Verstreut über sein schmales Werk hat Georg Büchner ein bemerkenswert reichhaltiges Bestiarium hinterlassen. Selbst wenn man von seinen naturwissenschaftlichen, genauer: zoologischen Texten, der Dissertation und der ›Probevorlesung‹, absieht, finden sich über 90 Tierarten, von Affe und Ameise über Maulwurf und Maus bis zu Wolf und Wurm. Alle diese Tiere verdienen die spezifische Aufmerksamkeit eines Animal Reading, das eine intensive Lektüre des literarischen Textes mit dessen extensiver historischer Kontextualisierung verbindet und dabei zugleich auf allgemeinere poetologische und tiertheoretische Fragestellungen zielt.Footnote 1 Büchners literarische Hühnerlaus soll im Folgenden einem solchen Animal Reading unterzogen werden.

Dieses Animal Reading beginnt mit dem Blick in die Läuseforschung und die Parasitologie des frühen 19. Jahrhunderts. Dabei wird ein eigentümlicher Effekt nachzuzeichnen sein: Je ausführlicher und detaillierter die wissensgeschichtliche Kontextualisierung betrieben wird, desto rätselhafter wird Büchners literarische Hühnerlaus. Auf der Grundlage dieser wissensgeschichtlichen Verrätselung lassen sich dann vier Fragefelder durchschreiten: ein editionsphilologischer Lesartenstreit, die Debatten um den Wissenshorizont des Autors und seiner literarischen Figur, die Verortung des Autors und seiner Figuren in einer Geschichte der Biotheorie sowie schließlich die Insektengroteske als ein paradigmatisches Element einer Ästhetik der Tiere.

I.

Büchners Hühnerlaus findet sich im ›Woyzeck‹, hier in H3,1. Die Szene zeigt den Doctor, der, assistiert von Woyzeck, seinen Studenten die Effekte der Gravitationskraft an einer aus dem Fenster geworfenen Katze vorführen möchte. Der Doctor und Woyzeck stehen oben im Dachfenster, die Studenten unten im Hof:

Doctor. (ganz erfreut) Ey, Ey, schön Woyzeck. (reibt sich die Hände) (Er nimmt die Katze.) Was seh’ ich meine Herrn, die neue Species Hühnerlaus, eine schöne Spezies, wesentlich verschieden, enfoncé, der Herr Doctor (er zieht eine Loupe heraus) Ricinus, meine Herrn – (die Katze läuft fort.) Meine Herrn, das Thier hat keinen wissenschaftlichen Instinct, Ricinus, herauf, die schönsten Exemplare, bringen sie ihre Pelzkragen.Footnote 2

Rätselhafter als die literarische Hühnerlaus, die Büchner im ›Woyzeck‹ auf die Bühne bringt, kann ein Tier kaum sein. Und es ist nicht nur ein Rätsel, das dieses Tier aufgibt; es sind gleich vier.

Erstes Rätsel: Wieso bezeichnet der Doctor die Hühnerlaus als eine »neue Species«? Diese Spezies ist in den 1830er Jahren alles andere als neu. Ein entsprechendes Lemma findet sich z. B. schon im 1734 publizierten Vollständigen Deutschen Wörter-Buch von Christoph Ernst Steinbach: »Hühnerlaus, pediculus gallinarius«.Footnote 3 Diese Laus (pediuculus), die zu den Hühnern gehört (gallinarius), nimmt Carl von Linné wenig später als die Spezies Pediculus Gallinae in die neue binäre Nomenklatur der 1758 erschienenen 10. Auflage seiner Systema Naturae auf.Footnote 4 Anders als bei vielen anderen Läusearten gilt für Pediculus Gallinae seit Linné: »There has never been any real doubt about the identity of the species.«Footnote 5 Phillip Ludwig Statius Müllers erläuternd-ergänzende Übersetzung der 12. Auflage der Systema Naturae notiert: »Die Hühnerlaus. Pediculus gallinae. Das Bruststück, wie auch der Kopf sind zu beyden Seiten mit einer heraustretenden Spitze versehen. Man kann zwar den Hühnern diese Läuse mit Pfeffer vertreiben, allein sie suchen sie selber fleißig auf.«Footnote 6 Als alltägliches Übel von agrarwirtschaftlicher Bedeutung verweist z. B. 1778 der Entwurf einer oekonomischen Zoologie in Anlehnung an Linné und Müller auf die »Hühnerlaus, (Pediculus gallinae)«.Footnote 7 Entsprechend versammelt 1782 der Band 26 von Krünitz’ Oekonomischer Encyclopädie die Ratschläge zur Bekämpfung der lästigen Hühnerlaus;Footnote 8 gleiches gilt für Forst- und Jagdtraktate, z. B. Johann Matthäus Bechsteins Gemeinnützige Naturgeschichte Deutschlands nach allen drey Reichen, ein Handbuch zur deutlichen und vollständigen Selbstbelehrung besonders für Forstmänner, Jugendlehrer und Oekonomen.Footnote 9 Die Belege ließen sich ohne Mühe vervielfältigen.Footnote 10 Überall, wo von Hühnern die Rede ist, kommt auch die Hühnerlaus zur Sprache. Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart resümiert entsprechend den mit Linné etablierten gängigen Sprachgebrauch: »Die Hühnerlaus, plur. Die –läuse, eine Art kleiner Läuse, welche sich auf den zahmen Hühnern aufhält; Pediculus Galinae L.«Footnote 11 In den 1830er Jahren ist Pediculus Galinae als Art also längst gut etabliert. Warum dann aber die Begeisterung für »die neue Species Hühnerlaus«, von der der Doctor so sichtbar ergriffen ist? Das ist das erste Rätsel. Man könnte es, mit Blick auf den Begründer der binären Nomenklatur, das Linné-Rätsel nennen.

Zweites Rätsel: Warum bezeichnet der Doctor die Hühnerlaus mit dem lateinischen Terminus »Ricinus«? Warum nicht Pediuclus? Dieses Rätsel scheint zunächst einmal lösbar. Im Jahr 1778 führt Carl De Geer mit seinen Mémoires pour servir à l’histoire des insectes, dem wichtigsten zoologischen Beitrag zur Läuseforschung des 18. Jahrhunderts, die Unterscheidung zwischen den »véritables Poux« und einem neuen »genre distingué« ein: Footnote 12»Wegen dieses merkwürdigen und wesentlichen Umstandes hab’ ich sie von den Läusen abgesondert und daraus ein eigenes Geschlecht, mit einem alten Namen, Ricinus, gemacht«.Footnote 13 Der »merkwürdige und wesentliche Umstand«, der De Geer zur Bildung der neuen Gattung veranlasst, ist anatomischer Natur: Die Gattung Ricinus hat nicht nur, »wie die Läuse, sechs Füße, einen platten Körper mit Kopf, Brustschild und Hinterleibe«, sondern auch, anders als die Läuse, »statt des Rüßels […] zween kleine hornartige bewegliche Zangen, recht mitten unter dem Kopf«.Footnote 14 Johann August Ephraim Goeze, der De Geers Mémoires übersetzt und selbst auch Insekten- und Läuseforscher ist, nennt Ricinus deshalb »Zangenläuse«. Unter den Zangenläusen findet sich bei De Geer dann auch die »weißgrauliche Hühnerzangenlaus, mit ovalem Hinterleibe, halbzirkelrundem Kopfe, und vier langen Schwanzhaaren. Ricinus Gallinae. […] Sehr klein, tab. IV, fig. 15.«Footnote 15 (vgl. Abb. 1)

Abb. 1
figure 1

De Geer: Ricinus Gallinae (De Geer, Mémoires pour servir à l’histoire des insectes, Pl. IV, unpaginiert.)

De Geers neue Gattungsgrenze zwischen Pediculus und Ricinus setzt sich in der Läuseforschung rasch durch. So nutzt z. B. Goeze in einer erläuternden Fußnote der 1787 von ihm ins Deutsche übersetzten Geschichte einiger den Menschen, Thieren, Ökonomie und Gärtnerey schädlichen Insekten bei der Beschreibung der »Hühnerlaus«Footnote 16 noch die alte Bezeichnung »Pediculus Gallinae« und verweist auf den zoologischen Standard, also auf »Linn. S.N. ed. 12 p. 1020. no. 32«,Footnote 17 ergänzt dann aber sofort: »Es ist aber, wegen des eckichten Kopfs und Brustschildes, nicht Pediculus; sondern Ricinus.«Footnote 18 Auch bei einer weiteren »ebenfalls an Hühnern«Footnote 19 lebenden Spezies präzisiert Goeze in einer Fußnote: »Abermals ein Ricinus«.Footnote 20 So wird Linnés Pediculus zwar noch weiter mitzitiert, De Geers Ricinus und dessen deutsche Version der Zangenläuse aber als neue Terminologie bevorzugt.Footnote 21 Cuvier schließlich unterscheidet 1817 in seinem Règne Animal ganz wie Lamarck 1818 in seiner Histoire naturelle des animaux sans vertèbres terminologisch konsequent zwischen »Pous. (Pediculus. L.)«Footnote 22 und »Les Ricins. (Ricinus. De G.)«.Footnote 23 Bei Lamarck ist damit Linnés »Pediculus gallinae«Footnote 24 ganz explizit zur veralteten Bezeichnung für die Hühnerlaus geworden, die nun unter dem neuen Namen »Ricinus gallinae«Footnote 25 firmiert. Wer also, wie der Doctor dies gleich zweifach tut, eine Hühnerlaus der Gattung »Ricinus« zuordnet, der distanziert sich von Linné und identifiziert sich mit De Geer. Das Rätsel scheint gelöst: Der Doctor nutzt ein neues zoologisches Wissen, nicht ein altes.

Dies würde allerdings nur stimmen, wenn ›Woyzeck‹ vor 1800 geschrieben wäre oder spielen würde. Denn schon im Jahr 1804 schlägt Johann Hermann in seiner Mémoire Aptérologique eine neue Klassifikation vor, die als Abgrenzungsbegriff zu »Pediculus« die Gattungsbezeichnung »Nirmus« einführt.Footnote 26 »Nirmus« macht nun mit »Ricinus« genau das, was kurz zuvor »Ricinus« mit »Pediculus« getan hatte: Der neue Begriff verdrängt den gerade erst etablierten Begriff auf den Rang eines veralteten Wissens. Dies zeigt sich z. B. in Ignaz von Olfers’ De vegetativis et animatis corporibus in corporibus animatis reperiundis commentaries, wo die Hühnerlaus ganz selbstverständlich unter dem neuen Namen »Nirmus trigonocephalus«Footnote 27 verzeichnet wird. Aus dieser Perspektive haben »P. Gallinae«Footnote 28 und »Ric. Gallinae«Footnote 29 dann den gleichen Status: Sie erscheinen nur noch auf der Liste der früher üblichen Namen.

Olfers’ Verfahren, Pediculus und Ricinus nur noch als veraltete Nomenklatur mitzuzitieren, wird in den folgenden Jahren zur Norm. So präzisiert etwa der für die Läuseforschung einflussreiche William Elford Leach den »Gen. […] Nirmus« mit dem Hinweis: »Nirmus. Hermann, Olfers, Leach. / Ricinus. De Geer, Oliv. Lamarck, Latreille.«Footnote 30 Deutlich zeigt sich die Begriffsverschiebung auch in den deutschen Übersetzungen von Cuviers Règne Animal. Während Cuvier 1817 selbst noch ausschließlich die Bezeichnung »Ricinus« für die Gattung der Zangenläuse und »Ricinus gallinae« für die Hühnerzangenlaus benutzt, stellt 1823 sein erster Übersetzer, Heinrich Rudolf Schinz, alle drei Möglichkeiten nebeneinander: »Vogelläuse. Ricinus. De Geer. Nirmus. Herrm. Pediculus. Linn.«.Footnote 31 Die genau im Woyzeck-Jahr 1836 erscheinende zweite deutsche Cuvier-Übersetzung von Friedrich Siegmund Voigt verzichtet dann ganz auf Pediculus, setzt »NIRMUS Leach, HermFootnote 32 als prioritäre Gattungsbezeichnung und verweist »Ricinus Degeer«Footnote 33 auf den untergeordneten Rang eines nicht mehr ganz aktuellen Begriffs. Dass dieser Begriff trotzdem weiter in Umlauf bleibt, zeigt sich – gleichfalls im Woyzeck-Jahr 1836 – in der Allgemeinen Naturgeschichte Lorenz Okens mit dem Hinweis auf »die Läuse auf vielen Vögeln, wie Finken, Ammern, Krähen, Schwalben, Hühnern und auch auf dem Hunde, welche De Geer Zangenläuse (Ricinus) genannt, beschrieben und abgebildet hat«.Footnote 34 Allerdings nutzt auch Oken den Begriff »Zangenläuse« in einem eher historischen Sinn, der auf De Geer als den ursprünglichen Entdecker der Gattungsunterscheidung zwischen Pediculus und Ricinus verweist; als systematische und damit aktuell gültige Begriffe verwendet er, ganz wie seine Zeitgenossen, auf der Ebene der »Zunft« mit dem Begriff »Kieferläuse« die deutsche Übersetzung von Nirmus.Footnote 35

Nun lässt sich das zweifache »Ricinus, meine Herrn […], Ricinus« genauer einordnen: Das Rätsel besteht nicht etwa darin, dass der stets dem neuesten Wissenschaftstrend folgende Doctor schon »Ricinus« sagt und nicht mehr »Pediculus«, sondern darin, dass er noch »Ricinus« sagt, und eben nicht »Nirmus«. Das ist das zweite Rätsel. Man könnte es, mit Blick auf den Entdecker der Zangenläuse, das De Geer-Rätsel nennen.

Drittes Rätsel: Warum findet der Doctor die Hühnerlaus auf einer Katze? Schon der deutsche Vulgärname verweist ja darauf, wo diese Laus normalerweise zu finden ist: auf Hühnern. Ein Blick in die zoologische Forschung verschärft diesen Befund erst einmal noch weiter. So versammelt Linné im Genus der Läuse insgesamt vierzig Arten, die auf vierzig verschiedenen Wirtstieren leben, auf Hühnern, Meerschweinchen, Kamelen, Hirschen, Fischen usw. Aber Katzen sind keine dabei.Footnote 36 Als De Geer seine neue Gattung Ricinus umreißt, stellt er zwar im Allgemeinen fest, dass ihre »Arten […] sehr zahlreich«Footnote 37 sind und an »den Vögeln sowohl als an den vierfüßigen Thieren«Footnote 38 vorkommen, beschränkt sich dann aber in der genaueren Beschreibung auf sieben Arten, die er »zu beobachten Gelegenheit gehabt«Footnote 39 habe, sechs davon auf Vögeln lebend, die siebte auf Hunden.Footnote 40 Cuvier reformuliert diesen Befund dann sogar als ein Ausschlussprinzip: »Mit Ausnahme einer einzigen Gattung, der des Hundes, finden sich alle nur auf Vögeln«.Footnote 41 So auch Lamarck: »Sauf une espèce qui vit sur le chien, les autres Ricins connus se trouvent sur le corps des osieaux.«Footnote 42 Folgt man diesen Beschreibungen, dann lässt sich das dritte Rätsel sogar verallgemeinern: Warum findet der Doctor auf einer Katze einen Vertreter der Gattung Ricinus? Denn »Ric. DEEG«, so heißt es z. B. 1824 in Heinrich G. Bronns Angewandter Naturgeschichte, kann man auch einfach als »Vogellaus« ins Deutsche übertragen, es bedarf lediglich eines ergänzenden Hinweises: »einzeln auch auf andern Thieren«.Footnote 43 Katzen scheinen keine eigenen Läuse zu kennen. Und insbesondere keine »Hühnerläuse«, wie Goeze in einer kommentierenden Fußnote zu seiner Übersetzung der Geschichte einiger den Menschen, Thieren, Ökonomie und Gärtnerey schädlichen Insekten auf eine bemerkenswert explizite Weise betont: »Kommen sie an den Menschen; so zwicken und peinigen sie ihn mit ihren Zangen empfindlich. Denn es sind lauter Ricini. Sie gehen auch an die Hunde, aber an keine Katzen.«Footnote 44

Das Rätsel von der Hühnerlaus im Katzenfell lässt sich nun zwar in dieser allgemeinen Fassung lösen, dies allerdings um den Preis, dass es in der spezifischen Fassung, die es dann gewinnt, noch rätselhafter wird. Beides – die Lösung wie die Verschärfung des Rätsels – findet sich in der für die Läuseforschung und für die zoologische Parasitologie epochalen Abhandlung von Christian Ludwig Nitzsch über Die Familien und Gattungen der Thierinsekten (insecta epizoica) aus dem Jahr 1818,Footnote 45 die Oken noch im gleichen Jahr in seiner Zeitschrift Isis vorstellt,Footnote 46 und zwar direkt im Anschluss an ein Referat von Olfers’ De vegetativis et animatis corporibus in corporibus animatis reperiundis.Footnote 47 Mit Nitzsch lässt sich das Rätsel in seiner allgemeinen Fassung lösen, insofern er eine – soweit ich sehe: die erste – zoologische Nennung einer Laus bietet, deren Habitat die Katze ist, und zwar unter der von ihm selbst neu eingeführten Gattungsbezeichnung »Trichodectes N.«:Footnote 48Trichodectes subrostratus lebt auf »Felis Cati«,Footnote 49 also auf der Hauskatze.Footnote 50 Diese Bezeichnung übernimmt in der Folge z. B. Hermann Burmeister, Nitzschs Nachfolger an der Universität Halle, in seinen entomologischen Publikationen der 1830er Jahre.Footnote 51

Nun denn, es gibt, so weiß es auch die Zoologie des frühen 19. Jahrhunderts, Läuse auf Katzen. Dass der Doctor tief im Fell fündig wird, mag also sein. Doch verbindet sich mit dieser Katzenlaus gerade nicht der langsam außer Kurs geratende und trotzdem zweifach vom Doctor ausgerufene Gattungsname Ricinus, sondern der brandneu eingeführte Gattungsname Trichodectes, den Nitzsch explizit als Alternative zu »Pediculus, Linn.« und »Ricinus, Degeer«Footnote 52 verstanden wissen will und der auch in vielen zoologischen Publikationen aufgegriffen wird. Zudem ordnet Nitzsch auch die Hühnerlaus einer von ihm neu konstituierten Gattung zu, dem »Philoperterus. N.«Footnote 53 und ersetzt explizit den Artnamen »Ricinus Gallinae Deg.« durch die neue Bezeichnung »Ph. hologaster (Galli gallinacei)«.Footnote 54 Damit wird zunächst einmal das zweite, das De Geer-Rätsel noch rätselhafter, insofern mit Trichodectes und Philopterus zwei weitere, zudem noch aktuellere begriffliche Alternativen zum »Ricinus« ins Spiel kommen, die der Doctor nicht nutzt: nicht Trichodectes mit Blick auf den Fundort der Laus auf der Katze, nicht Philopterus mit Blick auf die Bezeichnung »Hühnerlaus«.

Noch entscheidender als für die Verschärfung des zweiten Rätsels ist Nitzschs Forschungsbeitrag indes für die Verschärfung des dritten Rätsels. Denn Nitzsch ist es, der die Grenzen zwischen den verschiedenen Läusegattungen nicht mehr über deren Anatomie begründet, sondern über deren konstitutive Bindung an ihr Wirtstier: »Thierinsekten« sind für Nitzsch nur solche Insekten, »welche sich auf anderen Thieren beständig aufhalten, stets nur von ihnen zehren, sich da begatten und fortpflanzen, und in der Regel niemals von ihnen weichen, es müßte denn geschehen, um auf andere Individuen überzugehen«.Footnote 55 Wohlgemerkt: auf andere Individuen der gleichen Art. Dies betont auch Leach: »It is now almost fully established, that every species of bird has its own peculiar parasite, no instance having occurred, in which one species of Nirmus has been found on two different birds«.Footnote 56 Weil Nitzsch nun diese auf Vögel und deren Parasiten gemünzte Beobachtung zur systematischen Bindung der »Thierinsekten« an ihre »Heimathstiere«Footnote 57 verallgemeinert, gilt seine Abhandlung als einer der Gründungstexte der Parasitologie. Für die Frage, ob eine spezifische Läuseart sowohl auf Hühnern als auch auf Katzen vorkommen kann, gibt es mit Nitzsch deshalb nicht mehr nur eine empirische, sondern auch eine biotheoretische Antwort: Nein, das ist nicht möglich. Sehr deutlich wird dies, wenn man den Übertragungen der Gattungsnamen Philopterus und Trichodectes ins Deutsche folgt: Auf Hühnern und anderen Vögeln lebt der »Federling«,Footnote 58 auf Katzen und anderen Säugetieren hingegen der »Haarling«.Footnote 59

Während die Begriffe ›Hühnerlaus‹ und ›Katzenlaus‹ durch die gemeinsame Zuordnung zur Laus noch die Ähnlichkeit zwischen den beiden Tiergattungen betonen, verweisen ›Hühnerfederling‹ und »Katzenhaarling«Footnote 60 – so die deutsche Fassung des Artnamens Trichodectes subrostratus – dann sehr deutlich auf die biotheoretisch begründete Differenz. Die Frage, ob sich eine Laus an Fell oder Feder festhalten muss, führt zudem zu einer jeweils anderen Anatomie der »Klauen an den Unterfüßen«.Footnote 61 Und das heißt: Eine Hühnerlaus könnte auf einer Katze nicht nur nicht leben, sie könnte sich an einer Katze nicht einmal festhalten, geschweige denn tief – »enfoncé«, wie es bei Büchner heißt – in das Fell eingraben.

Eine Hühnerlaus im Katzenfell? Das ist das dritte Rätsel. Man könnte es, mit Blick auf den Begründer der modernen Parasitologie, das Nitzsch-Rätsel nennen.

Viertes Rätsel: Warum glaubt der Doctor, ausgerechnet in den Pelzkragen der Studenten weitere Exemplare finden zu können, sei es von Ricinus, sei es von der Hühnerlaus? Auch auf diese Frage scheint es zunächst eine Antwort zu geben; und auch diese Antwort führt dann doch wieder nur in noch tiefere Komplikationen. Die Antwort deutet sich bei Nitzsch an, wenn er nicht nur die neuen Gattungen Philopterus und Trichodectes bildet, sondern mit den »Orthoptera epizoica« auch »eine besondere, abweichende Familie, welche wir: Mallophaga, Pelzfresser, oder beißende Thierinsekten nennen. […] Sie leben beständig auf Warmblütern, und nähren sich vom Pelze, nicht vom Blute derselben (daher mallophaga).«Footnote 62 Der Pelz ist also nicht einfach das Habitat dieser Insekten, sondern er ist zugleich deren Nahrung. Sowohl der lateinische Terminus »Mallophaga« als auch die deutsche Übertragung »Pelzfresser« bzw. »Pelzläuse« verbreiten sich in den 1820er und 30er Jahren rasch, z. B. in Burmeisters Lehrbuch der Naturgeschichte aus dem Jahr 1830,Footnote 63 in Voigts ergänzendem Nitzsch-Referat in seiner Cuvier-ÜbersetzungFootnote 64 oder in Okens Allgemeiner Naturgeschichte für alle Stände aus dem Jahr 1836: »Die Pelzläuse sind sehr klein und kurz, und bekommen nie Flügel. Sie leben auf der Haut der Vögel und Säugethiere, an den Wurzeln der Federn oder Haare, welche sie benagen, aber kein Blut saugen.«Footnote 65 Ganz offensichtlich wird »Pelz« hier stets als Überbegriff für Fell und Federn benutzt; die Abgrenzung wird vor allem gegenüber den Blutsaugern vorgenommen: Federlinge und Haarlinge sind gleichermaßen Pelzläuse. Und in dieser Allgemeinheit könnten sich Läuse auf allen drei vom Doctor ins Spiel gebrachten Habitaten finden: auf den Federn der Hühner, auf dem Fell der Katze und in den Pelzkragen der Studenten.

Doch lässt sich gegen eine solche Verallgemeinerung ein von Nitzsch eingeführtes parasitologisches Argument vorbringen: Wenn sich »Thierinsekten […] nur […] auf anderen Thieren beständig aufhalten«,Footnote 66 dann kommt ein Pelzkragen gerade nicht in Betracht. Denn ein Pelzkragen ist ein Ding, kein Tier, kein Lebewesen. Parasiten aber definieren sich durch ihre konstitutive Bindung an das Lebewesen, das sie bewohnen. Oder noch einmal anders ausgedrückt: Parasitäre Verhältnisse sind Verhältnisse zwischen zwei lebenden Organismen. Bei den gewöhnlichen Läusen, die sich vom Blut ihrer Wirtstiere ernähren, ist dies offensichtlich: Wenn kein Blut mehr fließt, dann hat auch die Laus nichts mehr zu essen. Bei den Zangenläusen, die sich »vom Pelze«Footnote 67 ernähren, ist dies weniger offensichtlich, aber gleichwohl der Fall. Darauf verweist indirekt Oken, wenn er davon spricht, dass die Pelzläuse die »Wurzeln der Federn oder Haare […] benagen«,Footnote 68 sind doch die Wurzeln der Ort, an dem Federn und Haare aus organisch-lebendigen Stoffwechselprozessen entstehen. Stirbt ein Wirtstier, dann sterben zwar nicht unbedingt dessen Federn oder Haare, aber doch dessen Feder- und Haarwurzeln. Diese bei Nitzsch 1818 theoretisch fundierte Überlegung macht dann 1838 Burmeister in seinem ergänzenden Referat von Nitzschs Parasitologie explizit: »diese beständigen Parasiten […] nähren sich vom Pelze, nicht vom Blute, ihres Wohnthiers wie Nitzsch durch Untersuchung ihres Kropfinhaltes direkt erkannt hat. […] Viele verlassen mit dem Tode ihr Wohntier.«Footnote 69 Auf einem Pelzkragen könnte offenbar weder die Hühnerlaus im Speziellen noch ein Ricinus im Allgemeinen lange überleben.

Und dennoch möchte der Doctor die Pelzkragen der Studenten auf Läuse untersuchen. Dabei hat er immerhin den allgemeinen Sprachgebrauch auf seiner Seite, sind doch die Läuse im Pelz nachgerade sprichwörtlich. So bringen z. B. in Samuel Christoph Wageners Sprichwörter-Lexikon aus dem Jahr 1813 von insgesamt zwölf Läuse-Sprichwörtern drei die Laus mit dem Pelz in Verbindung: »Die Laus weidet im Grinde sich dick und geht im alten Pelze auf Stelzen. / Man hat es nicht nötig, Läuse in den Pelz zu setzen, die kommen doch wol hinein. […] / Wenn die Laus einmal im Pelze sitzt, so ist es schwer, sie wieder heraus zu bringen.«Footnote 70 Insbesondere die Redensart ›jemanden eine Laus in den Pelz setzen‹ findet sich in unzähligen Nachschlagewerken des 18. und 19. Jahrhunderts, von Gottscheds Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst aus dem Jahr 1749 bis zu den Pelz-Einträgen in den Wörterbüchern von Adelung, Campe und Krünitz um 1800.Footnote 71

Nun denn, es kann, so weiß es der Sprachgebrauch um 1800, Läuse auf Pelzkragen geben. Dass der Doctor in den Pelzkragen der Studenten fündig wird, kann also sein. Aber was er dort finden könnte, ist weder eine Hühner-, noch eine Katzenlaus, sondern die schon von Linné auf den auch heute noch gültigen Artnamen Pediuculs humanus gebrachte Menschenlaus, oder noch genauer: die Kleiderlaus, Pediculus humanus humanus bei Linné, Pediculus humanus corporis bei De Geer,Footnote 72Pediculus vestimenti hominis bei Nitzsch,Footnote 73P. vestimentorum bei Oken.Footnote 74 Einen alltagskulturellen Hinweis darauf, dass auf einem Pelzkragen allenfalls Menschenläuse wohnen, geben schon die Pelz-und-Laus-Sprichwörter selbst: Wenn Läuse im Pelz sind, dann juckt das nicht den Pelz, sondern den Pelzträger. Parasitologisch begründet ist dieser Sachverhalt darin, dass der lebende Organismus, auf den sich eine Laus im Pelzkragen bezieht, nicht das tote Tier ist, von dem der Pelz stammt, sondern der lebende Mensch, der den Pelz trägt.

Sichtbar wird damit der parasitologische Unterschied zwischen den Kleiderläusen, die sich von Blut, und Pelzläusen, die sich von Haaren oder Federn ernähren. Verbunden damit ist zugleich ein anatomischer Unterschied, insofern die einen ihre Nahrung mit einem Rüssel aufnehmen, die anderen mit Zangen; und es gibt einen daraus abgeleiteten terminologischen Unterschied, auf den Büchners Doctor sich bezieht und der von Burmeister 1835 noch einmal eigens hervorgehoben wird, dass nämlich »schon de Geer gezeigt hatte, daß es […] beißende (Ricinus) und saugende (Pediculus) Arten gebe.«Footnote 75 Wenn es auf dem Pelzkragen also eine Laus gibt, dann saugt sie am Menschen und beißt nicht am Tier. Oder paradox formuliert: Pelzläuse leben nicht auf Pelzkleidung. Oder mit Burmeister gefasst: Ein Ricinus braucht man auf einem Pelzkragen erst gar nicht zu suchen.

Eine Hühnerlaus oder ein Ricinus im Pelzkragen? Das ist das vierte Rätsel. Man könnte es, mit Blick auf die deutlichen Worte des entomologischen Nitzsch-Nachfolgers in Halle, das Burmeister-Rätsel nennen.

Büchners literarische Hühnerlaus ist also ein wundersames Tier. Und bemerkenswerterweise wird es zunächst einmal immer wundersamer, je genauer man es in die zeitgenössische zoologische Forschung einordnet: Der Kontext klärt hier nicht den Text; er macht überhaupt erst sichtbar, wie unklar der Text ist. Der Umweg über die zeitgenössische Zoologie führt im Fall der Hühnerlaus also nicht zu Antworten, sondern überhaupt erst zu Fragen: Wieso bezeichnet der Doctor die Hühnerlaus als eine »neue Spezies« (das Linné-Rätsel)? Wieso nutzt er den Gattungsnamen »Ricinus« (das De Geer-Rätsel)? Wieso findet er die Hühnerlaus auf einer Katze (das Nitzsch-Rätsel)? Und wieso sucht er die Hühnerlaus und/oder den Ricinus auf den Pelzkragen der Studenten (das Burmeister-Rätsel)? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führt in sehr unterschiedliche Felder: in die Editionsphilologie, zum Wissenshorizont des Autors und seiner literarischen Figur, in die Geschichte der Biotheorie sowie zu einer Ästhetik der Tiere.

II.

Bei problematischen Stellen im Woyzeck ist es immer ratsam, einen Blick ins Manuskript zu werfen, ist es doch das Einzige, was Büchner bei diesen Dramenfragmenten selbst irgendwie autorisiert hat – und sei es auch nur durch den Akt des Niederschreibens. Schaut man sich die Stelle im Manuskript an, dann ist es erst einmal gar nicht so klar, ob der Doctor tatsächlich von einer Hühnerlaus spricht (vgl. Abb. 2). Lässt sich hier wirklich »die neue Species Hühnerlaus« lesen? Als Karl Emil Franzos sich an die erste Edition der nur schwer entzifferbaren Manuskripte macht, liest er nicht »Hühner-«, sondern »Hasenlaus«.Footnote 76 Diese Lesung wird von Franzos nicht weiter begründet, ist aber eingebettet in eine großzügige Glättung der Stelle, die all die Rätsel, die sich mit der Hühnerlaus verbinden, gar nicht erst aufkommen lässt:

Doktor (erscheint im Hofe, nimmt die Katze). Was seh’ ich, meine Herren? Eine neue Spezies Hasenlaus. Eine schönere Species als die bekannten. (Zieht eine Lupe heraus.) Hasenlaus, meine Herren! (Die Katze läuft fort.) Meine Herren! Das Thier hat keinen wissenschaftlichen Instinkt. Hasenlaus, die schönsten Exemplare trägt es im Pelzwerk.Footnote 77

Abb. 2
figure 2

Detail aus H3/1, MBA 7.1, 45

Plausibilität gewinnt Franzos zunächst einmal dadurch, dass er die Laus nicht mit den Pelzkragen der Studenten, sondern mit dem Pelzwerk der Katze in Verbindung bringt. So stellt sich das Burmeister-Rätsel erst gar nicht ein. Denn im Pelzwerk einer lebenden Katze können Läuse in der Tat leben, wobei immer noch überraschend bis ausgeschlossen bleibt, dass sich eine Hasenlaus auf eine Katze verirrt. Im Manuskript (vgl. Abb. 3) ist »Pelz« gerade noch zu lesen, was danach kommt, ist fast nicht mehr sichtbar. Die MBA vermerkt hierzu, dass zwar der »Schriftzug der zweiten Worthälfte stark berieben« ist, verweist aber auf die Faksimile-Ausgabe der ›Woyzeck‹-Manuskripte durch Gerhard Schmid aus dem Jahr 1981, wo auch die zweite Worthälfte »noch deutlich zu erkennen« sei (vgl. Abb. 4)Footnote 78. So flüchtig der Schriftzug auch hier wird, zumal ganz am Blattrand, so folgt doch auf das »Pelz« sicher kein »w«. Entsprechend ist die Büchner-Philologie mittlerweile einig, dass hier nicht »Pelzwerk«, sondern »Pelzkragen« zu lesen ist.Footnote 79 Am Burmeister-Rätsel führt dieser Weg also nicht vorbei.

Abb. 3
figure 3

Detail aus H3/1, MBA 7.1, 45

Abb. 4
figure 4

Detail aus H3/1, Schmid 1981, Quartblatt 1, Faksimile 21

Wie aber steht es um die »Hasenlaus«? Zunächst einmal scheint Franzos seine Lesart selbst zu disqualifizieren, indem er das gleich zweifach, zudem in lateinischen Lettern und insofern sehr gut lesbare »Ricinus« auch kurzerhand mit »Hasenlaus« wiedergibt (vgl. Abb. 5). Das ist offenbar kein Lesefehler von Franzos, sondern eine absichtliche Korrektur, die ganz nebenbei auch das De Geer-Rätsel gar nicht erst aufkommen lässt. Keine Korrektur, sondern ein ernst zu nehmender Vorschlag bleibt hingegen die erste »Hasenlaus« in der Wendung »die neue Species Hasenlaus«. Diese Lesung findet sich auch schon in den von Ludwig und Alexander Büchner um 1850 durchgeführten, aber damals unpublizierten Transkriptionsversuchen der ›Woyzeck‹-Fragmente;Footnote 80 und auch Georg Witkowski liest »Hasenlaus«, als er 1920 als erster Editor seit Franzos für seine ›Woyzeck‹-Ausgabe auf die Handschriften zurückgreift.Footnote 81 Erst 1922 schlägt dann Fritz Bergemann die alternative Lesart »Hühnerlaus« vor.Footnote 82 Seither finden sich beide konkurrierende Lesungen; so spricht z. B. der Doctor in Henri Poschmanns Frankfurter Büchner-Ausgabe von der »Hasenlaus«,Footnote 83 in Burghard Dedners Marburger Büchner-Ausgabe von der »Hühnerlaus«.Footnote 84

Abb. 5
figure 5

Detail aus H3/1, MBA 7.1, 45

Poschmann stützt seine Lesart mit einem entomologischen Sachkommentar: »Ricinus ] (Lat.) Name für Hasenlaus.«Footnote 85 Dabei kann er auf ältere Kommentare zurückgreifen wie z. B. den Hinweis von Hans-Joachim Simm, der sich 1988 in der Münchner Büchner-Ausgabe zur »Hasenlaus« findet: »Pelztierfresser, lat. Ricinus«.Footnote 86 Vom »Pelztierfresser« wiederum ist schon in Kommentaren aus den 1970er Jahren immer wieder die Rede, etwa bei Lothar BornscheuerFootnote 87 und Walter Hinderer.Footnote 88 Begründet wurde diese Kommentierungstradition 1925 in einer Studie von Hans Winkler: »Da später der lateinische Name der Laus ›Ricinus‹ erwähnt wird, ist ›Hasenlaus‹ zu lesen, denn ›Ricinus‹ ist aus der Gattung der Pelzfresser, zu denen die Hasenlaus gehört.«Footnote 89 So scheinen die Kommentare gute Gründe dafür an die Hand zu geben, warum in dieser editorisch schwierigen Lage Hasenlaus zu lesen ist.

Um diesen Lesartenstreit zu entscheiden, ist es hilfreich, auch noch die Hasenlausforschung des 18. und 19. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen. Hier ergibt sich ein ganz anderes Bild als in der Hühnerlausforschung. Bei Linné: keine Hasenlaus. Bei De Geer: keine Hasenlaus. Bei Olfers: keine Hasenlaus. Bei Nitzsch: keine Hasenlaus. Bei Cuvier: keine Hasenlaus. Bei Oken: keine Hasenlaus. Erst bei Burmeister findet sich endlich eine Hasenlaus. Im Jahr 1839 publiziert Burmeister, unter Rückgriff auf umfängliche Notizen Nitzschs, seine Übersicht über die Genera insectorum, in der er auch die von Nitzsch am 7. Januar 1815 entdeckte, aber nur handschriftlich und in einer Zeichnung festgehaltene »Pediculus lyriceps Leporis timidi«,Footnote 90 die auf Hasen lebende Laus, unter dem Namen Pediculus lyriocephalus beschreibt.Footnote 91

Vor diesem Hintergrund erweist sich, dass nichts von den Kommentaren, die eine Hasenlaus-Lesung zu begründen versuchen, richtig ist. So übersieht Winkler erstens, dass seit Nitzsch, der die Gattungsbezeichnung »Pelzfresser« einführt, der »Pelz« als Überbegriff für Fell und Gefieder gebraucht wird, weshalb auch Hühnerläuse als Pelzfresser bezeichnet werden; er übersieht zweitens, dass die Hasenlaus überhaupt kein Pelzfresser, sondern ein Blutsauger ist und deshalb auch nicht zu den »Ricinus«, sondern zu den »Pediculus« gerechnet wird, der lateinische Name für die Hasenlaus also Pediculus lyriceps oder lyriocephalus lautet; und er übersieht drittens, dass die erste zoologische Beschreibung der Hasenlaus erst 1839 von Hermann Burmeister publiziert wird, also zwei Jahre nach Büchners Tod. Bornscheuer, Hinderer und Simm zeigen darüber hinaus, dass auch Literaturwissenschaftler Tiere entdecken können: Ihre »Pelztierfresser« gibt es ausschließlich in den Fußnoten der Büchner-Philologie; kein Zoologe, weder ein Zeitgenosse Büchners noch ein heutiger, hat je von ihnen gehört. Allenfalls von »Pelzfressern« ist die Rede. Diese wiederum wären historisch genauer als »Mallophaga« zu bezeichnen. »Ricinus« hingegen wird fast durchgehend mit »Zangenlaus« übersetzt. Und damit ist auch Poschmanns Kommentar hinfällig: Kein Zoologe hat Ricinus je als Namen für die Hasenlaus benutzt.

Die Fehler in den Kommentaren bei Winkler, Bornscheuer und Poschmann heißen zwar noch nicht, dass auch ihre Lesung falsch ist. Sie machen aber deutlich, dass sich der Verweis auf »Ricinus« nicht dafür eignet, diese Lesung zu plausibilisieren. Im Gegenteil: Während die »Hühnerlaus« immerhin eine Zeitlang von Entomologen als ein Ricinus bezeichnet wurde, war dies bei der Hasenlaus nie der Fall – sie war immer schon und stets ein Pediculus. Insofern ist es aufschlussreich, von diesen Kommentierungsfehlern aus noch einmal zum Handschriftenbefund zurückzukehren (vgl. Abb. 2).

Der Herausgeber der MBA, Burghard Dedner, begründet seine Lesart folgendermaßen: »Entscheidend ist der dritte Buchstabe. Er hat eine Ober- und Unterlänge und ist entweder h oder s. Verlesungen h/s begegnen häufiger […]. Beim h geht der Schriftzug erst nach oben, dann nach unten und dann zum nächsten Buchstaben hin wieder nach oben. Beim s ist es umgekehrt (erst nach unten, dann nach oben, häufig ohne Anschluss zum nächsten Buchstaben). […] M. E. haben wir ein h.«Footnote 92 Folgt man dieser Beschreibung, dann spricht zwar einerseits der Augenschein deutlich für ein h, gibt es aber andererseits auch eine große Nähe zwischen h und s. Nur wenn es ein sehr starkes kontextuelles Argument für ein s gäbe, könnte man also eventuell s lesen, und sei es im Sinne einer Konjektur. Wenn »Ricinus« tatsächlich der lateinische Name für Hasenlaus wäre, dann wäre dies wohl ein starkes Argument. Aber genau dies ist nicht der Fall: Ricinus ist die Zangenlaus; und die Hasenlaus heißt Pediculus lyriocephalus.

Nun wird auch die editorische Entscheidung, »Hühnerlaus« zu lesen, mit Hinweisen auf die Entomologie flankiert. Die MBA notiert: »Species Hühnerlaus] s. Erl. zu 20,20 Ricinus«. Und sie ergänzt: »Ricinus] lat. Gattungsname der Geflügel- oder Pelzläuse, ›Ricinus gallinae‹ (Lamarck V, 41-43). Sie ›sind sehr klein und kurz‹ und ›leben auf der Haut der Vögel und Säugethiere‹ (Oken V.3, 1430)Footnote 93 Anders als die »Hasenlaus«-Leser berufen sich die »Hühnerlaus«-Leser nicht auf eine zeitlose taxonomische Systematik, sondern auf einen spezifischen historischen Stand der Entomologie. Lamarck und Oken sind hier für Büchner offenbar gute Gewährsleute: Lamarck, insofern er in der erwähnten Passage mit De Geer die Unterscheidung der Gattungen Pediculus und Ricinus betont; Oken, insofern er zu den »Pelzläusen« u. a. »die Läuse auf vielen Vögeln, wie Finken, Ammern, Krähen, Schwalben, Hühnern und auch auf dem Hunde« rechnet, »welche de Geer Zangenläuse (Ricinus) genannt«Footnote 94 hat. Auch wenn es weder bei Lamarck noch bei Oken noch irgendwo sonst in der zeitgenössischen entomologischen Forschung die von der MBA verzeichneten »Geflügel[..]läuse« gibt – Lamarck spricht nur von »Ricin«, Oken nur von den »Pelzläusen«, die Entomologen sprechen nur von ›Vogelläusen‹Footnote 95 –, scheint insbesondere der Hinweis auf Oken einschlägig zu sein, ist hier doch von allen drei bei Büchner zu lesenden Dingen die Rede: von Hühnern (wenn auch nicht von Hühnerläusen), vom Pelz (wenn auch nicht von Pelzkragen) und vom Ricinus (immerhin dies ganz ohne Einschränkung). Die Stimmigkeit im Kommentar der MBA macht deutlich, dass sich der Verweis auf »Ricinus« dafür eignet, die Lesung »Hühnerlaus«, die schon den Augenschein für sich hat, zu plausibilisieren: Was Oken darf – vom »Ricinus« sprechen –, das darf Büchners Doctor auch: »Ricinus, meine Herrn […], Ricinus«.

Damit ist zwar ein Lesartenstreit entschieden, aber keines der vier Rätsel gelöst: Die »Hühnerlaus« als »Ricinus« lässt trotz Okens Hinweis auf De Geer ungeklärt, warum sich Büchner in der Rede des Doctors bei Oken ausgerechnet an dessen historisierender Passage orientiert hat und nicht etwa an den von Oken selbst erwähnten systematisch-gültigen Begriffen der »Kieferläuse«Footnote 96 (Nirmus) oder der »Pelzläuse«Footnote 97 (Mallophaga). Was der Doctor hier über die Läuse sagt, das bleibt auch nach diesen editionsphilologischen Überlegungen erklärungsbedürftig.

III.

Wenn Figuren in Dramen Dinge sagen, die mit dem naturwissenschaftlichen Wissen ihrer Zeit in einem Spannungsverhältnis stehen, dann lohnt es sich immer, die Lage einmal vom Wissenshorizont des Autors und seiner Figuren aus zu betrachten. Vielleicht wusste Büchner es nicht besser oder war einfach ungenau – immerhin trägt H3 von all den erhaltenen Entwürfen wohl am deutlichsten die Zeichen des rasch und vorläufig Skizzierten. Für diesen Ansatz spricht, dass er mit einem Schlag alle Probleme löst: Wenn Büchner es schlicht nicht besser wusste, dann ist es nicht der Text selbst, der die Rätsel stellt, sondern erst dessen nachträgliche und übertriebene Kontextualisierung. Und es stimmt ja auch: Wer nicht in der entomologischen und parasitologischen Forschung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts gräbt, der wird gar nicht erst anfangen, sich zu wundern. Die Rezeptionsgeschichte gibt dieser Haltung Recht. Man muss nur überlegen, wie oft des Doctors Gerede von der Hühnerlaus schon gelesen und gehört wurde, ohne je auch nur die kleinste Irritation auszulösen, um zu sehen, dass man die Probleme, um die es hier geht, nicht zwingend haben muss.

Gegen diesen Ansatz spricht allerdings dreierlei. Zunächst ein biografisches Argument: Büchner war Zoologe, und er war dies kaum je in einem stärkeren Sinn als während der Zeit der Arbeit an ›Woyzeck‹, mit der gerade abgeschlossenen Dissertation über die Flussbarbe sowie der zeitgleich liegenden Probevorlesung über Schädelnerven und der zootomischen Lehrtätigkeit in Zürich.Footnote 98 Ahnungslosigkeit sieht anders aus. Sodann ein textbezogenes Argument: Bei allen Unklarheiten wird doch mit dem doppelten »Ricinus« deutlich und nachdrücklich eine entomologische Terminologie ins Spiel gebracht. Büchner verfügte also nicht nur über ein entomologisches Wissen, er führt es hier auch ganz offen vor. Und schließlich ein methodologisches Argument: Gegenstand einer Interpretation kann nicht sein, was Büchner wusste, sondern nur, was Büchner geschrieben hat. Das gilt ganz grundsätzlich; es gilt in besonderer Weise für die ganzen ›Woyzeck‹-Manuskripte; und es gilt erst recht für die unklare Skizze von H3,1 mit ihrer eigentümlichen Konstellation von ›neue Spezies‹, ›Hühnerlaus‹, ›Ricinus‹ und ›Pelzkragen‹.

Aber man braucht gar nicht den Wissensstand des Autors ins Spiel zu bringen, man kann auch den Wissensstand der sprechenden Figur als Ausgangspunkt wählen: Der Doctor weiß es vielleicht nicht besser oder ist einfach ungenau – wieso sollte sich auch ausgerechnet irgendein überdrehter Provinzmediziner in der aktuellen Läuseforschung gut genug auskennen, um fehlerfrei über diesen Gegenstand dozieren zu können? Für diesen Vorschlag spricht, dass er die Unstimmigkeiten in der Rede des Doctors gelten lässt, und zwar als Mittel der Figurencharakterisierung. Der Doctor wäre demnach jemand, der gerne sein Wissen zur Schau stellt (weshalb er »Ricinus« sagt), wobei sich dieses Wissen bei genauerer Betrachtung als veraltet (deshalb der falsche Hinweis auf die »neue Spezies«) oder ungenau (deshalb die sinnlose Suche im Pelzkragen) erweist. Diese Einschätzung passt gut zu einer bestimmten, lange Zeit die Forschung dominierenden Einschätzung zur Figur des Doctors: Er ist eindeutig ein schlechter Kerl; insofern scheint es naheliegend, wenn er zugleich auch ein schlechter Wissenschaftler ist. Die ethische Haltlosigkeit und die wissenschaftliche Inkompetenz gehen Hand in Hand.

Gegen diesen Ansatz spricht allerdings die seit Udo Roths maßgeblichen Untersuchungen zum wissenschaftlichen Forschungsprogramm des Doctors sich immer klarer abzeichnende Einschätzung, dass Büchner keinen »wissenschaftlichen Dilettantismus« vorführt, sondern die »Züge eines ernstzunehmenden und sich mit bahnbrechenden Erkenntnissen der Zeit auseinandersetzenden Wissenschaftlers«.Footnote 99 Insbesondere H2,6 »beschreibt demnach alle Forschungsprojekte des Doktors, wobei der Schwerpunkt eindeutig auf zoologischen Forschungen liegt«Footnote 100 und hier wiederum insbesondere auf den »niederen Lebewesen«.Footnote 101 Verhandelt werden dabei die taxonomische Frage nach der Grenze zwischen pflanzlichen und tierlichen Organismen, die biotheoretische Frage nach der Entstehung des Lebens sowie die physiologisch-anatomische Frage nach den Kauwerkzeugen der Infusionstiere. Auch hier gilt also: Ahnungslosigkeit sieht anders aus.Footnote 102 Was für die Gesamtanlage der Figur gilt, das gilt auch für den engeren Raum der Hühnerlaus-Szene. Unmittelbar vor der Hühnerlaus steht das Katzenfallexperiment, unmittelbar nach der Hühnerlaus geht es um das Ohrenwackeln bei Mensch und Esel. Beides bezieht sich auf sehr präzise und aktuelle Forschungen.Footnote 103 Die Hühnerlaus-Unstimmigkeiten liegen also keineswegs auf der Linie dessen, was der Doctor ansonsten als Forscher zu bieten hat; sie heben sich vielmehr deutlich davon ab. Wie diese Abhebung zu bewerten und zu interpretieren ist, bleibt damit aber noch offen.

IV.

Wenn sich die Rätsel auch nicht so einfach lösen lassen, verweisen sie doch gerade in ihrer Rätselhaftigkeit auf ein für die Zoologie des frühen 19. Jahrhunderts zentrales Thema: die Artenvielfalt. Der Doctor mag zwar falsch liegen, wenn er die Hühnerlaus als eine neue Spezies bezeichnet. Er liegt aber richtig, wenn er der Neuigkeit einer Spezies einen eigenen Wert beimisst. Dass eine Spezies überhaupt neu sein kann, zeigt, dass sie nichts in der Welt Gegebenes, sondern etwas von einem Naturforscher Konturiertes ist. Genau dies ist seit 1758 das mit Linné etablierte Prinzip: Damit es eine Spezies gibt, muss sie erstens beobachtet, zweitens benannt und drittens publiziert worden sein. Am wichtigsten ist dabei die Publikation; erst mit ihr ist eine Spezies wirklich konstituiert, oder sogar: erst wirklich entdeckt. So gibt es zwar schon sehr lange ein Wesen, das wir in der Alltagssprache Hühnerlaus nennen; die Spezies Pediculus gallinae gibt es aber erst seit ihrer Erstpublikation durch Linné im Jahr 1758. Und die Hasenlaus wurde zwar schon 1815 von Nitzsch beobachtet und sogar schon als Pediculus lyriceps benannt, aber eben erst 1839 durch Burmeister unter dem Namen Pediculus lyriocephalus publiziert.

Dass die binäre Nomenklatur Linnés den Namen einer Art stets mit dem Namen eines Forschers und der Jahreszahl einer Publikation versieht, ist ein Zeichen für den Wert, den die Biologie seit dem späten 18. Jahrhundert der Konstitution neuer Spezies beimisst. Dass hier insbesondere bei den Läusen viel zu finden ist, betont schon Linné bzw. sein Übersetzer Müller: »man hat nicht einmal noch Gelegenheit gehabt, alle Arten der Thiere lebendig zu untersuchen, in der Absicht ihre Läuse zu finden, daher auch noch nicht alle Läuse bekannt sind«.Footnote 104 Es gibt also noch einiges zu tun. Entsprechend betont auch De Geer für die Gattung der Zangenläuse die »especes très-nombreuses«:Footnote 105 »Ihre Arten sind sehr zahlreich«.Footnote 106 Zudem fördert Linnés binärer Nominalismus nicht nur die Entdeckung neuer Arten, sondern auch die Entdeckung neuer Gattungen. De Geers Beobachtung einer anatomischen »circonstance […] essentielle«,Footnote 107 eines »wesentlichen Umstandes«,Footnote 108 der ihn ein »genre distingué«,Footnote 109 »ein eigenes Geschlecht«,Footnote 110 mit dem Namen Ricinus bilden lässt, ist hierfür ein einschlägiges Beispiel. Entsprechend ist für Lamarck die alte Läuseforschung darüber charakterisiert, dass »Linné et Fabricius n’ont point distingué les Ricins des Poux«, während hingegen für die neuere Läuseforschung seit De Geer bekannt sei, dass diese beiden Gattungen »sont très-distincts par les caractères de leur bouches.«Footnote 111 Bemerkenswert ist, dass es unterschiedliche Unterschiede gibt: auf der einen Seite die wesentlichen, auf der anderen Seite die einfachen Unterschiede. So vermerkt z. B. De Geers Übersetzer Goeze in einer Fußnote: »Daß die Krähenlaus etwas kürzere Fühlhörner hat, ist wohl kein wesentlicher UnterschiedFootnote 112 Genau darauf scheint der Doctor sich zu beziehen, wenn er die »neue Spezies« als »wesentlich verschieden« bezeichnet.

Zudem lässt sich bei De Geer nachvollziehen, wie eng die ›Entdeckung‹ von Arten mit der ›Entdeckung‹ von Gattungen verbunden ist. Denn je mehr Arten benannt sind, desto größer wird offenbar die Notwendigkeit, diese Arten wiederum in Gattungen zu ordnen. Entsprechend beginnen fast alle großen zoologischen Überblickswerke des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts mit weitläufigen Reflexionen über mögliche taxonomische Systematiken. Begleitet wird dies von begriffstheoretischen Diskussionen, etwa von Anton Franz Besnards Inaugural-Abhandlung über den Unterschied zwischen genus (Geschlecht), species (Art), und varietas (Abart) aus dem Jahr 1835, der auf die unscharfen »Gränzlinien« zwischen den Kategorien verweist: »Eines greift in das Andre, und wo Ersteres endet, fängt Letzteres an«.Footnote 113 Büchner kannte all diese Diskussionen sehr gut; er bezieht sich sowohl in seiner Dissertation als auch in der Probevorlesung explizit auf deren Problematiken. Komplizierend kommt nun hinzu, dass der lateinische Begriff genus unterschiedlich ins Deutsche übersetzt wird, bisweilen mit »Geschlecht«, bisweilen aber auch mit »Gattung«, und der lateinische Begriff species zwar zumeist mit »Art« wiedergegeben wird, in einzelnen Fällen aber auch mit »Gattung«, wodurch »Gattung« dann »synonym mit Art«Footnote 114 wird.

Wenn um 1800 irgendwo von einer »Gattung« die Rede ist, muss also erst einmal geklärt werden, ob damit genus oder species gemeint ist. Ein Beispiel hierfür liefert De Geers Übersetzer Goeze anlässlich seiner Hinweise zu Ricinus, was für De Geer zunächst einmal ein »genre«, also eine Gattung ist, während er die Hühnerlaus als »espece«, also eine Art dieser Gattung bezeichnet. Goeze kommentiert dies in der schon anzitierten Fußnote folgendermaßen: »Wenn irgend bey einem Geschlecht die Gattungen ohne Noth gehäuft sind; so ist es bey den Vogelläusen. Sollte wohl die Finkenammer- und die Krähenlaus im Grunde verschieden seyn? Unser V. sagt selbst: er habe die nämliche Art an diesen Vögeln gefunden. Daß die Krähenlaus etwas kürzere Fühlhörner hat, ist wohl kein wesentlicher Unterschied.«Footnote 115 Das »Geschlecht«, das sind hier die »Vogelläuse«; die Gattung, das ist die »Krähenlaus«, wobei diese »Gattung« dann schon im nächsten Satz als »Art« bezeichnet wird. Diese terminologische Übersetzungsunschärfe sorgt in den deutschsprachigen Publikationen zur Entomologie immer wieder für Konfusionen. Büchner benutzt den lateinischen, also den eindeutigen Begriff, und dies gleich zwei Mal, einmal in lateinischer Schrift und mit »c«, einmal in deutscher Schrift und mit »z«: »die neue Species Hühnerlaus, eine schöne Spezies«.Footnote 116 Auch der Zusammenhang von genus und species ist in der Rede des Doctors also präsent.

Wichtig für eine Bewertung der Rede des Doctors ist nun aber, dass diese bei Linné, De Geer und Goeze, also tief im 18. Jahrhundert angestoßenen Debatten auch für die Entomologie der 1830er Jahre noch von zentraler Bedeutung sind. Linné hatte insgesamt vierzig Arten der Gattung Pediculus beschrieben, De Geer fünf Arten der Gattung Ricinus. Mit Hermanns Mémoire Aptérologique aus dem Jahr 1804 und Olfers’ De vegetativis et animatis corporibus in corporibus animatis reperiundis aus dem Jahr 1816 kommt eine Vielzahl von Arten und Gattungen hinzu.Footnote 117 Leach betont 1817 die »importance of clear descriptions of these animals« und formuliert die Hoffnung, »that every naturalist who has opportunity to investigate the subject, and to describe the species, will not omit to do so.«Footnote 118 Die entscheidende Publikation ist hier aber einmal mehr Nitzschs parasitologische Abhandlung über Die Familien und Gattungen der Thierinsekten. Die einschlägigen Forschungen von Linné bis Olfers, so Nitzsch, hätten zwar

»eine größere oder geringere (immer unbeträchtliche) Anzahl derselben, beobachtet, beschrieben, oder benannt und rubricirt und zum Theil abgebildet, allein keinem dieser verdienten Naturforscher hat es gefallen, die Thierinsekten zum Gegenstande einer besonderen Aufmerksamkeit zu wählen, und mit derjenigen Genauigkeit und Ausdauer zu beobachten, welche allein zu einer gründlichen Kenntnis derselben hätte führen können. […] Allein wenn die ganze Summe der bis jetzt bekannten Thierinsekten-Arten, bei der leicht zu ahnenden Unzahl der wirklich vorhandenen, sich kaum auf hundert beläuft; […] – wenn die von Degeer zuerst versuchte […] Trennung der beißenden Thierinsekten (Ricinus Deg.) von den eigentlichen Pediculus nicht einmal den Beifall von Fabricius fand; – wenn andererseits Niemand die große Verschiedenheit unter den Ricini Deg. ahnete […], – so sieht man wohl, wie weit die bestehende Kenntniß dieser Insekten von dem Grade der Vollkommenheit, den nunmehr so viele Theile der Entomologie erlangt haben und überhaupt vom jetzigen Standpunkte der Zoologie entfernt geblieben sind. Seit geraumer Zeit ist es nun ein Gegenstand meiner Bestrebungen, die Naturgeschichte dieser Insekten durch genauere Beobachtungen möglichst zu vervollständigen und aufzuklären. Die frühzeitige Beschäftigung mit mikroskopischen Unternehmungen sowohl, als mit dem Studium der Vögel, […] haben nebst der, hier stets sich erneuenden Aussicht auf Entdeckungen, auch diesen Zweig meiner naturhistorischen Forschung veranlasst und gefördert.«Footnote 119

Das von Nitzsch formulierte Forschungsprogramm, das ihn zur »Beobachtung von mehr als vierhundert größtentheils neuen Arten«, zur »Unterscheidung oder Entdeckung«Footnote 120 von sechs Gattungen und zu einer »Sammlung von in Spiritus aufbewahrten Exemplaren fast aller von mir beobachteten Arten«Footnote 121 führt, enthält viele der Elemente, aus denen sich die Rede des Doctors zusammensetzt. Erstens betont Nitzsch die eminente Bedeutung der Beobachtung und verweist dabei auch auf die technische Unterstützung durch optische Geräte. Entsprechend beginnt der Doctor mit dem Sehen (»Was seh’ ich meine Herrn«) und nutzt dann schnell technische Hilfe (»er zieht eine Loupe heraus«). Zweitens insistiert Nitzsch mit seinen Hinweisen auf »Anzahl«, »Summe« und »Unzahl« durchgehend auf dem Wert, den die Beschreibung neuer Arten für die Zoologie im Allgemeinen, die Entomologie im Besonderen und die Parasitologie im Speziellen hat. Auch Oken zeigt sich in seiner Nitzsch-Rezension davon beeindruckt: »Der Verf. hat über 400, größtentheils neue, Arten untersucht«.Footnote 122 Genau diese wissenschaftliche Emphase für die »neuen Arten« (Nitzsch) bestimmt auch die literarische Begeisterung für die »neue Species« (Büchner). Drittens bekräftigt Nitzsch mehrfach, dass er seine Wissenschaft als eine Unterscheidungskunst versteht, bei der es sowohl um die »Trennung« zwischen den Gattungen als auch um die »große Verschiedenheit« zwischen den Arten geht. So ist auch die Spezies, die der Doctor beschreibt, »wesentlich verschieden«.Footnote 123 Viertens würdigt Nitzsch hierbei insbesondere die von De Geer vorgenommene »Trennung der beißenden Thierinsekten (Ricinus Deg.) von den eigentlichen Pediculus«Footnote 124 als eine Pioniertat, die am Anfang der Forschungen zu den Mallophaga, den Pelzfressern, steht. Wenn der Doctor die Laus als »Ricinus« bezeichnet, bezieht er sich auf genau diese Pioniertat. Fünftens unterstreicht Nitzsch, dass es zu den von ihm systematisch beschriebenen Arten jeweils auch empirische »Exemplare«Footnote 125 gibt. Entsprechend freut sich der Doctor bei Büchner nicht nur über die »schöne Spezies«, sondern auch über die »schönsten Exemplare«, die er auf den Pelzkragen der Studenten zu finden hofft. Sechstens ist es Nitzsch, der den lateinischen Begriff »Mallophaga« und dessen deutsche Übersetzung »Pelzfresser« prägt.Footnote 126 Der Pelz ist beim Doctor immerhin in den »Pelzkragen« präsent. Siebtens ist es Nitzsch, der erstmals die Katzenlaus Trichodectes subrostratus publiziert;Footnote 127 auf einer Katze findet der Doctor seine Laus. Und achtens schließlich kommt auch Nitzsch in seiner Abhandlung auf die Hühnerlaus zu sprechen. Dies geschieht zwar unter dem neuen Gattungsnamen Philopterus, aber doch mit dem Hinweis auf »Ricinus Galliniae«;Footnote 128 und es geschieht mit einer bemerkenswerten Artdifferenzierung von Ph. variabilis, Ph. heterographus, Ph. dissimilis und Ph. hologasterFootnote 129 – also gleich viermal eine »neue Species Hühnerlaus«.

Nimmt man all dies zusammen, dann liest sich die Rede des Doctors fast wie ein – wenn auch bisweilen etwas konfuses – Extrakt aus Nitzschs Abhandlung über Die Familien und Gattungen der Thierinsekten. Doch auch ganz unabhängig davon, ob Nitzsch Büchner als Vorlage gedient haben könnte, lassen sich zwei grundsätzliche Gemeinsamkeiten zwischen dem Forschungsprogramm des fiktiven Doctors und dem Forschungsprogramm des realen Entomologen ausmachen. Sie betreffen zum einen die Logik der Entdeckung, zum anderen die Logik des Exemplars.

Im Zentrum einer zoologischen Entdeckung, bestehend aus den Elementen Sehen, Beschreiben und Publizieren, steht zu Büchners Zeiten die Kunst des Unterscheidens. Schon das Sehen wird dabei nicht als ein bloß passiv-rezeptiver Vorgang gedacht, sondern als etwas Aktiv-Produktives, insofern es beim Entdecken nicht einfach darum geht, Eindrücke zu registrieren, sondern vielmehr darum, Unterscheidungen in die Welt einzuführen. Es ist also für eine wissenschaftliche Entdeckung gar nicht zwingend nötig, etwas Neues zu sehen; es kann schon reichen, etwas neu zu sehen. Genau deshalb ist die zoologische Entdeckung konstitutiv an das entdeckende Subjekt gebunden; eine Entdeckung ist in einem eminenten Sinne subjektiv. Und genau deshalb sind die Läuse ein wahrlich paradigmatisches Forschungsfeld für diese mit Linné etablierte, die moderne Zoologie bestimmende Logik der Entdeckung. Hier geht es ganz offenbar nicht darum, neue Läuse zu sehen, sondern darum, die Läuse neu zu sehen. Dass dieses Neu-Sehen um 1800 bei den Läusen besonders ertragreich sein kann, hängt, so betont es auch Nitzsch, damit zusammen, dass diese Tiere so klein sind und dass sie so abjekt sind: Nur wenn man die Insekten »mikroskopisch untersucht«,Footnote 130 können die »kundigen Entomologen«Footnote 131 die nötigen Unterscheidungen einführen, wobei der »freilich zur Untersuchung nicht sehr einladende und schwierige Theil der Thierinsekten«,Footnote 132 also auch die parasitären Läuse, als besonders unangenehm gilt.

Wer aber seine Abscheu überwindet und zur »Loupe« (Büchner) greift, der kann, wie Nitzsch, auf dem Forschungsgebiet der Läuse besonders viele Entdeckungen machen. Es reicht die neue Sicht. Dies stärkt zwar die epistemologische Position der Forscherpersönlichkeit, stellt aber umso drängender die Frage nach der übersubjektiven Gültigkeit der in die Welt eingeführten Unterscheidungen. Denn wenn das Unterscheiden so viel gilt, dann kann dies dazu führen, dass die Unterscheider sich selbst wichtiger nehmen als das von ihnen Unterschiedene. Auf diesen Zusammenhang zielt Goeze mit seiner kritischen Bemerkung zu den Vogelläusen, dass bei diesem »Geschlecht die Gattungen ohne Noth gehäuft sind«.Footnote 133 Gleichwohl besteht in der Einführung neuer Unterscheidungen das Kerngeschäft der Entomologen im Besonderen und der Biologen im Allgemeinen; entsprechend nimmt die Zahl der neu entdeckten Arten in den hundert Jahren zwischen Linnés Systema Naturae (1758) und Charles Darwins Origin of Species (1859) exponentiell zu.

In den 1830er Jahren wird diese Entwicklung von Biologen selbst zum Thema gemacht. Unter dem Datum des »21 Jan. 1835« referiert z. B. der Bericht über die Verhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft in Basel einen Vortrag des Mediziners und Entomologen Ludwig Imhoff mit dem Titel: »Versuch einer Berechnung der Totalzahl der bis jetzt bekannten und wahrscheinlich noch zu entdeckenden Arten (species) von Thieren jeder Klasse und insbesondere der Insekten im engeren Sinne.«Footnote 134 Imhoff setzt hier zwei Zahlen zueinander in Verbindung: die Zahl der schon entdeckten und die Zahl der noch zu entdeckenden »Insekten-Arten«.Footnote 135 Für die Zahl der bekannten Pelzfresser spielt wieder Nitzsch eine zentrale Rolle: »Von den Mallophagis gibt Nitzsch etwa 360 deutsche Arten an.«Footnote 136 Für die Menge der noch zu entdeckenden Arten wird dann ein Berechnungsmodell vorgestellt, das bei »angenommenen 14,000 deutschen Species« für die »wahrscheinliche Totalsumme aller die Erde bewohnenden Insekten die Zahl 560,000«Footnote 137 veranschlagt. Und damit nicht genug, wie der abschließende Satz des Referats zu Protokoll gibt: »Diese Zahl wird jedoch von den anwesenden Mitgliedern fast allgemein als zu gering angesehen.«Footnote 138 Bemerkenswert deutlich ist hier die Dynamik der Neuentdeckungen formuliert, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die gängigen Taxonomien immer weiter auffüllt, das klassische Modell einer taxonomisch geordneten Natur gewissermaßen von innen sprengt und damit auch eine der konstitutiven Voraussetzungen für Darwins Entwurf einer dynamischen Evolutionsbiologie darstellt.Footnote 139

Der Doctor inszeniert sich selbst als ein Teil dieser Dynamik. Er partizipiert an der kollektiven Anstrengung der Scientific Community, alle wesentlichen Unterschiede in die Welt einzuführen, die sich überhaupt nur in die Welt der belebten Wesen einführen lassen. In H3,1 entdeckt er zwar nicht selber eine neue Läuseart, aber allein schon seine Begeisterung für Hühnerlaus und Ricinus ist auf der wissenschaftlichen Höhe der Zeit. Denn erstens weiß der Doctor offenbar die Neuheit einer Entdeckung zu schätzen; zweitens weiß er, worauf es dabei ankommt, nämlich die Kunst des Unterscheidens; und drittens wählt er für den Hinweis auf die Entdeckung einer neuen Spezies mit der Läuseforschung gerade kein abseitiges, sondern, wie die Hinweise von Nitzsch und Imhoff verdeutlichen, ein äußerst einschlägiges Feld. Der Doctor gehört zu den unzähligen Zoologen, die an der Bewegung von Linné zu Darwin mitgearbeitet haben.

Damit lassen sich die Äußerungen des Doctors zu Hühnerlaus und Ricinus neu bewerten: Sie mögen im Detail zwar in gleich vier rätselhafte Unstimmigkeiten führen; sie passen aber auf einer allgemeineren, konzeptionellen Ebene sehr genau zu den einschlägigen Diskussionen um die Logik der Entdeckungen. Man könnte auch sagen: Als Wissenschaftler ist der Doctor zwar ein sehr schlechter Praktiker, aber ein sehr guter Theoretiker.

Verbunden mit der Logik der Entdeckungen ist die Logik des Exemplars. Nicht umsonst verweist Nitzsch auf die »Sammlung von in Spiritus aufbewahrten Exemplaren fast aller von mir beobachteten Arten«.Footnote 140 Ohne ein zur Not vorweisbares Exemplar wäre eine publizierte Art offenbar so viel wert wie ein ungedeckter Scheck. Das Exemplar ist die hinterlegte Garantie für die Publikation einer neuen Spezies. Der »Totalsumme aller die Erde bewohnenden Insekten« würde also nicht nur ein Buch mit 560.000 Einträgen, sondern auch eine Sammlung mit 560.000 Exemplaren entsprechen. So füllen sich mit den Taxonomien auch die Naturalienkabinette zwischen 1758 und 1859 immer schneller mit immer mehr Tieren; auch sie werden an die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit getrieben.

Während man, so Besnard in seiner Inaugural-Abhandlung, den taxonomischen »Begriff von Species […] als Abstractum«Footnote 141 verstehen muss, handelt es sich bei einem Exemplar immer um einen »concreten«Footnote 142 Gegenstand: Nitzsch kann eine Schublade aufmachen und auf eine ganz bestimmte Hühnerlaus zeigen; er kann sie in die Hand nehmen, erneut vor die Lupe halten und wieder in die Schublade zurücklegen. Dennoch ist ein Exemplar nicht einfach ein Individuum. Denn als Exemplar ist es zugleich »ein Muster, ein Vorbild«;Footnote 143 in seinen typischen Eigenschaften verweist es auf die Spezies, für die es steht.

Aus H2,6 wissen wir, dass auch der Doctor damit befasst ist, eine Sammlung an exemplarischen Tieren aufzubauen.Footnote 144 Wenn der Doctor in H3,1 dann von den »schönsten Exemplaren« spricht, dann ist dies offenbar mit terminologischer Präzision formuliert: Diese Läuse sind in ihrer Materialität anwesend; und sie verweisen zugleich in ihrer Zeichenhaftigkeit auf eine taxonomische Systematik. Zudem wird wie in H2,6 auch in H3,1 Zoologisch-Taxonomisches und Medizinisch-Physiologisches nebeneinander gestellt: Erst wird ein Experiment mit einer Katze durchgeführt, dann wird das Exemplar einer Laus beobachtet, und dann, als die Katze und mit ihr die Laus verschwunden sind, kommt Woyzeck ins Spiel: »Meine Herrn, sie können dafür was anders sehen, sehen sie der Mensch, seit einem Vierteljahr ißt er nichts als Erbsen, bemerkten sie die Wirkung, fühlen sie einmal was ein ungleicher Puls, da und die Augen.«Footnote 145 Das Verfahren ist deutlich: von der Katze über die Laus zum Mensch. Und das heißt auch: vom Experiment über das Exemplar zu einem experimentell erzeugten Exemplar. So liegt in der Szene eine gleich doppelte Kritik. Sie zielt zum einen auf die Tendenz, den Anwendungsbereich von Experimenten zu generalisieren: Was mit Tieren wie der Katze möglich ist, das, so legt es das Handeln des Doctors nahe, ist auch mit Menschen wie Woyzeck möglich.Footnote 146 Zum anderen zielt sie auf die Tendenz, die Logik des Exemplars zu generalisieren: Was mit der Laus möglich ist, so legt es das Handeln des Doctors nahe, ist auch mit Menschen wie Woyzeck möglich. Büchners ›Woyzeck‹ zeigt die finsteren Effekte einer wissenschaftlichen Haltung, die den Menschen dem Verfahren des Experiments und der Logik des Exemplars unterwirft.

V.

Büchner verfolgt nun mit der Laus nicht nur ein wissenschaftskritisches Argument, sondern entwirft auch eine spezifische Ästhetik der Tiere, in deren Zentrum die Figur der Groteske steht.Footnote 147 Auf den Bereich der Ästhetik verweist in der Rede des Doctors zunächst einmal das zweifach verwendete Adjektiv ›schön‹. Schön ist die Spezies für den Doctor natürlich allein schon deshalb, weil sie schön neu und schön verschieden ist. Und schön sind die Exemplare für den Doctor natürlich auch, weil sie so schön typisch als Zeichen auf die Spezies verweisen können. Aber die »schöne Spezies« und die »schönsten Exemplare« können auch einfach schön anzuschauen sein: Sie sind eine Augenfreude.

Nun ist die Freude über die Schönheit von Spezies und Exemplaren gerade unter Entomologen weit verbreitet. So verweist, um aus der großen Fülle an möglichen Belegstellen ein besonders einschlägiges Beispiel auszuwählen, im dritten Band des Magazins für Entomologie, in dem auch der Beitrag von Nitzsch veröffentlicht ist, der Hobbyentomologe P.W.J. Müller auf »das unbeschreibliche Vergnügen, eine neue, schöne, durchaus verschiedene Art, die ich Claviger longicornis nannte, zu entdecken.«Footnote 148 Büchners Doctor formuliert in einer eindrücklichen Nähe zu Müller, insofern bei ihm »neue«, »schöne« und »verschieden« wortgleich sowie »durchaus« und »Art« in den synonymen Wendungen »wesentlich« und »Spezies« auftauchen. Selbst Müllers »Vergnügen« findet in Büchners Regieanweisung, der Doctor sei angesichts seiner Entdeckung »ganz erfreut«, seinen Widerhall. Dass Büchner den Aufsatz Müllers als Quelle benutzt haben könnte, ist nun äußerst unwahrscheinlich. Dennoch zeigt diese Nähe, dass die ästhetische Freude des Doctors ein offenbar topisches Element der zeitgenössischen Entomologie darstellt, und zwar gerade in ihrer Verknüpfung einer epistemologischen mit einer ästhetischen Schönheit. Eine Art ist schön in ihrer Neuheit und in ihrer Gestalt, wie auch Müller an einer weiteren Stelle seines Beitrages mit dem Hinweis auf »diese neue schöne Art«Footnote 149 zu erkennen gibt.

Nun wird aber im Vergleich mit Müller auch eine charakteristische Eigenheit der ästhetischen Freude des Doctors kenntlich: Während Müllers Begeisterung entomologentypisch der Schönheit eines Käfers gilt, freut sich der Doctor über die Schönheit einer Laus. Dies wiederum ist selbst für Entomologen alles andere als typisch, wie sich dem schon zitierten Hinweis von Nitzsch entnehmen lässt, dass die Läuse eine »freilich zur Untersuchung nicht sehr einladende« Insektenart abgeben. Läuse sind keine schöne Angelegenheit, nicht einmal in der Entomologie und erst recht nicht in der Alltagskultur. Um sich dies vor Augen zu führen, kann man, und auch dies ist wieder nur ein Beispiel aus einer Fülle möglicher Belege, auf Carl Philipp Funkes Schulbuch zur Naturgeschichte und Technologie aus dem Jahr 1800 zurückgreifen: »Eine Laus nennt man mit Ekel und Abscheu […]. Das widrige Ansehen der Laus, und der Gedanke an die häßlichen Ursachen und Folgen, die ihr Aufenthalt auf dem Leibe gemeiniglich hat, machen sie ohnstreitig am meisten verhaßt.«Footnote 150 Die Laus gehört nicht einfach nur zu den hässlichen Tieren, sie markiert vielmehr den Höhepunkt des Abstoßenden. Gotthilf Heinrich von Schuberts Lehrbuch der Naturgeschichte für Schulen unterscheidet entsprechend zwischen Insekten, die durch Metamorphose aus einem hässlichen in einen schönen Zustand überzugehen vermögen, und Insekten – unter ihnen die »häßliche Laus« – die »bis ans Ende das [bleiben], was sie waren: eine häßliche Spinne oder Laus oder Scorpion.«Footnote 151

Die Äußerungen des Doctors zur Schönheit seines Läusefundes stehen also im scharfen Kontrast zur allgemein angenommenen Hässlichkeit der Laus. Und genau dort, wo das Schöne und das Schreckliche aufeinandertreffen, entfaltet sich bei Büchner die Groteske. Damit steht die Läuseszene in H3,1 in Verbindung mit einer anderen Tierszene des ›Woyzeck‹, der Tierschau mit Pferd, Kanarienvogel und Affe, in der die Ästhetik der Groteske explizit in der Figurenrede verhandelt wird (H2,3):

Narr Grotesk! Sehr grote[sk]

L++. Sind Sie auch ein Atheist! ich bin ein dogmatischer Atheist

++. Ist’s grote[sk]? Ich bin ein Freund vom grotesken. Sehn sie dort? was ein grotesker Effect.

L++. Ich bin ein dogmatischer Atheist.

Grote[sk].Footnote 152

Der groteske Effekt, der sich beim Lesen von H3,1 einstellt, verdankt sich aber nicht nur der Überblendung von Schönem und Hässlichem, sondern auch der Konfrontation von Schrecken und Komik. Der Schrecken liegt dabei überraschenderweise in der Laus selbst, die seit Jan Swammerdam, Antoni van Leuvenhook und Rösel von Rosenhof mit den Fortschritten in der Mikroskopie im 17. und 18. JahrhundertFootnote 153 neben der Hässlichkeit auch noch für den Horror einzustehen hat. Eine entsprechende, für Büchner zeitgenössische Beschreibung findet sich z. B. in Coulembier’s Sonnen-Mikroskop, 1835 in zweiter Auflage publiziert (vgl. Abb. 6):

»Die Laus (Taf. I.a) ist eines der Thiere, welches jeder für häßlich und ekelhaft hält, weil unsre Eltern uns einen Widerwillen gegen dieses Thier eingeflößt haben. Sie hat einen niedlichen Hals und Kopf, der aber durch 2 an den Seiten stehende Fühlhörner einen abstoßenden Anblick verursacht. Ihre 6 mit Haaren bekleideten Beine, deren Enden mit einer gelben Kralle bewaffnet sind und deren sie sich mit schreckenerregender Gewalt bedienen, machen ebenfalls keinen angenehmen Eindruck auf die Damen.«Footnote 154

Abb. 6
figure 6

Coulembiers Sonnen-Mikroskop, Taf. I.a

Die Laus ist also nicht nur hässlich, sie ist, unter dem Mikroskop betrachtet, eine wahre Horrorgestalt: Die Kralle erweist sich als Waffe; die Gewalt ist »schreckenerregend«; und »die Damen« sind von diesem Anblick affektiv überfordert.

Die Szene, in der Büchner die Laus auf die Bühne bringt, ist nun ganz im Gegenteil zu dieser Schreckensgestalt von einer deutlichen Komik geprägt. Wie der Doctor mit den Tieren, mit den Studenten und mit Woyzeck herumfuhrwerkt, wie er unablässig sein Thema und seinen Platz auf der Bühne wechselt, wie in einer theatralen Dopplung die Zuschauer den Studenten zuschauen, die dem Doctor zuschauen: All diese Elemente verweisen auf die Geschichte und die Theorie der Komödie, insbesondere auf die Tradition der commedia dell’arte, nicht auf die Tragödie,Footnote 155 wie auch die gesamten ›Woyzeck‹-Fragmente Tragödie und Komödie miteinander verbinden.Footnote 156

Die komischen Handlungen des Doctors stehen also im scharfen Kontrast zum implizit mit der Lausgestalt verbundenen Schrecken. Und genau dort, wo das Komische und das Schreckliche aufeinandertreffen, entsteht, wie schon im Zusammenfall vom Schönen und Hässlichen, bei Büchner wieder das Groteske. Das Groteske in der Lauseszene lässt sich mithin als ein Nullpunkt der Ästhetik beschreiben: Es ist der Ort, an dem sich die vom Hässlichen zum Schönen laufende Achse mit der vom Schrecklichen zum Komischen laufenden Achse kreuzt; es ist der doppelte Indifferenzpunkt eines schön-hässlichen und komisch-schrecklichen Augenblicks. Dass Büchner an diesen Nullpunkt ein Tier setzt, passt zu einer klandestinen Tradition der ästhetischen Theorie,Footnote 157 die Tiere immer wieder an die paradigmatischen Positionen des ästhetischen Koordinatensystems stellt: die Schönheit des Schwans, die Hässlichkeit des Wurms, die Komik des Affen, der Schrecken des Tigers – und eben die Groteske der Laus.

Dreierlei bleibt für die Hühnerlaus aus ästhetiktheoretischer Sicht festzuhalten. Erstens konzentriert sich in diesem Tier die groteske Ästhetik, wie sie für den ›Woyzeck‹ im Besonderen und für Büchners literarisches Werk im Allgemeinen charakteristisch ist: Allerorten fallen das Schöne und das Hässliche, das Komische und das Schreckliche übereinander her. Zweitens entwickelt Büchner seine kritische Wissenschaftsgroteske nicht gegen die Wissenschaften, sondern aus ihnen heraus: Das Groteske ist potenziell schon in der Wissenschaft angelegt; Büchner muss es nur befreien. Und drittens erweisen sich die Tiere als paradigmatische Gestalten dieser kritischen Wissenschaftsgroteske: Die Hühnerlaus, die der Doctor auf dem Katzenfell bestaunt, gehört in das weite Arsenal der kapriziösen, lustigen, seltsamen und erschreckenden Tiere in Büchners literarischen Werken.

VI.

Verortet man Büchners literarische Hühnerlaus im Zuge eines Animal Reading in der entomologischen Forschung seiner Zeit, dann gibt dieses Tier also vier Rätsel auf: das Linné-Rätsel (wieso eine neue Spezies?), das De Geer-Rätsel (wieso Ricinus?), das Nitzsch-Rätsel (wieso auf einer Katze?) und das Burmeister-Rätsel (wieso auf Pelzkragen?). Dem stehen vier Versuche gegenüber, diesen Rätselknoten zu lösen: ein editionsphilologischer Versuch (Hasenlaus statt Hühnerlaus), ein autor- und figurenpsychologischer Versuch (Ahnungslosigkeit oder Ungenauigkeit), ein biohistorischer Versuch (Logik der Entdeckung, Logik des Exemplars) und ein ästhetiktheoretischer Versuch (Tiergroteske als der Indifferenz- und Kreuzungspunkt von schön/hässlich und komisch/schrecklich). Die ersten beiden Versuche kommen zwar nicht an den Rätselknoten heran, liefern aber Argumente für zwei einschlägige Debatten der Büchnerforschung, zum einen hinsichtlich des Lesartenstreits zwischen Hühner- und Hasenlaus, zum anderen hinsichtlich der Frage, wie sich das Forschungsprogramm des Doctors bewerten lässt. Auch der dritte und vierte Versuch lösen den Rätselknoten nicht, sie verschieben aber die Problemlage: zum einen von einer fehlerhaften Wissenschaftspraxis hin zu einer bemerkenswert avancierten Biotheorie, zum andern von einer distanzierten Wissenschaftssatire hin zu einer kritisch involvierten Tierästhetik des Grotesken.

Was aber bleibt, ist die Rätselhaftigkeit dieses literarischen Tieres, die von einem Animal Reading nicht etwa gemindert, sondern eher verstärkt wird: Büchners literarische Hühnerlaus ist ein wundersames Tier.