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Als ein herausstechendes Merkmal popliterarischer Schreibweisen wird oftmals das Stichwort »Gegenwartsfixierung«Footnote 1 genannt. Ein dezidierter Bezug zur Gegenwart lässt sich jedoch auch schon in der Literaturpolitik der Gruppe 47 ausmachen. Für den Chef der Gruppe 47, Hans Werner Richter, war der Gegenwartsbezug der Literatur ein zentrales Anliegen seiner kulturpolitischen Tätigkeit: »[E]s ging um die Gegenwart, sie war mir wichtig, nicht eine ferne Zukunft.«Footnote 2 Das durch dieses Zitat angedeutete Tertium comparationis – der Gegenwartsbezug von Gruppe 47 und Popliteratur – mag auf den ersten Blick etwas bemüht wirken, denn bei Richter fehlt die Emphase für das Hier und Jetzt, die für den literarischen Pop-Diskurs so charakteristisch ist. Gleichwohl können anhand des zitierten Textes Berührungspunkte erkennbar gemacht werden, die über eine bloß zufällige Gemeinsamkeit hinausweisen: nämlich die Selbstpositionierung einer literarischen Gruppierung gegenüber den historischen Avantgarden, die in diesem Akt zugleich den Diskurs begründet, der sie als Gruppe hervortreten lässt.

Richters Aussage entstammt dem Band Im Etablissement der Schmetterlinge, in welchem literarische Portraits von 21 Autoren der Gruppe 47 versammelt sind. Das Zitat findet sich in einem Text über Alfred Andersch und steht dort im Zusammenhang eines Gesprächs über die Zukunft und den möglichen Nachruhm der Gruppe 47. Das Gespräch ging Richter zufolge von Andersch aus, der in dem Text deutlich als ein auf Prestige spekulierender Autor gezeichnet wird: »Sein Ziel war der Ruhm, der über Zeit und Raum hinausging, weit hinaus.«Footnote 3 Laut Richter rät Andersch diesem zu einer programmatischeren, auf die Zukunft ausgerichteten Positionierung der Gruppe 47: »[E]s sei, so erklärte er mir, dringend erforderlich, ein Programm zu machen, ein literarisches natürlich, ein zeitgemäßes, mit Blick nach vorn natürlich, ein avantgardistisches Programm. Seine Vorbilder waren die ›literarischen Revolutionen‹ des letzten halben Jahrhunderts, die programmatischen und stilistischen Schulen, die einander abgelöst hatten. Über den Expressionismus, sagte er, müsse man zwar weit hinausgehen, ja sich von ihm vielleicht ganz absetzen, aber eine neue Schule sei notwendig.«Footnote 4

Dass der Gruppenchef dieses Ansinnen »für völlig falsch«Footnote 5 hielt, kann den mit Richters literaturpolitischen Praktiken vertrauten Leser kaum überraschen. Es wird anhand dieser Anekdote jedoch nochmals deutlich, dass im Kontext der Gruppe 47 literarische Avantgarden – im Stile von Dada oder dem Surrealismus – nicht erwünscht waren. Der Bezug auf die Gegenwart resultiert bei der Gruppe 47 also nicht wie im Pariser Lettrismus der späten 40er Jahre in einer Reanimierung von Avantgarde-Praktiken, sondern in einem stillschweigenden Bekenntnis zum Kahlschlag bzw. zur Trümmerliteratur. Der kritische Impuls der Gruppe 47 richtete sich allerdings nicht gegen die Sprache der Avantgarde, sondern gegen die »bürgerliche Kunstsprache«Footnote 6 beziehungsweise die Sprache der »Kalligraphen«Footnote 7. Richter spricht hinsichtlich dieser unausgesprochenen Gründungsstatuten der Gruppe 47 sogar von einem »Sprachreinigungsprozeß«Footnote 8. Diese Rhetorik der Sprachhygiene entstammt freilich selbst einem Diskurs, der durch den Jargon der NS-Ideologie geprägt ist. Gleichzeitig verweist aber der semantische Wert der Rede von der ›Sprachreinigung‹ auf ein neues Verfahren der Literaturkritik. Es ist damit eine Form der Stilkritik intendiert, die auf das sprachliche Pathos abzielt und sich unter dem zunehmenden Einfluss der Berufskritiker verfestigen sollte: »Die Sprache, der Stil, das ›Wie‹ des Darzustellenden wurden zum einzigen Kriterium.«Footnote 9 Einen ähnlichen Status erlangte die Stilkritik – freilich unter anderen Vorzeichen als bei den Kritikern Kaiser, Jens und Reich-Ranicki – bei den Popliteraten der 90er Jahre, die von den zeitgenössischen Berufskritikern wiederum als »Geschmacksterroristen«Footnote 10 tituliert wurden.

Die hier angedeuteten oberflächlichen Vergleichsmomente, die auch als ein Nachleben der Gruppe 47 im Diskurs der Popliteratur gedeutet werden können, möchte ich zum Anlass nehmen, das Phänomen der literarischen Gruppe unter dem Fokus von Michel Foucaults Begriff der Diskursivitätsbegründung und Peter Bürgers Konzept der Institution Kunst genauer zu beleuchten. Denn einerseits erscheint mir die Frage nach dem Diskurs der Avantgarde in besonderer Weise den Konnex von Gruppe 47 und Popliteratur zu erhellen. Andererseits lässt sich meines Erachtens die Funktion der Kritik in der Gruppe 47 und der Popliteratur erst durch den Bezug auf Bürgers Unterscheidung zwischen Kritik und Selbstkritik der Kunst angemessen erklären.

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Den Begriff der Diskursivitätsbegründung hat Michel Foucault anlässlich seiner Überlegungen über den Autor eingeführt. In seinem 1969 am College de France gehaltenen Vortrag Qu’est-ce qu’un auteur? spricht Foucault davon, dass Autoren wie Freud oder Marx als Diskursivitätsbegründer fungieren: »Das Besondere an diesen Autoren ist, daß sie nicht nur die Autoren ihrer Werke, ihrer Bücher sind. Sie haben mehr geschaffen als das: die Möglichkeiten und Formationsregeln anderer Texte. […] [S]ie haben eine unbegrenzte Diskursmöglichkeit geschaffen.«Footnote 11

Doch wodurch unterscheidet sich dann ein Diskursivitätsbegründer wie Marx von einem Wissenschaftsbegründer wie Newton? Foucault zufolge zeichnet sich die Diskursivitätsbegründung im Unterschied zur Begründung einer Wissenschaft dadurch aus, »nicht Teil ihrer späteren Transformation«Footnote 12 zu sein, d. h., der Gründungsakt legt nicht die theoretische Gültigkeit des Diskurses fest, sondern allenfalls die Regeln der diskursiven Verkettung. Foucault räumt gegen Ende seines Vortrages ein, dass eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Diskursivitäts- und Wissenschaftsbegründung nicht immer möglich sei, doch mit dem Begriff der Diskursivitätsbegründung ließen sich immerhin Wissenssysteme, die abseits wissenschaftlicher Institutionen entstehen, besser beschreiben. Dies kann in besonderer Weise für das Feld der Literaturkritik gelten, wie es sich in Westdeutschland nach 1945 zu etablieren beginnt.

Aus literarhistorischer Perspektive besteht wohl kein Zweifel, dass sich mit den Treffen der Gruppe 47 nicht nur eine neue Praxis der Literaturkritik, sondern überhaupt eine neue Form literarischer Diskursivität herausgebildet hat. Literatur wird im öffentlichen Diskurs nach 1945 nicht mehr nur als das Werk eines einzelnen, in der Einsamkeit schreibenden Poeta doctus wahrgenommen, sondern als Produkt einer spezifischen Diskussionskultur, die die Kommunikationsstrukturen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft entscheidend geprägt hat.Footnote 13 Von zentraler Bedeutung war in diesem Kontext auch das Reeducation-Programm der US-amerikanischen Besatzungsmacht, das auf die Verbreitung einer demokratischen Diskussionskultur abzielte. Die zentralen Gründungsfiguren der Gruppe 47, Alfred Andersch und Hans Werner Richter, waren während ihrer Kriegsgefangenschaft Studenten der Prisoner of War Schools (POW),Footnote 14 in denen Praktiken des freien Meinungsaustauschs eingeübt werden sollten. Die Gruppe 47 ist allerdings nicht etwa unter dem Einfluss des Reeducation-Programms entstanden, sondern vielmehr in der Folge des Verbots von Richters und Anderschs Zeitschrift »Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation« durch die Information Control Division der amerikanischen Besatzungszone.Footnote 15 Doch auch wenn die spezifische Diskussionskultur der Gruppe 47, die von dem Vortragenden stets das ›soldatische‹ Ertragen der Kritik verlangte, nur wenig mit den emanzipatorischen Zielen der Diskussionsrunden in den POW Schools gemein haben, so ist die für die Gruppe 47 kennzeichnende Diskussionslust, die schon bald zum Markenzeichen des westdeutschen Diskurses der Literaturkritik werden sollte, nicht unabhängig von der durch das amerikanische Reeducation-Programm beeinflussten, neuen deutschen DiskussionskulturFootnote 16 zu betrachten.

Von den großen Diskursivitätsbegründern wie Marx und Freud unterscheidet sich das Phänomen Gruppe 47 freilich dadurch, dass die Gruppentreffen, die den Diskurs der Literaturkritik begründen, keinen Werk-Charakter haben. Auch von einer Autorfunktion wird man in diesem Zusammenhang kaum sprechen können. Lässt sich also die Gruppe 47 überhaupt als Diskursivitätsbegründer bezeichnen? Die Schwierigkeit beginnt bereits beim Versuch, die Diskursförmigkeit der Treffen der Gruppe 47 zu bestimmen, da die Formationsregeln des Diskurses nicht festgelegt sind. Es handelte sich bei der Gruppe, wie von Richter, aber auch von Reich-Ranicki und anderen immer wieder betont wurde, nicht um eine in sich kohärente und konstante Gruppierung, denn weder gab es Mitglieder, noch einen Vorstand oder eine Satzung, die den Diskurs der Gruppe strukturiert hätten.Footnote 17 In der Einleitung zum Almanach der Gruppe 47 benennt Richter allerdings die »ideellen Ausgangspunkte«Footnote 18 der Gruppe 47, die zwar »nie ausgesprochen«Footnote 19 wurden, aber doch »wie selbstverständlich gegeben«Footnote 20 waren: »a) demokratische Elitenbildung auf dem Gebiet der Literatur und der Publizistik; b) die praktische angewandte Methode der Demokratie in einem Kreis von Individualisten immer wieder zu demonstrieren mit der Hoffnung der Fernwirkung und der vielleicht sehr viel späteren Breiten- und Massenwirkung; c) beide Ziel zu erreichen ohne Programm, ohne Verein, ohne Organisation und ohne irgendeinem kollektiven Denken Vorschub zu leisten.«Footnote 21

Es ist zu bedenken, dass es sich hierbei um eine nachträgliche Bestimmung der politisch-moralischen Prämissen der Gruppe 47 handelt, die in ihrer Allgemeinheit kaum die spezifische Physiognomie der Gruppe zu umreißen vermag. Als bedeutender für den Gruppen-Diskurs erwiesen sich die Diskussionsverfahren, wie sie auf den Treffen praktiziert wurden, also die schonungslose Kritik der Texte, der gesenkte Daumen sowie das stumme Ertragen der Kritik. In Richters narrativer Rekonstruktion dieser Praxis erscheint diese Form der Kritik – und die damit verknüpfte Einladungspraxis – geradezu als historisches Dispositiv:

»Dieses überaus kritische und vielleicht nicht immer gerechte Ausleseprinzip wurde oft beanstandet. Es hat ebenfalls seinen Ursprung in den ersten Nachkriegsjahren. Aus dem kritiklosen Zustand im Dritten Reich war die Sehnsucht nach härtester Kritik entstanden. Der ›Kunst- und Buchbesprechungs-Politik‹ der immer noch fortwuchernden zwölf Jahre wollte man wieder die wirkliche Kritik entgegensetzen. So schlug das Pendel vorerst nach der anderen Seite aus. Es entstand eine kritische Rücksichtslosigkeit, die heute kaum noch faßbar ist. In den ersten Jahren hielten die Zuhörer die Daumen nach unten, wenn sie eine Vorlesung nicht mehr hören wollten.«Footnote 22

Ob diese Form einer rücksichtslosen Kritik, die nicht selten den Vorlesenden verstörte, tatsächlich einer »Methode der Demokratie« geschuldet war, wird man zumindest als diskussionsbedürftig erachten müssen. Das Erbe dieser rigiden Praxis ist jedoch – darauf hat Helmut Böttiger zurecht hingewiesenFootnote 23 – unübersehbar: Die Treffen der Gruppe 47 haben in ihrem Vollzug einen neuen Diskurs der Literaturkritik begründet, dessen Rahmenbedingungen nicht nur von der prekären Situation der Autoren in Nachkriegsdeutschland, sondern vor allem auch durch die Leitmedien Zeitung und Radio abgesteckt wurden. Es ist der Diskurs der mündlichen Literaturkritik, deren ihr inhärente Ambivalenz Reich-Ranicki schon früh skizziert hatte.Footnote 24 Trotz aller berechtigten Vorbehalte hat dieses Verfahren der mündlichen Kritik den literarischen Betrieb in einer Weise demokratisiert, dass der gesellschafts- und kulturpolitische Dissens – und sei es als gekonnte Inszenierung (Peter Handke in Princeton, Rainald Goetz in Klagenfurt) – ein Forum gefunden hat. Im Laufe der Jahre hat dieses Verfahren der Kritik durch die sogenannten Berufskritiker und die mediale Vermittlung der Treffen eine Reihe von Modifikationen durchlaufen, die schließlich in entscheidender Weise auch die Formate prägten, die den Treffen der Gruppe 47 folgen sollten: den Literaturwettbewerb in Klagenfurt und die Fernsehsendung »Das Literarische Quartett«.

Insofern hat die Gruppe 47 einen Diskurs der literarischen Kritik begründet, der auch heute noch den Kulturbetrieb des deutschsprachigen Raumes prägt. Das Wissen dieses Diskurses ist freilich schwer zu umreißen. Es lässt sich nicht mit Prädikaten wie historischer Materialismus oder Psychoanalyse bestimmen. Das Wissen im Sinne einer Regel der Verkettung von Aussagen lässt sich vom Anfang der Gruppe 47 her als Imperativ einer Sprachkritik bezeichnen. Der literarische Gebrauch der deutschen Sprache sollte von performativen Strukturen der Propaganda ebenso befreit werden wie von den ästhetizistischen Schreibweisen der so genannten »Kalligraphen«. Der poetologische Antifaschismus, der laut Richter unausgesprochener Konsens der Gruppe war,Footnote 25 beruht mithin auf einem basalen Verständnis der Sprache des Faschismus als ideologischer Propaganda und Ästhetisierung der Politik.

Die Gruppe 47 agiert insofern im Bewusstsein eines Bruches im literarischen Gebrauch der deutschen Sprache nach 1945. Dabei konstituiert sich der von der Gruppe 47 begründete Diskurs der Literaturkritik zwar nicht als Krise des Schreibens im Angesicht von Auschwitz, wie sie etwa von Adorno her zu denken ist. Allerdings wird unter der Maßgabe der Kritik das Festhalten an einer Schreibweise, wie sie von Autoren wie Hans Grimm oder Will Vesper praktiziert wurde, delegitimiert. Die politischen und sprachkritischen Intentionen dieses Verfahrens erweisen sich jedoch durchaus als eine Form der Restaurierung der Institution Kunst. Der Gruppe 47 geht es ja im Unterschied zum Lettrismus in Frankreich bei seiner Sprachkritik nicht um die Aufhebung der Kunst in der Lebenspraxis, sondern um eine Wiederinstandsetzung der Autonomie der Kunst – freilich unter Ausschluss des l’art pour l’art.

Im Hinblick auf die Rekonstruktion der impliziten Diskursregeln der Gruppe, die sich offenbar performativ durchgesetzt haben, ist man vor allem auf die Texte von Hans Werner Richter angewiesen. Es läge daher nahe, den Gruppenchef selbst als Diskursivitätsbegründer der Literaturkritik der Nachkriegszeit anzusehen. Bei Annahme dieser Hypothese würde man jedoch die Dynamiken der Gruppen-Debatten vernachlässigen, die Richter ja nur bedingt in der Hand hatte und die auch nicht erst mit dem Auftreten der Berufskritiker den Diskurs als solchen prägten.

Bestimmend für den Diskurs der Gruppe 47 war bekanntlich, dass keine Grundsatz-Debatten –seien sie nun politischer oder poetologischer Natur – geführt werden sollten. Dieses ungeschriebene Debatten-Gesetz sowie der bereits erwähnte Ausschluss eines performativen Sprachgebrauchs im Sinne der politischen Propaganda bedeutete implizit auch eine Exklusion der Sprache der Avantgarde. Der Bruch mit dieser Maxime wurde bekanntlich von Peter Handke auf der Tagung in Princeton vollzogen, auf der der junge österreichische Autor die Gruppe 47 als ein veraltetes Modell der Literatur und der Literaturkritik gerade im Hinblick auf ihre Schreib- und Sprechweisen angreift. Handkes Kritik der »läppische[n] Literatur«Footnote 26 der Gruppe 47 ist jedoch nur bedingt als avantgardistisch zu bezeichnen, da sie bewusst die Rahmenbedingung der Tagung in Princeton nutzt, um den Diskurs über eine neue Literatur, die sich von der »läppischen« absetzt, medienwirksam zu platzieren. Handkes performative Kritik der Literaturkritik bedient sich zwar der Figur der Provokation, wie sie für die Avantgarde charakteristisch ist, doch inszeniert er diese Szene nicht, um die Kunst beziehungsweise die Literatur als solche anzugreifen, sondern um eine bestimmte Schreibweise zu diskreditieren. Mit Peter Bürger ließe sich Handkes Performance daher als postavantgardistisch bezeichnen, denn sie zielt nicht auf die Kritik der Institution Kunst, sondern agiert vielmehr im medial abgesteckten Rahmen der Institution Kunst und betreibt somit eine Institutionalisierung der Avantgarde als Kunst. Mit dem Begriff der Institution Kunst ist bei Bürger nicht der bürokratische Apparat, der den Kunstbetrieb in der kapitalistischen Gesellschaft strukturiert, gemeint, sondern »eine Ebene der Vermittlung […] zwischen der Funktion des Einzelwerks und der Gesellschaft«Footnote 27, die sich um 1800 mit dem Diskurs über die Autonomie der Kunst herausgebildet hat und mit den historischen Avantgarden (Dada, Surrealismus) in das Stadium ihrer Selbstkritik eingetreten ist. Hatte sich die Kritik der Kunst durch die Kunst im 18. und 19. Jahrhundert noch auf einer immanenten Ebene wie der der Gattungskritik bewegt, so richtete sich die Kritik der Avantgarden auf die Institution Kunst und agierte somit als Selbstkritik der Kunst. Die durch die Avantgarden praktizierte Kritik zielte dementsprechend auf »die Aufhebung der autonomen Kunst im Sinne einer Überführung in Lebenspraxis«Footnote 28. Für Bürger sind jedoch die Bemühungen der Avantgarde, die Institution Kunst durch die Überführung der Kunst in Lebenspraxis abzuschaffen, gescheitert. Versuche die Verfahren der historischen Avantgarden zu reaktivieren erachtet Bürger als Negation der avantgardistischen Intention, da die bloße Wiederholung avantgardistischer Praktiken diese nur musealisieren würden: »Die Neoavantgarde institutionalisiert die Avantgarde als Kunst und negiert damit die genuin avantgardistischen Intentionen.«Footnote 29 Mit dem Begriff ›Neoavantgarde‹ bezieht sich Bürger auf die Avantgarde-Bewegungen nach 1945 wie Pop-Art und Happening, die im Unterschied zu Dadaismus und Surrealismus nicht als historische, sondern eben als Post-Avantgarden zu verstehen seien.

3

Peter Handkes Auftritt in Princeton ist bei allem Aufbegehren gegen den Diskurs der Gruppe 47 auch deshalb nicht avantgardistisch zu nennen, da seine Performance erkennbar nicht auf eine Aufhebung der Kunst in der Lebenspraxis zielte. Tatsächlich redet seine Kritik der ›beschreibungsimpotenten‹ Literatur, die sich nicht von Lexikon-Artikeln unterscheide, vielmehr einer Restaurierung der Grundfesten ästhetischer Autonomie das Wort. Damit unterscheidet sich Handkes Provokation auch deutlich von einem Pop-Diskurs, der eine Aufhebung der Trennung von Hoch- und Trivialkultur fordert. Es muss daher fraglich erscheinen, ob Handkes Selbstinszenierung als Beatle und Bad Boy der Gruppe 47 als Urszene der Popliteratur gelesen werden kann, wie es Helmut Böttiger andeutet.Footnote 30 Jörg Döring hat in einer genauen Lektüre der Princeton-Recordings diese Lesart widerlegt.Footnote 31 Im Kontext von Handkes Kritik an dem von Walter Höllerer vorgelesenen Text sowie den Reaktionen auf dessen eigene Lesung wird Handkes abgelesene Grundsatzrede als nachträgliche Replik lesbar: als Reaktion eines »zutiefst gekränkten Autor[s], der seinen Text vom Vortag gegen eine als unzulänglich empfundene Kritik zu verteidigen sucht.«Footnote 32 Bereits in einer Rezension zu Böttigers Buch hat Jörg Döring darauf hingewiesen,Footnote 33 dass es nicht die von Handke vorgetragene Kritik oder dessen sprachliche Darstellungsform sind, die dem Event das Prädikat Pop zukommen lassen, sondern der von Böttiger herausgestellte Effekt, dass Handke »[i]nnerhalb von zwei, drei Minuten […] zum Markenzeichen«Footnote 34 geworden sei. Auf diese Weise unterstreicht Handke in einem Gestus der Affirmation das von Adorno schon früh erkannte dialektische Ineinander von Kunst und Reklame. Der darin sich anzeigende affirmative Umgang mit der Kulturindustrie verweist bereits auf den Grundgestus der Popliteraten der 90er Jahre.

Gleichwohl wird man Handke im Hinblick auf die Popliteratur nicht als Diskursivitätsbegründer bezeichnen können. Letztlich handelte es sich bei seinem Auftritt um eine kulturelle Provokationsszene im Stile der Avantgarde, wie sie nach ’45 allerdings weit effektvoller von den Lettristen vollzogen worden war (Überfall auf Notre-Dame, Angriff auf Charlie Chaplin).Footnote 35 Auch der Zusammenhang von Kunst und Reklame im Zeitalter der Kulturindustrie wurde vor Handke schon deutlich prägnanter in den Aktionen und Publikationen der Situationisten zum Ausdruck gebracht.Footnote 36

Hinsichtlich des Diskurses der Popliteratur lassen sich allerdings auch die Popliteraten der 90er Jahre nicht als Diskursivitätsbegründer bestimmen, denn den Diskurs der Popliteratur gab es schon viel früher. Er nimmt seinen Ausgang von der US-amerikanischen Beat-Literatur und findet seine diskursive Begründung bekanntlich mit Leslie Fiedlers Bekenntnis zu Western, Science-Fiction und Porno in seinem berühmten Freiburger Vortrag Cross the Border – Close the Gap.Footnote 37 Für den deutschsprachigen Raum ist vor allem Rolf Dieter Brinkmann zu nennen, dessen polemische Verteidigung von Fiedlers Text den avantgardistischen Gestus nutzt, um einen Diskurs anzustoßen, der eine neue Literatur performativ – sowohl in der Form der Provokation als auch in der intermedialen Inszenierung von Bild und Text – herstellt.Footnote 38 Die deutschsprachige Popliteratur der 90er Jahre erscheint demgegenüber als ein Effekt des literaturkritischen Diskurses.Footnote 39 Denn sie konstituiert sich weder mit einem programmatischen Aufsatz oder Manifest noch durch eine Tagung oder ein Gruppentreffen. Das Prädikat Popliteratur wird den Autoren vielmehr durch das Feuilleton zugeschrieben.Footnote 40 Erst nachträglich konstituiert sich eine Gruppe, die nach der Veröffentlichung des Buches Tristesse Royale durch den vom Ullstein Verlag hinzugefügten UntertitelFootnote 41 – in ironischer Anspielung auf das Literarische Quartett – als popkulturelles Quintett bekannt und damit in die Tradition des deutschen Diskurses der Literaturkritik gestellt wird.

Die literarische Darstellung des popkulturellen Quintetts erinnert jedoch eher an das der Tagungen der Gruppe 47 als an Reich-Ranickis Fernseh-Show. So wie Ende der vierziger Jahre einige Literaten zusammenkamen, um die Bedingungen der Möglichkeit literarischen Schreibens nach 45 auszuloten, so trafen sich Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre 1999 für drei Tage im Berliner Hotel Adlon, um »ein Sittenbild unserer Generation«Footnote 42 zu modellieren. Natürlich sind die historischen und strukturellen Differenzen zwischen dem einmaligen Treffen von fünf Autoren im Hotel Adlon und den regelmäßigen, sich über zwei Jahrzehnte erstreckenden Treffen der Gruppe 47 nicht zu übersehen. So steht allein der Tagungsort des popkulturellen Quintetts, das Luxushotel Adlon, im scharfen Kontrast zu den kärglichen Verhältnissen, unter denen die ersten Treffen der Gruppe 47 stattfanden. Doch in der Rezeption von Tristesse Royale wird ein Strukturmoment deutlich, dass in der Weise insbesondere für die Gruppe 47 kennzeichnend war: Literatur wird als Gruppenphänomen wahrgenommen.

Über diesen zentralen Konstruktionsmechanismus, der die Popliteraten als oberflächliche Reprise der Gruppe 47 erscheinen lässt, werden auch in der Inszenierungsweise des popliterarischen Quintetts Analogien zu den Treffen der Gruppe 47 erkennbar. Wie bei den ersten Treffen der Gruppe 47 waren im Hotel Adlon weder Verleger noch Berufskritiker zugegen. Das Treffen wird nicht als Fernseh- oder Radio-Event vermarktet, sondern die aufgezeichneten Gespräche zunächst nur in Buchform verbreitet. Die Gespräche wurden auf ursprünglich elf Audio-Kassetten aufgenommen und von Joachim Bessing transkribiert und ediert.Footnote 43 In dem Vorwort des Buches wird Bessing als Ich-Erzähler und einladende Instanz eingeführt – und damit wiederum eine Analogie-Bildung zur Gruppe 47 und ihrem Gruppenchef erkennbar.

Das Verfahren der Kritik ist wie bei der Gruppe 47 auf die Gegenwartskultur gerichtet. Allerdings werden nicht literarische Texte einer Sprachkritik, sondern popkulturelle Artefakte und Praktiken einer Stilkritik unterzogen. Gegenstand der Stilkritik sind unter anderem Toilettenpapier, Bankfilialen, Fußball, Terrorismus und Spiritualität. Den Popliteraten geht es nicht um eine ›Sprachreinigung‹ im Sinne Richters. Gleichwohl sind auch hier bestimmte Schreib- bzw. Sprechweisen verpönt. Insbesondere der Gestus der Selbstironisierung, wie er durch Künstler wie Schorsch Kamerun oder Rocko Schamoni praktiziert wird, ist den Stilkritikern der Popkultur ein Dorn im Auge: »STUCKRAD-BARRE In Hamburg findet die Selbstironisierung aber auch in ihrer pervertiertesten Form statt: sich durch Styles zu brechen. Das objektive Urteil, daß ein orangebrauner Synthetikpullunder immer beschissen aussah und aussieht, in den Wind zu schlagen und sich dann mit einer zu engen Trainingsjacke und mit zu kurzen Cordhosen auf eine Hafentreppe zu setzen, schales Astra-Bier und Persico zu trinken, Schlagerplatten von untalentierten DJs an wackelnden Plattenspielern zu hören – es ist schlimm.«Footnote 44

Die Stilkritik des popkulturellen Quintetts ist wie die Debattenkultur der Gruppe 47 streitbar und erkennbar auf Distinktion aus: »Pop basiert gleichzeitig auf dem Prinzip des Ausschließens und des Konsenses.«Footnote 45 Insgesamt überwiegt allerdings das Prinzip des Ausschließens, das vor allem die Ikonen des alternativen Pop-Diskurses der 90er betrifft (Kruder & Dorfmeister, Massive Attack, Portishead u. a.). Mit Blick auf den popkulturellen Konsens der 90er Jahre betreibt die Gruppe um Bessing eine ähnliche Kahlschlag-Politik, wie sie in den 40er Jahren von Wolfgang Weyrauch vertreten und von Richter positiv rezipiert wurde. An die Stelle eines impliziten Bekenntnisses zum Antifaschismus und demokratischer Elitebildung ist dagegen das Bekenntnis zum Rock und zur Figur des Verschwindens als popkulturelle Richtlinie getreten. »Sie einigten sich auf zwei Möglichkeiten des Entkommens: das Verschwinden und der Rock«Footnote 46, lautet das möglicherweise selbstironische Fazit der Gesprächsrunde. Dabei geht es gegen Ende der Debatte offenbar darum, einen Ausweg aus der »Ironic-Hell«Footnote 47 zu finden. Der authentische Gestus des Rock, der aber selbst wie der Gestus der historischen Avantgarde nicht wiederholbar und folglich nur noch als Re-Modeling repräsentierbar ist, erweist sich als unerreichbares Telos des popkulturellen Diskurses. Auf diese Weise zielt das popkulturelle Quintett auf eine Ablösung von dem, was Moritz Baßler mit Blick auf den Poproman eine »Literatur der zweiten Worte«Footnote 48 genannt hat. Die Einsicht in die Unmöglichkeit eines solchen Vorhabens artikuliert sich in einer Form der kritisch-diskursiven Trauer, die sich dem Titel des Buches eingeprägt hat. Der Band wird dadurch nicht zu einem Diskursivitätsbegründer zweiter Ordnung; es wird jedoch durch die dort zur Darstellung gebrachte Form der diskursiven Kritik die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von popkulturellen Diskursivitätsbegründungen (Rock-Diskurs, Selbstironisierungs-Diskurs) aufgeworfen. Die Institution Kunst im Sinne Bürgers wird vom popkulturellen Quintett nicht angegriffen. In dem Bekenntnis zum popkulturellen Leitmedium Rock artikuliert sich vielmehr ein Begehren zur Restaurierung der Institution Kunst.

4

Das Konzept der Gruppe, das sich in der Formierung des popkulturellen Quintetts andeutet, bleibt ähnlich diffus wie das der Gruppe 47. Es handelt sich auch hier um eine Gruppe ohne Gruppenstruktur. Zwar bleiben Zahl und Identität der Teilnehmer gleich, da es nur ein Treffen dieser Gruppe gab, doch auch das popkulturellen Quintett verfügt über keinen Vorstand und keine Statuten. Das rhetorische Element, das die implizite Poetik beider Gruppen miteinander verbindet, ist kontingenterweise durch die paratextuelle Rahmung der Bücher Im Etablissement der Schmetterlinge und Tristesse Royale vermittelt: das Bild des Schmetterlings. Es ist einerseits das Bild des Swarovski-Glas-Schmetterlings, das auf dem Umschlag von Tristesse Royale zu sehen ist, und andererseits die Verwendung der Schmetterlings-Metapher in Richters Buch-Titel. In Richters literarischen Porträts dient die Schmetterlings-Metapher offenkundig der Bezeichnung der dargestellten Autoren. Im Nachwort weist Richter diese Lesart nur halbherzig zurück:

»Der Titel dieses Buches kann irritieren. Jemand könnte zum Beispiel auf die Idee kommen, die ›Gruppe 47‹ sei so etwas wie ein Etablissement gewesen, in dem die Schriftsteller wie Schmetterlinge herumgeflattert wären. In Wirklichkeit habe ich nur die Überschrift einer Geschichte als Titel dieses Buches genommen. Aber gegen Assoziationen ist ja nichts einzuwenden, warum soll jemand Schriftsteller nicht mit Schmetterlingen vergleichen, zumal ja beide Arten ernsthaft vom Aussterben bedroht sind. Fängt man den Vergleich erst an, dann kommt man natürlich zu vielen Überlegungen, da bemerkt man alle möglichen Arten von Schmetterlingen, die des Tages und die der Nacht und vielleicht auch jene vielen, die gar nicht fliegen können, weil sie in der Raupenentwicklung steckenbleiben.«Footnote 49

Die angeblich nicht intendierte Metaphorik nutzt Richter hier, um eine Typologie der Schriftsteller der Gruppe 47 anzudeuten: Autoren, die zu bestimmten Tageszeiten aktiv und produktiv sind, werden dabei von solchen geschieden, die keine Begabung haben. Die Existenzweise des Schmetterlings wird somit zum Ausweis des Dichtertums. Richter verschweigt hier allerdings, in welchem Kontext die Schmetterlings-Metapher in der von ihm erwähnten Geschichte eingeführt wird. Es ist der erste Text der Sammlung, der Ilse Aichinger gewidmet ist. Richters Portrait der österreichischen Autorin endet mit einer kurzen Darstellung des Treffens der Gruppe 47 in Niendorf im Jahr 1952. Auf dieser Tagung, an der auch Ingeborg Bachmann und Paul Celan teilnahmen, hatte Aichinger den Preis der Gruppe 47 gewonnen. Die kontroversen Ereignisse um Paul Celans LesungFootnote 50 lässt Richter in seinem knappen Bericht unerwähnt. Dafür gesteht er einer anderen, literarhistorisch kaum bedeutsamen Anekdote einigen Raum zu. Es geht dabei um einen fingierten Bordell-Besuch der Gruppe 47. Der Gastgeber des Treffens in Niendorf war Ernst Schnabel, der damalige Intendant des Nordwestdeutschen Rundfunks. Schnabel lud die Gruppe am letzten Abend des Treffens zu einem Empfang im Hamburger Rundfunkhaus und anschließend auf eine Party ein. Das Etablissement, in dem die angebliche Party stattfinden sollte, war Richters Bericht zufolge ein Bordell. Am Ende entpuppte sich der Bordell-Besuch als ein von Schnabel inszenierter Scherz beziehungsweise Herrenwitz, der nach Richters Ansicht auf die Kosten der beiden Autorinnen der Gruppe, Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann, ging:

»Unsere beiden neuentdeckten Dichterinnen hockten auf einer Couch, eng aneinandergeschmiegt, so, als wären sie unversehens in einen Sturm gekommen. Nein, sie klammerten sich nicht direkt aneinander, es kam mir nur so vor, und für einen Augenblick taten sie mir leid, ja, Ernst Schnabels Bordellstreich schien mir doch höchst makaber. Bald brach alles in ein großes Gelächter aus. Die Täuschung, die Schnabel beabsichtigt hatte, war zum Teil gelungen. Einige der Damen sprachen so selbstverständlich über Literatur, als sei dies ihr täglich Nachtgebet. Man hatte sie anscheinend gut präpariert, und natürlich gab es Autoren, die bewundernd darauf reinfielen.«Footnote 51

In Richters Darstellung der Ereignisse bleibt letztlich unklar, ob die männlichen Autoren auf die erotischen Avancen oder die Literaturkenntnisse der Prostituierten hereinfielen. Als Schmetterlinge erscheinen in Richters Erzählung jedenfalls nicht die Schriftsteller, sondern die bibliophilen Prostituierten: »tatsächlich sahen einige der Damen mit ihren bunten blumengeschmückten, farbigen Strumpfbändern ja wie Schmetterlinge in einem Märchen aus, Nachtfalter in einer puritanischen hanseatischen Großstadt, die sich verflogen hatten.«Footnote 52

Wenn Richter also im Nachwort die Autoren mit Schmetterlingen vergleicht, so analogisiert er damit implizit Schriftsteller und Prostituierte. Die Schmetterlings-Metapher, in der Richter die heterogene Struktur der Gruppe 47 zu synthetisieren sucht, wird auf diese Weise hochgradig ambig. Durch die rhetorische Doppelcodierung des Schmetterling-Bildes werden nun ironischerweise die Mitglieder der Gruppe 47 selbst als flatterhafte Prostituierte lesbar. Diese ambivalente Rhetorik hat nun ausgerechnet im ironischen Re-Modeling des literarischen Quartetts durch das popkulturelle Quintett ein entferntes Echo gefunden.

Auf dem Umschlag des Bandes Tristesse Royale ist bekanntlich das Bild eines Schmetterlings dargestellt. Es handelt sich dabei um einen Glas-Schmetterling der Marke Swarovski aus dem Besitz von Joachim Bessing, den dieser laut Selbstaussage aus einem Swarovski-Bilderrahmen herausgelöst hat.Footnote 53 Jörg Döring hat in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Schmetterlingsmotivs für die Dandy-Kultur des 20. Jahrhunderts herausgestellt und dabei auf das Cover der ersten Ausgabe des »New Yorker« vom 21. Februar 1925 hingewiesen. Auf diesem berühmten Cover ist die Zeichnung eines Dandy mit Zylinder abgebildet, der durch seinen Monokel einen Schmetterling betrachtet.Footnote 54 Im Kontext der Rezeptionsgeschichte dieser paratextuellen Dandy-Figur »situiert das Schmetterlingsmotiv auf dem Umschlag von Tristesse Royale die popkulturellen Dandys in der ironisch gebrochenen Tradition der massenmedial zirkulierenden Dandyadaptionen.«Footnote 55 Diese von Döring herausgearbeitete paratextuelle Kommentierung des Werks konterkariert damit die im Buch so offen zur Schau gestellte Ironie-Feindlichkeit der popkulturellen Autoren. Das Bild des Swarovski-Glas-Schmetterlings unterstreicht jedoch nicht nur den Dandy-Gestus der fünf Popliteraten, sondern fungiert auch als paratextuelles Product Placement.Footnote 56 Dabei ist der Wertförmigkeit des Swarovski-Schmetterlings eine spezifische Ambivalenz eingeschrieben. Denn sein Gebrauchswert besteht darin, einen illusionären Tauschwert zu denotieren: »Als Schmuckgegenstand prätendiert er eine Kostbarkeit, die er materialiter nicht einlösen kann. Er funkelt wie ein Diamant, besteht aber nur aus patentiert-kunstvoll geschliffenem Glas.«Footnote 57

Das popliterarische Spiel mit Markennamen wird hier durch die Abbildung eines Konsumguts abgelöst, dessen ikonische Form erst auf die Marke schließen lässt. Das Bild des Schmetterlings symbolisiert also einerseits die popkulturelle Rhetorik des Markenfetischismus, mit der zugleich das die Gruppe einende Strukturprinzip zum Ausdruck gebracht wird. In der Rhetorisierung der Werbung und der Konsumkultur wird die Warenform der Popliteratur ausgestellt und affirmiert. Andererseits wird der zur Schau getragene Markenfetischismus selbst als »hohle Welt des schönen Scheins«Footnote 58 entlarvt. In dem Schmetterlingsbild kommt daher noch anderes zum Ausdruck: das Motiv der Metamorphose. Durch das Zusammenspiel von Text und Peritext erweist sich das popkulturelle Quintett als wandlungsfähiges Kollektiv, das Ironie-Kritik in Ironie und Affirmation der Konsumkultur in Kulturkritik zu transformieren vermag. Auf diese Weise steht auch hier das Bild des Schmetterlings für die Autoren ein, deren flatterhaftes Verhältnis zur Kultur sie zu Kulturkritikern werden lässt, die zwischen der Prostitution an die Institution Kunst und den eigenen literarischen Flugversuchen oszillieren. Durch die paratextuelle Machart wird in Tristesse Royale das Bild des Schmetterlings zum Symbol einer Gruppenbildung, deren Kennzeichen nicht ein ästhetisches Manifest, sondern die kulturkritischen Metamorphosen der Autoren und deren literarische Flatterhaftigkeit sind. Dies gilt in analoger Weise auch für Richters Erläuterungen zur Schmetterlingsmetapher in Im Etablissement der Schmetterlinge. Im Gebrauch des Schmetterlingsmotivs kommt somit eine die beiden Gruppen einendes Strukturprinzip zum Ausdruck: die Rhetorisierung literarischer Gruppen, denen zwar ein kulturkritischer Gestus eigen ist, die aber nicht einem ästhetischen Dogma folgen. Im Bild des Schmetterlings, wie es von Hans Werner Richter und den Popliteraten verwendet wird, werden somit nicht nur die Institution Kunst, an der die Autoren teilhaben, sondern auch die avantgardistischen Gruppen, die auf eine Aufhebung der Institution Kunst abzielen, zum Gegenstand der Kritik. Es handelt sich bei diesen so unterschiedlichen Werken von Richter und Bessing allerdings nicht um Zeugnisse von Diskursivitätsbegründungen. Vielmehr deutet sich in diesen Texten eine nachträgliche und sehr spezifische Form der Begründung literarischer Gruppen an: die Geburt der Gruppe aus dem Geist der Schmetterlingsmetaphorik.