1 Einleitung: »Kunst oder Leben?«

Footnote 1Im Herbst 2022 sorgte es für einige Furore und auch für Nachahmungsaktionen, als zwei junge Aktivistinnen van Goghs ikonisches Bild Sonnenblumen in der Londoner National Gallery mit Tomatensuppe überschütteten und der Welt in einer kurzen, per sozialen Medien blitzschnell verbreiteten Rede ausrichteten, dass der Fortbestand des Planeten Priorität vor der Pflege überkommener Kunstschätze haben sollte. Die Rede begann pointiert mit den Worten: »Was ist wichtiger: Kunst oder Leben?«Footnote 2

So sehr mich persönlich allein der Gedanke mit Widerwillen erfüllt, ein Kunstwerk wie van Goghs Sonnenblumen, mag es auch unter Schutzglas verwahrt sein, mit Tomatensuppe zu besudeln: Die Parole »Kunst oder Leben?«, die saß. Denn kurz und bündig bringt sie ein zentrales Problem der schönen Literatur und ihrer Didaktik auf den Punkt: Gäbe es heute nicht Wichtigeres, als sich mit Kunst und Literatur zu beschäftigen – oder eben mit einer Didaktik der Kunst und Literatur? Ist es in Zeiten multipler globaler Krisen wirklich noch vordringlich und sinnvoll, nach Wegen literarischen Lernens zu fragen und im akademischen Spielbetrieb mit seinen Tagungen, Publikationen und Projekten, mit seiner Lehrroutine und seinem alltäglichen Verwaltungsaufwand, weiter mitzuspielen? Sollte man nicht stattdessen aufstehen und mit anpacken, um gegen Krieg, Hunger und Armut, gegen sozial-ökonomische Verwerfungen weltweit und nicht zuletzt gegen die drohenden ökologischen Verheerungen eines fortschreitenden Klimawandels anzugehen? Und wenn es schon Literaturdidaktik sein soll, für die man da seine Zeit und Arbeitskraft aufbringt: Müsste es dann nicht zumindest Didaktik einer aktuellen, politisch engagierten Literatur sein? Literature Education for future, sozusagen?

Berührt ist hier letztlich die schon klassische Frage nach der Autonomie der Kunst. Darf Kunst als selbstgenügsame l’art pour l’art betrieben werden, muss sie das am Ende sogar, um wirklich Kunst zu sein – oder hat sie, in krisenhaften Zeiten zumal, auch einen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen? Vergibt sich die Literatur etwas von ihrem Wert und ihrer Würde, wenn sie sich politisch zu engagieren beginnt? Oder kommt die Ausklammerung des Politischen einem »Gespräch über Bäume« gleich, das, Brechts berühmtem (übrigens in Gedichtform geäußertem) Diktum folgend, in prekären Zeiten »fast« auf »ein Verbrechen« hinausläuft, weil es »ein Schweigen über so viele Untaten einschließt«Footnote 3 – respektive ein Schweigen über so drängende Probleme wie eben die drohende Klimakatastrophe, soziale Ungleichheit und Ausbeutung im globalen Maßstab, Armut, Hunger und Krieg?

Ich möchte im Folgenden das hier skizzierte Entweder-oder von Autonomie und gesellschaftlich-politischem Nutzen im Bereich der Kunst hinterfragen, indem ich zunächst auf Johan Huizingas Auffassung Vom Ursprung der Kultur im Spiel rekurriere. Kunst und Literatur, darauf werden meine an Huizinga orientierten Ausführungen hinauslaufen, entfalten eine gesellschaftlich und sogar politisch unentbehrliche Funktion, nicht obwohl, sondern gerade weil sie einen autonomen, weltabgewandten Spiel-Bereich etablieren. Oder, besser gesagt: sie könnten diese Funktion erfüllen, wenn ihnen ein wirklich autonomer Bereich gewährt würde. Wie ich nämlich weiterhin, ebenfalls gestützt auf Huizinga und speziell auf Überlegungen des Soziologen Andreas Reckwitz, zeigen möchte, ist unsere gegenwärtige Kultur gar nicht von einem Mangel an Spiel- und Ästhetisierungsphänomenen geprägt, sondern in gewisser Weise sogar von deren Überschuss; d. h. von einer unproduktiven Verquickung der Sphären von Ernst und Spiel, von Pragmatik und Ästhetik. Würde man, so meine These, der Kunst und Literatur als Kunst und Literatur die benötigten Spielräume geben, nicht zuletzt in der Schule, könnte dies zugleich der Ausbildung einer unaufgeregten Rationalität zugutekommen, mit der die brennenden Probleme der Gegenwart anzugehen wären.

2 Literatur als Spiel sensu Huizinga

Johan Huizingas 1938 publizierte, für die Spieltheorie bis heute wegweisende Untersuchung Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im SpielFootnote 4 unternimmt den Versuch, Wesen, Form und Funktion des Spielphänomens zu fassen; eines Phänomens übrigens, das Huizinga nicht allein epochen- und kulturübergreifend konzipiert, sondern bereits in der Tierwelt vollständig ausgeprägt sieht. Menschliche Kultur, so seine Hauptthese, fußt auf dem Spiel und erwächst aus diesem. Nicht überall also, wo gespielt wird, gibt es auch menschliche Kultur; wo sich aber Kultur findet, ist sie von wesenhaft spielerischer Art. Bis ins Rechts- und sogar Kriegswesen, bis in die Wissenschaft hinein finden sich Züge des Spiels wieder; die Kunst zumal und mit ihr insbesondere die Literatur, ja selbst Kultus und Religion haben, Huizinga zufolge, durch und durch Spielcharakter.

Vor einem so weit gefassten Hintergrund scheint nun geradezu alles, was die menschliche Gesellschaft betrifft, zur Spielsphäre zu gehören. Um eine solche Verwässerung des Spielbegriffs zu vermeiden, gibt Huizinga zu Beginn seiner Untersuchung einige formale Kriterien an, die erfüllt sein müssen, damit im engen und eigentlichen Sinne von einem Spiel die Rede sein kann:

»Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel […] [1] eine freie Handlung nennen, die [2] als ›nicht so gemeint‹ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die [3] kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich [4] innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die [5] nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und [6] Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders von der gewöhnlichen Welt abheben.«Footnote 5

Es ist hier nicht der Ort, anhand von selbstgewählten Beispielen diese formale Definition des Spiels zu exemplifizieren oder gar die Geschichte der Einsprüche und Modifikationen nachzuzeichnen, welche die weitere Spieltheorie in Bezug auf Huizingas Bestimmung geltend gemacht hat.Footnote 6 ›Durchgespielt‹ werden soll hier aber naheliegenderweise der Versuch, Huizingas Spielkonzept auf den literarischen Bereich zu übertragen.Footnote 7

Die letztgenannten Bestimmungen sind für unseren Kontext vielleicht weniger relevant; zu bemerken ist allenfalls, dass literarische Texte oder Theateraufführungen nicht selten einen Zirkel von Eingeweihten evozieren, die sich sogar als Charaktere aus der fiktiven Welt verkleiden können oder doch zumindest, z. B. als traditionelles bürgerliches Theaterpublikum, eine gewisse Kleiderordnung beachten.

Viel wichtiger und zentraler ist Huizingas erstes Definiens, dass nämlich Literatur, als Spiel aufgefasst, vollkommene Freiheit und Freiwilligkeit erfordert. Niemand muss literarische Texte verfassen, und niemand muss sie lesen. Dass die Lektüre aus freien Stücken aufgenommen und jederzeit wieder abgebrochen werden kann, gehört zu den Spielregeln der literarischen Kommunikation. Idealerweise sollte diese konstitutive Freiwilligkeit auch für die schulische Beschäftigung mit Literatur gelten; ich komme unten noch einmal auf diese weltfremd wirkende Forderung zurück.

Zweitens: Literatur als Spiel wird grundsätzlich verstanden als »›nicht so gemeint‹«, sie steht »außerhalb des gewöhnlichen Lebens« und kann »trotzdem den Spieler« – das heißt hier: den Rezipienten und die Rezipientin – »völlig in Beschlag nehmen«. Dies alles kann von der Fiktionalitätskonvention gesagt werden. Wer liest, verlässt in der Imagination seine reale Umgebung und taucht ein in eine Parallelwelt der Fiktion, des Scheins, des Als-ob; was nicht hindert, dass er oder sie sich in größter Empathie mit den bloß fingierten Figuren identifiziert.

Ob an die Literatur, drittens, gar »kein materielles Interesse geknüpft ist« und ob mit ihr tatsächlich »kein Nutzen erworben wird«, gehört zu den heikleren Fragen, speziell in unserem Kontext. Literatur, die politisch oder pädagogisch wirken will, beansprucht selbstverständlich einen solchen Nutzen, das galt schon für Schillers Auffassung von der Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet. Andererseits gehört es zum Habitus der Literatin oder des Literaten, ein Buch nicht vorrangig um des Geldverdienens willen zu schreiben, sondern aus einem künstlerischen Impetus heraus. Und nicht unüblich ist eine Rezeptionsweise von Literatur, die gar nicht nach dem Zweck und Nutzen der Lektüre fragt, sich ihr vielmehr bis zum Rauschhaften hingibt und so den vernünftigen Zielsetzungen des Individuums (angefangen beim Schlafbedürfnis) sogar zuwiderlaufen kann. Zu solchen Erlebnissen der praktischen Nutzlosigkeit von Kunst und Literatur gehört auch die Erfahrung, entrückt und enthusiasmiert aus einer Kinovorstellung oder von einem Opernbesuch zu kommen – und zu finden, dass für die Lösung der wartenden Alltagsprobleme nicht das Mindeste gewonnen ist.

Huizingas vierte Bedingung lautet, dass das Spiel »sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht«. Das Theater mit seinem Bühnen- und Zuschauerraum sowie seiner fix angesetzten Spielzeit erfüllt diese Voraussetzung. Auch das stille, private Lesen ist von einer gewissen Abschottung gekennzeichnet: Wer liest, ist vorderhand nicht ansprechbar, ist gewissermaßen ›nicht ganz da‹ und entzieht sich der räumlichen Präsenz seines Umfelds; nicht selten vergisst er oder sie auch die reale Zeit und fällt im Moment der hingebungsvollen Lektüre aus dieser heraus. Kennzeichnend für eine sich als politisch verstehende Bühnenkunst ist andererseits, dass sie die vierte Wand zwischen Bühne und Publikum aufzuheben bestrebt ist; zwar kann auch das als bloße Erweiterung des Spielraums empfunden werden, intentional aber will engagierte Kunst dezidiert aufhören, Spiel zu sein, um auf die reale Welt einwirken zu können.

Fünftens und letztens: Literatur als Spiel sensu Huizinga verläuft »nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß«. Auch hier lässt sich sagen: Je engagierter und politischer Kunst sein will, desto weniger ist sie geneigt, sich von einem Regelkanon eingrenzen zu lassen – und desto weniger auch versteht sie sich als Spiel. Umgekehrt wird der Spielcharakter von Literatur desto offensichtlicher, je stärker sie regelgebunden ist und sich einer ordnenden Struktur unterwirft. Evident ist dies bei metrischen Regeln, aber auch bei strukturellen Schemata nach dem Äquivalenz- und Oppositionsprinzip. Roman Jakobsons poetische Funktion ist wesentlich eine Spielfunktion von Sprache.

Die Sichtung von Huizingas formalen Kriterien des Spiels hat ergeben, dass Literatur in der Tat als Spiel aufgefasst und betrieben werden kann; dass dies aber desto weniger zutrifft, je mehr sie sich als engagiert und politisch versteht. Nun lassen sich Literatur und Kunst natürlich nicht vorschreiben, wie sie zu sein haben – spielerisch im Sinne Huizingas oder aber mit dem Anspruch auf gesellschaftlich-pragmatische Relevanz. Im Folgenden möchte ich jedoch auszuloten versuchen, welche Vorzüge es haben kann, Kunst und Literatur als Spiel zu betrachten und zu praktizieren – Vorzüge, die, wie ich behaupte, letztlich auch der politisch-pragmatischen Sphäre wieder zugutekommen.

3 Huizingas kühner Dreh: Nicht spielen, um zu leben – sondern leben, um zu spielen

Welchen pragmatischen Gewinn kann aber eine als Spiel betriebene Literatur mit sich bringen? Üblicherweise wird man hier genauso argumentieren, wie man für den Nutzen des scheinbar selbstgenügsamen Spiels im Allgemeinen Gründe angeben wird, als da etwa sind: Übung der kognitiven Fähigkeiten, soziales Probehandeln inklusive empathischer Sensibilisierung, Erweiterung des Möglichkeitssinns, Kompensation problematischer Affekte etc.

Nun liegt aber eine Haupt-Pointe in Huizingas Konzeption darin, dass er derartige Begründungsformeln gleich zu Beginn seiner UntersuchungFootnote 8 zwar nicht rundweg verwirft, aber doch auch nicht als Letztbegründung für das Phänomen des Spiels bei Mensch und Tier akzeptiert. Anstatt dem Spiel, wie vor und in der Regel auch nach ihmFootnote 9 üblich, primär eine dienende Funktion für die denkbaren Ernstfälle des Lebens zuzuschreiben (also den evolutionären Zweck des Spiels nachzuweisen), betrachtet er vielmehr in einem kühnen Dreh das Spiel selbst als Ziel- und Höhepunkt menschlicher Kultur (wodurch er gewissermaßen die Evolution zur Funktion eines verfeinerten Spielbedürfnisses umdeutet): »Das Spiel […] kann sich auf Höhen der Schönheit und Heiligkeit erheben, wo es den Ernst weit unter sich lässt«.Footnote 10

Damit ist zugleich auch gesagt, dass durchaus nicht jedes Spiel das Zeug hat, zu entsprechenden kulturellen Höhen aufzusteigen; kennzeichnend genug, dass sich Huizinga für Glücks‑, Karten- und Würfelspiele im Grunde nicht interessiert. Es ist eben gerade die Sphäre des Ästhetischen, es sind Kunst, Literatur und Musik, denen Huizinga (neben der kultisch-religiösen Sphäre) das Potenzial zuschreibt, sich in elysische Höhen zu begeben: »In seinen höher entwickelten Formen ist das Spiel durchwoben von Rhythmus und Harmonie, jenen edelsten Gaben des ästhetischen Wahrnehmungsvermögens, die dem Menschen beschert sind. Vielfältige und enge Bande verbinden Spiel mit Schönheit.«Footnote 11

Mit gutem Recht lässt sich also Huizingas Spiel-Konzept auch als ästhetische Theorie lesen. Das emphatisch als höher entwickelt, als harmonisch-rhythmisch durchwirkt gekennzeichnete Spiel – die Kunst also und der verfeinerte Kunstgenuss – werden so aber zur Zielperspektive von Huizingas kulturellem Entwurf. Mehr und Höheres, als ›gar schöne Spiele zu spielen‹ ist dem Menschen letztlich nicht gegeben; wichtig allein, dass sie ›schön‹ seien. An zentraler Stelle zitiert Huizinga in diesem Sinne einen Ausspruch aus Platons Gesetzen: »Man muß Ernst machen mit dem Ernsten […], und es ist Gott, der alles seligen Ernstes wert ist, der Mensch aber ist dazu gemacht, ein Spielzeug Gottes zu sein, und das ist wirklich das Beste an ihm. So muß denn jedermann, ein Mann so gut wie eine Frau, dieser Weise folgend und die schönsten Spiele spielend das Leben leben, gerade umgekehrt gesinnt als jetzt.«Footnote 12

Auch das ist eine ziemlich kühne, radikale Umkehrung der uns geläufigen Prioritätensetzung: Nicht der Lebensernst mit seinen pragmatisch-politisch-sozialen Zwecken ist das Höchste, worauf menschliche Kultur abzielen kann; sondern es sind die Spiele – allerdings nur die schönsten, das hieße im Sinne Huizingas wohl: die kunstvollsten –, welche als Ziel- und Fluchtpunkt kulturellen Strebens gelten müssen. Priorität hat das ›Spiele spielen‹ vor dem ›Leben leben‹; nicht andersherum. So betrachtet, wären aber die Politik und auch das Erziehungssystem darauf auszurichten, den Menschen das Spielen auf allerhöchstem Niveau zu ermöglichen, anstatt umgekehrt Spiel, Kunst und Literatur in den Dienst eines sozialen und politischen Fortschritts zu stellen.

4 Kontaminationsphänomene (1): Spielelemente in einer sich als ernst verstehenden Gesellschaft

So radikal zu Ende gedacht, hätte sich die Frage nach dem pragmatischen Nutzen des Spiels und der Kunst allerdings erledigt. Immerhin rät Platon aber auch dazu, ›Ernst zu machen mit dem Ernsten‹, was offenbar nicht nur nicht das Spielen der ›schönsten Spiele‹ behindert, sondern eine dazu komplementäre Haltung zu sein scheint. Vielleicht wird beides – ganz ernst sein und ganz spielen zu können – immer nur gemeinsam ausgebildet, und keines kann ohne das andere ein sehr hohes Niveau erreichen. Die Fähigkeit, sich mit ganzer Hingabe und Ausschließlichkeit dem Spiel zu widmen, ginge, so betrachtet, Hand in Hand mit dem Vermögen, mit verantwortungsvoller Ernsthaftigkeit lebenspraktische und gesellschaftliche Probleme anzugehen. Es gibt einen kindlich-naiven ›Ernst im Spiel‹, der sich bei anderer Gelegenheit als erwachsener ›Ernst im Ernst‹ bewähren kann. – Dass die Sphären von Spiel und Ernst grundsätzlich auf dialektische Weise ineinander verschlungen sind, bedeutet allerdings nicht, dass es nicht auch eine kontraproduktive Vermischung, ja Kontamination beider Bereiche geben kann; davon soll im Folgenden die Rede sein.

In einem Schnelldurchlauf durch die abendländische Geschichte beschäftigt sich HuizingaFootnote 13 auch mit der Frage, welche Rolle dem Spielerischen in den verschiedenen Epochen jeweils zukam. Nach einer Hoch-Zeit des Verspielten in Barock und Rokoko (man denke nur an das Perückentragen)Footnote 14 konstatiert er für das 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung eine allgemeine Tendenz zu Ernst und Rationalität, während »der Spielfaktor stark in den Hintergrund tritt«.Footnote 15 In Bezug auf seine Gegenwart in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederum beobachtet Huizinga einen dialektischen Umschlag der Verhältnisse. Im Zeichen einer beschleunigten Kommunikation werde etwa im ökonomischen (als ›ernst‹ gedachten) Sektor ein allgemeines Wettbewerbsdenken bestimmend.Footnote 16 Wettbewerb aber ist ein genuines Spiel-Element; der Agon als griechischer Begriff für den Wettstreit gilt Huizinga als ein zentrales Moment des Spiels.Footnote 17 Umgekehrt sieht er beispielsweise den modernen (als ›Spiel‹ auftretenden) Sport kontaminiert durch Ökonomisierung und Professionalisierung;Footnote 18 der Sport wird zu einer höchst ernsthaften, auch wirtschaftlich maßgeblichen Angelegenheit und legt seinen kindlichen Spielcharakter beinahe vollständig ab. Die Bereiche des Spiels und des Ernsts erscheinen so bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander vermengt und korrumpiert; das Spiel wird, als Wirtschaftsfaktor Profisport, mit allem nüchternen Ernst betrieben; in Wirtschaft und Politik hingegen spielen Momente des Unernsten und Kindischen eine wachsende Rolle – mit ausgesprochen unproduktiven Folgen.

Einiges spricht für die Annahme, dass sich die von Huizinga diagnostizierte wechselseitige Kontamination der Sphären von Spiel und Ernst in unserer digitalisierten Gegenwart fortgesetzt und sogar noch verstärkt hat. Im Folgenden möchte ich diese Tendenz zur unproduktiven Ludifizierung eines als ›ernst‹ konzipierten Gesellschaftsbereichs am Beispiel einer persönlich naheliegenden Sphäre knapp durch-›spielen‹.

5 Kontaminationsphänomene (2): Beispiel Universität

Um die im akademischen Betrieb vorfindlichen Spiel-Elemente näher differenzieren zu können, greife ich auf die Klassifikation der Spiele von Roger Caillois zurück. Während Huizinga nur zwei grundlegende Ausprägungen des Spiels unterschied, nämlich den »Kampf um etwas« und die »Darstellung von etwas«,Footnote 19 fügt Caillois diesen zwei weitere hinzu und gelangt so zu vier Grundkategorien, nämlich »agon (Wettkampf)«, »alea (Glück)«, »mimicry (Verstellung)« sowie »ilinx (Rausch)«.Footnote 20 Wenn im Folgenden Momente dieser vier Spielkategorien im gegenwärtigen universitären Betrieb aufgezeigt werden, ist damit nicht behauptet, dass sie nicht immer schon zu einem gewissen Grade dort vorfindlich gewesen wären oder sich nicht grundsätzlich auch produktiv auswirken könnten. Zugrunde liegt aber die Annahme, dass der verdeckte Spielcharakter in der Spätmoderne zugenommen hat und auch die akademische Arbeit zunehmend behindert, ja paralysiert.

a)   agon (Wettkampf). Persönlicher Ehrgeiz und Konkurrenzdenken gehören zum wissenschaftlichen Betrieb fraglos von jeher dazu. In einer neoliberal organisierten akademischen Landschaft wird der Wettbewerb aber allumfassend. Forschungsmittel stehen auch etablierten Professorinnen und Professoren nicht mehr selbstverständlich zur Verfügung, sondern müssen zu einem großen Teil kompetitiv eingeworben werden, was erhebliche Ressourcen an Zeit, Energie und Aufmerksamkeit beansprucht. Preise und Ehrungen dienen fortwährend als Wettbewerbsanreize. Die Evaluation als Wettbewerbselement ist allgegenwärtig und betrifft Lehrveranstaltungen ebenso wie die zu dokumentierenden Leistungen der einzelnen Personen; sie erstreckt sich auf Forschungsbereiche, Fakultäten und ganze Universitäten. Kennzeichnend ist hier insbesondere das Wettbewerbsinstrument des Rankings.

b)   alea (Glück). Die im Wettbewerb zur Verfügung gestellten Ressourcen (Forschungsmittel, Gerätschaften, Räume, vor allem aber Stellen) werden systematisch so verknappt, dass unmöglich alle Mitbewerberinnen und -bewerber, sie seien noch so geeignet, profitieren können. Gespielt wird gewissermaßen die Reise nach Jerusalem, mit einem konstitutiven Element des Glücksspiels. Da das Spiel aber nicht als solches deklariert ist, sind die Verlierer- ebenso wie die Gewinnerinnen gehalten, ihren Erfolg bzw. ihr Scheitern sich selbst und den eigenen (eventuell fehlenden) Fähigkeiten allein zuzuschreiben.

c)   mimicry (Verstellung). Klappern gehörte fraglos schon immer zum Handwerk. In einer digital vernetzten Informationsgesellschaft wird es aber immer noch wichtiger, ›Wissenschaftskommunikation zu betreiben‹, also unablässig die abgeschlossenen und sogar die noch im Prozess befindlichen Arbeiten öffentlich auszustellen, selbstverständlich nicht anders denn stets als Erfolge. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler brauchen eine herzeigbare, stets zu aktualisierende Homepage und sind gehalten, auf den verschiedensten Kanälen zu kommunizieren und zu ›netzwerken‹. Zu ihren Aufgaben gehört es, ein möglichst vorteilhaftes Bild ihrer selbst viral zu halten. Und ihre ›Forschung‹ – die zumindest im geisteswissenschaftlichen Bereich gelegentlich auch ein leises, vorsichtig tastendes Nachdenken sein könnte – wird sich nurmehr pompös als ›Projekt‹, eingekleidet in effektheischende Akronyme, blicken lassen können.

d)   ilinx (Rausch). Speziell die fortwährend ausgesandten Steuerungs- und Belohnungsimpulse, die aus der omnipräsenten digitalen Kommunikation emittieren, halten auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einem permanenten Erregungszustand, der suchthafte Formen annehmen kann. Spürbar wird das vor allem am Gefühl des lähmenden Vakuums, sobald die kommunikativen Impulse einmal ausbleiben – was für konzentrierte geistige Arbeit ja eigentlich eine wichtige Voraussetzung wäre. Der Habitus des Erfolgsmenschen, der so gerne betont, dass er bis zum Anschlag beschäftigt ist, ist auch im akademischen Bereich weitverbreitet. Und fraglos wirkt es in gewisser Weise kognitiv entlastend, wenn die unablässig auf mich einstürzenden Aufgaben mich nicht zur Besinnung kommen lassen und mich in einem Zustand des rauschhaften Schwindels halten; für die nüchterne Arbeit ist hierdurch freilich nichts gewonnen.

Es dürfte bei dieser schlagwortartigen, nicht ganz von verspielter Polemik freien Zustandsschilderung deutlich geworden sein, dass, zumindest im akademischen Bereich, die Verquickung mit Spiel-Elementen der ernsthaft-nüchternen, rationalen Arbeit wenig zuträglich ist. Festzuhalten ist zugleich, dass es sich bei den aufgezeigten Tendenzen immer nur um Spiel-Elemente und Spielartiges handelt, das im Zuge einer übergreifenden gesellschaftlichen Tendenz gleichsam in den Wissenschaftsbetrieb, ihn korrumpierend, diffundiert. Mitnichten wird hingegen tatsächlich, das heißt hier: im Sinne Huizingas, gespielt; dazu fehlen die zentralen Eigenschaften der unbedingten Freiheit und Freiwilligkeit, der klaren Unterscheidung zwischen der Spiel- und der ›wirklichen‹ Welt, der Ausblendung von Erwägungen eines rationalen Nutzens und Gewinns, der räumlichen und zeitlichen Einhegung des Spielbereichs. So, wie der Spielsüchtige nicht mehr als Spielender im Sinne Huizingas gelten kann, da er nicht mehr in Freiheit über Anfang und Ende des Spiels verfügt und das Spiel für ihn zur entgrenzten, allzu ernsthaften, ja bedrohlichen Angelegenheit wird: so verliert auch das kontaminierte berufliche ›Spiel‹ letztlich eben doch seine wesentlichen Spielmerkmale und büßt dadurch zugleich alle Gratifikationen des genuinen Spiels ein. Wir spielen nicht richtig, wir spielen dort, wo Ernst nottäte, wir spielen die falschen Spiele – und, was vielleicht das Bedauerlichste ist: Wir büßen die Zeit und die Fähigkeit dazu ein, stattdessen die ›schönsten Spiele zu spielen‹.

Es scheint offensichtlich, dass die Kontamination der Sphären von Spiel und Ernst bei weitem nicht nur im universitären Bereich zu finden ist, sondern ein grundlegendes gesellschaftliches Phänomen der Gegenwart darstellt. Das Überhandnehmen von Momenten des Spiels und des Unernsten zeigt sich in einem entgrenzten Wettbewerb (agon), einem Hang zur Spekulation (alea), dem Zwang zur reklamehaften Selbstdarstellung (mimicry) sowie einer permanenten, sinnbenehmenden digitalen Reizüberflutung (ilinx). So aber lassen sich nur schwerlich die bedrängenden globalen Probleme lösen; der fehlgeleitete Spieltrieb absorbiert wichtige Energien und verhindert die unerlässliche Fokussierung auf Problemursachen und mögliche Lösungen. Mehr noch: Es sieht so aus, als wäre das Absolutsetzen des aus der Spielsphäre stammenden Wettbewerbsgedankens maßgeblich für die drängendsten Probleme unserer Gegenwart verantwortlich. Der Zwang zum fortgesetzten Wachstum (nach dem Prinzip des agon) sorgt allein infolge des damit verbundenen unstillbaren Energiehungers für ökologische Verheerungen. Und auch die negativen individuellen Folgen eines Imperativs der Steigerung, der Selbstoptimierung und mimikryhaften Selbstdarstellung wären hier zu nennen, insofern sie verbreitet auf psychische Krankheiten wie Burnout und Depression hinauslaufen.

6 Vermischung von Ernst und Spiel, anders gewendet: Ästhetisierungsprozesse und das Kreativitätsdispositiv gemäß Reckwitz

Eine neue Entflechtung der Bereiche von Ernst und Spiel, von Pragmatik und Ästhetik, scheint also notzutun. Auf eine solche Forderung laufen auch Überlegungen des Soziologen Andreas Reckwitz hinaus, dessen 2012 publizierte Schrift Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher ÄsthetisierungFootnote 21 zum Teil ganz verblüffende Ähnlichkeiten mit Huizingas Gedanken von 1938 aufweist. Dabei befasst sich Reckwitz nicht mit dem Spiel, sondern mit einem sozialen Phänomen, das er als Ästhetisierung bezeichnet. Ihm zufolge ist unsere Gegenwart nicht, oder jedenfalls nicht mehr vorherrschend, von Prozessen einer Ent-Ästhetisierung geprägt, wie man das eigentlich von einer auf Zweckrationalität und Ökonomie ausgerichteten Gesellschaft erwarten würde. Vielmehr, so Reckwitz, wird das Ästhetische, und zwar als sinnlicher Reiz des Neuen, Überraschenden, affektiv Ansprechenden, sogar immer wichtiger und habe sich als Kreativitätsdispositiv spätestens seit den 1980er Jahren im Sinne einer Leitidee durchgesetzt. Jede Firma, jede Organisation und auch jedes Individuum wolle – und solle – heute kreativ und schöpferisch sein und orientiere sich damit an einem Ideal, welches das Kunstsystem seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, zunächst als Genieästhetik, postuliert habe. Aber während sich dieses Kunstsystem zu Zeiten des Sturm und Drang, der Romantik und noch bis weit bis ins 20. Jahrhundert hinein als Gegendiskurs zum ökonomischen Fortschrittsdenken betrachtet habe, gingen seit dem letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts der Kreativitätsgedanke und die rationale Optimierungslogik eine neue und nur auf den ersten Blick paradoxe Verbindung ein.

Wesentlich für das Kreativitätsdispositiv ist, Reckwitz zufolge, die soziale Erwartung, fortgesetzt Innovationen im Sinne ästhetisch wirksamer Reize für ein darauf eingestelltes Publikum zu produzieren.Footnote 22 Beispiele dafür sind schnell zur Hand, man denke etwa an die periodisch sich ändernde Nutzeroberfläche digitaler Software oder daran, dass wirtschaftliche, politische oder kulturelle Institutionen gehalten sind, sich regelmäßig in einer neuen Optik und mit innovativen Konzepten zu präsentieren. Auch Einzelpersonen unterliegen bzw. folgen willig dem Erwartungsdruck, sich selbst, ihr Outfit, ihre Einstellungen, Beschäftigungen, Beziehungen und sozialen Handlungsroutinen permanent zu revidieren, beruflich wie privat, und zwar als fortgesetzte Folge ästhetischer Reizimpulse für ein Publikum, das sich vor allem in der digitalen Kommunikation findet. Dass die Erwartung und der Druck, ständig kreativ sein zu sollen, zu erheblichen psychischen Belastungen führen kann – Reckwitz nennt hier Aufmerksamkeitsstörungen, Burnout, Depression und SuchtkrankheitenFootnote 23 – gehört zu den Kehrseiten einer wirtschaftlich erfolgverheißenden und affektiv stimulierenden Praxis. Festzuhalten ist also zunächst, dass der ökonomische Steigerungsimperativ und das aus dem Kunstsystem stammende Kreativitätsideal als Motor einer ständigen Innovation, dass also Zweckrationalität und Ästhetik einander durchaus nicht im Wege stehen müssen, sondern im spätmodernen Kreativitätsdispositiv eine ausgesprochen wirkungsmächtige Verbindung eingehen.

Es ist, wie gesagt, verblüffend, zu sehen, wie die historisch und forschungsmethodisch so unterschiedlichen Entwürfe Huizingas und Reckwitz’ in einigen ihrer zentralen Befunde zusammengehen. Gemeinsamkeiten finden sich bis hin zu ähnlich angesetzten historischen Wendemarken in Bezug auf das Verhältnis von Spiel und Ernst, Ästhetisierung und Pragmatismus.Footnote 24 Was aber speziell Huizingas entgrenzt-diffundiertes Spiel und Reckwitz’ Ästhetisierung im Zeichen des Schöpferischen zusammenbringt, sind die Spiel-Momente des agon (Wettkampf) und der mimikry (Verstellung oder Darstellung-von-etwas). Der unsere Gegenwart beherrschende ästhetische Innovationsdruck vereint den Wettbewerbsgedanken mit dem der Selbstdarstellung vor einem Publikum: Stets gilt es für die Player der Spätmoderne, sich selbst und das geistig oder materiell Produzierte im allgemeinen Wettbewerb als neu, überraschend, auffallend, kreativ, als ästhetisch und affektiv wirksamen Reiz zu positionieren.

Dass dies als soziale Grundverfasstheit auf die Dauer nicht trägt, ist im Laufe dieser Ausführungen schon mehrmals angeklungen. Es trägt nicht in individueller Hinsicht und kann psychische und wohl auch physische Krankheiten nach sich ziehen; es trägt aber (worauf nun allerdings Reckwitz nicht mehr eingeht) auch als globales Konzept nicht und führt zu ökologischen Verwerfungen bis hin zur sich abzeichnenden Klimakatastrophe. Denn indem, wie Reckwitz zeigt, die Ästhetisierung sozusagen als affektives Schmiermittel eines ökonomischen Wachstums- und Fortschrittsdenkens fungiert,Footnote 25 ist sie auch mitverantwortlich für dessen globale Verheerungen.

7 Klimaaktivismus als systemkonformer, ästhetisch wirksamer Reiz. Aufruf zu einem ›Klimapassivismus‹

Damit komme ich zurück zur Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben, wie sie die Londoner Klimaaktivistinnen so pointiert gestellt haben. Im Licht des zuletzt Gesagten erscheint es vielleicht sogar angebracht, dem Ästhetischen insgesamt zu misstrauen, insofern es nämlich heute teilhat am Fortbestehen einer nicht nachhaltigen, zerstörerischen Ökonomie des unbegrenzten Wachstums und der Ressourcenausbeutung. Van Gogh freilich und seine Sonnenblumen können nichts dafür, wohl aber ist eine allgemeine Ästhetisierung im Sinne des Reckwitz’schen Kreativitätsdiktats, wie gesehen, keineswegs unschuldig an der gegenwärtigen globalen Krise.

Nun müssen sich allerdings die Bilderstürmerinnen ebenso wie die Klimakleber fragen lassen, ob sie sich mit ihrer Vorgehensweise nicht allzu gut selber in das Muster des Kreativitätsdispositivs einpassen. Immer wieder wird zu ihrer Verteidigung gesagt, die Lage sei nun einmal ernst, und nur mit solch störenden, verstörenden, im Grunde aber harmlosen Aktionen könne es gelingen, die notwendige Aufmerksamkeit zu erlangen und die Öffentlichkeit so auf die Dringlichkeit des Problems hinzuweisen. Letztlich gehe es also darum, zunächst Diskursmacht zu gewinnen, dadurch die zu diskutierenden Themen zu setzen – um dann rational an diesen Themen arbeiten zu können. Ob sich in einer so aufgeheizten und von persönlichem Ärger geprägten Atmosphäre noch nüchtern-rational an Problemlösungen arbeiten lässt, erscheint zum einen mehr als zweifelhaft; Empörung provoziert weitere Empörung, Aufgeregtheit weitere Aufgeregtheiten. Interessant in unserem Zusammenhang ist aber vor allem, auf welche Weise hier die öffentliche Aufmerksamkeit gewonnen wird; nämlich letztlich durch einen ästhetisch wirksamen Reiz. Ein berühmtes Gemälde mit Tomatensuppe zu überschütten oder sich ebenso stoisch wie effektheischend auf der Fahrbahn vor einer sich aufstauenden Fahrzeugkolonne zu fixieren, ist nur wirksam als medial verbreitetes Bild; als solches aber wirkt es zuerst neu, anders, überraschend, verstörend vielleicht – und folgt damit exakt dem Muster der von Reckwitz beschriebenen kreativen Innovation als sinnlich wirksamer Effekt. (Nebenbei: Der Unmut der vom Klimakleberstau betroffenen Personen rührt zum Teil vielleicht auch daher, dass sie hier ungefragt und auf eigene Kosten zu Komparsen einer auf Medienwirkung berechneten Inszenierung werden). So kann es aber passieren, dass sich der Aktionismus als Reiz unter Reizen verschleißt, mehr noch: dass er das allzu bekannte, seit Jahrzehnten eingeschliffene Muster der Neuigkeit um der Neuigkeit willen, der Setzung des überraschenden Ausrufzeichens als Routine zweiter Ordnung,Footnote 26 ganz systemkonform erfüllt und daher das System, das ja bekämpft werden soll, sogar noch affirmiert. Der mediale Zirkus der Aufgeregtheiten dreht sich noch ein wenig schneller, und es passiert substantiell: nichts.

Aber vielleicht muss ja auch gar nicht unbedingt etwas ›passieren‹, wenn es die Bekämpfung der Ursachen des Klimawandels gilt? Die Klimaaktivistinnen und -aktivisten fordern, was Aktivistinnen und Aktivisten eben fordern, nämlich Aktionen. Es muss etwas geschehen, es muss Maßnahmen geben, es bedarf technischer Innovationen, und zwar schnell. Um nicht missverstanden zu werden: Sicher ist es wichtig und richtig, dass gezielte politische Maßnahmen, wissenschaftlich abgesichert, zur Verhinderung des fortschreitenden Klimawandels und zugleich zur Abmilderung von dessen Folgen ergriffen werden, am besten in einem global abgestimmten Kraftakt. Ebenso richtig ist aber auch, dass die Lösung so mancher drängender Probleme nicht im Tun, sondern im Unterlassen liegt. Es wäre ja schon viel gewonnen, wenn wir kollektiv weniger täten: weniger reisen, weniger produzieren, weniger konsumieren, weniger energieintensiv kommunizieren, weniger unserem Spieleifer folgen und permanent ressourcen- und arbeitsintensiv neue Projekte auf den Weg bringen. Kaum etwas könnte wahrscheinlich dem Weltklima (und, nebenher, der kollektiven psychischen Gesundheit) mehr helfen als ein radikaler Passivismus. Kaum etwas könnte aber zugleich provokanter, verstörender, tatsächlich einmal in substantieller Hinsicht innovativer sein als ebendies: dem von so langer Hand eingeübten Impuls zu widerstehen, auf ein Mehr desselben, auf ökonomische Steigerung zu setzen. Vielleicht brauchen wir nicht einfach mehr Windräder, mehr Elektrofahrzeuge, mehr Digitalisierung und künstliche Intelligenz (die übrigens skandalös energieintensiv ist), sondern sogar davon weniger. Im Grunde gehört alles, was wir tun, auch beruflich, auch im universitären Kontext, auf den Prüfstand und daraufhin hinterfragt, ob es nicht in Wirklichkeit auf eine massive, rauschhafte Energieverschwendung im Zuge eines entfesselten Spieltriebs hinausläuft. Aber so sind wir nicht zu leben und wirtschaften gewohnt, und nichts könnte subversiver wirken als die Weigerung, an der Erfüllung eines diffusen Optimierungsversprechens durch die Erhöhung der eigenen Aktivität mitzuwirken. Niemand möchte hier den Spielverderber geben.

8 Vom affektiven Mehrwert der Kunst und des Spiels

Es wird gesagt, Verzicht sei auf keinen Fall eine Lösung, Askese keine Option, das bloße Nichtwollen ergäbe noch keine tragfähige positive Motivation, mit Bußpredigten sei kein Blumentopf zu gewinnen und schon gar nicht die Welt zu retten; und das alles stimmt wahrscheinlich auch. Die vielleicht faszinierendsten Passagen in Andreas Reckwitz’ Auseinandersetzung mit dem Kreativitätsdispositiv sind diejenigen, in denen er den Mehrwert des Ästhetischen für den Einzelnen und die Gesellschaft aufzeigt.Footnote 27 Der Hunger nach Kreativität und nach ästhetischen Erlebnissen sei deshalb so groß, weil sich von Ökonomie und Zweckrationalität allein seelisch nicht leben lasse. Der Mensch brauche den spielerischen Reiz des Ästhetischen, und er finde ihn auch zu Genüge in seiner spätmodernen bunten, schöpferischen Welt, abwechselnd Kunstschaffender und Publikum, wo er sich täglich neu erfinden und darstellen kann und wo seine Umgebung ihn täglich neu, überraschend und reizvoll verändert anlacht. Von den seelischen und affektiven Kosten dieses Innovationsspiels ist bereits die Rede gewesen; dies jedenfalls sind seine affektiven Gratifikationen.

Wenn es also heute Verzicht zu lernen gilt, dann kann das keinesfalls ein Verzicht auf die Kunst und auf das Ästhetische sein. Reckwitz schlägt so auch gegen Ende seiner Ausführungen keineswegs vor, das Ästhetische aus dem sozialen Leben zu verbannen.Footnote 28 Was er anregt, ist, Formen des Ästhetischen wieder stark zu machen, die es jenseits des Kreativitätsdispositivs gibt und auch davor stets gegeben hat. Wenn dieses Dispositiv die fortwährende Innovation fordert und eine Aufspaltung in Kreative und deren Publikum voraussetzt, plädiert Reckwitz für die Kultivierung einer »Alltagsästhetik der Wiederholung«Footnote 29 sowie einer »profane[n] Kreativität«, die ohne externes Publikum auskommt und »nur Teilnehmer und Mitspieler«Footnote 30 kennt. Gefordert wird also eine Kunst als selbstgenügsames Spiel, jedem und jeder zugänglich, Kunst als repetitive Übung, als Praxis der Wiederholung und Vertiefung, die nicht auf die Sensation des Neuen schielt und überhaupt nicht das Sich-Blähen vor einem Publikum im Sinn hat. Gemeint ist Kunstübung und Kunstgenuss im Sinne eines sich selbst Energie gebenden Flows, nicht aber im Dienst extrinsischer Erfolgserlebnisse. Oder, um es in Begriffen der Spieltheorie zu sagen: Es gilt, Spiele zu spielen, die die Momente des Wettbewerbs (agon) und der Darstellung-von-etwas (mimikry) zwar einschließen (denn durch sie sind Spiele sensu Huizinga definiert), diese Momente aber im Zirkel des Spiels belassen und sie gleichsam symbolisch feiern, statt mit ihrer Hilfe einen pragmatisch-sozialen Nutzen und Mehrwert erreichen zu wollen.

9 Schule und Literaturunterricht als Labore einer Gesellschaft der »schönsten Spiele« – auch zugunsten der Rationalität

Wo könnte mit der Etablierung einer solchen repetitiven, selbstgenügsamen Kultur des Spiels und der Kunst begonnen, wo könnte sie gepflegt werden? Beispielsweise in der Schule. Beispielsweise in den musischen Fächern. Kunst und Gestaltung, Musik. Deutsch. In einer Schule, die sich viel mehr Zeit nimmt für die Beschäftigung mit schönen Dingen, ließe sich auch gesellschaftlich ein Anfang machen. Zu kurz greifen würde es allerdings, für die bestehenden schulischen Strukturen einfach einen größeren Anteil künstlerischer Themenstellungen zu fordern; und geradezu kontraproduktiv wäre es, den pragmatischen Nutzen literarischer Bildung nachweisen zu wollen, also literarisches Lernen in den Dienst der Ausbildung individueller Fitness und Resilienz zu nehmen. Wenn die Gesellschaft eine andere werden soll – nämlich eine zugleich verspielte und rationale –, dann muss die Schule als Spiegel und Modell der Gesellschaft ebenfalls allmählich eine andere werden. Eine Schule, die wirklich Spielräume eröffnet, kann dann nicht mehr dem Wettbewerbs- und Steigerungsprinzip verpflichtet sein. Spielräume müssten vielmehr geschaffen werden, die eine intensive Beschäftigung mit schönen Dingen, im Sinne der repetitiven Übung und des selbstgenügsamen Spiels, erlauben würden. Im Deutschunterricht und vielleicht darüber hinaus, in einer Art literarisch-musischem Wahlfach, könnte dann ungefähr das Folgende auf der Agenda stehen: Gestaltend und künstlerisch literarische Texte vorlesen und rezitieren; literarische Texte selbst verfassen (als Ziel, nicht als Methode); Theaterspielen; kurze Filme gestalten und überhaupt mit digitalen Hilfsmitteln künstlerisch arbeiten; über literarische Texte sprechen und dabei zugleich das Miteinander-Reden und den rationalen Diskurs üben; literatur- und medientheoretisches Wissen erwerben, vor allem, wenn dies spürbar den ästhetischen Genuss erweitern und vertiefen hilft; in diesem Zusammenhang auch wissenschaftspropädeutisch über literarische Texte sprechen und schreiben lernen (aber eben nur im Zusammenhang mit einer durch Spielräume ermöglichten ästhetischen Erfahrung, nicht als eine darum betrogene, entfremdete Kompetenzübung).

Es ist vielleicht nicht müßig, daran zu erinnern, dass der Begriff Schule auf das altgriechische Wort für Muße zurückgeht. Schule hat nicht allein den Zweck, den Lernenden diejenigen Kompetenzen zu vermitteln, mit deren Hilfe sie in einem sozialen Umfeld des Wettbewerbs und der Selbstbehauptung bestehen können. Wichtig wäre es auch, den Schülerinnen und Schülern Handlungsroutinen auf den Weg zu geben, um die viele freie Lebenszeit auf eine persönlich sinnvolle und befriedigende Weise bewältigen zu lernen, ohne in einen ressourcenintensiven Aktionismus in Freizeit und Arbeitsleben zu verfallen. Es gilt, die Kinder das Spielen zu lehren, im Sinne einer Lebenskunst. Die, wie es aussieht, zugleich zur Überlebenskunst werden könnte; dann nämlich, wenn das Spielbedürfnis sich im ästhetischen Bereich ausspielen kann, sodass, individuell wie kollektiv, der Kopf klar und das Gemüt aufgeräumt genug ist, auf rationale Weise und unaufgeregt gemeinsam die drängenden globalen Probleme angehen zu können. Vielleicht geht das nur, wenn wir, schon in der Schule, lernen, uns nicht auf entgrenzte Spielereien des Wettbewerbs und der Selbstdarstellung, ungenau zwischen Spiel und Ernst lavierend, einzulassen; sondern uns, auch zugunsten unserer Rationalität, mit nicht weniger begnügen als nur mit den schönsten Spielen; in Kunst, Musik und Literatur.