolgen (und die in dem Beitrag von Helmut Müller-Sievers thematisch werden), gehört Goethes exponiertes Verhältnis zur eigenen Zeitgenossenschaft. Die Lebenszeit des 1749 Geborenen, der 18-jährig den Beginn einer neuen Epoche der deutschen Literatur auf sich datierte, koinzidiert mit den weltzeitlichen Ereignissen politischer und philosophischer Revolutionen. Zu Goethes Zeit- und Selbstbewusstsein gehören aber vor allem Störungen dieser Synchronie von Welt- und Lebenszeit. Bekanntlich vereinsamte der Autor in dem Maße, in dem er sich zu Lebzeiten ›historisch‹ zu werden begannFootnote 1, und hat doch mit seiner Werk- und Nachlasspolitik früh auf eine Zeit des Überdauerns gesetztFootnote 2: »Mein Erbteil wie herrlich, weit und breit / Die Zeit ist mein Besitz, mein Acker ist die Zeit«.Footnote 3

Zu den topisch gewordenen Zeitkonzepten Goethes wurde bereits sehr viel geforscht, neben der Metamorphose auch zum ›Veloziferischen‹Footnote 4 oder dem ›prägnanten Augenblick‹.Footnote 5 Die hier versammelten Beiträge gehen jedoch nicht von der Topik, sondern von konkreten Darstellungspraktiken in Einzelwerken aus. Genaue Analysen von erzählerischer oder dramatischer Organisation von Zeit bilden die Grundlage weiterführender Überlegungen zur Zeitproblematik in und von Goethes Texten. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Effekten der Interferenzen verschiedener Zeit‑/ordnungen.

Als besonders ergiebig erweist sich in dieser Perspektive Goethes experimentierfreudiger Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre, mit denen sich drei Aufsätze überwiegend auseinandersetzen. Cornelia Zumbusch untersucht die eigenwilligen Zeitstrukturen unter dem Gesichtspunkt der Analepse, die chronologisches Erzählen zugunsten von Rückgriffen auf Vorgeschichten laufend verschiebt und tendenziell ersetzt. Helmut Müller-Sievers rückt mit der Kosmografie einen bisher übersehenen literarhistorischen Vorgänger dieses Verfahrens in den Blick. Claudia Keller entdeckt die politisch-soziale Integrationsleistung des ›Hin und Her‹ zunächst im Märchen und verfolgt dieses Zeitkonzept anschließend über die Wanderjahre bis zu seinen intertextuellen Umbildungen bei Gottfried Keller und Peter Handke. Die beiden anschließenden Beiträge gelten dem Drama. In seiner Untersuchung zu Goethes Die Natürliche Tochter rekonstruiert Claude Haas zunächst den spannungsreichen Zusammenhang, den die dramentheoretische Forderung nach der Einheit der Zeit in der tragédie classique mit den in ihr verhandelten Logiken politisch-rechtlicher Zeit bildet. Goethes Aktualisierung der Gattung in Gestalt von Die Natürliche Tochter treibt den latenten Konflikt entschieden hervor und führt die Gattung damit als unmöglich geworden vor. Anhand der Papiergeldszene im zweiten Teil des Faust arbeitet Anne Bohnenkamp die Figur der Antizipation heraus, die ökonomische und kommunikative Beschleunigung zeitigt und spitzt ihre Befunde in einer neuen Interpretation der Wettszene zwischen Faust und Mephisto zu. Johannes Grave erweitert den Kreis der Zeitkonzepte und ihrer Schauplätze um Überlegungen zur Zeitlichkeit des Bildes. Goethes impliziter Kritik an Abwesendes vergegenwärtigenden Bildern in den Wahlverwandtschaften stellt er die anders gelagerte Zeitlichkeit des Bildes in dessen Aufsatz zu »Ruysdael als Dichter« gegenüber. Abschließend widmet sich Eva Axer im Zusammenhang mit André Jolles’ Einfache Formen (1930) von Goethe inspirierten Zeitkonzepten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, als die Frage der Bildung und Umbildung von Formen abermals aktuell wurde. Vor dem Hintergrund von Jolles’ Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen ›holistischen‹ Sprachwissenschaft analysiert sie, wie der morphologische Gedanke einer Vielgestaltigkeit von Form Eingang in das Konzept der ›Jedesmaligkeit‹ fand.

Wir danken den Autorinnen und Autoren für die Bereitstellung ihrer Beiträge ebenso wie dem Herausgebergremium der DVjs für die Möglichkeit, die Texte hier zu versammeln. Wir danken dem Schwerpunktprogramm 1688 »Ästhetische Eigenzeiten« für den fruchtbaren Gesprächskontext während der vergangenen Jahre und weisen darauf hin, dass in diesem Forschungskontext in schöner Parallele zum vorliegenden Heft auch ein Band zu Schillers Zeitbegriffen entstanden ist.Footnote 6

Eva Axer, Eva Geulen

Berlin, April 2020