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Die Idee zu diesem Themenschwerpunkt in der DVjs geht auf einen internationalen Workshop am Center for Advanced Studies in München zurück.Footnote 1 Unter dem Titel »Coming back – coming home? Heimkehrermodelle in Antike und Moderne« gingen Anthropologen, Alt- und Neuphilologen der Frage nach, wie sich ein so elementarer sozialer Vorgang wie das Zurückkehren an den Herkunftsort nach längerer Abwesenheit im Spiegel von Erzählungen gestaltet: Welchem historischen Wandel unterliegt dieser Stoff, der erstmals mit der Odyssee in die Welt der verschrifteten Literatur Eingang fand? Formen sich die Geschichten zu einem eigenen Genre aus, und falls ja, welche Themen und Motive, aber auch kompositorischen Elemente gehören zum festen Bestand von Heimkehrer-Geschichten? Worin schließlich weichen moderne von antiken Fassungen der Thematik ab? Denn obgleich die griechische Mythologie und die Bibel den immer wieder neu aktualisierten Fundus fast aller späteren literarischen Gestaltungen dieser Motivik bilden, ist doch unübersehbar, dass gerade die moderne Dichtung eigene Akzentuierungen vornimmt und neue erzählerische Formen erprobt.
Sowohl angesichts seiner anthropologischen Reichweite als auch im Hinblick auf die literarische Verbreitung überrascht es, dass das Heimkehr-Motiv bislang nur ein schwaches theoretisches und historisches Profil erhalten hat.Footnote 2 Eine allgemeine Theorie der Heimkehr als soziales Phänomen gibt es ebenso wenig wie eine kulturwissenschaftlich informierte Phänomenologie der entsprechenden Schicksale literarischer Protagonisten. Auch eine umfassende Studie zur Struktur und Poetik der Heimkehr sucht man vergeblich, obgleich das Thema zum narrativen Grundbestand der Weltliteratur gehört.Footnote 3 Bei der überschaubaren Anzahl einschlägiger Arbeiten handelt es sich um Studien, die sich entweder mit dem epischen, seltener: tragischen nostos befassenFootnote 4 oder mit literarischen Heimkehr-Szenarien des 20. Jahrhunderts, zumal in der Nachkriegs‑, Exil- und Diaspora-Literatur.Footnote 5 Nur punktuell rückt dabei bisher das Wechselspiel zwischen den antiken Vorlagen, insbesondere der Odyssee, und späteren literarischen Bearbeitungen derselben Thematik in den Blick. Hierin besteht einer der Einsatzpunkte der Beiträge in diesem Heft, dessen Schwerpunkt auf der Ausgestaltung des nostos-Themas in der europäischen Erzählliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts liegt.
Zwei Komplexe sollen dabei im Vordergrund stehen, die den gemeinsamen Problemkern der antiken wie der modernen Literatur zu bilden scheinen. Der erste Aspekt betrifft den Zusammenhang zwischen der Rückkehr und der Notwendigkeit respektive Unmöglichkeit zu erzählen. Ausgangspunkt ist hierbei die Beobachtung, dass es eine enge Korrelation gibt zwischen der physischen und der narrativen Seite des ›Heimkehrerdramas‹: und zwar in dem Sinne, dass eine kommunikativ erfolgreiche Mitteilung der in der Ferne durchlebten und durchlittenen Zeit die Bedingung der Möglichkeit einer gelungenen Heimkehr darstellt. Kurzum: Wenn mit seiner physischen auch seine soziale Ankunft gelingen soll, muss der Zurückkehrende sich als Erzähler beweisen. Dieser literarische Befund deckt sich mit der anthropologischen Einsicht, wonach das Erzählen von der zurückliegenden Reise in vielen Kulturen eine rituelle und zugleich sozial stabilisierende Funktion besitzt.Footnote 6 Schon bei Plato wird der Übergangszustand des Reisens erst dann für abgeschlossen erklärt, wenn er sich nach erfolgter Rückkehr in einen Reisebericht übersetzt.Footnote 7 Wer heimkehrt, hat demnach nicht nur sprichwörtlich etwas zu erzählen; er ist, will er seine vormalige Stellung wiedererlangen, auch zum Erzählen genötigt. Schließlich muss er sich den Daheimgebliebenen zu erkennen geben, seine durch die Erfahrung der Fremde wie den zeitlichen Abstand oftmals infrage gestellte Identität zu beglaubigen wissen und als derjenige, der er zu sein beansprucht, wieder- und anerkannt werden. Darüber hinaus spielen Motive der Rechtfertigung, der Bewährung in der Ferne, der ›Reinigung‹ vom Fremdsein und einer durch den Erzählakt vollzogenen Wiedereingliederung in die Gemeinschaft eine wichtige, motivgeschichtlich allerdings variierende Rolle. Umgekehrt gilt, dass die Heimkehr in aller Regel misslingt, wenn der Zurückgekehrte sich diesem zumeist unausgesprochenen Diktat aus welchen Gründen auch immer entzieht oder mit dem, was ihm auf der Seele liegt, keine Zuhörer findet.Footnote 8 Denn selbst wenn er, der seit Jahren Verschwundene, Verschollene oder gar Totgeglaubte, die Anstrengung auf sich nimmt, sich durch seine Erzählung gleichsam wieder zum Leben zu erwecken, bleibt die Frage, ob ihm dieser rite de passage zugestanden wird und ob er gelingt: Lässt sich das, was er zu berichten hat, in die Erzählwelt der Daheimgebliebenen integrieren und auf diese Weise vergemeinschaften? Findet er Zuhörer, stößt er mit seiner Geschichte auf Verständnis und Anteilnahme, kann er seine Abwesenheit rechtfertigen und den Abstand überwinden, der durch die raum-zeitliche Distanz entstanden ist? Erkennt man ihn wieder, räumt man ihm seinen früheren Platz erneut ein und gesteht ihm seinen vormaligen Status zu? Findet er schließlich Anerkennung als derjenige, der er inzwischen geworden ist? All dies steht in einer potenziellen Erzählung des Heimkehrers auf dem Spiel.
Die zweite in dem Heft zu untersuchende Problemstellung betrifft zwar einen thematischen Aspekt der Heimkehr, trägt deshalb aber nicht weniger zum Verständnis der Form bei. Gemeint ist der Komplex der Gewalt, der ein bestimmendes Element insbesondere des antiken nostos ist.Footnote 9 Den Einsatzpunkt der Odyssee bildet die Zerstörung Trojas, an ihrem Ende kommt es zu einem blutigen Gemetzel zwischen Odysseus und den Freiern, das beinahe in einem bürgerkriegsähnlichen Konflikt eskaliert. Auch die Aeneis, die man als »römische Umformung des Heimkehr-Mythos«Footnote 10 bezeichnet hat, endet mit einem Blutbad. Der mühsame, Tod und Verderben mit sich bringende nostos ist indessen nicht nur für antike Epen und Tragödien charakteristisch. Auch die sich um das Motiv der Heimkehr drehenden Texte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind selten frei von Gewalt. Es muss sich dabei nicht einmal um Kriegserzählungen im engeren Sinne handeln, die zu allen Zeiten von der Schwierigkeit erzählen, Gewaltakteure in das zivile Leben zu re-integrieren. Selbst die Literatur des Realismus, die den Erzählstoff ins Private wendet und zumeist abseits der großen politischen Schauplätze in häuslich-bürgerlichen Milieus spielt, weist Spuren von Gewalt auf – besonders augenfällig durch die körperlichen Versehrungen, von denen viele der gealterten Rückkehrer in Erzähltexten des Realismus gezeichnet sind. Formale Konsequenzen ergeben sich daraus insofern, als gerade die Erfahrung von Gewalt das Erfordernis sprachlicher Bewältigung nach sich zieht, zumal in solchen Fällen, in denen eine heute gemeinhin als ›traumatisch‹ bezeichnete Störung vorliegt. Das soll nicht heißen, dass die Gewalt in allen der in diesem Heft besprochenen Texte direkt thematisiert wird. Ganz im Gegenteil besteht der Konflikt oder – je nach Perspektive – die Kunst oftmals darin, die Erfahrung der Gewalt, die der Rückkehrer entweder nach Hause trägt oder dort erfährt, in die Form einer bedeutungsvollen, erzählerisch umso aufwendigeren Auslassung zu kleiden.
Hans Blumenberg hat den Vorgang des Heimkehrens einmal als eine »Bewegung der Sinnrestitution«Footnote 11 definiert. Diese optimistische Bestimmung trifft indessen nicht auf alle möglichen Fälle zuFootnote 12, und schon gar nicht auf die in diesem Heft behandelten literarischen Texte. Ohne unzulässig zu verallgemeinern, lässt sich festhalten, dass die Heimkehr in der Erzählliteratur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in hohem Maß problematisiert wird. Heimkehren bedeutet in diesen Texten, sich der Gefahr auszusetzen, in der Herkunftswelt nicht mehr willkommen zu sein – sei es, dass man dort nicht mehr erwünscht ist oder zu sein glaubt; sei es, dass man sich selbst so stark verändert hat, dass man sich ›daheim‹ nicht mehr zurechtfindet, oder sei es schließlich, dass die Welt, in die man zurückzukehren hofft, sich bis zur Unkenntlichkeit verändert hat oder sich auf eine geradezu erschreckende Weise gleich geblieben ist.
Wie auch immer die Geschichten im Einzelnen gestaltet werden – was sie verbindet, ist der Umstand, dass der Prozess der Heimkehr sich als schwierig erweist. Genau diese Affinität von Heimkehr und Krise verbindet die modernen Ausgestaltungen des Themas bei allen Akzentverschiebungen und Umbesetzungen – so die Grundthese – mit der Odyssee. Denn auch wenn Odysseus im Gegensatz zu vielen modernen Protagonisten die glückliche Heimkehr gelingt und er seine Ehe und zuletzt sein Königsreich zurückgewinnt, hält die Odyssee die Möglichkeit einer tödlich scheiternden Heimkehr nach dem Muster Agamemnons aufrecht. Die Schwierigkeit heimzukehren manifestiert sich auch darin, dass die Odyssee zu weiten Teilen von der Überwindung von Heimkehrhindernissen – etwa in Gestalt von bestrickend schönen weiblichen Wesen, die den Schiffbrüchigen an sich fesseln und seine Heimkehr verhindern wollen – erzählt. Odysseus, der polytropos, so hat es Peter Sloterdijk einmal treffend formuliert, ist der »Held der verzögerten Bewegung ins Ziel«, »der Mann, der auf die Verzögerungsfolter gespannt wird«.Footnote 13 Tatsächlich handelt die Odyssee vom 13. Gesang an nur noch von den Rückkehrschwierigkeiten, auf die der Held in seiner alten Heimat stößt.Footnote 14 Sogar das versöhnliche Ende der Odyssee, an dem die alte Ordnung wiederhergestellt wird und sich alles zum Guten fügt, beschwört die Gefahr eines tragisch sich schließenden nostos noch einmal herauf.Footnote 15 Heimkehr bei Homer bedeutet beides zugleich: Verheißung und Schrecken. Es spricht alles dafür, dass sich die hohe Faszinationskraft, die noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert von der Odyssee ausgeht, dieser Spannung verdankt.Footnote 16
Vor diesem Hintergrund wird erklärlich, dass christliche Erzählvorlagen, in der Literatur früherer Jahrhunderte sehr einflussreich, in den hier untersuchten Heimkehrer-Texten keine hervorgehobene Rolle spielen. Ein ausgeprägter Grundzug ist, mit wenigen Ausnahmen, ihre Anti-Eschatologie. Weder bei Balzac, Keller oder Musil – um nur drei Namen zu nennen – wird die Heimkehr mit dem allegorischen Sinngehalt einer »Rückkehr in die himmlische Heimat«Footnote 17 versehen. Von dieser Option machen im 19. Jahrhundert allenfalls die Romantiker Gebrauch.Footnote 18 Narrativ ausgesponnen wird sie etwa in Joseph von Eichendorffs spätromantischer Erzählung Eine Meerfahrt (vermutlich um 1835), in der die frühchristliche Deutung der Heimkehr als einer Reise zurück ins verlassene Paradies noch einmal heraufbeschworen wird, allerdings in ironischer Brechung: Aus der Paradiesfahrt ist hier eine profane Schiffsreise über den Atlantik geworden, deren Ziel nicht die Begegnung mit Christus ist, sondern Profit. Auch das Motiv der conversio, das die »christliche Metapher der Heimkehr impliziert«Footnote 19, erscheint bei Eichendorff seines religiösen Sinnes entleert. Anstatt von einer innerlichen Umkehr handelt die Erzählung davon, wie die reisenden Abenteurer, einmal im Besitz des Goldes, der Neuen Welt den Rücken kehren und ihr Schiff zurück nach Europa wenden. Die Figur der conversio schrumpft hier zu einem formalen Element narrativer Schlussgebung zusammen.
Eichendorffs weltliche Heimkehrerzählung, die man als romantische Umschrift der zur christlichen Lebensfahrt umgeformten Brandan-Legende deuten kann,Footnote 20 nimmt insofern eine paradigmatische Stelle in der abendländischen Geschichte der Heimkehr ein, als sich in ihr bereits die Profanierung der Heimkehrmetapher auf dem Weg in die Moderne ankündigt. In den kanonischen Romanen und Erzählungen des Realismus und der Frühen Moderne jedenfalls wird die hier in Rede stehende Erzählfigur kaum mehr im christlichen Sinne verstanden. Wo diese Texte überhaupt die Paradies-Topik aufnehmen, ist der Weg ins Paradies, wie schon in Kleists Über das Marionettentheater, versperrt. Und wo sie es mit jungen Abenteurern oder Ausreißern zu tun haben, bildet das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn, wie etwa in Theodor Storms Novelle Hans und Heinz Kirch (1883), lediglich eine die scheiternde Verständigung zwischen Vater und Sohn umso schmerzlicher fühlbar machende Negativfolie.
Auch der mächtigste biblische Migrationsmythos, die alttestamentliche Geschichte vom Exodus der Israeliten, gehört eindeutig nicht zu den Heimkehrer-Protokollen, auf die sich die hier verhandelten Texte berufen.Footnote 21 Das mag zum einen daran liegen, dass das Element der ›Heimkehr‹ in das verheißene Land in der vielfältigen Rezeption der Bücher Mose nicht das entscheidende war: Das Grundmuster der Exodus-Erzählung – Überwindung eines Zustandes der Fremdbestimmtheit, für die paradigmatisch der Auszug aus der Knechtschaft Ägyptens steht, und Verheißung eines nach vielen Entbehrungen zu erreichenden Gelobten Landes – ließ sich in andere Kontexte übernehmen, ohne dass der neue Siedlungsraum ein Land der Väter sein musste. Zum anderen ließ sich das Modell des biblischen Exodus, als ein von religiösen Energien getriebener Aufbruch, zwar in den Dienst expansiver Siedlungsbewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts und der Phantasie nationaler Landnahmen stellen; es eignet sich aber nicht für die privaten Remigrantenschicksale, die den literarischen Realismus interessieren. Für die Realisten sind Fragen der Zugehörigkeit oder des Ursprungs weniger in einer – politisch instrumentalisierbaren – spirituellen Hinsicht als gewissermaßen alltagspraktisch von Belang. Ohnehin geht es ihnen nicht mehr, wie noch den Romantikern, um die Wunder der Ferne, sondern um das, was passiert, wenn man den vormaligen Wundern der Ferne den Rücken kehrt und sich dorthin zurückwendet, woher man kommt: mithin um das Soziodrama der Nähe. Ihre Erzählungen suchen Antworten auf die Frage, wo man unter den gegebenen Voraussetzungen einer in hohem Maß mobilen Moderne überhaupt noch zu Hause ist und wie man sich an einem lebensgeschichtlich relevanten Ort beheimaten kann. Wie viel Ungebundenheit und Abwesenheit sind sozial noch verträglich? Wie viel Mobilitätserfahrung lässt sich mit dem in Reaktion auf die Moderne vordringlichen Wunsch nach territorialer Festigkeit und sozialer Stasis vereinbaren? Und wie stark dürfen sich sowohl der Heimkehrer als auch die Daheimgebliebenen verändert haben, damit sich der durch die Trennung, die Erfahrung der Fremde oder schlicht die verstreichende Zeit erzeugte Riss noch schließen lässt?
Dieses Interesse an der problematischen Ankunft in der Heimat setzt die modernen literarischen Zeugnisse in einen signifikanten Kontrast zu mittelalterlichen und frühneuzeitlichen ›Reiseerzählungen‹, die das Thema der Heimkehr ebenfalls aufgreifen.Footnote 22 Auch diese Erzählungen stellen in dem Maß, in dem sie sich aus dem christlich-eschatologischen Bezugsrahmen lösen, eine »Uminterpretation der antiken Heimkehrepen« dar, insbesondere der Odyssee.Footnote 23 Sie tun dies dadurch, indem sie den Akzent von der Heimkehr auf die Ausfahrt und damit auf den ersten Teil der Reise verlegen.Footnote 24 Die modernen Bearbeitungen des Stoffes gehen, wenn man so will, den umgekehrten Weg: Sie verkürzen die Drangsale der Rückreise, von denen die Odyssee handelt, und weiten zugleich den Moment der Ankunft zu einem schier unabschließbaren Prozess. Diese Akzentverschiebung hat formale und generische Konsequenzen. Denn es ist überhaupt fraglich, ob die in diesem Heft behandelten Texte aus dem 19. und 20. Jahrhundert sich noch, wie die Odyssee, als »Reiseerzählung«Footnote 25 verstehen lassen: Mit Ausnahme der Romane Joseph Conrads findet in diesen Texten, zugespitzt formuliert, nämlich gar keine Reise mehr statt.Footnote 26 Charakteristisch für die narrative Anlage der Heimkehr-Texte zumal des deutschsprachigen Realismus ist vielmehr, dass die Ferne in diesen Texten zwar aufgesucht wird, aber kaum je zur Darstellung gelangt. Nur selten werden dem Leser die mannigfaltigen Schwierigkeiten, die der Held während der Fahrt und in der Fremde zu erdulden hat, greifbar und anschaulich vor Augen gestellt. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der Erzähler seine Figuren in vielen Fällen nicht begleitet, sondern am Ausgangsort zurückbleibt. Diese fiktive Standortgebundenheit oder, wenn man so will, ›Sesshaftigkeit‹ der Erzählinstanz hat oftmals zur Folge, dass dem Leser selbst die elementarsten Informationen über den Reisehergang und das Leben in der Ferne vorenthalten bleiben.
Anknüpfend an die von Walter Haug verwendete Unterscheidung zweier »Grundtypen« von Reise-Erzählungen: »die Reise als Ausfahrt und die Reise als Heimkehr«,Footnote 27 kann man in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts so möglicherweise die Entstehung eines neuen, näherhin: modernen, Erzählmusters von Heimkehr beobachten. Zwar ergeben sich die Schwierigkeiten, denen sich der Protagonist ausgesetzt sieht, auch hier, wie in der Odyssee, bei der Rückkehr; die Reise selbst jedoch, die in der Odyssee noch strukturbestimmend war, rückt im Vergleich zu den Herausforderungen, die den Zurückgekehrten zu Hause erwarten, in den Hintergrund. Die Vermutung drängt sich auf, dass diese Transformation damit zu tun hat, dass sich die Voraussetzungen und Bedingungen, die darüber entscheiden, ob sich eine Reise zurück an den Ausgangsort zur Heimkehr rundet, in der Moderne radikal gewandelt haben. Dies stellt die Texte nicht zuletzt vor ein technisches Problem, nämlich der Finalisierung. Wenn die Frage, ob die Rückkehr sich zur Heimkehr schließt, nicht mehr durch gewalttätige Inbesitznahme des Heimatreviers in Gestalt eines heroischen Entscheidungskampfes ausgefochten werden kann, dann bedeutet das auch, dass das Erzählen andere Wege (er)finden muss, um eine Auflösung des Heimkehrproblems herbeizuführen oder der Zyklik des Kommens und Gehens wenigstens ein vorläufiges Ende zu setzen.
Eva Eßlinger
München, im Juni 2018
Notes
An dieser Stelle möchte ich mich beim Center for Advanced Studies (CAS) für die Finanzierung des Workshops und die Bewilligung eines Fellowships im Sommer 2016 bedanken. Für die redaktionelle Unterstützung danke ich Eva Christ und Ralf Eckschmidt.
Für eine erste Annäherung an die ›Sozialfigur‹ des Heimkehrers bietet sich ein indirekter Zugriff über Georg Simmels berühmten »Exkurs über den Fremden« (1908) an sowie über die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verfasste Studie »Der Heimkehrer« (1945) von Alfred Schütz. Vgl. Bernhard Waldenfels, »Der Fremde und der Heimkehrer. Fremdheitsfiguren bei Alfred Schütz«, in: Ilja Srubar (Hrsg.), Phänomenologie und soziale Wirklichkeit. Entwicklungen und Arbeitsweisen, Opladen 2003, 175−189. Zum Heimkehrer als ›Sozialfigur‹ siehe Jörg Dürrschmidt, Rückkehr aus der Globalisierung? Der Heimkehrer als Sozialfigur der Moderne, Hamburg 2013.
Eine Ausnahme bildet der Aufsatz von Walter Haug, »Der Tag der Heimkehr. Zu einer historischen Logik der Phantasie«, in: Ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1990, 37–50, dessen Augenmerk auf der alt- und mittelhochdeutschen Epik liegt.
Zum epischen nostos bzw. zur Odyssee siehe Douglas Frame, The Myth of Return in Early Greek Epic, New Haven, London 1978 und Gregory Nagy, The Ancient Greek Hero in 24 Hours, Cambridge 2013, 275−296; vgl. die Literaturangaben in den Beiträgen von Eva Eßlinger und Susanne Gödde. Zur nostos-Tragödie gibt es erstaunlicherweise keine Monografie. In vielen Studien wird der nostos nur kursorisch erwähnt; Ausnahmen: Oliver Taplin, The Stagecraft of Aeschylus. The Dramatic Use of Exits and Entrances in Greek Tragedy, Oxford 1977, 123−127, der den Begriff des »nostos-plays« (ebd., 124) in die Dramenanalyse einführt; Karen Bassi, »Nostos, Domos, and the Architecture of the Ancient Stage«, The South Atlantic Quarterly 98/3 (1999), 415−449; Christopher Wild, »Royal Re-entries. Zum Auftritt in der griechischen Tragödie«, in: Annemarie Matzke, Ulf Otto, Jens Roselt (Hrsg.), Auftritte. Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien, Bielefeld 2015, 33–61; Juliane Vogel, Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche, Paderborn 2018, bes. 169−172; summarisch: Edith Hall, Greek Tragedy. Suffering under the Sun, Oxford 2010, bes. 126−137.
Zur Heimkehr als Narrativ der Nachkriegszeit siehe Elena Agazzi, Erhard Schütz (Hrsg.), Heimkehr: Eine zentrale Kategorie der Nachkriegszeit. Geschichte, Literatur und Medien, Berlin 2010; Sünne Juterczenka, Kai Marcel Sicks (Hrsg.), Figurationen der Heimkehr. Die Passage vom Fremden zum Eigenen in Geschichte und Literatur der Neuzeit, Göttingen 2011; Ralf Trinks, Zwischen Ende und Anfang. Die Heimkehrerdramatik der ersten Nachkriegsjahre (1945–1949), Würzburg 2002 sowie Jonas Nesselhauf, Der ewige Albtraum. Zur Figur des Kriegsheimkehrers in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Paderborn 2018. Zur Exil- und Emigrationsliteratur siehe Rose Duroux, Alain Montandon (Hrsg.), L̕ Émigration: le retour, Clermont-Ferrand 1999 sowie Jang-Weon Seo, Die Darstellung der Rückkehr. Remigration in ausgewählten Autobiographien deutscher Exilautoren, Würzburg 2004. Zur Diaspora: Evangelia Kindinger, Homebound: Diaspora Spaces and Selves in Greek American Return Narratives, Heidelberg 2015; Marianne Hirsch, Nancy K. Miller (Hrsg.), Rites of Return. Diaspora Poetics and the Politics of Memory, New York 2011.
Ausführlicher hierzu: Michael Harbsmeier, »Spontaneous Ethnographies. Towards a Social History of Travelers’ Tales«, Studies in Travel Writing 1 (1997), 216–238.
Vgl. den Abschnitt über »Reisen ins Ausland« und die »Funktion der Beobachter« in: Plato, Nomoi, in: Ders., Sämtliche Werke in zehn Bänden, hrsg. Karlheinz Hülser, Frankfurt a. M. 1991, 971–977.
Siehe Eva Eßlinger, »Anabasis. Anmerkungen zu Gottfried Kellers Legionärsnovelle ›Pankraz, der Schmoller‹«, in: Michael Neumann u.a. (Hrsg.), Modernisierung und Reserve. Zur Aktualität des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 2017, 118–137.
Die Rückkehr der Gewalt ist nicht nur ein bestimmendes Thema und Strukturelement der Odyssee, sondern auch der antiken griechischen Tragödie; vgl. die Beobachtung von René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a. M. 1994, 66: »Der heimkehrende Krieger läuft Gefahr, die Gewalt, die ihn durchdrungen hat, ins Innere der Gemeinschaft einzubringen.« Diesen Hinweis verdanke ich der Lektüre von David E. Wellbery, »Kleists Poetik der Intensität«, in: Hans Ulrich Gumbrecht, Friederike Knüpling (Hrsg.), Kleist Revisited, München 2014, 27–45. Wellbery zeigt, wie noch in Kleists Dramatik die mit dem Helden heimkehrende Gewalt sowohl ein Problem als auch einen »Faszinationskern« (ebd., 36f.) darstellt. In Alkmenes Schilderung ihrer Begegnung mit Amphitryon/Jupiter in Kleists Amphitryon etwa würde sich die »erotische Energie des ins Göttliche verzeichneten Bildes [des Geliebten]« teilweise »aus dem Glanz des siegreichen, vom Blut der Geschlachteten noch triefenden Kämpfers« speisen (ebd., 37). – Auch die germanische Heimkehrsage kreist um das Motiv der Gewalt, vgl. Walter Haug, »Von der Schwierigkeit heimzukehren. Die Walthersage in ihrem motivgeschichtlichen und literaturanthropologischen Kontext«, in: Burkhardt Krause (Hrsg.), Verstehen durch Vernunft. Festschrift für Werner Hoffmann, Wien 1997, 129-144 sowie Ders., »Die Grausamkeit der Heldensage. Neue gattungsgeschichtliche Überlegungen zur heroischen Heldensage«, in: Ders. (Hrsg.), Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995, 72–90, bes. 79–81.
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 2006, 90.
Blumenberg (Anm. 10), 86 (zur Odyssee).
Vgl. Blumenberg (Anm. 10), 87, 90, 92f. u. 98f. (zu Dante, Joyce und Freud).
Peter Sloterdijk, Was geschah im 20. Jahrhundert?, Berlin 2016, 258.
Sloterdijk (Anm. 13), 255.
Zum ›offenen‹ Ende der Odyssee siehe Jonas Grethlein, Die Odyssee. Homer und die Kunst des Erzählens, München 2017, bes. 243–269.
Zur Ambivalenz der Heimkehr bei Homer vgl. Bassi (Anm. 4), 415–417, die darauf hinweist, dass der epische Held die Heimkehr zugleich begehrt und fürchtet, weil er weiß, dass er nur fern von Zuhause, auf dem Schlachtfeld, zu Ruhm gelangen kann.
Walter Haug, »Brandans Meerfahrt und das Buch der Wunder Gottes«, in: Ders., Positivierung von Negativität. Letzte kleine Schriften, hrsg. Ulrich Barton, Tübingen 2008, 412–429, hier: 412.
Ausführlicher siehe Dieter Arendt, »Heimkehr – wohin? Wandlungen eines literarischen Motivs«, Hochland 60 (1967/68), 448–462; vgl. auch die Studie von Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt a. M. 1990, bes. 185ff.
Haug (Anm. 3), 44.
Zur Brandan-Legende als Heimkehr-Legende siehe Haug (Anm. 17).
Zum Protokoll-Begriff siehe Vogel (Anm. 4).
Zur Heimkehr als Element der deutschen Heldensage siehe Haug (Anm. 3).
Haug (Anm. 3), 44.
Haug zufolge kommt es im 12. Jahrhundert zu einer einschneidenden »Verschiebung der Blickrichtung«: »An die Stelle der Heimkehr aus der Welt als der Fremde in die Heimat des Paradieses tritt nun die Ausfahrt in die Fremde dieser Welt, und zwar im positiven Sinn, im Sinn einer Bewältigung des Diesseits.« Haug (Anm. 3), 48f. Prägend für diesen Bedeutungswandel sei der Alexanderroman, den Haug in einem anderen Aufsatz (siehe Anm. 17) als Gegenmodell zur Odyssee in Stellung bringt. Bei beiden Texten handle es sich um »Reiseerzählungen« (Haug [Anm. 17], 412) im weitesten Sinne. Bei genauerer Hinsicht zeige sich jedoch, dass man es mit »zwei Grundtypen« (ebd.) zu tun hat, die entweder die eine oder die andere Phase der Reise – also Ausfahrt oder Rückkehr – akzentuieren: »Narrativ stellt sich dies konkret so dar, daß die Mühen und Schwierigkeiten, die von den Reisenden zu bewältigen sind, entweder auf dem Weg zum Ziel liegen oder aber als Hindernisse bei der Rückkehr erscheinen.« (ebd.) In der Odyssee, die Haug als »Musterfall« (ebd.) einer Heimkehrerzählung bezeichnet, liege »das Schwergewicht auf dem Rückweg« (ebd.); im Alexanderroman hingegen konzentriere sich das Erzählen fast vollständig auf die während der Fahrt zu bewältigenden Schwierigkeiten. Von der eigentlichen Heimkehr sei hier nur »relativ kurz« (ebd.) die Rede. Die Akzentuierung der Ausfahrt gegenüber der Heimkehr führe schließlich zu einem neuen Bewegungs- und Erzählmuster, deren »Ziel nicht mehr in einer jenseits dieser Bewegung liegenden konkreten Heimat« liegt, so Walter Haug in seinem Aufsatz »Der Tag der Heimkehr« (vgl. Anm. 3): »Ausfahrt und Heimkehr realisieren sich [nunmehr] als ein Prozeß, der als Funktion des Zielpunktes verstanden wird. Die neuen Zielpunkte erscheinen episch als exzeptionelle Grenzpunkte, die nicht zu halten sind; das höfische Fest des Artusromans ebensowenig wie die Minnegrotte im ›Tristan‹.« Haug (Anm. 3), 49. – Zur typologischen Umdeutung der Odyssee in der Patristik siehe die Studie von Henrike Maria Zilling, Jesus als Held. Odysseus und Herakles als Vorbilder christlicher Heldentypologie, Paderborn 2011, bes. Kapitel II (»Odysseus am Mast« sowie »Der Mastbaum des Kreuzes. Odysseus in der Theologie«; 79–117).
Haug (Anm. 17), 412.
Vgl. Sebastian Susteck, »Amerika findet nicht statt. Zur realistischen Poetik Amerikas und Berthold Auerbachs Lehrgeschichte ›Neues Leben‹«, Euphorion 102 (2008), 163–186.
Haug (Anm. 17), 412.
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Eßlinger, E. Vorwort. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 92, 119–126 (2018). https://doi.org/10.1007/s41245-018-0063-5
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