Die Analyse von Fanfiction und Fanforen ist notwendigerweise Rezeptionsforschung. Sie beschäftigt sich mit Texten, die vorhandene Literatur fortschreiben und verändern, und mit dem kommunikativen Umfeld von populären Werken, das ebenfalls unmittelbar zu deren Fortsetzungscharakter gehört und beiträgt. Fanfiction und Fanforen sind populär im Sinne großer Mengen von intensiv diskutierten Texten und entsprechender Verbreitung unter den Leserinnen und Lesern. Jede Fanfiction-Geschichte kann als Kritik oder Interpretation des Originals verstanden werden, das weitergeschrieben und kommentiert wird; und die Zahl dieser Geschichten von Fans gibt einen Hinweis auf die Popularität des Originals. Ganz ähnlich lassen die Anzahl der Fans, die sich an einem Fanforum beteiligen, und die Intensität ihrer Interaktionen über das Original Rückschlüsse auf die Popularität zu; und genauso lassen sich Fanforen als Archiv einer Community verstehen, die in ständigem Austausch untereinander an der Deutung des Originals arbeitet.

Die beiden verwandten Gegenstände dieses Bandes bieten der Literaturwissenschaft die Gelegenheit, sich an etwas zu erinnern, das sie schon länger weiß: Die Art und Weise des Gelesenwerdens bleibt der Bedeutung von Texten nicht äußerlich. Und sie stellen unsere Wissenschaft vor die Herausforderung, mit dem weiter voranzukommen, was seit einiger Zeit intensiv versucht wird, nämlich Methoden, die auf individueller und intersubjektiver Lektüre beruhen, mit methodischen Zugriffen zu verbinden, die auf die Modellierung von Vergleichbarkeit innerhalb großer Textmengen gerichtet sind. Denn große Textmengen korrelieren mit großer Popularität: Es gibt Hunderte von Fanfiction-Geschichten zur Harry-Potter-Reihe, zum Lord-of-the-Rings-Universum oder zum Marvel Extended Universe, und es sind Tausende von Beiträgen zum Fanforum einer populären Heftromanserie wie Perry Rhodan zu verzeichnen. Darin liegt eine große Chance für die Rezeptionsforschung und zugleich eine große methodische Herausforderung, dem sich die hier versammelten Beiträge zu Fanforen und Fanfiction stellen. Sie versuchen einerseits innerhalb von intertextuellen Analysen die Original- und Fantexte in ihrem Produktionszusammenhang zu untersuchen und stellen andererseits die Kommunikation in den Mittelpunkt, die den sozialen Medien der Literatur dort eigen ist, wo Gegenwartsliteratur am schnellsten wächst.

Der Beitrag von Cuntz-Leng et al. untersucht mit korpusanalytischen Häufigkeitsanalysen die Veränderungen zwischen Tolkiens Lord of the Rings und den auf Archive of our Own erschienenen Fanfiction-Texten zur Romanserie, wobei der intermediale Einfluss der Filmreihe eine entscheidende Rolle spielt. Untersucht werden neben Verschiebungen in der Figurenwichtigkeit und im Pairing von Figuren auch die Veränderungen thematischer Schwerpunktsetzungen vor allem unter dem Eindruck der Filme.

Brottrager et al. untersuchen eine ähnliche Fragestellung mit anders gelagerter Methodik anhand der Harry Potter-Fanfiction auf fanfiktion.de. Mit Hilfe einer auf kontextsensitiven Word Embeddings beruhenden Sentimentanalyse gelingt es, die Kookkurrenz, also das gemeinsame Auftreten von Figuren, so in ihrem jeweiligen Textumfeld zu verorten, dass genaue Aussagen über die Verschiebung von Haupt- und Nebencharakteren, nicht-kanonische Pairings und abweichende semantische Aufladungen von Figuren im Verhältnis von Original und Fanfiction möglich werden.

Weitin et al. nehmen mit Metadatenanalysen die Veränderungen der Harry Potter-Fanfiction auf fanfiktion.de im als Korpus aufbereiteten ›Corona-Jahr‹ 2020 in den Blick. Dabei steht die Frage, nach welchen Mustern und Kriterien Autorinnen und Autoren Aufmerksamkeit für ihre Texte erhalten, im Mittelpunkt. Mit Hilfe von Netzwerkmodellen kann den Ergebnissen deskriptiver Statistik, deren Mittelwerte leicht zu narrativen Unschärfen in der Interpretation führen, eine evidenzbasierte Analyse unterschiedlicher Kommunikationsrollen an die Seite gestellt werden. Topic Models und Sentimentanalysen der Harry Potter-Romane sowie von Fanfiction und deren Reviews untermauern einen sozialen Trend zum restriktiven Umgang mit Negativität und negativer Kritik.

Erika Thomalla beschäftigt sich mit Texten, die zwischen Fanfiction- und Genre-Literatur stehen. Von Verlagen und in digitalen Buch-Communities werden diese Texte damit beworben, dass sie an berühmte Klassiker der Genreliteratur wie Harry Potter, Twilight oder Die Tribute von Panem erinnern. Sie stammen überwiegend von Buchbloggern und Buchinfluencerinnen, die im Zuge wachsender Follower-Zahlen von lesenden zu schreibenden Fans wurden. Für Verlage sind sie attraktive Debütanten, da sie bereits eine große Community mit gemeinsamen Geschmacksvorlieben besitzen. Aber die Übertragung findet nicht nur auf der Inhaltsebene statt. Auch die Vermarktungsstrategien der Vorbilder werden teilweise übernommen. Die epigonalen Bücher werden so präsentiert, als handle es sich bereits um Kultbücher oder Klassiker. In der Rezeption geht dieses Kalkül allerdings nicht immer reibungslos auf. Der Beitrag zeigt: Die digitalen Fan-Gemeinschaften erweisen sich im Hinblick auf die Frage, welche Adaptionen zulässig und originell, welche unoriginell und einfallslos sind, und inwiefern die Anforderungen an das Genre erfüllt wurden, als differenzierte Leserinnen und Leser.

Um Fanfiction geht es auch Anne Deckbar, genauer: um Fanfiction-Serien. Das populäre Bezugssystem, das begeisterte Leser:innen zu Autor:innen werden lässt, ist das exzeptionell populäre Marvel Extended Universe. Der Beitrag rekonstruiert die äußerst rege Partizipationskultur auf der Plattform Wattpad und bezieht sie auf die Art und Weise, wie die seriell veröffentlichen Fanfictions weiterentwickelt werden. Die online participatory culture, die auf dieser digitalen Plattform entstehen konnte, schreibt an den Serien mit. Die Prinzipien der seriell veröffentlichen Fanfictions, ihre Popularität sowie die unter diesen Voraussetzungen (Serialität, Popularität) etablierten Praktiken können auf Wattpad besonders gut beobachtet werden, weil aufgrund der Metriken der Plattform Interaktion (z. B. in Form von Online-Kommentaren) und Popularitätsverteilungen (z. B. in Form von Rankings) messbar und nachvollziehbar sind.

Der Aufsatz von Daniel Stein und Niels Werber nimmt die populärste Heftromanserie der Literaturgeschichte zum Ausgangspunkt, um den produktiven Anteil der Fankultur an der Serienevolution zu bestimmen, die im Falle der Sciencefiction-Serie Perry Rhodan (seit 1961) anhand von Tausenden von Heften, Leserbriefen und Beiträgen im digitalen Fan-Forum zu rekonstruieren ist. Die Leser:innen solcher Serien sind Fans, die dazu neigen, ihren eigenen Rezeptionsprozess ausgiebig zu kommentieren, und diese Kommentare halten Einzug in die Peri- und Epitexte der Serie, deren »Beiwerk« über den work in progress Auskunft gibt. Wie die Serie gelesen und wie sie weitergeschrieben wird, ist für Werber und Stein eine Frage der paratextuellen Aushandlungen und der Popularität dieser Aushandlungen.