1 Einleitung

Der Roman Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens (1896) von Gabriele Reuter (1859–1941) erzählt in zwei Teilen die Lebens- bzw. Leidensgeschichte Agathe Heidlings; einer Tochter aus gutem Hause, die auf ihrem vorbestimmten Weg zu Ehe und eigener Familie scheitert und ihr Dasein am Ende apathisch, ohne Lebensfreude und Hoffnung an der Seite ihres alten Vaters fristet. Die letzten Sätze des Romans verweisen auf eine trostlose Zukunft.

»Sie seufzt oft und ist traurig – zumal wenn die Sonne hell scheint und die Blumen blühen, wenn sie Musik hört oder Kinder spielen sieht. Aber sie wüßte kaum noch zu sagen, warum …

[…] Und Agathe hat vielleicht ein langes Leben vor sich – sie ist noch nicht vierzig Jahre alt.«Footnote 1

Im Lebensweg der Protagonistin erblicken viele Leserinnen und Leser um 1900 das Schicksal einer gescheiterten weiblichen Bildungsbiografie. Agathe Heidling gilt dabei als typische Repräsentantin einer Tochter aus guter bürgerlicher Familie, deren Erziehung und Sozialisation auf die spätere Rolle als Ehefrau und Mutter vorbereitet und die zur Gruppe derjenigen zählt, die dieses Ziel nicht erreichen und zurückbleiben.Footnote 2

»Das Schicksal, das sie schildert, ist typisch. Und dass sie es typisch und, sei es mit Absicht, sei es aus Unvermögen, wenig individualisirt schildert, macht die Darstellung um so wuchtiger und bitterer. Ein junges Mädchen aus guter Beamtenfamilie, klug, hübsch, spät und langsam reifend.«Footnote 3

Reuters Werk wird ein großer Publikumserfolg und verhilft der Autorin, die bereits zuvor einige Erzählungen und einen Roman ohne größere Resonanz veröffentlicht hat, zum Durchbruch.Footnote 4 In ihrer Autobiographie erinnert sich Reuter an diesen Wendepunkt in ihrer Karriere als Schriftstellerin:

»Ich war am Ziel. […] Die angesehensten Kritiker schrieben lange Besprechungen. […] Ganz Deutschland beschäftigte sich mit dem Buche. Es weckte einen Sturm in der Frauenwelt – die wildeste Erregung unter Vätern und Müttern. Ernste, reife Männer haben mir noch nach Jahren versichert, die Lektüre habe ihr Herzensverhältnis zu ihren Töchtern von Grund auf verändert. […] Auf einen literarischen Erfolg hatte ich gehofft – den kulturellen Einfluß, den mein Buch auf die Entwicklung des deutschen Mädchens, der deutschen Familie haben würde, konnte ich nicht voraussehen! […] Mein Roman wirkte wie das Durchstechen eines Dammes, hinter dem die Fluten sich schon angestaut haben.«Footnote 5

Reuter erwähnt den großen »kulturellen Einfluß«, den das Buch, das zum Jahreswechsel 1895/96 bei S. Fischer in Berlin veröffentlicht wird, als literarischer Diskursbeitrag zur Zeit der Jahrhundertwende auf innerfamiliäre Beziehungsstrukturen hatte. Allein im ersten Jahr erscheinen vier Auflagen des Romans und eine Vielzahl an Rezensionen. Spätestens Ende der 1920er Jahre findet der Roman aber immer weniger Beachtung.Footnote 6 Ein Umstand, der auch von der Autorin in einem Beitrag für die Zeitung Neue Freie Presse registriert wird, wenn sie auf den Erfolg zurückblickt und gleichzeitig die rezente Depopularisierung des Romans hervorhebt.

»Ja – und dann entbrannten die Herzen und die Geister der weiblichen Jugend über diesem, in tiefer Stille gewordenen Buch, und es wurde für Unzählige zum Schicksal und zur Wende ihres Lebens. […] So wirkte das Werk vor dreißig Jahren. Heute aber lachen die jungen Mädchen darüber, als vor etwas sehr Komischem, Verstaubtem, unbegreiflich Altmodischem.«Footnote 7

Dreißig Jahre, so die Autorin, liegen bei Aus guter Familie zwischen der Popularität eines Kultbuchs, das »für Unzählige zum Schicksal und zur Wende ihres Lebens [wurde]« und »etwas sehr Komischem, Verstaubtem, unbegreiflich Altmodischem«.

Um diesen Prozess der Depopularisierung soll es im Folgenden gehen, wenn in einem ersten Schritt anhand von zwei zeitgenössischen Rezensionen, die kurz nach der Veröffentlichung des Romans erscheinen, zwei exemplarische Lesarten vorgestellt werden, die die Popularität und die literarische Bedeutung des Werks unterschiedlich begründen. Auf dieser Basis soll dann in einem zweiten Schritt gefragt werden, welche Faktoren die Depopularisierung des Romans beschleunigt haben.

Popularität wird hier, nach Penke und Schaffrick, als das quantitative und damit auch skalierbare Ergebnis von Beachtung verstanden.Footnote 8 Das bedeutet, dass die Zuschreibung von Popularität, nach dieser Definition, kein qualitatives Werturteil über den Gegenstand impliziert. »Populär ist, was bei vielen Beachtung findet.«Footnote 9 Depopularisierung verweist in diesem Zusammenhang dann auf einen noch näher zu klärenden Prozess des Beachtungsverlusts.

Dass Gabriele Reuters Roman schon kurz nach Erscheinen populär ist, lässt sich nicht nur allein durch die hohen Auflagenzahlen stützen. Aussagekräftiger ist die Tatsache, dass die vielfache Beachtung des Buches in zeitgenössischen Rezensionen oder Vorträgen schon früh zum Thema und Bezugspunkt wird, denn »[j]e größer die Beachtung eines Artefakts ausfällt, desto wahrscheinlicher ist es, dass man sich in der Kommunikation mit Erfolg darauf beziehen kann […].«Footnote 10

»Sie kennen ihn [Reuters Roman; B.D.] gewiss alle, meine verehrten Anwesenden, zum mindesten vom Hörensagen und aus Besprechungen.«Footnote 11

Diejenigen, die das Buch (noch) nicht gelesen haben, partizipieren, da kann sich der Redner sicher sein, dennoch am Wissen über die Bekanntheit des Romans durch ihre Teilhabe an öffentlicher, und/oder privater Kommunikation.

2 »Ein Schrei der Entrüstung und Empörung«. Aus guter Familie als gesellschaftskritische Anklageliteratur

Im Februar 1896 und damit nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung des Romans erscheint in der Zeitschrift Die Frauenbewegung eine längere Rezension von der Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Helene Stöcker. Zu Beginn heißt es:

»Es ist ein Buch, das in litterarischen Kreisen berechtigtes Aufsehen macht, diese (im Verlag von S. Fischer, Berlin) erschienene ›Leidensgeschichte eines Mädchens‹. Wir kennen sie alle, diese ›Leidensgeschichte‹ – und wenn wir selbst uns auch vielleicht daraus gerettet haben, so dürfen wir nicht vergessen, daß Tausende von jungen Mädchen sie noch erleiden, Tausende von jungen Kräften noch gewaltsam festgebannt sind – daß Tausende von jungen, frischen Menschen niemals zum beglückenden Bewußtsein ihrer eigenen Persönlichkeit gelangen.«Footnote 12

Das »Aufsehen«, das dieser Roman schon kurz nach Erscheinen erregt, wird von Stöcker akzentuiert und positiv bewertet. Mit der folgenden »Wir«-Formel drückt Stöcker nicht nur ihre persönliche Anteilnahme am Buch aus, wenn sie in der Suggestion einer gemeinsamen Lebenswelterfahrung sich selbst, die angesprochenen Leserinnen und nicht zuletzt die fiktive Protagonistin als populären Topos einer kollektiven Schicksalsgemeinschaft beschwört (»Wir kennen sie alle, diese Leidensgeschichte.«).Footnote 13 Die Protagonistin Agathe Heidling steht für Stöcker dabei stellvertretend für das Los von tausenden jungen Mädchen, die nicht aus freiwilligem Entschluss keinen Ehemann gefunden haben.

»Es ist wohl nicht zu viel behauptet, wenn ich sage: ihre ›Agathe‹ ist typisch für eine ganze Klasse von jungen Mädchen – und es sind nicht die schlechtesten. Sie ist eine scheue, tief empfindende, ›echt weibliche‹ Natur, die, wenn der Zufall es so gütig gefügt hätte, eine liebenswerte Gattin und Mutter geworden wäre. Aber der Zufall hat es nicht so gefügt und thut es in solchen Fällen meistens nicht.«Footnote 14

Vor diesem geschlechtsspezifischen biografischen Erfahrungshintergrund entwickelt Stöcker im Folgenden ihre Lesart des Romans als eine aufrüttelnde Anklageschrift in Bezug auf die Erziehung und Ausbildung junger Frauen.

»Ich glaube, wenn man über das Unrecht, das die ›Gesellschaft‹ an ihren Gliedern begangen, einmal zu Gericht säße, das Unrecht, das sie an den unseligen ›höheren Töchtern‹ geübt, müßte zum Himmel schreien. Und solch ein Schrei der Entrüstung und Empörung ist dieses Buch – ein Notschrei, wie ihn nur jahrelange, grenzenlose Martern einer Frau erpressen können, und zu dem bis jetzt – meines Wissens – kaum eine Frau den Mut und die Ehrlichkeit gehabt. Man hat nach dem Lesen ihres Buches nur den einen großen Wunsch, daß diese Anklage in recht viele Ohren und Herzen dränge, damit den Anschauungen und Zuständen, die junge, frische Menschen zu solch unsinnigem Martyrium verurteilen, ein schnelles und gründliches Ende bereitet werde.«Footnote 15

Für Stöcker besteht in der schonungslosen Aufdeckung gesellschaftlicher Missstände sowie im Plädoyer für einen Kultur- und Mentalitätswandel im Umgang mit den »höheren Töchtern« die kritische Kernbotschaft des Romans. Dass diese Kritik aus der Position einer »gemarterten« Frau vorgetragen wird, unterstreicht die Authentizität der Darstellung und verleiht dem Roman im Sinne eines mutigen Einspruchs gegen die systematische Unterdrückung weiblicher Lebensaspirationen Glaubwürdigkeit. Stöcker sieht bzw. hört in dem Text einen »Schrei der Entrüstung« und erhofft sich, dass dieser möglichst »in recht viele Ohren und Herzen dränge«. Mit dem Akzent auf eine gesellschaftskritische Tendenz und Wirkungsabsicht erübrigt sich für Stöcker auch die Frage nach einer spezifischen literarischen Qualität des Buches.

»Ich will von dem künstlerischen Wert des Buches gar nicht reden; er interessiert uns hier erst in zweiter Linie – aber auch, wenn er weniger groß wäre, als er thatsächlich ist, würde ihr Buch hochbedeutsam sein.«Footnote 16

Die große Bedeutsamkeit des Buches liegt nicht nur für Stöcker, sondern auch für andere Stimmen im Umfeld der Frauenbewegung vor allem im subversiven Identifikations- und Wirkungspotential der deprimierenden Lebensgeschichte Agathes.Footnote 17 Mit der eindringlichen Leseempfehlung verbindet Stöcker die Hoffnung auf eine die Augen öffnende Schlüssellektüre, der es gelingt, weitreichende gesellschaftliche Veränderungen vor allem in Bezug auf die Sozialisation junger Frauen anzustoßen.

»Wer es bis dahin noch nicht gewußt und geahnt hat – ich meine, nach der Lektüre dieses Buches müßte auch den verstocktesten Ohren und Herzen deutlich sein, welches Verbrechen man an der ganzen einen Hälfte der Menschheit begeht, wenn man sie nur für die Liebe erzieht – ohne die Sicherheit zu haben, ihr dieses Glück geben zu können, und sie so um jenes andere höchste Glück der Erdenkinder, das Glück, Persönlichkeit zu sein, betrügt. ›Etwas Werdendes‹, ›Sich Entwickelndes‹ sein zu dürfen – darin liegt die Befreiung. Und zu dieser Befreiung, die wir ja alle erstreben, wird auch dieses Buch mächtig mitwirken, das nicht nur eine künstlerische, sondern auch eine sittliche That ist.«Footnote 18

Dem Roman als exemplarische Antibildungsgeschichte einer jungen Frau aus guter Familie wird von Stöcker insgesamt eine »rücksichtslose[] Wahrhaftigkeit«Footnote 19 zugesprochen, die sich auf den innertextlichen Entwurf einer konsequent aus der weiblichen Perspektive erzählten und insbesondere für Leserinnen wiedererkennbaren Lebenswelt bezieht. Diese geschilderte Lebenswelt ist für Stöcker ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit um 1900, so dass sich die Wahrhaftigkeit des Romans nicht zuletzt auch in seinem ethisch-moralischen Appellcharakter als Aufruf zu konkreten Reformen im Erziehungswesen und zu einer »Befreiung« von rigiden weiblichen Rollenmustern zeigt.

3 »Die Leiden der jungen Agathe«. Aus guter Familie als autonomes Kunstwerk

Eine ganz andere Lesart präsentiert Benno Rüttenauer in seiner Rezension des Romans in der Zeitschrift Die Nation. Auch Rüttenauer beginnt wie Stöcker mit einem Hinweis auf die Popularität des Romans.

»Haben Sie das Buch gelesen Aus guter Familie von Gabriele Reuter (Verlag von S. Fischer, Berlin)? Ich wurde es immer wieder gefragt und ich hatte es immer nicht gelesen. Ich spürte auch gar keine Lust dazu. Die Thatsache, daß ein Buch in einem halben Jahre drei oder vier Auflagen erlebt, beweist in Deutschland nichts für seinen litterarischen Werth; sie beweist sehr oft das Gegentheil.«Footnote 20

Für Rüttenauer ist klar, dass hohe Auflagen eines Buches und kommunikative Präsenz noch keine Zeichen für literarische Qualität sind. Eher im Gegenteil. Popularität lasse, so der Kritiker, eher auf Trivialität oder, schlimmer noch, auf eine moralische Tendenz schließen.

»Und dann waren mir einige Besprechungen zu Gesicht gekommen, die mich in meinem Vorurtheil nur bestärkten: als ob das Buch seinen auffallenden Erfolg einzig und allein gewissen praktischen Wirkungen verdankte, die man sich von ihm versprach. Diese Berichterstatter faßten es ganz so auf. Der Roman der Gabriele Reuter war für sie vor allem ein mächtiger Stoß in das große Horn, auf dem heut jeder tuten soll, der gehört werden will.

Auch der deutschen Kritik, wie dem deutschen Publikum, gilt im Grunde vielfach das rein Künstlerische und also auch das rein Litterarische als Larifari. […] Ein Buch, das nicht achtlos bei Seite geschoben werden soll, muß daher vor allem eine Moral haben – nämlich einen Kern von praktischer Bedeutung. Sonst gilt es meist für eine hohle Nuß.«Footnote 21

Rüttenauer bezieht sich hier kritisch auf Lesarten des Romans, die, wie Helene Stöcker, in dem Buch eine »sittliche That« erkennen und mit der Lektüre eine aufklärerische Funktion verbinden. Dagegen positioniert sich Rüttenauer vehement, wenn es ihm darum geht, die spezifischen literarischen Qualitäten des Romans nachzuweisen und ihn gegen eine ethisch-moralische Applikation zu verteidigen. Das »rein Künstlerische«, so Rüttenauers Credo, widersetzt sich durch seinen ästhetischen Autonomiestatus a priori Ansprüchen an eine unmittelbare »praktische Bedeutung«. Und dass es sich bei Reuters Roman in diesem Sinne um ein autonomes literarisches Kunstwerk handelt, begründet Rüttenauer im Folgenden durch einen literahistorischen Vergleich.

»Denn dieser Roman ist, in dem Sinne wie ich das Wort bisher gebrauchte, ein recht unmoralisches Buch, so ›unmoralisch‹, daß es den Philistern eigentlich davor gruseln müßte. Aber sie loben das Buch, sie empfehlen es den Müttern und Töchtern zur moralischen Nutzanwendung; ja, sie sehen in ihm – und da liegt der Hund begraben – eine sozialreformatorische That. […]

Vor hundert und etlichen Jahren hätte das Buch natürlich geheißen: Die Leiden der jungen Agathe.

Denn die Darstellung dieser Leiden, das ist der Inhalt des Buches.

Und was nun viele irre geleitet hat in seiner Auffassung ist der Umstand, daß alle die dargestellten Leiden mit dem Geschlecht zusammenhängen, wodurch die Darstellung einen unendlich typischen Charakter erhält und die Heldin gleichsam als Repräsentantin einer ganzen Klasse erscheint. So galt auch Werther – der Vergleich liegt wirklich nahe – für den Repräsentanten einer Klasse, in dem Hunderte sich wieder zu erkennen glaubten. Und doch wollte Goethe nichts darstellen als nur sich.

Mit Gabriele Reuter wird es sich nicht anders verhalten. […] Wenn Hunderte sich in dieser Agathe wiedererkennen, so gleichen sie ihr deswegen noch lange nicht, oder sie gleichen ihr wie jene schwärmerischen Jünglinge des 18. Jahrhunderts dem göttlichen Wolfgang.

Aber die Bedeutung des Buches liegt gewiß, neben dem daß es ein hohes Kunstwerk ist, in dieser Zeitgemäßheit des Themas, die aber, als bei einem Kunstwerk, nicht aus bewußter Absichtlichkeit, sondern aus innerer Nothwendigkeit fließen mußte, nämlich aus der Persönlichkeit des Dichters.«Footnote 22

Mit dem alternativen Titel Die Leiden der jungen Agathe und der damit aufgerufenen Erinnerung an Goethes Die Leiden des jungen Werther nobilitiert Rüttenauer Reuters Werk als »hohes Kunstwerk«, indem er mit der literaturgeschichtlichen Analogie den Anschluss an den literarischen Kanon herstellt. Mit dem Vergleich zu Goethes Werther positioniert sich Rüttenauer gegen zwei verbreitete Lesarten von Reuters Roman, die prototypisch in Stöckers Rezension stark gemacht wurden. Zum einen distanziert sich Rüttenauer von einer heteronomen Bewertung des literarischen Textes als aktuelle, politisch-gesellschaftskritische Intervention, wenn er eine »moralische Nutzanwendung« und die Deutung des Romans als eine »sozialreformatorische That« zurückweist.Footnote 23 Zum anderen kritisiert Rüttenauer durch seinen Vergleich mit der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Goethes Werther die Dominanz identifikatorischer Lektüren, bei denen sich »Hunderte« von Lesern und Leserinnen in den literarischen Figuren selbst wiedererkennen. Die Leiden Agathes und die Leiden Werthers als bloße Projektionsfläche sympathetischer Lektüren verschieben den Fokus aus Sicht des Rezensenten zu stark auf die Bedürfnisse der Leserinnen und Leser. Dabei sind die dargestellten Pathologien Werthers und Agathes auf ihre je eigene, spezifische Art und Weise vielmehr das idiosynkratische Ergebnis einer künstlerischen Transformation von Erfahrungen und Erlebnissen, die ihre Wurzeln allein in »der Persönlichkeit des Dichters« haben.

Mit dem an Goethes Werther rhetorisch vorgenommenen Anschluss an den Kanon formuliert Rüttenauer eine Lesart von Reuters Roman als autonome Dichtung, die auch von einigen nachfolgenden Rezensionen übernommen wird.Footnote 24 Dabei räumt aber auch Rüttenauer ein, dass die Bedeutung von Reuters Roman durchaus in der »Zeitgemäßheit des Themas« liegt, die er im Folgenden aber, anders als Stöcker, eben nicht auf eine »soziale Reformtendenz« zurückführt.

»Und auch ein unendlich modernes Buch sind diese ›Leiden‹ – wenn auch ohne soziale Reformtendenz. Das Buch hätte in keiner früheren Zeit geschrieben werden können. Denn in keiner früheren Zeit hätte man diese Art Leiden, obwohl sie immer in der Welt waren, darstellen dürfen. Daß man es heute darf, ist ein Fortschritt, den wir der naturalistischen Bewegung verdanken […].

In einem Sinn ist das Buch naturalistisch. Es enthält, man fühlt es aus jeder Zeile, die baare Wahrheit. Es ist erlebt – wie die Goetheʼschen Bücher, vielleicht nicht nach der äußeren Gestalt der Personen und Geschehnisse, aber sicher als inneres Erlebniß. Und da ist es von einer geradezu verblüffenden Aufrichtigkeit. Gabriele Reuter zeigt ihre Seele in voller Nacktheit.«Footnote 25

Reuters Roman ist für Rüttenauer »ein unendlich modernes Buch«, dessen Aktualität untrennbar mit dem zeitgeschichtlichen Kontext zusammenhängt. In diesem Punkt ist sich Rüttenauer mit Stöcker einig. Anders als Stöcker sieht Rüttenauer die Modernität des Textes aber nicht in seinem kritischen Bezug auf eine außerliterarische Umwelt, sondern literaturspezifisch mit Blick auf darstellungsästhetische Innovationen im literarischen Feld um 1900, wenn mit der »naturalistischen Bewegung« neue thematische und stilistische Ausdrucksmöglichkeiten für »diese Art Leiden« bereitstehen. Hier sieht Rüttenauer dann auch die »baare Wahrheit« und »verblüffende Aufrichtigkeit« des Textes, wenn es ihm, anders als Stöcker, nicht um ein durch die weibliche Perspektive geschildertes, kritisches Abbild gesellschaftlicher Missstände im Medium der Literatur geht, sondern um die Authentizität der Leiden Agathes als poetischer Ausdruck von subjektiven Erlebniserfahrungen der Autorin im Zeichen naturalistischer Ästhetik (»Gabriele Reuter zeigt ihre Seele in voller Nacktheit«).

Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass sowohl Stöcker als auch Rüttenauer den Roman von Gabriele Reuter als bedeutungsvolles Kunstwerk ansehen und ihm sowohl vor einem autonomen (Rüttenauer) als auch einem heteronomen (Stöcker) Wertmaßstab eine literarische bzw. ethisch-moralische Qualität zusprechen.

4 »Dreiunddreißig Jahre«. Depopularisierung und kulturelles Vergessen

Wenn die Popularität von Gabriele Reuters Roman um 1900 in Rezensionen konstatiert wird, so bleibt auch dessen Depopularisierung gute 30 Jahre später nicht unbeobachtet:

»Aber manchmal genügen schon dreiunddreißig Jahre, um einem den Fortschritt der Zeit heiter deutlich zu machen.

Da gibt es ein Buch, welches das Schicksal eines jungen Mädchens um das Jahr 1895 darstellt. Wenn junge Mädchen von heute es lesen, werden sie aus dem Staunen und Lachen nicht herauskommen. […]

Als dieses aufrichtige und tapfere Buch im Jahr 1895 erschien, wirkte es auf eine satte und selbstzufriedene Welt geradezu revolutionierend. Es war, als ob der hinkende Teufel alle Häuser Mitteleuropas, in denen bürgerliche Familien wohnten, ihres Daches beraubt hätte. Hier war kein Einzelfall geschildert, sondern das Schicksal aller Frauen verraten. […]

So unglaublich es einem heute vorkommen mag: es ging wirklich ganz so zu, wie es in diesem entsetzlich traurigen Buche zu lesen ist […].

Erst dreiunddreißig Jahre! Welch historisch wertvolles Buch! Wenn man unsere Zeit tadeln will, wozu man allen Anlaß hat, dann braucht man nichts zu tun als dieses Buch zu lesen, um sich aufzurichten. Höchstens auf dem Gebiete der Technik sind größere Fortschritte zu verzeichnen als auf diesem. Kommen die Tatsachen dieses Buches der heutigen Jugend fremd und absurd vor, so ist das ein Beweis dafür, wie gut es war, daß Gabriele Reuter vor dreiunddreißig Jahren den Mut hatte, auszusprechen, was war. Überdenkt die heutige Mädchenjugend mit heiterer Überlegenheit ihre eigene glücklichere Lage, so wäre es recht, wenn sie sich daran erinnerte, daß es vornehmlich die Dichter waren, die ihr den Weg freigemacht haben, und darunter vor allem die prophetische, hellsichtige, mutige Gabriele Reuter.«Footnote 26

Dreiunddreißig Jahre, so präzise terminiert die Rezensentin Eugenie Schwarzwald den Zeitraum der Depopularisierung von Reuters Roman. Vor dreißig Jahren wirkte der Roman als literarische Zeit- und Gesellschaftskritik revolutionär während die Leserinnen und Leser eine Generation später »aus dem Staunen und Lachen nicht herauskommen«. Wenn der Roman in seiner exemplarischen Darstellung einer gescheiterten weiblichen Bildungsbiografie um 1900 auf Empathie seitens der Leserinnen und Leser stieß, so ist diese erzählte Lebens- und Leidensgeschichte Agathes für die »heutige Jugend«, so Schwarzwald, nur noch »fremd und absurd«. Die diagnostizierte Depopularisierung von Reuters Roman erklärt sich nicht nur Schwarzwald durch eine signifikante Veränderung des Rezeptionskontextes.Footnote 27 Die Popularität des Romans vor dreißig Jahren stand im Zusammenhang mit der realistischen Darstellung weiblicher Sozialisationserfahrungen, die auf Seiten der Leserinnen und Leser um 1900 sowohl eigene Erinnerungen und Wiedererkennungseffekte auslösten als auch Irritation und Provokation hervorriefen. Diese biografischen und affektiven Anschlussstellen sind für eine Lesegeneration später nicht mehr vorhanden, was für Schwarzwald nicht zuletzt das Ergebnis einer einzigartigen Erfolgsgeschichte des Romans ist, der anscheinend genau die Veränderungen bewirkt hat, die man sich von ihm versprochen hat. Wenn Agathes Leidensgeschichte als ein typisches Frauenschicksal um 1900 die Augen für gesellschaftliche Missstände öffnen sollte, so müssen, so Schwarzwald, die Augen potentieller Leserinnen und Leser der 1920er Jahre wieder neu geöffnet werden für den Blick auf emanzipatorische Errungenschaften, die nicht zuletzt auf Grundlage dieses Romans erzielt werden konnten. Der Grund für die neuerliche Beachtung wäre aber nur ein historischer: Ein Vergleich würde die völlig veränderte, »glücklichere Lage« der »Mädchenwelt« deutlich machen.

Popularität und Depopularisierung des Romans zeigen sich dabei in der unterschiedlichen Semantik von Erinnerung. Die durch die Lektüre des Romans immer wieder aufgerufenen biografischen Erinnerungen, die Stöcker in ihrer Rezension des Romans erwähnt, sind wesentliche Begleitfaktoren der populären Rezeption um 1900 (»Wir kennen sie alle diese Leidensgeschichte«) während der explizite Aufruf zur Erinnerung an die historische Bedeutung dieses so »wertvollen« Buches bereits ein Indiz seiner Depopularisierung ist (»Welch historisch wertvolles Buch!«). Die von Schwarzwald eingeforderte Beachtung des Romans ist daher auch eine andere als die von Stöcker um 1900. Stöckers Appell zielte auf Basis vielfacher Beachtung auf die Popularitätswirkung des Romans, mit der sie die Hoffnung auf sozial-gesellschaftlichen Fortschritt in naher Zukunft verknüpfte. Schwarzwalds Appell zielt dagegen auf ein gepflegtes Geschichtsbewusstsein, wenn sie an die historische Bedeutung des Romans erinnert und die Lektüre mit der Würdigung des Erreichten verknüpft. (»Überdenkt die heutige Mädchenjugend mit heiterer Überlegenheit ihre eigene glücklichere Lage, so wäre es recht, wenn sie sich daran erinnerte, daß es vornehmlich die Dichter waren, die ihr den Weg freigemacht haben, und darunter vor allem die prophetische, hellsichtige, mutige Gabriele Reuter.«)

Sowohl Schwarzwald als auch Stöcker sind sich einig in der (positiven) Bewertung der Autorin und des Romans als Agenten gesellschaftlicher Veränderungen. Diese Bewertung findet auch Eingang in die frühe Literaturgeschichtsschreibung und führt dazu, dass sich die heteronome Deutung des Textes – jetzt allerdings unter negativen Vorzeichen – als kritische Tendenz- und Anklageliteratur durchsetzt.

»Von ganz anderer Art ist Gabriele Reuter, die mit ihrem Roman Aus guter Familie starken Erfolg gehabt hat. […] Das Buch ist der sogenannten Anklagelitteratur zuzurechnen. In diesem Genre sind die schreibenden Frauen bekanntlich groß. Die Frauen, mehr Wille als Verstand, müssen immer etwas wollen, etwas fordern, etwas verteidigen. Die Lust des ›reinen Schauens‹, die Fähigkeit zu ›interesselosem Interesse‹, damit aber auch die Möglichkeit zu höchsten, tendenzlosen Kunstwirkungen ist ihnen fast stets versagt, auch der Reuter.«Footnote 28

Wenn Schwarzwald und andere den »starken Erfolg« Reuters mit ihrem Roman positiv hervorheben, so konstruiert die männlich geprägte Literaturgeschichtsschreibung mit dem Stereotyp der Autorin als erfolgreiche »schreibende[] Frau« und dem Roman als Genre der »sogenannten Anklagelitteratur« ein pejoratives Deutungsmuster, das auf zwei negativen geschlechtsbezogenen Werturteilen beruht. Zum einen wird Reuter als Frau schon qua Geschlecht grundsätzlich die Fähigkeit zum Schreiben ernstzunehmender autonomer Literatur abgesprochen (»Die Lust des »reinen Schauens«, die Fähigkeit zu »interesselosem Interesse«, damit aber auch die Möglichkeit zu höchsten, tendenzlosen Kunstwirkungen ist ihnen fast stets versagt, auch der Reuter.«). Zum anderen wird die nicht zu bestreitende Popularität des Romans als spezifisches Genrephänomen gedeutet, wenn das Besondere und Individuelle des Romans ausgeblendet und in der breiten Masse der ganzen, von Frauen verfassten »Anklagelitteratur« untergeht. In dieser Sparte wird dem Roman als typische Frauenliteratur Breitenerfolg zugebilligt und gleichzeitig eine Wahrnehmung als hohe Literatur ausgeschlossen. Diese Strategie der ästhetischen Disqualifikation durch Vorurteile gegenüber weiblicher Kunstproduktion und Zuordnung der von Frauen geschriebenen Texte zu einer eigenen unterklassigen Literaturgattung ist in der Literaturgeschichtsschreibung keine Seltenheit.

»Gabriele Reuter ist ausgesprochene Frauenschriftstellerin, hat im Grunde nur für Frauen geschrieben […] und auch immer nur von Frauen erzählt […].

Die Dichterin ist dann im besonderen diejenige, die in ihren Romanen den Frauentypus zu literarischen Ehren gebracht hat, der […] bloß Unfug stiftet, weil er nichts zu tun hat […]. Dagegen sind bei ihr die männlichen Figuren, sieht man von ein paar Jünglingsgestalten ab, immer mißlungen […].«Footnote 29

Mit dem Stigma einer weiblichen Autorin, die nur weibliche Themen verhandelt und nur für ein weibliches Zielpublikum schreibt, trennt Hölzke Reuter und deren literarisches Oeuvre konsequent vom Kanon der erinnerungswürdigen Literatur.Footnote 30 Die u. a. von Rüttenauer gesehenen Parallelen und innovativen Neuerungen von Aus guter Familie im direkten Vergleich mit Goethes Werther als Eigenschaften eines autonomen Kunstwerks, finden keinen Eingang in die Wertungspraxis der frühen Literaturgeschichtsschreibung. Im Gegenteil. Die Klassifikation der Autorin und ihres Romans als »Frauenliteratur« zielt nicht auf eine narrative Integration in den historischen Traditionszusammenhang bedeutender Werke und Personen der deutschen Literaturgeschichte, sondern auf Exklusion im Zeichen eines »repressiven Vergessens«.Footnote 31

Damit werden nicht zuletzt in der Literaturgeschichtsschreibung die Weichen für den weiteren Rezeptionsverlauf gestellt. Mit der durch den beschleunigten gesellschaftlichen Wandel und einer veränderten Lebenswelt bedingten Depopularisierung von Gabriele Reuters Roman nach gut dreißig Jahren beginnt dann nicht, wie bei so vielen anderen Werken von Autorinnen auch, die Phase der Kanonisierung, die den Verlust zeitgenössischer Beachtung durch kommunikative und institutionelle Aufmerksamkeitsressourcen des Literatursystems kompensiert, sondern der Abstieg in die großen Archive des kulturellen Vergessens.Footnote 32