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Martin Heideggers Hölderlin-Lesungen – im Zeichen von Norbert von Hellingrath und Stefan George

Martin Heidegger’s Hölderlin recitations – inspired by Norbert von Hellingrath and Stefan George

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Martin Heidegger hat Anfang der 1960er Jahre 10 Gedichte Hölderlins für eine Sprechschallplatte des Günther Neske-Verlags in Pfullingen eingesprochen. Die insgesamt rund 50 Minuten dauernde Langspiel-Schallplatte wurde seit 1964 gewerblich vertrieben. Was hat einen Philosophen dazu bewogen, hinter dem Dichter zurückzutreten, um nur noch dessen Sprachrohr zu sein? Heidegger knüpfte mit seinem Hölderlin-Verständnis an Norbert von Hellingraths Auffassung vom Dichterpropheten und der Dichtung als heiligem Wort an. Seine rhythmischen Rezitationen in monoton psalmodierendem Stil leiten sich vortragsgeschichtlich von Hellingrath und der George-Schule her.

Abstract

Martin Heidegger recited 10 poems by Hölderlin for a speech recording made by the Günther Neske-Verlag/Pfullingen in the early 1960s. These recitations, which last 50 minutes, were published on a commercial long-play vinyl record in 1964. What led the philosopher to step back behind the poet as his voice? Heidegger followed Norbert von Hellingrath in reading Hölderlin as a poet-prophet and his verses as holy words. His rhythmic recitations in a monotonous and chanting style derive from Hellingrath and the school of Stefan George.

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Notes

  1. Vgl. Hans-Georg Gadamer, »Hölderlin und George«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd.9: Ästhetik und Poetik, Bd.2, Tübingen 1993, 229-244; Jürgen Brokoff, Joachim Jacob, Marcel Lepper (Hrsg.), Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne, Göttingen 2014.

  2. Vgl. zu Benjamins Hellingrath-Rezeption Uwe Steiner, Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst. Untersuchungen zum Begriff der Kritik in den frühen Schriften Walter Benjamins, Würzburg 1989, 91-167; zu Carl Schmitt vgl. Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt a. M. 2000, 111-113.

  3. Martin Heidegger, »Hölderlins Hymnen ›Germanien‹ und ›Der Rhein‹«, Freiburger Vorlesung Wintersemester 1934/35, hrsg. Susanne Ziegler, Gesamtausgabe, II. Abt., Bd. 39, Frankfurt a. M. 1980, 9.

  4. Martin Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 4, hrsg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1981, 33.

  5. Klaus E. Bohnenkamp (Hrsg.), Rainer Maria Rilke und Norbert von Hellingrath: Briefe und Dokumente, Göttingen 2008, 186; vgl. Martin Heidegger – Imma von Bodmershof, Briefwechsel 1959-1976, hrsg. Bruno Pieger, Stuttgart 2000, 16f.; Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 12, Frankfurt a. M. 1985, 172.

  6. Heidegger (Anm. 4), 152.

  7. Martin Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910-1976, hrsg. Hermann Heidegger, Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 16, Frankfurt a. M. 2000, 749. – Auch die Textauszüge bestimmte Heidegger im Vorhinein, ebd.; vgl. Elfriede Heideggers Brief an Imma von Bodmershof vom 18. Juni 1976, in: Heidegger/von Bodmershof (Anm. 5), 152-155.

  8. Vgl. auch Heideggers Brief an Imma von Bodmershof vom 10.12.1966: Er sehe »die große, aber schwierige Aufgabe vor sich, Norberts Werk in seiner geschichtlichen, das heißt jetzt vorausweisenden Einzigartigkeit gegenüber der literarisch-technischen Edition der Werke Hölderlins – der Stuttgarter Ausgabe – abzuheben. Dies in einer Zeit, da die Stimme des Dichters wieder unerhörbar geworden ist im Lärm des bloßen Literaturbetriebes und der Machenschaften der Industriegesellschaft.« Heidegger/von Bodmershof (Anm. 5), 84f.; vgl. auch Heideggers Brief an Imma von Bodmershof vom 12.7.1975, ebd., 132-134.

  9. Heidegger (Anm. 3), 221f.

  10. Aus: »Aber in Hütten wohnet der Mensch«, Prosafragment, in: Hölderlins Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, begonnen durch Norbert von Hellingrath, hrsg. Friedrich Seebass und Ludwig von Pigenot, Bd. 4, 3. Auflage, Berlin 1943, 246.

  11. Ebd., 70.

  12. Vgl. Max Kommerells Brief an Heidegger vom 29.7.1942, in: Max Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen 1919-1944, hrsg. Inge Jens, Freiburg im Breisgau 1967, 396-402, hier: 399.

  13. Vgl. Norbert von Hellingrath, »Zwei Vorträge: Hölderlin und die Deutschen; Hölderlins Wahnsinn«, in: Hölderlin-Vermächtnis, hrsg. Ludwig von Pigenot, 2. Auflage, München 1944, 116-184.

  14. Von Hellingrath, Hölderlin und die Deutschen (Anm. 13), 132.

  15. Norbert von Hellingrath, »Vorrede« zu Band I der Historisch-Kritischen Ausgabe, in: Hölderlin-Vermächtnis (Anm. 13), 106.

  16. Heidegger (Anm. 3), 28.

  17. Ebd., 31, 29 (mit Bezug auf die Etymologie des griech. Deíkumi = Dichten).

  18. Ebd., 30f.

  19. Vgl. Martin Heidegger, »Vorträge – Gedachtes«, hrsg. Paola-Ludovika Coriando, in: Gesamtausgabe, III. Abt., Bd. 81, Frankfurt a. M. 2007, 137.

  20. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd.1: Gedichte, hrsg. Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1992, 238. – Diese Verse verwendete auch Stefan George als Motto für sein »Hyperion«-Gedicht in Das neue Reich: »Dem sehnenden war der wink genug. Und winke sind von alters her die sprache der götter.« Stefan George, Das Neue Reich, in: Ders., Sämtliche Werke in 18 Bänden, IX, Stuttgart 2001, 12.

  21. Heidegger (Anm. 3), 32.

  22. Ebd., 33.

  23. Ebd., 31.

  24. Ebd., 33.

  25. Dieter Henrich hat diese Eskamotierung der Subjektivität aus Hölderlins Dichtungen scharf zurückgewiesen: »Ein Denken, das meint, dem, was es ›das Seyn‹ nennt, nur entsprechen zu können, wenn es die Bewegungen der Subjektivität zuvor als selbstbezogene Seinsvergessenheit decouvriert hat, gehört, geschichtlich gesehen, zu den kurzschlüssigen Angriffen auf die Grunderfahrungen, aus denen sowohl die Lebenswelt der Deutschen wie auch die Grundgedanken der klassischen deutschen Philosophie hervorgegangen sind.« Dieter Henrich, Der Gang des Andenkens. Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht, Stuttgart 1987, 190f.

  26. Vgl. Heidegger (Anm. 3), 100.

  27. Ebd.

  28. Ebd., 14f.

  29. Ebd., 40. – Vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, hrsg. Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1994, 855. Vgl. in gleichem Sinne auch Hölderlins Aphorismus zu den Inversionen, ebd., 519.

  30. Heidegger (Anm. 3), 46.

  31. Ebd., 45, 47.

  32. Norbert von Hellingrath, »Hölderlins Pindar-Übertragungen«, in: Hölderlin-Vermächtnis (Anm. 13), 19-95, hier: 30.

  33. Ohne es an dieser Stelle auszusprechen, rekurriert Heidegger dabei auch auf eigene Erfahrungen mit Hölderlins Dichtungen bei der ersten Begegnung vor dem Ersten Weltkrieg. Die späten, erstmals von Hellingrath herausgegebenen Hymnen und Pindar-Übertragungen hätten um 1914 »auf uns Studenten wie ein Erdbeben« gewirkt, schrieb er Jahrzehnte später. Heidegger, Unterwegs zur Sprache (Anm. 5), 172.

  34. Heidegger (Anm. 3), 19.

  35. Heidegger beruft sich dabei auf Hölderlins eigene Überlegungen, etwa über den Gesang im Leben und Sterben der Völker: »Meist haben sich Dichter zu Anfang oder zu Ende einer Weltperiode gebildet. Mit Gesang steigen die Völker aus dem Himmel ihrer Kindheit ins thätige Leben, ins Land der Cultur. Mit Gesang kehren sie von da zurük ins ursprüngliche Leben. Die Kunst ist der Übergang aus der Natur zur Bildung und aus der Bildung zur Natur.« Friedrich Hölderlin, Werke und Gesammelte Briefe, Bd. 3, 522, zitiert in: Heidegger (Anm. 3), 20. – Heidegger schließt daran an, wenn er eine Synergie von Dichter, Denker und Staatsschöpfer behauptet. Seine Hoffnung ist, dass »die Mächte der Dichtung, des Denkens, des Staatsschaffens« – also vermutlich Hölderlin, Heidegger und Hitler – einmal zusammen kommen, damit etwas geschaffen wird, »dem allein wir Größe zumessen können«. Ebd., 144.

  36. »Diese scheinbare Prosa des ganzen Gedichtes [von Hölderlin] ist dichterischer als das glatteste Versgehüpfe und Reimgeklingel eines Goethischen Liedes oder eines anderen Singsangs.« Heidegger (Anm. 3), 16. – Hugo von Hofmannsthal sollte Hellingrath widersprechen, indem er den Unterschied zwischen harter (oder wie er sagte ›rauher‹) und glatter Fügung im Hinblick auf Goethes und Hölderlins Dichtungen relativierte: »Die ›glatte‹ und ›rauhe‹ Fügung vermögen in dieser Region [der Sprachkunst] kaum mehr unterschieden zu werden, alles was dem Bereich der poetischen Rhetorik angehört, bleibt weit zurück [...]« Hugo von Hofmannsthal, »Wert und Ehre deutscher Sprache«, in: Reden und Aufsätze III, in: Ders., Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hrsg. Bernd Schoeller u. a., Frankfurt a. M. 1980, 130.

  37. Heidegger (Anm. 3), 46.

  38. Nach Gadamer kann man Hölderlins Verse nicht in der Manier der George-Schule laut »hersagen«, sondern nur still für sich »hinsagen«, vgl. Gadamer (Anm. 1), 236.

  39. Schauspieler und Rezitationskünstler wie Hermine Körner, Paul Hartmann, Mathias Wieman, Karl Barckmann, Theamaria Lenz und Friedel Hintze nahmen Hölderlin-Texte während der 12 Jahre der Hitler-Diktatur in ihre Rezitationsabende auf und fanden damit große Aufmerksamkeit in der Tagespresse (vgl. die Dokumentation zeitgenössischer Zeitungsartikel im Stuttgarter Hölderlin-Archiv).

  40. »Sagen und Sagen ist nicht dasselbe. Ein Gedicht nachsprechen und sogar auswendig hersagen können, heißt noch nicht, die Dichtung dichterisch mitsagen. So werden wir gut daran tun, das Gedicht »Germanien« noch einmal und noch öfter zu sagen.« Heidegger (Anm. 3), 42. »Dieses Sagen [des Dichters] ist nur mitzusagen aus der Haltung des ursprünglichen Hörens und umgekehrt.« Ebd., 203.

  41. Ebd., 200. – »Ils ont des oreilles pour ne point entendre«, so formulierte der Psychoanalytiker Jacques Lacan, der Heideggers Logos-Aufsatz übersetzte, und verband diesen Gedanken mit Freuds Konzeption der Verdrängung des Unbewussten und der Paranoia, vgl. Jacques Lacan, Le Séminaire, Livre III: Les Psychoses 1955-1956, hrsg. Jacques-Alain Miller, Paris 1981, 128. Eine ähnliche Formel findet sich bereits bei Marcel Proust, A la recherche du temps perdu, hrsg. Jean-Yves Tadiés, Bd. 3, Paris 1988, 775, 784.

  42. Heidegger (Anm. 3), 199.

  43. Ebd., 201f.

  44. Ebd., 202.

  45. Ebd., 203.

  46. Ebd., 101.

  47. Heidegger (Anm. 4), 66. Scheinbar kann sich Heidegger dabei auf Hölderlin selber beziehen, auf Verse wie: »Viel hat von Morgen an,/Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,/Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang« (»Friedensfeier«, Verse 91-94, in: Sämtliche Werke und Briefe [Anm. 20], Bd. 1, 341).

  48. »Zuletzt ist aber doch, ihr heiligen Mächte, für euch

    Das Liebeszeichen, das Zeugnis

    Daß ihrs noch seiet, der Festtag,

    Der Allversammelnde, wo Himmlische nicht

    Im Wunder offenbar, noch ungesehen im Wetter,

    Wo aber bei Gesang gastfreundlich untereinander

    In Chören gegenwärtig, eine heilige Zahl

    Die Seligen in jeglicher Weise

    Beisammen sind, und ihr Geliebtestes auch,

    An dem sie hängen, nicht fehlt [...]« »Friedensfeier«, Verse 101-109, in: Sämtliche Werke und Briefe (Anm. 20), Bd. 1, 342.

  49. Martin Heidegger, »Das abendländische Gespräch« (1946/1948), in: Zu Hölderlin/Griechenlandreisen, Gesamtausgabe, III. Abt., Bd. 75, Frankfurt a. M. 2000, 65.

  50. Ebd., 81.

  51. Der ältere Denker meint in Heideggers »Abendländischem Gespräch«: »Das Deuten [...] besteht dann darin, den Grundton des Anklangs zu hören, auf diesen Grundton alles Sagen zu stimmen, damit es ein Singen werde.« Worauf der jüngere antwortet: »Das fügliche, dem Anklang fügsame Deuten vertont dann eigentlich die Sprache des Gedichtes in den Grundton des Anklangs seiner Dichtung. – Ohne daß dies Vertonen der Musik im engeren Sinne bedurfte.« Ebd., 69.

  52. Vgl. Wolfgang Braungart, Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997, 154-175.

  53. Heidegger, Unterwegs zur Sprache (Anm. 5), 34.

  54. Auf weißem Grund ist im oberen linken Viereck der Schutzhülle der Titel »Martin Heidegger liest Hölderlin« gedruckt (wobei der Name Martin mit einfacher und Heidegger mit doppelter feiner roter Linie diskret unterstrichen sind), im unteren rechten Viereck die Titel der zehn Gedichte und im oberen rechten der golden verschnörkelte Schriftzug des Neske-Verlags – ein aparter Kontrast zwischen Nüchternheit und bibliophiler Buchkultur, wie er für die Gestaltung der Covers der literarischen Sprechschallplatten im Neske-Verlag üblich war. (Der Verlag G. Neske veröffentlichte Anfang der 1960er Jahre auch Lyrik-Lesungen deutscher Autoren [u. a. von Paul Celan, Ingeborg Bachmann und Helmut Heißenbüttel] auf Sprechschallplatte.) Auf der Rückseite dann Hinweise auf zwei weitere Langspielplatten mit Heideggers Vorträgen zu Hölderlin (»Der Satz der Identität« und »Hölderlins Erde und Himmel«). Der Preis für eine LP belief sich auf DM 28,-, ein für damalige Verhältnisse stattlicher Preis. – Der Klett-Cotta-Verlag brachte inzwischen eine digitale Version auf Audio-CD heraus.

  55. Der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt gratulierte Günther Neske zu diesem Unternehmen und schrieb: »Stellen Sie sich vor, was es für uns heute bedeuten könnte, wenn wir die Stimme Platos hätten, oder was würden wir darum geben, wenn wir Kant, Hegel oder Nietzsche sprechen hören könnten.« Günther Neske, »Nachwort des Herausgebers«, in: Ders. (Hrsg.), Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen 1977, 293-302, hier: 300f.

  56. Der gesprochene Text weicht leicht von dem gedruckten ab, vgl. »Vorwort zur Lesung von Hölderlins Gedichten«, in: Heidegger (Anm. 4), 195-198.

  57. Für seine Lesungen legt Heidegger jeweils die im 4. Band von Hellingraths Historisch-kritischer Ausgabe dargebotenen Texte zugrunde.

  58. Hölderlin in einem Brief an Casimir Ulrich Böhlendorff vom 4.12.1801, in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd.3, hrsg. Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1992, 459f. (Deutscher Klassiker-Verlag).

  59. Vgl. Bernhard Böschenstein, »Hölderlin als Gegenstimme zu Heidegger«, in: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 41/42 (2012), 52-61.

  60. Vgl. § 34 von Sein und Zeit, wo Heidegger das Phänomen des Tonfalls analysiert: »Der sprachliche Index der zur Rede gehörenden Bekundung des befindlichen In-Seins liegt im Tonfall, der Modulation, im Tempo der Rede, in der ›Art des Sprechens‹.« Martin Heidegger, Sein und Zeit, Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 2, Frankfurt a. M. 1976, 216. – Mit einem der nächsten Sätze bewegt sich Heidegger schon in die Nähe seines späteren Begriffs der »Grundstimmung«: »Die Mitteilung der existenzialen Möglichkeiten der Befindlichkeit, das heißt das Erschließen von Existenz, kann eigenes Ziel der ›dichtenden‹ Rede werden.« Ebd. – Vgl. David Wellbery, »Stimmung«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart, Weimar 2003, 703-733, hier: 724-730.

  61. Heidegger beruft sich auf einige späte Verse von Hölderlin, die er bereits im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1951), 7 zitiert hatte:

    »Von wegen geringer Dinge

    Verstimmt wie vom Schnee war

    Die Glocke, womit

    Man läutet

    Zum Abendessen.« (Friedrich Hölderlin, »Entwurf zu Kolomb«, nach Norbert von Hellingraths Hölderlin-Ausgabe, Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 4, besorgt durch Norbert v. Hellingrath, 3. Auflage, Berlin 1943, 395). Vgl. zum Bild einer durch Schnee verstimmten Glocke Kathleen Wright, »Gewaltsame Lektüre deutungsloser Zeichen. Heidegger liest Hölderlins ›Andenken‹«, in: Aleida Assmann (Hrsg.), Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1996, 229-246, hier: 242f.

  62. Kommerell (Anm. 12), 378.

  63. Vgl. Alexander Kisslers Beschreibung einer Hör-Edition mit Ansprachen und Reden von Heidegger, in: Alexander Kissler, »Sprung ins Denken. Mit Umweg: Martin Heideggers Vorträge und Reden«, in: Süddeutsche Zeitung, 10. März 2010: »Zu hören ist Heidegger also zwischen seinem 62. und 79. Lebensjahr. Durchgehend hat die keineswegs tiefe Stimme einen fliehenden Zug, sie flattert an den Enden und bei den kurzen, hervorgestoßenen Adverbien, findet Halt im allemannisch-kehligen ›r‹ und am wiederkehrend eingestreuten Gegenwartsbezug. Energisch wird die Stimme dann, die Laute kommen rascher: ›Zuviel gehandelt und zu wenig gedacht‹ werde leider, der ›Lärm der Apparate‹ mache die heutigen Menschen ›zerstreut und weglos‹. Schnell liest Heidegger nicht. Litaneihaft trägt er vor, die Mittellage kaum verlassend, sehr weich in den Zischlauten, doch mit exakten Pausen und sehr klarer Artikulation: ein Fluss, der beharrlich fließt, nicht murmelt und nicht schäumt. In den singenden Sang mischen sich im Rathaus zu Meßkirch Schläge vom Kirchturm und brummende Autos und knatternde Mofas. Die Takte folgen prompt schneller aufeinander; sind die Störquellen verschwunden, beruhigt sich die Rede sofort. Heidegger war, wie er im Gespräch mit Richard Wisser bekräftigt, kein Gegner der Technik, wollte sie jedoch verstehen und wurde so zu deren Kritiker.«

  64. Besuchern wie Max Kommerell konnte Heideggers Stimme in den 1940er Jahren durchaus ein anderes Gesicht zuwenden: »Er unterhielt sich mit der etwas dünnen, nicht tiefen, aber weichen und klangvollen Stimme, die besonders wenn sie sich in Murmeln verschleiert, etwas Menschenfängerisches hat, mit mir über allerlei [...]« Max Kommerell, »An Erika [Aufzeichnungen eines Besuchs in Todtnauberg, August 1941]«, in: Ders. (Anm. 12), 377-384, hier: 383.

  65. Unverkennbar ist freilich eine gewisse Neigung Heideggers, Satzschlüsse innerhalb der Verse durch Pausen zu markieren, die länger sind als die Pausen an Vers-Schlüssen, die häufig sogar überlesen werden –, wenn man will eine Tendenz zur Prosaisierung der Verse.

  66. Hölderlins Verse zu verstehen, setze voraus, »daß man die Fähigkeit habe, ein Gedicht als rhythmisches Gesamtgebilde, nicht nur seinem begrifflichen Inhalt nach zu erfassen, eine Fähigkeit, für deren Ausbildung man nur immer wieder auf das Lesen der griechischen Dichter verweisen kann«. Norbert von Hellingrath, »Vorrede zum 4. Band der Historisch-Kritischen Ausgabe«, zitiert nach: Ders., Hölderlin-Vermächtnis (Anm. 13), 107.

  67. Allerdings dürfte Heidegger Boehringers Aufnahme nicht gekannt haben. Die 1959 in einem Basler Tonstudio gemachte Aufnahme wurde erst 1965 auf Schallplatte gepresst und an ausgewählte Empfänger des George-Kreises versandt, zu denen Heidegger nicht gehörte. Ein Exemplar dieser Schallplatte wird im Stuttgarter Stefan George-Archiv aufbewahrt.

  68. Ein interessantes Schlaglicht auf diese vortragsgeschichtliche Konstellation findet sich in einem Brief von Theodor W. Adorno an die Vortragskünstlerin und Sprecherzieherin Vilma Mönckeberg-Kollmar, die für die Hölderlin-Gesellschaft Anfang der 1960er Jahre den »Archipelagus« eingesprochen hatte. In einem persönlichen Schreiben aus dem Jahr 1963, als er den Hauptvortrag bei der Jahresversammlung der Friedrich Hölderlin-Gesellschaft in Berlin hielt, rühmte Adorno, dass Mönckeberg-Kollmars »Sprechweise nicht den leisesten Anklang an die georgesche Manier verriet, die gerade Hölderlin zu monopolisieren drohte«. Theodor W. Adorno an V. Mönckeberg-Kollmar am 10.6.1963, zitiert nach: Begleittext der Schallplatte Hölderlin: Der Archipelagus, gelesen von Vilma Mönckeberg-Kollmar, hrsg. von der Hölderlin-Gesellschaft Tübingen 1978. Offenbar stand Adorno unter dem Eindruck einer psalmodierenden Sprechweise von Hölderlinversen durch George-Anhänger, was ihn zur Annahme verleitete, diese Vortragsweise sei die dominierende geworden –, was aufgrund der vorliegenden Dokumente und Aufnahmen heute nicht mehr nachvollziehbar ist. Entweder hatte Adorno noch Vorlesepraktiken in privaten Freundeskreisen im Ohr, oder aber er zielte auf Heideggers Hölderlin-Lesungen (die freilich auf Schallplatte erst im Jahr darauf herauskamen). War dies das versteckte Motiv seines Ingrimms gegenüber einer ›Monopolisierung‹ von Hölderlin durch die George-Schule? Dass Adorno auch gewichtige ästhetische Gründe für seine Opposition gegen die georgesche Manier in der Hölderlin-Rezitation hatte, steht auf einem anderen Blatt.

  69. Etwa in »Die Friedensfeier« liest Heidegger: »Bald sind Gesang wir aber«, während es bei Hölderlin heißt: »Bald sind wir aber Gesang« (Vers 93). In Vers 13 von »Heimkunft« lässt er die Verbphrase »und schaut« einfach aus usw.

  70. »Eine Erörterung des Gedichtes kann vor allem nie das Hören der Dichtungen ersetzen, nicht einmal leiten. Die denkende Erörterung kann das Hören höchstens fragwürdig und im günstigsten Fall besinnlicher machen.« Martin Heidegger, »Die Sprache im Gedicht. Eine Erörterung von Georg Trakls Gedicht«, in: Ders., Unterwegs zur Sprache (Anm. 5), 31–78, hier: 35. – Anlässlich eines Vortrags, in dessen Zentrum Stefan Georges Gedicht »Das Wort« (aus: Das Neue Reich) stand, sagte Heidegger: »Damit wir diesem Denkwürdigen, wie es sich dem Dichten zusagt, auf eine gemäße Weise nach- und vordenken, überlassen wir alles jetzt Gesagte einer Vergessenheit. Wir hören das Gedicht. Wir werden jetzt noch nachdenklicher im Hinblick auf die Möglichkeit, daß wir uns im Hören um so leichter verhören, je einfacher das Gedicht in der Weise des Liedes singt.« Martin Heidegger, »Das Wort« [1958], in: Ders., Unterwegs zur Sprache (Anm. 5), 205-258, hier: 238.

  71. Martin Heideggers Brief an Imma von Bodmershof vom 10.12.1966, in: Heidegger/von Bodmershof (Anm. 5), 84f.

  72. Zitiert nach Wright (Anm. 61), 229.

  73. Die Publikation seiner Vers-Dichtungen im Rahmen der Gesammelten Werke (Martin Heidegger: Gedachtes, 2007) zeigt, dass Heidegger in seiner Jugend und dann von 1945 an bis zum Lebensende fast unermüdlich Verse geschrieben und nicht wenige davon auch zu Lebzeiten publiziert hat.

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Meyer-Kalkus, R. Martin Heideggers Hölderlin-Lesungen – im Zeichen von Norbert von Hellingrath und Stefan George. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 91, 188–202 (2017). https://doi.org/10.1007/s41245-017-0036-0

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