I.

Zum deutschen Geschichtsdrama sind in jüngerer Vergangenheit umfangreiche Studien erschienen, welche die auf Friedrich Sengles Arbeit von 1952 beruhende, lange Zeit bestimmende Gattungskonzeption erweitert und korrigiert haben.Footnote 1 Im Gefolge Sengles hatte man die Geschichte des Geschichtsdramas in Deutschland mit Goethes Götz von Berlichingen beginnen lassen und dies unter anderem mit dem Aufkommen eines modernen Geschichtsbewusstseins im späten 18. Jahrhundert begründet.Footnote 2 Dramen vom Humanismus bis in die Aufklärung wurden entweder nicht ins Blickfeld genommen oder sogar explizit ausgeklammert, indem argumentiert wurde, die Dramatiker jener Epochen hätten zwar häufig auf historisches Material zurückgegriffen, dieses aber nicht eigentlich gedeutet.Footnote 3 In jüngerer Zeit wurde gesehen, dass eine solche Abgrenzung nur theoretisch möglich ist. In der Praxis setzt jede produktive Auseinandersetzung mit einem historischen Stoff eine Deutung voraus, jede dramatische Bearbeitung ist zugleich eine Aussage über das historische Ereignis, auf das sie sich bezieht.Footnote 4 Auf dieser Grundlage wurde die Geschichte der Gattung bis ins späte 15. Jahrhundert zurück aufgearbeitet. Insbesondere Dirk Niefangers Studie von 2005 hat für erhebliche Fortschritte gesorgt.

Wenig Beachtung geschenkt wurde aber bis in die Gegenwart dem lateinischen Geschichtsdrama der Jesuiten, und das obwohl sich (weltliche) historische Sujets in den letzten Jahrzehnten vor der Aufhebung des Ordens 1773 zu einem der führenden inhaltlichen Paradigmen auf den Ordensbühnen entwickelten.Footnote 5 Ursache dafür ist wohl, dass sich das Jesuitentheater bis zuletzt fast ausschließlich der lateinischen Sprache bediente. Das neulateinische Drama des 18. Jahrhunderts hat in der germanistischen Forschung bekanntlich im Allgemeinen einen schweren Stand. Für die Barockgermanistik ist es zu jung, für die Aufklärungsforschung, in der häufig eine teleologische, auf die deutsche Klassik gerichtete literaturhistorische Perspektive vorherrschend war, ist das an sein Ende kommende Erbe des lateinischen Humanismus offenbar wenig attraktiv. Dazu kommt eine (tendenziell größer werdende) sprachliche Hürde, die viele Germanisten abschrecken dürfte. Die Folge ist eine oftmals unscharfe Darstellung des historischen literarischen Feldes, zumal im Bereich des Dramas. Der Umstand, dass in den deutschsprachigen Gebieten noch bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts ein großer Anteil der Theateraufführungen in lateinischer Sprache erfolgte,Footnote 6 wird in Überblicksdarstellungen – wenn überhaupt – beiläufig erwähnt, und kaum jemals eingehend behandelt.

In diesem Aufsatz soll am Beispiel der historischen Dramen des Jesuiten Anton Claus ein repräsentatives Segment der lateinischen Dramenproduktion dieser Zeit vorgestellt werden.Footnote 7 Die literarhistorische Relevanz, welche die neulateinische Literatur bis in die Aufklärungszeit herauf beanspruchen kann, wird veranschaulicht, indem gezeigt wird, dass im Bereich des jesuitischen Dramas noch in dieser Zeit Werke von beachtenswerter literarischer Qualität und theoretischer Grundierung entstanden sind. Nicht vertieft werden soll die Gattungsdiskussion; es genügt, drei Aspekte zu benennen, die es erlauben, die im Folgenden behandelten, ein halbes Jahrhundert vor Goethes Götz entstandenen Stücke der Gattung ›Geschichtsdrama‹ zuzuordnen: (1) Claus legte Dramen »mit geschichtlichem, dokumentarisch/quellenmäßig verbürgtem Stoff«Footnote 8 vor. (2) Der Autor setzte sich in den Paratexten reflektiert mit der Historizität seiner Stoffe auseinander und stieg in historiografische Diskurse ein. (3) Die Stücke dienten unter anderem der Vermittlung von historisch-enzyklopädischem Wissen.

II.

Ehe diese Aspekte ausgeführt werden, sollen der Dramatiker und sein literarisches Oeuvre vorgestellt werden. Das Leben des aus Kempten im Allgäu stammenden Anton Claus (1691–1754) war, wie für eine Jesuitenbiografie des frühen 18. Jahrhunderts üblich, von zahlreichen Ortswechseln geprägt. Nach seinem Ordenseintritt 1711 absolvierte Claus an der Jesuitenuniversität Ingolstadt ein Theologiestudium und wurde anschließend als Lehrer der lateinischen Sprache an verschiedene Kollegien der oberdeutschen Ordensprovinz entsandt. Von 1722 bis 1734 wirkte er der Reihe nach in Pruntrut, Freiburg im Üechtland, Freiburg im Breisgau, Straubing, München und Innsbruck.Footnote 9 In sämtlichen Kollegien war Claus als Lehrer der Rhetorica, d.h. der zweijährigen Abschlussklasse der Jesuitenschule, tätig, was die Verpflichtung mit sich brachte, die öffentlichen Schultheateraufführungen am Ende des Schuljahres zu organisieren. Diese Obliegenheit schloss neben den Tätigkeiten als Dramaturg und Regisseur auch das Verfassen der Textgrundlagen mit ein. Die schriftstellerische Tätigkeit war eine stetige: Da im Laufe des Jahres mehrfach Übungsstücke benötigt wurden, waren die jesuitischen Pädagogen gezwungen, im Abstand weniger Wochen aufführungstaugliche Dramen vorzulegen.Footnote 10 Aus allen Kollegien, in denen Claus als pater rhetoricus wirkte, sind Aufführungen von Stücken bezeugt. Nach dem Ende seiner Lehrtätigkeit übersiedelte er ins Münchner St. Michaelskolleg, wo er vorwiegend seelsorgerischen Aufgaben nachging.

War sein Leben als Ordensgeistlicher bis hierhin konventionell verlaufen, so setzte er 1741 einen Schritt, der für einen Jesuitenpater außergewöhnlich war: Claus ließ vier seiner Stücke in einer Sammlung mit dem Titel Tragoediae ludis autumnalibus datae drucken. Bemerkenswert war dies aus zwei Gründen: Zum einen trat er damit als Dramatiker aus der Anonymität des Ordens heraus. An den Jesuitenschulen der deutschen Ordensprovinzen waren zuvor zwar tausende Dramen produziert worden, sehr selten waren derartige Stücke von ihren Verfassern aber auch in Druck gegeben worden, sahen sich diese doch als Pädagogen, die für ihren Orden Dienst taten, und nicht als Literaten. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts waren unter deutschsprachigen Jesuiten lediglich von Jacob Bidermann, Nicolaus Avancini und Andreas Brunner eigenständige Sammlungen erschienen; bis 1741 kam nur eine Handvoll weiterer hinzu. Zum anderen hoben sich Claus’ Stücke inhaltlich davon ab, was Jesuitendramatiker vorzulegen pflegten. Wenn in den Jahren zuvor Jesuitenstücke verlegt worden waren, so waren diese in der Regel entweder in didaktische Schriften als Materialien für den Schulunterricht eingelegt gewesen oder es hatte sich um religiös-erbauliche Stücke gehandelt; es waren also fast durchwegs Veröffentlichungen gewesen, die auf konkrete Weise für die Ziele des Ordens dienstbar gemacht werden konnten.Footnote 11 Die Sammlung, die Claus vorlegte, war weder als didaktische Publikation angelegt, noch ließ sie sich als Instrument katholischer Glaubensarbeit darstellen. Nur in einer der vier Tragoediae werden religiöse Themen verhandelt. Die anderen drei Stücke sind weltlichen Zuschnitts und lassen sich auch mit heilsgeschichtlichen Vorstellungen im weiteren Sinn nur schwerlich in Zusammenhang bringen. Mit Scipio Africanus, Stilico und Themistokles führen sie typische Protagonisten des heroischen Historiendramas vor.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Claus sich gezwungen fühlte, sich im Vorwort der Veröffentlichung zu rechtfertigen. Er tat dies einerseits, indem er den Topos bemühte, von anderen zur Publikation gedrängt worden zu sein, andererseits, indem er argumentierte, seine Stücke könnten angehenden Lehrern der Rhetorica als Exempla für deren eigene Dramenproduktion dienlich sein.Footnote 12 Bei genauerer Betrachtung der Sammlung wird freilich deutlich, dass diese Angaben vorrangig dazu dienten, die tatsächlichen Intentionen des Dramatikers zu verbrämen. In erster Linie scheint der Jesuit mit seiner Sammlung nämlich genuin literarische Ambitionen verfolgt zu haben.

Das erhellt aus einem Vergleich der gedruckten Dramen mit den Periochen, d.h. den die Handlung paraphrasierenden Begleitbroschüren, welche im Vorfeld der Aufführungen verteilt wurden. Claus hat die Stücke, die allesamt während seiner Zeit als Rhetorikprofessor entstanden waren, für ihre Publikation sorgfältig überarbeitet, und zwar so, dass sie als Lesedramen zugänglicher wurden, als Bühnenvorlage für junge Kollegen aber an Brauchbarkeit einbüßten. Indem er die Chorpartien aus den Texten strich, ließ sich die Einheit der Handlung als gegeben darstellen – in den Chorpartien hatte er mythologischen Nebenhandlungen Raum gegeben – und damit, in der Wahrnehmung der Zeitgenossen, die künstlerische Qualität der Stücke heben; für andere Ordenslehrer, die für ihre Aufführungen Chöre benötigten, erwies sich dieser Eingriff indes als unvorteilhaft. Ähnlich verhält es sich mit Änderungen in der Zusammensetzung der dramatis personae: Claus reduzierte in den finalen Versionen die Anzahl der auftretenden Figuren, um die Handlung zu verdichten. Seinen Kollegen, die danach trachten mussten, Rollen für möglichst viele Schüler zu schaffen, ergab sich daraus jedoch ein Nachteil.

Deutlich werden Claus’ literarische Ambitionen auch anhand der kommentierenden Paratexte, die er jedem der vier Stücke zur Seite gestellt hat. In den mit Observationes überschriebenen, bis zu sieben Druckseiten langen Autorkommentaren diskutiert der Autor seine Stoffwahl und erläutert seine schriftstellerischen Entscheidungen. Die Argumentation ist dabei stets an Aristoteles und Pierre Corneille ausgerichtet. Der Franzose wird im Vorwort der Sammlung sogar ausdrücklich als Vorbild genannt,Footnote 13 was für das Drama weiterer deutscher Jesuiten im 18. Jahrhundert wegweisend werden sollte.Footnote 14 Corneille, einst selbst Jesuitenzögling und der Gesellschaft Jesu zeitlebens weltanschaulich nahe stehend, hatte katholische Themen und heroisch-staatsmännische Stücke mit markantem moralischen Deutungsangebot auf die Bühne gebracht,Footnote 15 erwies sich also als idealer Referenzautor für die Jesuiten, zumal diese das Theater der französischen Klassik aus formalen Gründen schätzten und Tragödien im Stil der Franzosen seit Gottscheds Sterbender Cato (1732) als ›modisch‹ darstellen konnten. Corneille war zudem als Theoretiker ein willkommener Gewährsmann: In seinen drei Discours sur le poème dramatique (1660) hatte er den Aristotelismus mit der praktischen Realität des Theaterschaffenden in Einklang zu bringen versucht. Einem literarischen Kosmos, in dem aristotelische Dramentheorie unbestritten als Ideal galt, die (mitunter gegen Corneille gerichteten) Polemiken des 17. Jahrhunderts über die Aussage des aristotelischen Texts aber weitgehend verstummt waren, boten diese Schriften ein verhältnismäßig leicht zu bedienendes Instrumentarium, mithilfe dessen sich aristotelische Theorie tatsächlich umsetzen und die lange Zeit bestehende Kluft zwischen Schuldrama und poetologischer Theorie überwinden ließ.Footnote 16

Mit diesen intertextuellen Bezugnahmen stellte sich Claus den ästhetischen Diskursen seiner Zeit. Seine Schuldramen sind also intentional als literarische Texte angelegt. Liest man die Stücke des Autors, so zeigt sich, dass er zu Recht mit diesem Anspruch auftrat. Die sprachlich schlichten Tragödien mit ihren kunstvoll arrangierten Handlungsverstrickungen und wirkungsvollen Peripetien gehören zu den gelungensten Stücken, die die Jesuiten im letzten Jahrhundert vor der Aufhebung des Ordens geschaffen haben.Footnote 17

III.

Dass es sich bei den Dramen der Sammlung um Stücke handelt, denen ein historischer Stoff zugrunde liegt, ist vorab nicht ungewöhnlich. Die jesuitischen Rhetoren griffen bei ihrer dramatischen Tätigkeit überwiegend auf historische (oder als historisch wahrgenommene) Episoden zurück, wenn auch zumeist auf Stoffe der historia sacra. Übernahmen fiktionaler Stoffe bzw. Stücke, die ganz auf der Phantasie des Autors beruhen, finden sich weitaus seltener. Außergewöhnlich ist auch nicht, dass Claus über paratextuelle Ergänzungen ausdrücklich auf die historiografische Überlieferung Bezug nahm. Die Quellenangaben, die sich im Anschluss an die argumenta am Beginn der Stücke finden, sind ein konventioneller Bestandteil jesuitischer Periochen. Claus hat sie gemeinsam mit den argumenta in seine Veröffentlichung übernommen. Da die Jesuiten häufig wunderbare Ereignisse hagiografischer Provenienz darstellten, war es ihnen wichtig, die Wahrhaftigkeit ihrer Inhalte zu bekräftigen. Mit dem Verweis auf autoritative Quellen ließ sich dies bewerkstelligen. Daneben erfüllten die Quellenangaben einen praktischen Zweck: Periochen dienten immer auch als Stoffrepertoire für Kollegen. Wollte ein Ordensbruder ein Stück über denselben Gegenstand schreiben, wusste er anhand der Quellenangabe, wo er sich informieren konnte.

Sehr wohl ungewöhnlich ist hingegen, dass Claus sich mit dem Verhältnis von Dramenhandlung und historiografischer Überlieferung reflektiert auseinandergesetzt hat und den Leser in den Paratexten an seinen Überlegungen teilhaben lässt. In den Observationes zu den vier Stücken wird der Umgang mit Quellentexten vorgestellt und erläutert. Entscheidungen des Dramatikers werden mit Verweis auf die Überlieferung abgesichert. Auch Ansätze metahistoriografischer Reflexion finden sich. Claus führte sich als poeta doctus ein und verwendete seine Paratexte dazu, seinen Stücken als historischen Dramen Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Das zeigt sich bereits am ersten Drama der Sammlung, Publius Cornelius Scipio sui victor, einem handlungsintensiven Stück, das Claus nach der Uraufführung 1725 in Freiburg im Üechtland noch in zumindest drei weiteren Kollegien auf die Bühne brachte. Es spielt in einer frühen Phase des Zweiten Punischen Krieges und führt vor, wie der junge Feldherr Scipio Africanus sich im Zuge der Einnahme der Stadt Neukarthago in eine punische Gefangene verliebt, diese aber schlussendlich aus Staatsraison an ihren Bräutigam zurückgibt. Die Episode ist zwar bei Livius grundgelegt,Footnote 18 als Dramenhandlung aber melodramatisch ausgestaltet; Anregung dafür boten zeitgenössische Bearbeitungen des Stoffes, insbesondere Adaptionen italienischer Opernlibrettisten.Footnote 19 Scipio ist somit diejenige der vier Tragödien, bei deren Konzeption Claus der historiografischen Überlieferung am wenigsten Beachtung geschenkt hat. Nichtsdestotrotz hat er sich in den nachgestellten Observationes bemüht, Vertrautheit mit den Quellentexten zu signalisieren. In einem Abschnitt über die Charakterzeichnung der Hauptfigur erläutert er, er habe die Figur nicht so anlegen wollen, wie sie bei Florus dargestellt sei. Dieser habe Scipio als geradezu stoische Persönlichkeit präsentiert und ein solcher Charakter eigne sich nicht als Hauptfigur einer Tragödie. Er selbst stelle Scipio als einen für Emotionen empfänglichen Jugendlichen dar, so wie er ihn bei Livius vorgefunden habe. Auf diese Weise gelinge es ihm besser, der aristotelischen Forderung nach einem mittleren Helden gerecht zu werden.Footnote 20

Der Dramatiker gibt also en passant zu verstehen, dass er die Subjektivität historiografischer Darstellung in Rechnung gestellt und Unterschiede in der Überlieferung für seine ästhetischen Ziele zu nützen verstanden hat. Zugleich wies er darauf hin, dass er sich nicht darauf beschränkt hatte, die in vielen neuzeitlichen Bearbeitungen der Episode als Quelle genannte Livius-Passage zu studieren, sondern auch den weniger bekannten, kaiserzeitlichen Geschichtsschreiber Annaeus Florus zu Rate gezogen hatte. Vorrangig ging es ihm in diesem Abschnitt allerdings darum, das aristotelische Gepräge seines Helden zu betonen. Auch die weiteren Ausführungen in den Observationes in Scipionem dienen mehrheitlich dazu, die Kompatibilität des Stückes mit der aristotelischen Theorie unter Beweis zu stellen.

Differenzierter zeigt sich Claus’ durchdachte Auseinandersetzung mit Geschichtsschreibung anhand von Stilico tragoedia, dem ältesten Stück der Tragoediae ludis autumnalibus datae. Die Tragödie, die im Herbst des Jahres 1724 im Kollegium von Pruntrut uraufgeführt wurde, bringt eine Episode aus der Geschichte des frühen fünften Jahrhunderts auf die Bühne. Der Vandale Stilicho, der im römischen Staat eine der höchsten Positionen bekleidete und zudem durch seine Ehe mit der Pflegetochter des vormaligen Kaisers Theodosius mit dem Kaiserhaus verbunden war, versuchte in den Wirren der Völkerwanderungszeit angeblich, seinem Sohn Eucherius den Thron zu verschaffen, worauf Kaiser Honorius ihn, d.h. seinen ehemaligen Vormund und nunmehrigen Schwiegervater, wegen Hochverrats hinrichten ließ. In Claus’ Tragödie sind Stilicos Machenschaften insbesondere dadurch motiviert, dass Eucherius in die Schwester des Kaisers verliebt ist und sich umzubringen droht, sollte es ihm nicht gelingen, eine soziale Stellung zu erreichen, die es ihm erlaubt, um ihre Hand anzuhalten. Stilico arrangiert sich zum Schein mit den Goten, welche die Stadt belagern, und versucht, sie zum Angriff auf Rom zu bewegen, damit Eucherius sich in der Verteidigungsschlacht der Geliebten würdig erweisen kann. Sein Plan misslingt jedoch, da die Goten Honorius in einem anonymen Brief warnen und Stilico dadurch zu einer Entscheidung zwingen: Er muss nun entweder mit den Goten gegen seinen Schwiegersohn Honorius vorgehen oder befürchten, dass die Goten den Kaiser über die geheimen Absprachen in Kenntnis setzen werden. Das Dilemma, das dramaturgisch brillant ausgearbeitet ist, spitzt sich zu, als ausgerechnet der integre Eucherius verdächtigt wird, einen Anschlag auf den Kaiser zu planen. Unter Gewissensqualen plant Stilico den Staatsstreich. Ehe dieser ausgeführt wird, kommt es freilich zur Peripetie: Beim Versuch, den Kaiser zu erdolchen, tötet ein Anhänger Stilicos irrtümlich Eucherius. Der Plan der Hauptfigur ist somit sinnlos geworden. Stilico gesteht seinen Verrat und wird zur Hinrichtung abgeführt.

Der historische Plot, der sich schon aufgrund des persönlichen Verhältnisses zwischen Intrigant und Hintergangenem bzw. Verbrecher und Richter gut für ein aristotelisches Trauerspiel eignet, wird von Claus also erheblich ausgeschmückt, um Spannung zu erzeugen und um die psychologische Bewegung zu schaffen, die insbesondere die Hauptfigur, ein Bösewicht wider Willen, zu einem eindrücklichen tragischen Helden macht. Viele der Eingriffe des Autors rühren daher, dass er sich für sein Stück an Thomas Corneilles Tragödie Stilicon (1660) bediente, dessen Verfasser auf historische Authentizität keinen großen Wert gelegt hatte. Gleichwohl bemühte sich Claus in den Observationes in Stiliconem, Übereinstimmungen mit der historiografischen Überlieferung – erwähnt sind Orosius’ Historia adversus paganos und Paulus Diaconus’ Historia Romana – zu betonen. So hält er zu Beginn seiner Ausführungen über die Hauptfigur fest: Stilico propono, qualem Historia describit. (»Stilico stelle ich so dar, wie die Geschichte ihn beschreibt.« 161). Im Einklang mit den Geschichtsschreibern solle die Figur zum einen eine gewisse Größe besitzen, zum anderen die Verschlagenheit und Unüberlegtheit, die für Vandalen typisch sei. Weshalb sich Claus am überlieferten Narrativ orientiert, ist freilich nicht ausgeführt. Überlieferungstreue erscheint als Maxime, die keiner Erläuterung bedarf.

Das ist bemerkenswert, hatte doch Aristoteles in der Poetik nicht nur ausgeführt, der Dichter sei nicht gezwungen, sich an historische Tatsachen zu halten, sondern mehr noch betont, er solle sich nicht an das Faktische halten, da es nicht seine Aufgabe sei, darzustellen, was geschehen sei, sondern was geschehen könnte.Footnote 21 Claus, der die Poetik in der lateinischen Übersetzung des Alessandro Pazzi de Medici mehrfach zitiert, kannte diesen Ansatz selbstverständlich. An anderer Stelle in den Observationes in Stiliconem nahm er ausdrücklich darauf Bezug und referierte auch das horazische Motto Aut famam sequere aut convenientia finge (»Behalte entweder den Plot bei oder füge Passendes hinzu«),Footnote 22 um zu rechtfertigen, weshalb er die Hinrichtung der Hauptfigur ahistorisch in Rom stattfinden lässt. Die Ausführungen münden in die Aussage, es sei besser in die überlieferte Geschichte einzugreifen als die Einheit des Ortes außer Acht zu lassen.Footnote 23 Gerade anhand dieser Argumentation wird allerdings deutlich, dass in den Augen des Autors im Normalfall das von den Historiografen überlieferte Narrativ beizubehalten ist. Greift der Dramatiker in die überlieferte Episode ein, so hat er sich dafür zu erklären – Claus verwendet darauf in den Observationes in Stiliconem mehr als eine Druckseite.

Darüber hinaus wird anhand der Observationes in Stiliconem offenbar, dass Claus die historiografische Information einer reflektierten Quellenkritik unterzogen hat. Eine kritische Analyse widmet er beispielsweise der Darstellung von Honorius in den zeitgenössischen Quellen:

Honorium diversis omnino coloribus diversi illius aevi scriptores depingunt. Ethnici illum ut ignavum, & stupidum denigrant, nempe odio in Religiosum Imperatorem agitati; Christiani ut optimum principem propugnant […] (»Honorius zeichnen die verschiedenen Autoren jener Zeit in ganz verschiedenen Farben. Die Heiden verunglimpfen ihn als träge und einfältig, und zwar aus Hass auf den frommen Kaiser. Die Christen verteidigen ihn als vortrefflichen Fürsten […].« 162)

Für die Figurenzeichnung in Stilico tragoedia bemühte sich Claus, beiden Positionen gerecht zu werden, indem er die gegensätzlichen Darstellungen zu einem historisch plausiblen Charakterbild zusammenführte: Sein Honorius ist einerseits ein Vertreter des im späten Jesuitentheater häufigen Typus des pius princeps, er verhält sich lange Zeit freundlich und human, selbst gegenüber dem mutmaßlichen Attentäter Eucherius. Andererseits ist er nicht scharfsinnig genug, um den tatsächlichen Verräter auszuforschen.

Historische Authentizität versuchte Claus nicht nur zu schaffen, indem er die Quellen auswertete, welche die dargestellte Episode vermitteln. Auch Leerstellen im historischen Narrativ werden, wenn möglich, mit beglaubigter Information aufgefüllt, auch wenn diese im Zusammenhang der Episode natürlich fiktional bleibt. So benötigte der Dramatiker in Stilico eine Mittlerfigur, welche einen Informationsaustausch zwischen der intriganten Hauptfigur und dem vor der Stadt lagernden Gotenkönig ermöglicht. In den Geschichtswerken konnte Claus für diese Figur keine passende Vorlage finden, weshalb er in den Observationes argumentiert, ein Unterhändler mit dem Feind sei

[…] apud barbaros non insolitum. Sic legatus a Mithridate ad Pompejum missus Cicerone teste (»[…] bei den Barbaren nichts Ungewöhnliches. So sandte Mithridates einen Gesandten zu Pompeius, wie uns Cicero bezeugt.« 163)

Cicero überliefert in der Tat, dass Mithridates von Pontos einen Unterhändler an den römischen Feldherrn Gnaeus Pompeius sandte.Footnote 24 Dass zwischen den mithridatischen Kriegen und der Lebenszeit des Stilico knapp 500 Jahre lagen und es kaum Gründe gibt, von der Diplomatie des kleinasiatischen Königs auf die der Goten zu schließen, war für Claus offenbar nebensächlich. Ihm ging es darum zu zeigen, dass er sich um die historische Plausibilität der Handlung seines Stücks Gedanken gemacht hatte und auch von der Geschichtsschreibung nicht verbürgte Details immerhin historisch vorstellbar waren.

Der aus heutiger Sicht wenig aufschlussreiche Vergleich zwischen den Goten und Mithridates ist indes nicht die einzige Information in den Observationes in Stiliconem, die den modernen Leser vor Herausforderungen stellt. Drastisch zeigen sich Unterschiede zwischen Claus’ Wahrnehmung von Geschichtsdrama und modernen Auffassungen anhand der Charakterisierung von Stilicos Sohn Eucherius. Claus hat die Figur durchwegs positiv dargestellt. Eucherius gerät in einen inneren Konflikt, weil er sowohl dem Vater als auch dem Kaiser zugetan ist. Die Tugenden ›Gehorsam gegenüber den Eltern‹ und ›Fürstenliebe‹, die an der jugendlichen Figur herausgearbeitet sind, machen Eucherius zu der pädagogischen Vorbildfigur, die Claus für Aufführungen im Schulkontext benötigte.

In den christlichen Quellen war Eucherius allerdings keineswegs positiv dargestellt worden. Orosius hatte ihn als Christianorum persecutionem a puero privatoque meditantem Footnote 25 (»schon von Kind an für sich die Christenverfolgung planend«) charakterisiert, Paulus Diaconus hatte die Formulierung übernommen. Als Claus die Tragödie für die Drucklegung aufbereitete, sah er sich in der Pflicht, zum Missverhältnis zwischen dem überlieferten Eucherius-Bild und seiner eigenen Darstellung Stellung zu nehmen. Er tat dies zunächst, indem er darauf hinwies, in seiner Tragödie gehe es nicht um Religion, und einen guten Charakter könne auch ein Ungläubiger haben. Es habe sich weder die Gelegenheit geboten noch die Notwendigkeit ergeben, die negativen Züge der historischen Persönlichkeit auf der Bühne in Szene zu setzen.Footnote 26 Tatsächlich werden konfessionelle Spannungen, wie sie die christliche Geschichtsschreibung dokumentiert und wie sie auf der Jesuitenbühne anhand der Stilico-Honorius-Episode auch bereits vorgeführt worden waren,Footnote 27 in Stilico tragoedia nicht thematisiert; Claus’ Stück fasst den Konflikt rein weltlich auf. Die Erklärung ist einleuchtend, die Rechtfertigung für die positive Zeichnung der Figur ist damit eigentlich bereits erbracht. Was nun folgt, ist im Argumentationszusammenhang nur noch eine Ergänzung, es trägt aber eine unerwartete, zusätzliche Interpretationsebene an das Stück heran:

Novit tamen Caelum Eucherii vitia, & per ejusdem mortem cruentam non patris modo crimina in filio, sed & Ecclesiam spretam in eodem Eucherio justissime vindicavit. (»Der Himmel aber weiß um die Sünden des Eucherius und nimmt in dessen Tod nicht nur für die Verbrechen des Vaters gerechte Rache, sondern auch dafür, dass Eucherius unsere Religion geringgeschätzt hat.« 166)

Fasst man den Satz nicht als ironische Selbstkritik auf – und Ironie ist in den Observationes an keiner anderen Stelle auszumachen –, so muss man konstatieren, dass Claus von einer radikalen Transzendenz der Handlung ausging. Sie äußert sich zum einen darin, dass er Gott als (backstage) Figur, und zwar als allwissende und allmächtige Figur, in das Bühnengeschehen eingreifen lässt. Das ist zwar für ein Jesuitendrama nicht singulär; für ein Stück, das auf der Oberfläche ohne jeden Bezug zu religiösen Themen bleibt, ist es aber bemerkenswert. Zum anderen besteht die Transzendenz darin, dass der Autor die Grenze zwischen seinem Kunstwerk und der realen Geschichte aufhebt. Die Figur im Stück lässt sozusagen den historischen Eucherius selbst wiederauferstehen. Sie trägt Züge, die ihr als historischer Persönlichkeit zugeschrieben wurden, in die der Rezipient aber ohne Unterstützung durch den paratextuellen Kommentar keinen Einblick hat. Für die Interpretation hat dies weiterreichende Konsequenzen. Nimmt man den Ansatz ernst, so stellt er nichts weniger als jede textbasierte Herangehensweise an Claus’ Dramen infrage; der Text verliert als Interpretationsgrundlage seine Zuverlässigkeit. Verständnis im Sinne des Autors ist dann nur nach Hinzuziehen historiografischer Zusatzinformation möglich, aber auch diese scheint angesichts der Unermesslichkeit göttlichen Handelns keine verlässliche Grundlage zu sein.

Es scheint ratsam, die Äußerung nicht überzubewerten. Es ist wahrscheinlich, dass Claus die Divergenzen zwischen seiner Figur und der historiografischen Darstellung der historischen Persönlichkeit beim Verfassen des Dramas nicht als Problem bewusst gewesen sind. Erst als er das Stück für den Druck aufbereitete, fühlte er sich – vielleicht auf Anregung eines Außenstehenden – gezwungen, dazu Stellung zu nehmen. Doch allein der Umstand, dass er es akzeptabel fand, eine derartige Interpretation in die Tragödie hineinzureklamieren, verweist auf ein Literaturverständnis, das von modernen Vorstellungen stark abweicht.

Ein zweites Stück, das hier ausführlicher vorgestellt werden soll, kann helfen, die Aussage zu relativieren. Der 1733 in Innsbruck zur Aufführung gebrachte Themistocles ist anders als Stilico nicht nur hinsichtlich des Personals, sondern auch hinsichtlich des Handlungsverlaufs ein Heldendrama. Die Tragik resultiert nicht aus einem Fehlverhalten der Hauptfigur, sondern aus ihrer moralischen Größe. Der Athener Themistokles, einst Sieger über die Perser bei Salamis, hat nach seiner Verbannung ausgerechnet beim Perserkönig Artaxerxes Aufnahme gefunden. Er lebt bereits seit vielen Jahren am Perserhof und steht hoch in Ansehen, als unerwartet eine griechische Gesandtschaft vorstellig wird und seine Auslieferung fordert. Da die Gesandten im Gegenzug Artaxerxes’ totgeglaubten Neffen freizulassen versprechen, stimmt der Perserkönig zu – unwissend, dass auf den Verbannten in seiner Heimat die (ungerechte) Todesstrafe wartet. Als er davon erfährt, beschließt er, Themistokles zwar nach Griechenland zu schicken, allerdings in Begleitung eines Heers, das ihm Gerechtigkeit verschaffen soll. Dieser wohlgemeinte Entschluss stürzt den Helden jedoch in Verzweiflung: Mit einem persischen Heer gegen seine Heimat zu ziehen kommt für Themistokles nicht infrage. Das Angebot seines Wohltäters ausschlagen kann er ebenso wenig, zumal dieser sich bereits als stolzer Kriegsherr gebärdet, der sich für die Niederlagen der Perser in der jüngeren Vergangenheit rächen möchte. In die Enge getrieben, bleibt der Hauptfigur nur der Freitod, ein Schritt, der von Persern und Griechen gleichermaßen bewundert wird und die Versöhnung zwischen den beiden Parteien einleitet.

Nicht zuletzt aufgrund dieser selbstlosen Entscheidung erscheint der Titelheld des Stücks als äußerst tugendhaft. Claus hat in den Observationes in Themistoclem explizit festgehalten, die Hauptfigur sei omnino probum et sine vitio (»vollkommen tugendhaft und ohne Fehler« 243); ein Großteil des Paratexts widmet sich folglich der Argumentation, wie diese Figur mit dem aristotelischen Konzept des mittleren Helden in Einklang gebracht werden kann. Dies gelingt – mehr schlecht als recht – unter Bezugnahme auf Pierre Corneilles Aristoteles-Exegese. Noch schwerer zu vereinbaren ist das Stück freilich mit der christlichen Lehrmeinung, wird Themistokles doch zum Helden, indem er Selbstmord, und damit eine schwere Sünde, begeht. Claus gibt in den Observationes zu verstehen, dass er sich des Problems bewusst war, und bietet zugleich eine Lösung:

[…] quod quidem gravissimum scelus esse lex Christiana nos docet, sed Ethnica antiquitas ignoravit. (»[…] dies ist, wie uns die christlichen Gebote lehren, natürlich ein äußerst schlimmes Verbrechen; die pagane Antike wusste das aber nicht.« 243)

Themistokles sei als Angehörigem einer vorchristlichen Kultur die Sündhaftigkeit des Selbstmords nicht bewusst. Das Lösungsangebot ist zwar nachvollziehbar, es verträgt sich aber schlecht mit der transzendenten Dramendeutung, die Claus in den Observationes in Stiliconem vorgeschlagen hat. Wenn Gott nicht nur über die Geschichte, sondern auch über das Spiel auf der christlichen Bühne urteilt, muss eine Sünde, die auf der Bühne dargestellt wird, auch als solche verstanden werden. Auf jeden Fall ist es dann wenig stimmig, einen Selbstmord gar als Triumph darzustellen. Die Inkonzinnität weist darauf hin, dass die Observationes über die Kommentarfunktion zu einem einzelnen Stück hinaus keine theoretische Gültigkeit beanspruchen. Claus ging es nicht darum, eine in sich schlüssige Theorie des christlichen Trauerspiels vorzulegen.

Kehren wir nun zu den Reflexionen über den historischen Stoff im engeren Sinn zurück. Wie in den Erläuterungen zu Stilico zielen auch in den Observationes in Themistoclem quellenbezogene Äußerungen überwiegend darauf ab, die Darstellung des Autors historiografisch zu belegen. Das betrifft auch hier eher die Charakterausstattung einzelner Figuren als die historische Ereignisfolge. Claus versuchte die überlieferten Charakterbilder selbst dort beizubehalten, wo die Handlungsführung andere Darstellungen nahelegte. So musste er Artaxerxes bis zu einem gewissen Grad als Gegenfigur zu Themistokles aufbauen, die durch ihre feindliche Haltung gegenüber Griechenland und ihre Kriegsbegeisterung den dramatischen Konflikt in Gang bringt. Mit dem Charakterportrait in den Quellen ließ sich das auf den ersten Blick schlecht vereinbaren:

Artaxerxem Historici omnes cum Plutarcho, tum facilitate, humanitateque, tum maxime animi magnitudine insignem celebrant. (»Mit Plutarch rühmen alle Geschichtsschreiber Artaxerxes bald als umgänglich und human, bald als äußerst großmütig.« 247)

Um dieses Bild zu übernehmen und die Figur positiv erscheinen zu lassen, musste Claus besonders darauf achten, ihre Haltung überzeugend zu motivieren. Zudem bemühte er sich, sie in der Schlussszene wieder als besonnen und großherzig darzustellen. Die biografische Darstellung bei Plutarch war das bedeutendste historiografische Referenzwerk für Themistocles. Das wird von Claus zunächst verschwiegen, zu Beginn des Stücks werden nur die Facta et dicta memorabilia des frühkaiserzeitlichen Anekdotensammlers Valerius Maximus als Quelle genannt. In den Observationes ist der griechische Biograf jedoch der am häufigsten genannte Gewährsmann. Bei allem Bewusstsein um die Unzuverlässigkeit historiografischer Darstellung, das Claus zum Ausdruck bringt, kennzeichnet er etwa die Information, dass sich Themistokles in Persien aufgehalten habe, als Plutarcho teste certum (»durch Plutarchs Zeugnis gesichert« 246).

Nicht überall hat Claus die Quellen, mit denen er seine Darstellung stützte, spezifiziert. Die Information, die Spartaner hätten den Athener Themistokles als Landesverräter darzustellen versucht, um nach dem Vaterlandsverrat des Spartaners Pausanias auch Athen in ein negatives Licht zu rücken, versah er etwa nur mit der Quellenangabe ut Historia narrat (247), eine Formulierung, die andeutet, dass Claus’ Geschichtsbild dem im Kollektivsingular ›die Geschichte‹ zusammengefassten modernen Geschichtsverständnis in mancher Hinsicht nahekam. Vor allem aber beweist der Passus, dass Claus auch Quellen eingearbeitet hat, die unerwähnt blieben. Ausformuliert findet sich der Gedanke nämlich nur im Geschichtswerk des Diodorus Siculus.Footnote 28 Wahrscheinlich befand Claus es nicht mehr für nötig, alle Texte anzugeben, mit denen er sich bei der Entstehung des Dramas befasst hatte. Glaubwürdigkeit als historischer Dramatiker hatte er bereits erworben.

Das letzte Stück der Tragoediae ludis autumnalibus datae ist Protasius rex Arymae, eine Märtyrertragödie, die eine Episode der japanischen Geschichte des frühen 17. Jahrhunderts umsetzt. Überlieferungstreue ist schon zu Beginn der hier eher knapp gehaltenen Observationes ausdrücklich als gestalterisches Prinzip hervorgehoben:

In hoc potissimum argumento summa fidelitate secutus sum Historiam. Personae omnes, earumque characteres ex Historico sunt depromptae […] (»Bei diesem Stoff bin ich der Geschichte mit höchster Treue gefolgt. Alle Figuren und ihr Charakter sind der Geschichtsschreibung entnommen […].« 332)

Tatsächlich hielt Claus sich hier noch enger an die historiografische Überlieferung als in den vorangehenden Stücken. Die Berichte des Ordensmissionars Nicolas Trigault bzw. deren Übernahme in der Weltgeschichte des Cornelius Hazart wurden detailliert auf die Bühne gebracht.Footnote 29 Der geringe Grad der dramatischen Adaption dieser Darstellung hat zur Folge, dass das Stück künstlerisch weniger überzeugt als die restlichen drei Dramen der Sammlung. Ursache für die enge Anlehnung an den überlieferten Text ist möglicherweise der Umstand, dass die Episode in Ordenskreisen gut bekannt war, zumal sie ein häufiges Sujet von Schultheateraufführungen war. Vielleicht glaubte der Autor auch, dem religiösen Gegenstand eine spezielle Behandlung schuldig zu sein.

IV.

Das Protasius-Drama am Ende der Tragoediae erweckt den Eindruck, Claus habe seine Sammlung doch noch in die jesuitische Tradition des religiösen Spiels einzuschreiben versucht. Dazu trägt bei, dass der in Themistocles verherrlichte Selbstmord hier ostentativ als Sünde dargestellt ist. In den übrigen drei Stücken werden zwar Tugenden vorgeführt, die sich mit christlichen Vorstellungen vereinbaren lassen – etwa der Einsatz des Einzelnen für das Vaterland –, Religion bleibt als Thema jedoch ausgespart. In den deutschen Ordensprovinzen waren weltliche Dramen verhältnismäßig selten zur Aufführung gelangt, die meisten Dramatiker bedienten sich an biblischen, hagiografischen oder der christlichen Geschichte entnommenen Stoffen. Die Ziele, die die Jesuiten mit ihrem Schultheater verfolgten, waren ja neben sprachdidaktischen vorwiegend erbauliche bzw. konfessionelle. Die Vermittlung historischen Wissens hatte zumindest bis ins späte 17. Jahrhundert nicht im Fokus gestanden. Historisch-enzyklopädisches Realienwissen war an den Jesuitenschulen nur insofern gelehrt worden, als es für das Verständnis der für die Rhetorikausbildung gelesenen Texte von Bedeutung war.Footnote 30

Im 18. Jahrhundert lässt sich jedoch insgesamt eine Hinwendung zu weltlichen Lerninhalten beobachten, Kenntnis der Geschichte wurde nun per se – d.h. auch unabhängig von Rhetorikunterricht und von heilsgeschichtlichen Vorstellungen – zu einem Bildungsziel. Der jesuitische Gelehrte Joseph de Jouvancy mahnte in seiner pädagogischen Schrift Ratio discendi et docendi (1692), es sei schändlich, über die Zeit vor der eigenen Geburt nicht Bescheid zu wissen. Er kompilierte eine Liste von Autoren, die für das Verständnis der historia sacra und der profanen Geschichte der Antike gelesen werden sollten.Footnote 31 Die Bedeutung der Vermittlung historischen Wissens musste in der Folge jedem angehenden Ordenslehrer bewusst sein, wurde Jouvancys Ratio doch 1703 von den Jesuitenoberen als offizielle Anleitung für den Unterricht an Jesuitenschulen herausgegeben. Dazu kam, dass der Staat, der nun stärkeren Durchgriff auf die Inhalte an den Jesuitenschulen zu beanspruchen begann, die Installierung eigener Geschichtekurse forderte. Die Implementierung erfolgte schrittweise. In der oberdeutschen Jesuitenprovinz unterrichtete man zunächst wöchentlich eine Stunde Geschichte, 1727 wurde ein reguläres Fach eingeführt. 1728 zog die österreichische Provinz nach. Die Unterrichtslehren von Franz Wagner und Franz Xaver Kropf, die in den 1730er Jahren erschienen, widmeten dem Geschichtsunterricht bereits eine ausführliche Besprechung.Footnote 32 In den Habsburgischen Gebieten erhielt das studium historicum mit der Verankerung in der neuen Studienordnung von 1735 endgültig einen festen Platz im Kurrikulum.Footnote 33

Die vier Tragödien, die Claus zwischen 1724 und 1734 verfasste, entstanden also in jenen Jahren, als historische Bildung an den Jesuitenschulen stärker in den Mittelpunkt rückte. Es scheint plausibel, dass der Autor seine innovativen, weltlichen Dramen auch deshalb drucken lassen konnte, weil sich mit ihnen historische Bildungsinhalte in anschaulicher Form vermitteln ließen. Die Episoden, die Claus auf die Bühne brachte, gehörten wohl zum Kanon dessen, was im Geschichteunterricht gelehrt wurde. Von Scipio Africanus ausgehend ließen sich die punischen Kriege darstellen; an Themistokles kam man ebenfalls nicht vorbei, die im Stück aufgeführte Fabel konnte als Aufhänger für die Perserkriege dienen; der Verrat des Stilico führte in die komplexen Machtverhältnisse der Spätantike ein. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, weshalb es dem Autor wichtig war, die historische Authentizität der Handlung paratextuell herauszustreichen. Nur wenn auf der Bühne annähernd das dargestellt wurde, was die Historiografen überliefert hatten, waren die Stücke für die historische Bildung brauchbar. Wahrscheinlich müssen auch die Reflexionen über Unstimmigkeiten in der Überlieferung damit in Zusammenhang gebracht werden. Indem Claus aufzeigte, dass Geschichte nicht objektiv zu rekonstruieren ist, schuf er Raum für seine eigene, mitunter ahistorische Darstellung.

Man muss sich allerdings davor hüten, in der Einführung des Geschichtsunterrichts den primären Grund für die Wahl dieser Stoffe zu sehen. Claus sah sich als Dramatiker in der Tradition Corneilles. Die Entscheidung, klassizistische Tragödien mit historischem Sujet zu schreiben, war in erster Linie ästhetisch motiviert. Das geänderte Kurrikulum erleichterte es aber, Akzeptanz für derartige Stücke zu schaffen.

Claus war freilich nicht der einzige Jesuit, der angesichts der skizzierten Entwicklung auf pagane historische Stoffe zurückgriff. Schon beim kursorischen Durchsehen der von Jean-Marie Valentin verzeichneten Spielbelege wird deutlich, dass weltliche Stoffe ab den 1720er Jahren generell häufiger auf die Bühnen gelangten.Footnote 34 Es ist aber davon auszugehen, dass Claus’ gedruckte Stücke der Verbreitung historischer Stoffe auf den Ordensbühnen zusätzlich Vorschub leisteten. Ein Zeugnis für die Wirkmächtigkeit seiner Sammlung findet sich in den 1758 verlegten Tragoediae autumnales von Ignaz Weitenauer. Claus’ knapp zwanzig Jahre jüngerer Ordensbruder ließ darin nicht nur Paratexte abdrucken, die in der Art der Observationes gestaltet sind; er hielt auch explizit fest, Claus habe ihm als Vorbild gedient, weil jener beobachtet habe, dass es zur Schönheit einer Tragödie beitrage, wenn sie sich auf fundamenta historica stütze und Namen, Aussagen und Fakten aus der Geschichte übernehme.Footnote 35 Dass Claus mit seinen Historiendramen um die Mitte des Jahrhunderts als der führende Ordensdramatiker im deutschen Sprachraum wahrgenommen wurde, dokumentiert Franz Neumayrs Idea Poeseos (1751), die letzte systematische Poetik aus dem Jesuitenorden vor seiner Aufhebung. Claus wird darin neben Corneille, Racine, Metastasio und Gottsched zu den besten Tragikern der jüngeren Literaturgeschichte gezählt.Footnote 36 Die Dramen Scipio und Themistocles sind in den Augen Neumayrs Idealbeispiele für Heldendramen, in denen eine (innerweltlich gültige) Moral nicht anhand von Lastern, sondern anhand von ethischer Größe vorgeführt wird.

Die Bezugnahmen bei Neumayr und Weitenauer sind Indizien dafür, dass die Tragoediae ludis autumnalibus datae in den jesuitisch geprägten Gebieten des deutschsprachigen Raumes um die Mitte des 18. Jahrhunderts gut bekannt waren. Eine oberflächliche Suche in den Bibliothekskatalogen weist auf eine weite Verbreitung. Die Rezeptionsspuren sind vielfältig. Noch 1776 – lange nach Claus’ Tod 1754 in Dillingen – erschienen unabhängig voneinander zwei deutsche Übersetzungen der Sammlung.Footnote 37 Im späten 18. Jahrhundert sind Aufführungen der Stücke an katholischen Schulen sowie Übernahmen in das Repertoire von Volkstheatergruppen dokumentiert; die jüngsten Aufführungen, die sich nachweisen lassen, datieren aus den 1820er Jahren.Footnote 38

V.

Anton Claus wird in den Literaturgeschichten heute bestenfalls beiläufig erwähnt.Footnote 39 Das hat neben den eingangs erwähnten Berührungsängsten vieler Literaturwissenschaftler mit neulateinischer Literatur auch damit zu tun, dass die germanistische Forschung lange Zeit den Fehler gemacht hat, Gottscheds vernichtendes Verdikt über das Theater des frühen 18. Jahrhunderts allzu ernst zu nehmen. Infolgedessen blieb den Dramatikern der ersten Jahrhunderthälfte mit wenigen Ausnahmen, darunter insbesondere Gottsched selbst, eine angemessene literarhistorische Würdigung versagt. In jüngerer Zeit wurden Bemühungen unternommen, die Perspektive zu korrigieren; es wurde konstatiert, dass die Krise, in der sich die Dramenliteratur des frühen 18. Jahrhunderts befunden haben soll, in der von Gottsched dargestellten Form gar nicht existiert hat.Footnote 40

Was den Eindruck einer ›Krise‹ mit verursacht hat, ist der Umstand, dass sich das Theater der Zeit in produktiven Sparten nicht der deutschen Sprache bediente. Italienisch in der Oper und Latein auf der Schulbühne stellten erfolgreiche Alternativen dar. Diese Vielfalt als Krise zu begreifen ist jedoch ein überholtes Denkmuster aus der Zeit nationaler Identitätsfindung. Zumal die neulateinische Literatur, die seit dem Humanismus die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur begleitet hatte, lässt sich innerhalb der Literaturgeschichte nicht ausgrenzen. Die Autoren, die sich der lateinischen Sprache bedienten, waren deutsche Dichter, ihr Publikum überwiegend ein deutschsprachiges.

Die Tragoediae ludis autumnalibus datae bezeugen, dass lateinisches Theater im deutschsprachigen Raum noch in den 1740er Jahren auf einem hohen künstlerischen Niveau Teil des literarischen Lebens war. Die vielfältigen Rezeptionsspuren weisen die Stücke als relevante Beiträge im literarischen Diskurs der Aufklärungszeit in den katholischen Gebieten aus. Wer das literarische Feld des 18. Jahrhunderts sorgfältig studieren will, wird nicht umhinkommen, auch diesen Zweig der Literaturgeschichte zu berücksichtigen. Insbesondere in der Geschichte des Geschichtsdramas sollten Claus’ Tragödien und ihre metapoetischen Kommentare Beachtung finden.