1 Die Personae

Im digitalen Zeitalter erscheinen Praktiken der Pseudonymisierung gängiger und alltäglicher denn je. Avatare in Games, Nicknames, individuell gestaltbare Profilseiten in Social Media, anonyme Kommentarfunktionen in Foren und Gruppen, usw. – die digitale Medienwelt macht uns vielfältige Angebote zu lustvollen Rollenspielen und alternativen Selbstentwürfen in Kunstfiguren. Parallel dazu, und womöglich auch in unmittelbarer Reaktion auf diese neuen Gestaltungsfreiheiten, lässt sich ein wachsendes Identitäts- und Identifikationsbedürfnis konstatieren. ›Authentizität‹ wird zu einem Ideal stilisiert und eine Erwartungshaltung kultiviert, nach der die im medialen Diskurs eingenommenen Rollen kohärent und ›wahrheitsgemäß‹ auf eine vermeintliche Core Identity zurückzuverweisen hätten. Der Daten-Sicherheitsexperte Paul Simmonds verwendet den Begriff der Super Persona, um einen bedenklichen Trend im Cloud Computing des Plattform-Kapitalismus zu benennen, bei dem die vielfältigen digitalen Spuren einer Person zu einem profilbildenden Datenkonglomerat zusammengeführt und zentral gespeichert werden.Footnote 1 Dadurch lassen sich Daten aus unterschiedlichsten Zusammenhängen (z. B. Online-Shopping, Social Media, Websuchen, Nachrichtenkanälen, Streamingverhalten, pornographischen Vorlieben, usw.) zueinander in Bezug setzen und algorithmisch verarbeiten, insbesondere um zukünftige (Konsum‑)Entscheidungen zu prognostizieren und zu beeinflussen. Analog zu dieser medientechnischen Entwicklung lässt sich eine soziale ausmachen, die wir ebenfalls mit dem Begriff Super Persona erfassen wollen.

Als Persona ist hierbei eine konstante und doch grundsätzlich kontextuell beschränkte soziale oder fiktive Rolle zu verstehen. Bei der Super Persona handelt es sich entsprechend um eine unterstellte, vermeintlich authentische Kernidentität, die alle fiktionalen, virtuellen und lebensweltlichen, privaten sowie öffentlichen Personae eines Menschen verantwortet und durchzieht und als Bezugsgröße in ihnen erkennbar bleiben muss, da sie sonst ›unehrlich‹ und damit ›minderwertig‹ erschiene. Literaturwissenschaftliche Grundannahmen einer strikten ontischen Unterscheidbarkeit von AutorIn und Erzählinstanz, SchauspielerIn und Rolle oder PerformerIn und Kunstfigur werden dabei sowohl von ProduzentInnen- wie von RezipientInnenseite in Frage gestellt und Fiktionalitätsverträge durchaus einvernehmlich aufgekündigt.

1.1 Die Star-Personae

Die Super Persona ähnelt in ihren transgressiven Dynamiken den Star-Personae, wie sie insbesondere die Pop-Kultur-Industrie seit den Fünfzigerjahren hervorgebracht hat. Stars wie Elvis Presley oder Marilyn Monroe kreierten bereits konstante Images und damit Personae, die auch bei Rollen- und Medienformatwechseln mit einem eigenen Akteursstatus mitwirken und somit als mediale Figuren den jeweiligen Werkkontexten transgressiv entwachsen und sich in andere mediale und realweltliche Kontexte ausweiten. Im digitalen Zeitalter nimmt diese Entgrenzung dahingehend zu, dass die erwartete Rollenkohärenz der Personae zunehmend auch private Sphären einbezieht. Zeichnete sich die Star Persona stets auch durch eine gewisse Entrücktheit und Unnahbarkeit aus – gerade dadurch, dass ihre Privaterzählungen ausgespart wurden und somit Raum für Imaginationen eröffneten –, werden vergleichbare Personae im digitalen Zeitalter über ihre Social-Media-Aktivitäten beinah vollumfänglich verfügbar. Sie nähern sich dadurch alltäglichen Personae in ihrem Inszenierungs- und Medienverhalten an, da sich Privatpersonen in Social Media wie Stars inszenieren können und Stars wiederum ihre Personae um alltägliche Szenarien erweitern. In diesem permanenten Nebeneinander von Kunstfiguren, Medienrollen und Privatperson gedeiht das Konzept einer Super Persona als verlässliche Bezugsgröße hinter all diesen Rollen und Masken, deren attributive Zuschreibungen aus all ihren medialen Auftritten generiert werden. Der Kunststatus von Rollenreden und -performances muss daher im digitalen Zeitalter völlig neu überdacht werden.

1.2 Die Rap-Personae

Die Persona-Konstitution im Rap erscheint dem generellen (Super‑)Persona-Konzept im digitalen Zeitalter besonders ähnlich, sodass es sich anbietet diese als Vergleichsgröße, wenn nicht gar als Vorbild heranzuziehen. Insbesondere das Autorschaftsmodell im Rap trägt bereits verwandte Züge:

»Rapperinnen und Rapper gelten hier nicht nur gleichzeitig als Verfasser ihrer Texte und als Performer des Sprechgesangs, sondern darüber hinaus auch als die durch den Rap erzählenden und in ihm sprechhandelnden Akteure. Die durch den selbstgewählten Rap-Namen bezeichnete Rolle erweist sich als konstante Persona, also eine ursprünglich textkonstituierte ›Maske‹ mit lebenswirklicher Relevanz.«Footnote 2

Im Rap (insbesondere im Gangsta-Rap) nimmt zudem der Wert der Authentizität eine zentrale Rolle bei der Bewertung und Verhandlung von Kunstschaffenden und ihren ästhetischen Produkten ein.Footnote 3 Rapschaffende wählen sich frei (wenn auch häufig stark an Genrekonventionen orientiert) ein Rap-Pseudonym und generieren für dieses durch ihre lyrischen Texte eine Persona, die grundsätzlich keinen realweltlichen Restriktionen und Ansprüchen unterliegt. Der im Genre kultivierte Authentizitätsanspruch führt allerdings häufig dazu, dass die in Raps getätigten Äußerungen sowohl von RezipientInnen- wie ProduzentInnen-Seite als realweltlich geltend aufgefasst werden und damit auch die attributiven Selbst-Zuschreibungen der Text-Persona. So kommt es zu der Geburt einer Diskursfigur aus einem ästhetisch, virtuell, fiktionalen Schaffensprozess, die den Status einer lebenswirklich relevanten sozialen Rolle erhält. Insbesondere im Gangsta-Rap führt dieser Authentizitätsanspruch zu einer großen Erwartungshaltung gegenüber der Rap-Persona, die den Status einer Super Persona erfährt. Der Verdacht einer sozialen Ranganmaßung kann sich ergeben, da ein Teil des Faszinosums dieser Sub-Gattung aus der Brisanz ihrer delinquenten Akteure genährt wird. Die Rap-Personae im Gangsta-Rap agieren dabei als hochmobiles interaktives Diskurs-Ensemble, das ihre Konflikte und Beziehungen auf unterschiedlichsten Kanälen verbreitet. Der Berliner Gangsta-Rapper BushidoFootnote 4 stellt für den deutschsprachigen Raum den absoluten Prototypen dieses Persona-Konzeptes. Seine im Folgenden skizzierte Persona-Entwicklung hat daher besonders exemplarischen Wert für den Umgang mit medialen Pseudonymen und Rollen im digitalen Zeitalter. Sie reicht von der fiktiven, textverorteten Figur bis zu einer in unterschiedlichen juristischen Verfahren agierenden Super Persona.

2 Die Persona-Entwicklung bei Bushido

Bushido ist einer der erfolgreichsten deutschen Rapper überhaupt. Sein bekanntestes Pseudonym Bushido »kommt aus dem Japanischen, war eine Art Lebenskodex der Samurai und heißt übersetzt so viel wie ›Weg des Kriegers‹.«Footnote 5 Hierbei handelt es sich jedoch um eins von mehreren Pseudonymen. Tatsächlich schloss er zu Zeiten seiner Ausbildung zum Maler und Lackierer eine enge Freundschaft mit Patrick Losensky, der sich später Fler nennen wird. Als Initiationsmoment in die transnationale Hiphop-Szene fungierte für Anis Mohamed Youssef Ferchichi und Losenky das sogenannte Sprayen, bei dem Ferchichi den Sprühernamen Fuchs wählte, »was aber nichts zu bedeuten hatte. Ich hielt mich weder für besonders listig noch hatte ich rote Haare. Man suchte sich einfach Buchstaben aus, die cool zusammenpassten, die man gut malen konnte, und hoffte, dass am Ende ein korrekter Name herauskam. […] Das machten übrigens alle so, auch Fler.«Footnote 6 Auf diese Weise erfinden die beiden jungen Männer eine Hiphop-Rolle.

Nach ersten Versuchen am, wie er es nennt, »Beats machen« beschreibt Bushido in seiner Autobiographie: »Eines Abends saß ich zuhause vor meiner Playstation und zockte so ein neues Spiel. Im Intro gab es einen animierten Kurzfilm, der von einem Sprecher mit einer ziemlich geheimnisvoll klingenden Stimme begleitet wurde. Er begann seinen Text mit so heldenhaftem Gequatsche, von wegen Krieg und Kämpfer und Dämonen und krasse Typen, doch dann, ganz am Ende, sagte er nach ewigem Blabla: ›That’s Bushido!‹ Woah! Hammer! Sofort bekam ich am ganzen Körper Gänsehaut. Keine Ahnung wieso, aber ich wusste direkt nach dem ersten Hören, dass dies mein neuer Name sein würde: Bushido. Ich stand ja sowieso auf dieses japanische Kung-Fu-Zeug, also dachte ich mir nichts weiter dabei. […] Ich wurde Bushido.«Footnote 7

Angelehnt an den Wu-Tang-Clan entsteht seine Rap-Persona, die sich zwar stetig verändert und verschoben hat, jedoch niemals vollständig abgelegt wird. Mit dem zeitgleichen Verfassen erster Songtexte wird nun also Bushidos Rap-Persona aus dem Text heraus geboren und anschließend recht schnell zur authentischen Gangsterrolle. Diese nimmt er von Beginn an in seinen Texten in unverhältnismäßiger Drastik ein und bedient auf diese Weise eklatant gängige Topoi des Gangsterrap.

Hypermaskulinität, Gewalt- und Drogenglorifizierung sowie die Thematisierung des Ghettos – ohne dass das überhaupt in seinem bisherigen Leben, im Sinne eines authentischen und dokumentatorischen Anspruchs an den eigenen Text, anlegt war – ziehen sich als zentrale Themenkomplexe durch seine Lieder. Um jedoch diesem Authentizitätsanspruch genüge zu leisten, kann die Bushido-Figur nicht nur lediglich im Text stattfinden. »[L]ebenswirklich relevant ist sie [also die Rap-Persona, RM], weil sie nicht auf die Textwelt beziehungsweise Aufführungssitutation beschränkt bleibt, sondern auch in sozialen Kontexten zum Einsatz kommt.«Footnote 8 Es kommt schließlich auch jenseits seiner Lieder zu lokalen kleinkriminellen Handlungen und schließlich zum Zusammenschluss mit dem berüchtigten Berliner Abou-Chaker-Clan, somit de facto wahrhaftiger organisierter Kriminalität – eine Mimikry ans eigene Image.

In seiner Karriere stellt dies einen entscheidenden Schritt dar, bedient er jetzt schließlich das in der Hiphop-Szene äußerst relevante Qualitätsbewertungskriterium der Gangster-Authentizität. Der tatsächliche kriminelle Hintergrund wird zu Bushidos Alleinstellungsmerkmal in der Deutschrapszene. Die Kooperation mit Arafat Abou-Chaker ermöglicht es nicht nur, echte street credibility für sich zu behaupten, sondern auch sogenannte Disstracks zu veröffentlichen, in denen andere Rapper beleidigt werden, ohne eine eventuelle Reaktion befürchten zu müssen. Daraus geht ein glaubwürdiges Gangster-Image hervor, mit dem Bushido letztendlich äußerst erfolgreich ist. Folglich entwickelt er sich zum Schreckgespenst im öffentlichen medialen Diskurs. Der Authentizitätsverdacht der breiten Öffentlichkeit sieht sich bestätigt. Die ›dubiosen‹ Gangsterrapper scheinen also tatsächlich ungebrochen ernst zu meinen, was sie in ihren Liedern konstatieren. Natürlich wird das medial ausgeschlachtet und die Bushido-Persona findet plötzlich nicht mehr nur in der Kunst, sondern inzwischen auch in weiteren medialen Räumen statt.

Im Jahr 2005 landet Bushido wegen Verdachts auf schwere Körperverletzung im Gefängnis. Diverse reißerische Schlagzeilen wie »Wandert Rüpel-Rapper Bushido heute in den Knast?«Footnote 9 belegen, wie breit der Skandal öffentlich diskutiert wird. Bushido ist nicht mehr nur mit wahrhaftiger Kriminalität assoziiert, sondern hört bereits auf, die Gangsterrolle nur zu spielen.

Im Jahr 2008 erscheint Bushidos Autobiographie. Bemerkenswert hieran ist die Titelgebung »Bushido«, die die sonst distinkten paratextuellen Elemente des Autors und des Titels metonymisch verschmelzen lässt. Die literaturwissenschaftliche ontische Trennung von Kunst und Realität, Fiktionalität und Faktualität, fiktiver Kunstfigur Bushido und realem Ferchichi sowie empirisch-historischer Person des Textproduzenten und Betitelung wird performativ unterlaufen. Bushido ist Text, Werk, mediale Vermittlung, Kunstfigur und reale Person zugleich – Bushido ist eine Super Persona.

Vor dem Erscheinen der buchförmigen Publikation werden bereits Auszüge davon in der Bildzeitung veröffentlicht. Die Persona pluralisiert sich nicht nur in der medialen Öffentlichkeit, sondern findet nun auch im Medium des Buches statt. Sätze wie »In einem Interview ließ ich mal in einem Nebensatz fallen, dass ich schon mit über 500 Frauen im Bett war. Keine Ahnung, wie viele es wirklich waren, aber die Schätzung kam schon in etwa hin.«Footnote 10, wiederholen in ihrer Referenz auf andere Medien unter anderen den Hypermaskulinitätstopos aus den Liedtexten, während sie gleichzeitig eine ausgestellte Coolness inszenieren. Wer zählt schließlich schon?

Parallel dazu äußert sich der Text auffällig ambivalent über den Abou-Chaker-Clan, insbesondere dessen Mitglied Arafat. Einerseits wird dieser euphemistisch als respektabler, rechtschaffener Mann, der »immer fair bleibt«, weshalb »er und seine Familie in Berlin auch so respektiert [Kursivierung RM, FW]« werden, beschrieben, gleichzeitig werden auffällig häufig Wörter aus dem semantischen Feld der organisierten Kriminalität zur Beschreibung herangezogen. Neben der intermedialen Referenz »La Famiglia Abou-Chaker«Footnote 11 heißt es an anderer Stelle: »Der Name Abou-Chaker ist in Berlin legendär. Er ist allgegenwärtig. Das ist ähnlich wie im Chicago der 1920er-Jahre. Damals kannte auch jedes Kind den Namen Al Capone.«Footnote 12

Bis zur Klischeehaftigkeit getriebene Gangsterauthentizität steht an dieser Stelle bereits im eigentlichen Widerspruch zum gleichzeitigen Versuch, ein schmeichelhaft honoriges Bild der Abou-Chakers zu zeichnen, gar den Anschein zu erwecken, es sei ja doch alles gar nicht so schlimm und man sei ja eigentlich einer von den Guten.

Insgesamt gesehen ist die Bushido-Autobiographie in einem auffälligen, aber Gangsterrap-typischen arrogant-blasierten Duktus gehalten: »Wäre ich immer im Strom der Masse geschwommen, […] wäre ich heute nicht Kingbushido.«Footnote 13 Anhand dieser Textstelle zeigt sich die offenkundige Verschränkung von Rap-Persona und realweltlichem Anis Mohamend Ferchichi. An anderer Stelle wird sogar von einem »Bushidosein«Footnote 14 gesprochen. Eine klare Differenzierung gelingt also nicht nur nicht mehr, sondern wird auch mittels Autobiographie aktiv unterminiert.

Jenseits der Selbstinszenierung stellt Bushidos äußerst problematische Beziehung zum ehemals alkoholabhängigen Vater ein zentrales Thema der Autobiographie dar. Nach der Schilderung der durch Abou-Chaker initiierten vermeintlich ehrenhaften Vermittlung zwischen Bushido und dessen Vater wird sein Lied Reich mir nicht deine HandFootnote 15 als Faktizität generierender Beweis als alleiniger Songtext im gesamten Buch angeführt: »Ich war damals grade drei / Als du mich verlassen hast / Es war Mama die es nicht verkraftet hat / Sie wollte sich scheiden lassen, hör auf zu lügen / Wie oft wurde sie von dir verprügelt?«Footnote 16 Nicht nur werden erneut Rap-Persona Bushido und der bürgerliche Ferchichi verkoppelt, sondern auch künstlerische Songtexte als Beleg angeführt. Dass Bushido retrospektiv sein Buch als Imagepflege der Kunstfigur Bushido bezeichnet, zeigt deutlich, wie schwierig die Kunstfigur Bushido überhaupt zu greifen ist.

Dieses Lied Reich mir nicht deine Hand wird später in der verfilmten Autobiographie mit dem Titel Zeiten ändern DichFootnote 17 aus dem Jahr 2010 von Bushido geschrieben und gesungen. Zeiten ändern DichFootnote 18 lautet auch der Titel seines 9. Soloalbums, das ebenfalls den Soundtrack des Films darstellt. Besetzt ist der Film übrigens mit Bushido persönlich in der Hauptrolle, sich selbstspielenden Rappern und zahlreichen Mitgliedern der Abou-Chaker-Familie. Als weitere vermeintliche Authentizitätsmarker werden reale Nachrichtensendungen mit tatsächlichen Beiträgen über Bushido wie unter anderem die Tagesschau, TV Total und Taff im Film eingespielt.

Nachdem Sido in der Zwischenzeit den Schritt aus der Gangsterrap-Szene hinein in den Mainstream geschafft hat, ist bei Bushido ein ähnlicher Versuch der popkulturellen Assimilation zu beobachten. In Zusammenarbeit mit Karel Gott entsteht das Lied Für immer jung,Footnote 19 bis dato Bushidos erfolgreichster Song. Nicht nur wird auf jegliche Form genretypischer Brechung sprachlicher und gesellschaftlicher Normen in Form von Beleidigungen, Misogynie, Homophobie etc. verzichtet, sondern verspricht das Duett mit der sogenannten goldenen Stimme aus Prag einen Imagewechsel. Doch ist das glaubwürdig? Der Spiegel schreibt über das »Skurile Duo. ›Mittelfinga meets Biene Maja‹«, dass »[a]usgerechnet mit Karel Gott, Interpret familienfreundlichen Liedguts wie ›Biene Maja‹ und ›Einmal um die ganze Welt‹, […] der Oberböse einen Song auf[nimmt].«Footnote 20

In Bushidos Biopic wird jene Kooperation besonders in den Fokus gerückt – alles natürlich aus Liebe zur Karel-Gott-enthusiastischen Mutter. Rap-Persona Bushido wird hier also um einiges facettenreicher, tiefgründiger, ja fast schon ehrenhaft anständig gezeichnet. Die Frage, ob diese sogenannte ›Sidoisierung‹ Bushidos gelingt, drängt sich inzwischen geradezu auf.

Es scheint so. Bei der Bambi-Verleihung im Jahr 2011 erhält Bushido den Preis für Integration. Trotz vehementer Kritik zahlreicher PolitikerInnen sowie Frauen- und Homosexuellenverbände wirkt es so, als sei die Imageverbesserung erfolgreich. Er schreibt das Integrationsbuch Auch wir sind Deutschland.Footnote 21 Doch mit diesem Flopp, der im Gegensatz zur Autobiographie den bürgerlichen Namen als Autor nennt, zeichnet sich bereits ab, dass das zunächst mühsam aufgebaute authentische Gangsterimage doch nicht so leicht von der Bushido-Persona (ab)trennbar ist. Neben der Schilderung, man habe schon einmal Post vom Gericht an einen gewissen Bushido adressiert erhalten,Footnote 22 schlägt das Integrationsbuch einen derart versöhnlichen Ton an, dass sich manche Aussagen diametral zur Autobiographie – und selbstredend auch Aussagen in Interviews sowie Songtexten – verhalten. Heißt es im Bushido-Buch noch »Wenn jemand zu mir Hurensohn sagt, dann bekommt der in die Fresse. Aktion, bums!, Reaktion, Kieferbruch. Die arabische Welt denkt eben nicht wie die europäische und umgekehrt. Das sind zwei Kulturen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.«Footnote 23, bemüht sich Auch wir sind Deutschland Vorteile einer Verschmelzung beider Kulturen aufzuzeigen.

Vollständig scheitert Bushidos Assimilationsvorhaben jedoch schließlich mit dem Lied Stress ohne Grund,Footnote 24 das unter anderem auch Samples von Fler enthält. Neben homophoben Textzeilen führen Sätze wie »Ich will, dass Serkan Tören jetzt ins Gras beißt.« Und »Ich schieß auf Claudia Roth und sie kriegt Löcher wie ein Golfplatz.« Zu einer Indizierung, zahlreichen Privatklagen und einer Anklage der Staatsanwaltschaft Berlin wegen Beleidigung, Volksverhetzung und Gewaltdarstellung. 2014 entschied das Gericht, dass der Tatbestand der Volksverhetzung nicht gegeben und die Beleidigung von der Kunstfreiheit gedeckt sei.

Nichtsdestotrotz führt das Fehlschlagen seiner gesellschaftlichen Anpassung zu Bushidos Rückkehr zur (Re)Inszenierung seiner Gangsterauthentizität. Mit dem Videoclip zu Mitten in der Nacht,Footnote 25 in dem berüchtigte Mitglieder des Rocker-Clubs Hells Angels auftreten, wird erneut offensiv die kriminelle Facette betont. Die Thematisierung körperlicher Gewalt, Drogenkonsums und ein generell stark pejorativer Duktus sind wieder an der Tagesordnung. Die Abkehr vom Mainstream scheint endgültig.

Darauf folgt dann aber wiederum ein anders gearteter, aber dennoch erneuter Assimilationsversuch: Zwar als Gangster, aber gleichzeitig auch plötzlich als ›Papa-Bushido‹, zeigt unter anderem der Videoclip zum Lied PapaFootnote 26 Bushido mit seinen Kindern in der Vaterrolle.Footnote 27 Bushido als liebender Vater und treuer Ehemann. Eine Rolle, die in Wahrnehmung und Ausführung stabil bleibt.

Im Jahr 2018 erstaunt er die Öffentlichkeit mit seiner abrupten Trennung vom Abou-Chaker-Clan. Via Social-Media-Plattform Facebook wird verkündet, dass Bushido von einer weiteren Zusammenarbeit mit Arafat Abou-Chaker absieht. Zuvor getroffene Aussagen werden vollständig revidiert, sogar nachdrücklich betont, wie niederträchtig und kriminell der Abou-Chaker-Clan tatsächlich sei und sich von den eigenen Songtexten sowie dem Gangsterimage energisch distanziert. Das Wegbrechen der Gangsterauthentizität, stark evoziert auch durch den Polizeischutz Bushidos und dessen Familie, führt jedoch nicht zu einer erfolgreichen Abgrenzung von der Rap-Persona. Zwar wird Bushido als Kunstfigur und Maske bezeichnet, doch Anis Mohammed Ferchichi und Bushido bleiben immer noch untrennbar. Wer hält denn nun die Deutungshoheit über die eigene Rolle?

Während die Abou-Chakers erklären, dass sie lediglich Geschäftspartner und keineswegs eine Bedrohung seien, betont Bushido die Berechtigung des von ihm erhaltenen Polizeischutzes damit, wie sehr seine eigene und die Sicherheit seiner Familie bedroht sei. In der Hiphop-Szene wird Bushido als Witzfigur und unauthentisch dargestellt. Spätestens mit seiner Polizeikooperation distanziert sich der Großteil der DeutschrapperInnen aus- und nachdrücklich von ihm.

Künstlerisch aufgearbeitet wird das in seinem Lied Mephisto.Footnote 28 In Bushidos Dokumentation UnzensiertFootnote 29 heißt es: »Viele Leute haben höchstwahrscheinlich erwartet, als Mephisto angekündigt wurde, dass sie so eine bestimmte Art von Abrechnung hören, die nach vorne geht, in die Fresse geht, die auch sehr beleidigend wird. Ich wollte halt eben nicht ein Feuerwerk an Ermittlungsverfahren lostreten. […] Sonst wäre ich auch gar nicht auf dieses Mephisto-Ding gekommen.«Footnote 30 Aus Antizipation etwaiger juristischer Konsequenzen wird Bushidos Verhältnis zu Arafat Abou-Chaker als Teufelspakt anhand einer hochgradig artifiziellen Rollenfiktion verhandelt. »Diese Seele war verkauft, der Junge stieg auf seinen Thron / Für viele ein Idol, doch seine Freiheit Illusion / Mephisto hatte Pläne, der König der Hyänen / Die Schlange, der Apfel im Garten von Eden.«Footnote 31

Bushidos Mephisto referiert nicht nur auf den gleichnamigen Roman Klaus Manns, prominenter Präzedenzfall der Verhandlung von Kunstfreiheit und dem Recht auf Schutz der Persönlichkeit, sondern ruft offenkundig den Faust-Mythos auf. Auch der Aufbau des Songtextes stellt einen entsprechenden strukturell-intertextuellen Verweis dar, untergliedert er sich schließlich in Gelehrten- und Gretchentragödie. In dieser Rollenfiktion entspricht Bushido Faust, Arafat Abou-Chaker tritt in der Rolle des Mephisto und entsprechend Anna-Maria Ferchichi in der des Gretchens auf. Ansonsten weicht der Songtext stark von anderen Bearbeitungen des ›Faust-Mythos‹ ab und vermischt Referenzen auf Bushidos eigene Biographie mit biblischen, literarischen sowie popkulturellen Bezügen. »Die Geister, die er rief, sie forderten Tribut / In den Köpfen diese Stimmen, an den Händen dieses Blut.«Footnote 32 Es zeigt sich, dass der Songtext zwar gezielt artifiziell gestaltet ist, sodass die Aussagen im Rahmen der Kunstfreiheit gedeckt sind, jedoch alles andere als hermetisch verschlüsselt bleiben.

In der Dokumentation lässt sich erneut der Versuch, die Definitionsmacht über die eigene Rolle wiederzuerlangen, erkennen. Die Kunstfigur Bushido wird offensiv weiterhin mitgetragen, das Image soll gerettet, die eigene Version der Geschichte erzählt werden. Bushido inszeniert sich – inzwischen sogar ab und zu mit einem selbstironischen Augenzwingern – als Bushido selbst. Neffi Temur, Universal Music CEO, fasst das in der Dokumentation wie folgt: »Ich hab’ Bushido noch nie so offen gesehen.«Footnote 33

So auch in einem Interview mit Günther Jauch antwortet Bushido auf dessen Frage, ob denn eigentlich der Gangsterrapper oder der liebende und treue Familienvater die Kunstfigur sei:

Es gab eine lange Zeit, […] dass es den liebenden Familienvater gar nicht gab. Das heißt, es gab nicht einmal den Platz, ihn irgendwo als Kunstfigur aus dem Schrank holen zu können. Da war das, was ich gerappt habe, Realität. […] Heute kann ich sagen zum Glück, das steht auch jedem frei, mir das zu glauben oder nicht, dass die Kunstfigur Bushido, der Gangsterrapper, der den Leuten schlimme Wörter an den Kopf wirft, dass das wie so eine Art … ja… Faschingskostüm im Schrank hängt, manchmal hol ik det raus und dann mach ich Party und dann geht det auch wieder weg.Footnote 34

Anfangs Maler und Lackierer beginnt Bushido zu sprayen, konzipiert die Kunstfigur Bushido und verleiht dieser ein Image, dem er mehr und mehr Gehalt gibt. Schließlich erfolgt eine Verschmelzung von Mensch und Kunstfigur, die niemand mehr trennt – oder überhaupt trennen kann. Keineswegs handelt es sich dabei jedoch um ein stabiles, eindimensionales und vor allem rein künstlerisches Konstrukt, sondern um eine facettenreiche, sich mäandernd-evolvierende und stetig um- und restrukturierende Super Persona.

3 Der ›Fall‹ Bushido gegen Fler

Am ›Fall‹ Bushido gegen Fler lässt sich das hochambivalente Super Persona-Konzept, das auf einer Kunstfigur basiert, besonders eindrücklich veranschaulichen. Die mediale und öffentliche Rap-Persona Bushido erhebt Anzeige gegen Fler, der ihn in dessen Lied NonameFootnote 35 laut Anklageschrift beleidigt habe. Dabei werden gleich mehrere Schwierigkeiten der (vermeintlich) indifferenten Beziehung zwischen bürgerlichem Anis Mohamed Youssef Ferchichi und dessen Kunstpersona Bushido evident: Erkennbar wird zunächst, dass diese Persona kaum greifbar ist und sich immer weitere Verschiebungen, Entleerungen und Resemantisierungen ergeben. Wer bezieht die Deutungshoheit über diese Kunstfigur, insbesondere wenn sie sogar zur Super Persona evolviert? Außerdem stellt sich die damit verbundene Frage, ob eine Beleidigung der kunstfigürlichen Super Persona mit realweltlichen juristischen Konsequenzen verbunden sein kann?

Die Beleidigung stellt nach § 185 Strafgesetzbuch eine Straftat dar und zählt zu den sogenannten Ehrverletzungsdelikten, da sich die Äußerung bemerkbar gegen die Ehre des Opfers richtet. Der Gegner der Beleidigung muss in jedem Fall eine feststellbare Person oder eine abgrenzbare Personengruppe sein, da ansonsten eine konkrete Betroffenheit fehlt. Anhand von Bushido, einer prototypischen Figur unserer medialen Gegenwart, stellt sich die Frage, wo fängt die Kunst an und wo hört sie auf? Was passiert mit der personifizierten Kunst – und kann man sie beleidigen?

Bushidos Klage gegen Flers Noname, mit dem Inhalt Anna-Maria Ferchichi könne aufgrund ihrer vielfältig unterhaltenen Beziehungen zu Spielern des SV Werder Bremen unmöglich Bushido als einzigen Vater ihrer sieben gemeinsamen Kinder angeben, wurde stattgegeben. Das Gerichtsurteil ordnete eine Textanpassung des Lieds Noname von Fler an, aufgrund der Beleidigung unschuldiger Menschen, die in keiner Weise in direktem Bezug zur Kunst beziehungsweise Kunstfigur der Rapper stehen. Deren Beleidigung reaktualisiert das historisch tradierte Konzept der Ahnenschändung. Anhand dieser Urteilsverkündung wird juristisch ein aktueller Gegenwartsbezug realisiert und manifestiert. Die Mutter hingegen stünde wegen ihrer eigenen aktiven Partizipation am genre-konventionellen (Beleidigungs‑)Diskurs nicht unter dessen Schutz. Sogar das Gericht benennt die Kinder als Schutzbefohlene der Kunstfigur Bushido und nicht der realen empirischen Person Anis Ferchichi. Es erkennt somit die Super Persona Bushido als juristisch feststellbare Person an. Die bloße Aberkennung der Vaterschaft im biologischen wie familiären Sinne einer Kunstfigur wie Bushido wird somit bereits als eine schädigende Beleidigung gerichtlich anerkannt.

Dieses Urteil durchbricht metaleptisch die Grenze zwischen Fiktion und Realität, da es Einfluss nimmt auf die Darstellung fiktionaler Textgenerierung des Künstlers in Bezug auf die Super-Persona Bushido.

4 Fazit und Ausblick

Anhand der dargestellten Evolution der Super Persona Bushido kann man die prototypische Entstehung einer derartigen Super Persona der heutigen Zeit nachvollziehen. Der Künstlername Bushido suggeriert eine gewisse Bedeutung, Textautor, ›lyrisches Ich‹ und Interpret werden undifferenzierbar. Ein hoher Bekanntheitsgrad wird erreicht mit der Folge, dass die Kunstfigur Bushido sich neben Textinhalten und Performances auch im wirklichen Leben mit der Rolle identifiziert, also auf das eigens geschaffene Identifikationsangebot eines authentischen Gangsters zurückgreift. Diese publikumswirksame Verschmelzung von Kunst und realer Person überwältigt schließlich Anis Ferchichi und zieht eine Reinszenierung als Familienmensch nach sich. Der nachfolgende Clash dieser zwei Identitäten ergibt einen unvereinbaren Konflikt, der sich im realen Leben widerspiegelt. Realweltliche Bedrohung sowie der Gerichtsprozess zwischen Bushido und Arafat Abou-Chaker gipfeln in einem verzweifelten Versuch der empirischen historischen Realperson Ferchichi die Deutungshoheit über die sich verselbständigte Kunstfigur Bushido wiederzuerlangen. Dies gelingt nicht einmal durch einen radikalen geographischen Entzug durch den Umzug nach Dubai. Pygmalion erschafft sich selbst und wird von der eigenen Schöpfung inkorporiert. »Die Geister, die er rief, sie forderten Tribut.«Footnote 36

Eine weitere Plattform, die des Reality-TVs, wird genutzt, um diesen Neuanfang publikumswirksam zu vermarkten. Multi- und paramedial wirkt die Social-Media-Plattform Instagram, auf der Umzug sowie die zwei weiteren DokumentationenFootnote 37 kleinschrittig begleitet sowie meta-kommentatorisch eigens eingeordnet werden. Pygmalion pluralisiert werktransgressiv die eigene Super Persona-Schöpfung erneut und revitalisiert somit konstant den eigenen Kontrollverlust.

Für die Literaturwissenschaft erscheinen dabei insbesondere die paratextuellen Markierungen von Medienformaten und -gattungen von Interesse, die sich im digitalen Medienzeitalter hochkomplex gestalten. So stellen dokumentatorische Formate ihren artifiziellen Charakter bewusst mit aus und erreichen dadurch einen kontraintuitiven Authentizitätszuwachs; an offensichtlich lyrisch-ästhetische Gattungen wie Gangster-Raps werden derweil aufgrund ihrer Gattungskonventionen ebenso kontraintuitiv besonders hohe ›Wahrheitsansprüche‹ gelegt, von den ProtagonistInnen anscheinend ebenso wie von Fans und auch Außenstehenden. Die Literaturwissenschaft wird dabei vor neue Herausforderungen in der Analyse und Klassifikation ästhetischer Äußerungen gestellt; insbesondere im Umgang mit Pseudonymen und (vermeintlich) fiktionalen Kunstfiguren. Wenn es gelingt, differenzierte Analysemethoden zu entwickeln, die jenseits einer binaristischen Unterscheidung zwischen fiktional und faktual den ontisch mäandernden Status solcher Medienakteure fassbar zu machen beziehungsweise das breite Instrumentarium der Literaturwissenschaft entsprechend zu modifizieren, kann sie zu einer Schlüsseldisziplin im Umgang mit Super Personae werden.

5 Discographie

Bushido: Album: Zeiten ändern dich. 2010.

Bushido (mit Karel Gott): Für immer jung. Album: Heavy Metal Payback. 2008.

Bushido: Mephisto. Album: Mythos. 2018.

Bushido: Papa. Album: Black Friday. 2017.

Bushido: Mitten in der Nacht. Album: Sonny Black. 2014.

Bushido: Reich mir nicht deine Hand. Album: 7. 2007.

Fler: Noname. Album: Atlantis. 2020.

Shindy (mit Bushido): Stress ohne Grund. Album: NWA. 2013.

6 Filmographie

Edel, Uli: Zeiten ändern dich. Deutschland 2010.

Rossberg, Peter: Unzensiert. Bushido’s Wahrheit. 2021.

Good Guys Entertainment GmbH: Bushido. Reset. 2022.

Good Guys Entertainment GmbH: Bushido & Anna-Maria. Alles auf Familie. 2023.