1 Paratextuelle Gewaltstreiche

Im Oktober 2016 wurde die italienische Autorin, weltberühmt unter dem Pseudonym Elena Ferrante, im Rahmen eines journalistischen Großaufgebots enttarnt. Gleich mehrere Publikationen, darunter die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und der New York Review of Books druckten die Recherche des Journalisten Claudio Gatti, der der Spur des Geldes gefolgt war und aufgrund von Honoraren, die für die Romane Ferrantes überwiesen wurden, behaupten konnte, dass die reale Urheberin der Bücher die Schriftstellerin und Übersetzerin Anita Raja sei.Footnote 1 Es handelt sich um einen Fall, der Foucaults berühmte Behauptung, dass literarische Anonymität uns »unerträglich« sei, und wir sie nur »als Rätsel« ertragen könnten, eindrucksvoll unter Beweis stellt.Footnote 2

Ferrante, die vor allem als Autorin der Neapolitanischen Saga bekannt wurde, gehörte zu den prominenten anonymen Autor:innen der Gegenwart. Ihr markiertes Pseudonym ist ein wichtiger Bestandteil ihrer Autorschaft, die sich über die programmatische Verborgenheit der realen Person definiert. Dabei erschien sie immer auch als eine Art Theoretikerin moderner Anonymität. In einem oft zitierten Brief an ihre Verlegerin von 1991 zur Frage danach, was sie zur Vermarktung ihres ersten Buches L’amore molesto beitragen würde, antwortete sie: »Ich glaube, Bücher brauchen, wenn sie einmal geschrieben sind, keinen Autor mehr.« Sie habe bereits genug für die Geschichte getan, insofern, als sie sie geschrieben habe.Footnote 3

Das Echo autorkritischer Positionen in diesen Aussagen ist deutlich vernehmbar. Ferrante stellt sich mit ihrer auktorialen Praxis in die Tradition einer theoretischen Polemik, die im Namen von Konzepten wie der intentional fallacy oder »Tod des Autors« versuchte, die Person der Urheberin aus dem Diskurs über ihre Bücher zu vertreiben.Footnote 4 In Ferrantes Fall ist damit eine Form von persönlicher Bescheidenheit und gleichzeitiger professioneller Unbescheidenheit verbunden. Das Buch solle es, schreibt sie an ihre Verlegerin, »aus eigener Kraft« schaffen, ein Publikum zu finden.Footnote 5

Es handelt sich um eine Aussage, die eine implizite Kritik an einer autorzentrierten literarischen Kultur enthält, die immer mehr zu einer Celebrity Culture auszuufern droht. Ferrante selbst nennt ihr Pseudonym in einem Interview »meine kleine kulturelle Polemik«.Footnote 6 Der Erfolg von Büchern wird demnach nicht durch ihre ästhetische Meisterschaft begründet, sondern durch ein außerästhetisches Interesse an der Person der Autor:in, die sich nicht mehr durch ihr Schreiben, sondern durch ihre Virtuosität der Selbstvermarktung im literarischen Feld erfolgreich positioniert.

Diese Kritik ist weitverbreitet. 2007 etwa beklagte der Journalist und Literaturwissenschaftler Marc Reichwein eine »allgemeine Professionalisierung der Kulturvermittlung«, der es vor allem darum zu tun sei, Literatur mithilfe von »Personalisierung«, »Visualisierung« und »Etikettierung« effektiv zu vermarkten.Footnote 7 Clayton Childress verwendet in seiner vielbeachteten praxeologischen Studie für diese autorzentrierte Form der ästhetischen Kommunikation den Begriff der Name Economy.Footnote 8

Gerade vor dem Hintergrund des Aufstiegs dauerpräsenter Celebrity-Autoren (wie etwa der paradigmatische Pop-Autor Bret Easton Ellis) strahlte Ferrantes markiertes Pseudonym und ihre disziplinierte Verborgenheit Integrität aus, eine altmodische Insistenz auf das Primat des Literarischen – auch wenn die Mechanismen der Name Economy natürlich mit der steigenden Berühmtheit der Autorin für das Pseudonym zu gelten begannen. Ferrante verkörperte die paradoxe Figur einer Autorin, die berühmt dafür war, nicht bekannt zu sein. Diese Figur besaß im literarischen Feld ein gewisses Identifikationspotential. Das zeigte sich vor allem, als die Enthüllungen über ihre angebliche Identität nicht etwa großes Interesse und eine Erleichterung über die Lösung des Rätsels erzeugten, sondern vor allem Empörung.

Gattis Recherche wurde als ein Akt der Indiskretion und Gewalt empfunden, als Angriff auf den Schutzraum einer Autorin, die sich auf ein Recht auf Anonymität berufen könne. Kritisiert wurde die schiere Grundlosigkeit des investigativen Aufwands, der durch kein Fehlverhalten seines Objekts legitimiert war.Footnote 9 Zudem wurde immer wieder angemerkt, dass dieser Angriff auf das Pseudonym auch sexistisch geprägt sei. Berühmt zurückgezogene Autoren wie J. D. Salinger oder Thomas Pynchon würden nicht auf diese Art behelligt werden.Footnote 10

In der Kontroverse um Ferrante scheint sich Foucaults Beobachtung also zu verkehren. Nicht mehr die Anonymität erschien unerträglich, sondern der Versuch, diese Anonymität aufzulösen. Deutlich treten hier die ethischen Implikationen verweigerter Autorschaft in den Vordergrund. Gérard Genette bezeichnet die nachträglichen Zuschreibungen von Verfasserschaft, die sich nicht allzu sehr um den Willen des verstorbenen Autors kümmerten, als »paratextuelle Gewaltstreiche«.Footnote 11 Diese Formulierung lässt sich auch auf die Enthüllung Ferrantes anwenden, die als Versuch gewertet wurde, der paratextuellen Askese des markierten Pseudonyms den Gewaltstreich einer entlarvenden Überschreibung entgegenzustellen. In Reaktion weigerten sich die Verteidiger der Autorin wiederum ostentativ, diesen neuen Paratext in ihre Wahrnehmung der Autorin zu integrieren. Jeanette Winterson etwa schrieb im Guardian: »And I go on calling Elena Ferrante Elena Ferrante because that is who she wishes to be.«Footnote 12

Im Fall Ferrantes erschien das Pseudonym vor allem als Instrument, biographistische Lesarten zu vermeiden und ihre eigene Privatsphäre zu schützen. Über das Potential des Selbstschutzes dieser Strategie vermerkte der Kritiker James Wood im New Yorker: »As soon as you read her fiction, Ferrante’s restraint seems wisely self-protective. Her novels are intensely, violently personal, and because of this they seem to dangle bristling key chains of confession before the unsuspecting reader.«Footnote 13

Fiktionale Werke, die so persönlich sind wie die Ferrantes, fordern biographische Lesarten demnach geradezu heraus. Das kann für eine Autorin, die in ihren Romanen in die Tiefen menschlicher Verworfenheit hinabsteigen will, sehr unangenehm sein. Das markierte Pseudonym erscheint in diesem Zusammenhang als Voraussetzung eines Schreibens, das vor solchen Lektüren keine Angst haben muss. So lässt sich auch der Zorn erklären, den Gattis Recherche ausgelöst hatte, und der als Diskretionsskandal wahrgenommen wurde, als Angriff auf die Privatsphäre der Autorin. Der Schutz dieser Privatsphäre ist die implizite Voraussetzung für das Werk. Der paratextuelle Gewaltstreich der Recherche, die Ferrante enttarnte, bedroht nicht nur die Autorin, sondern auch ihre Bücher.

2 Prekäre Autorschaft, prekäre Fiktionalität

Im Folgenden möchte ich auf den Zusammenhang von markierter Pseudonymität, Autorschaft und Fiktionalität näher eingehen. Ausgehen möchte ich dabei von folgender Beobachtung: Eine Autor:in, die einen Text anonym oder unter einem markierten Pseudonym veröffentlicht, deutet damit oft an, dass sie sich in irgendeiner Form von Gefahr befindet. Das Pseudonym erscheint als Schutzschild vor den realweltlichen Folgen, die die Veröffentlichung angeblich auslösen wird. Autor:innen verwenden Pseudonyme, um sich etwa vor der Rache von Menschen und Institutionen zu schützen, die sie kritisiert haben, oder man möchte sich und das eigene Umfeld – wie bei Ferrante – davor schützen, von indiskreten Fragen in Bezug auf die Privat- und Intimsphäre behelligt zu werden.

Diese Funktion erscheint in Bezug auf faktuale Texte, deren realweltliche Referenten unmittelbar gefährlich sein können, plausibel. Eine Reporter:in, die über mafiöse Strukturen oder politische Korruption berichtet, muss darauf gefasst sein, dass von den realen Menschen, die sie angreift, Gegenwehr zu erwarten ist. Faktualität als Status eines Textes beruht, wie John Searle in seinem Aufsatz The Logical Status of Fictional Discourse festgestellt hat, auf Konventionen. Die wichtigste Regel, die den Status konstituiert, ist, dass die Autor:in die Verantwortung für die Referenzen in ihrem Text übernehmen muss.Footnote 14 Anonymität oder markierte Pseudonymität würde bei faktualen Texten also eine naheliegende Schutzfunktion übernehmen. Die Verantwortung für den Text wird dadurch zwar nicht suspendiert, allerdings wird es schwer, wenn nicht unmöglich, die Verfasser:in zur Verantwortung zu ziehen.

Im September 2018 publizierte ein anonymer Mitarbeiter der Regierung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump einen Gastkommentar in der New York Times, in dem er behauptete, Teil eines internen Widerstandes zu sein, der die zerstörerischen Impulse des Präsidenten zügeln würde.Footnote 15 Die Anonymität schützte den Autor vor den Konsequenzen eines klassisch faktualen Textes: ein Angriff auf eine mächtige reale Person in einer angesehenen Zeitung. Erst 2020, als die Gefahr weniger existentiell erschien, gab sich der leitende Sicherheitsbeamte Miles Taylor als Autor zu erkennen.Footnote 16 Allerdings hatte er zuvor noch, auch anonym, ein ganzes Buch, A Warning, über den internen Widerstand gegen Donald Trump veröffentlicht.

Die Funktion der namenlosen Veröffentlichung ist in diesem Beispiel klar. Bei fiktionalen Texten dagegen erscheint Anonymität oder ein markiertes Pseudonym zunächst einmal seltsam redundant, ja eigentlich überflüssig. Fiktionale Texte bringen konventionell ihren eigenen Schutzschild mit, insofern, als sie in den meisten Fällen eine nicht-referenzialisierende Lektüre einfordern. Michael Multhammer hat die berühmte Frage, die Foucault in seinem Aufsatz Was ist ein Autor? gestellt hat (»Was liegt daran, wer spricht?«), in Bezug auf Anonymität und Pseudonymität umformuliert: »Was liegt daran, ob man weiß, wer spricht?«Footnote 17 Diese Frage bekommt bei fiktionalen Texten eine zusätzliche Dringlichkeit. Denn im Sinne der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung sollte es keine Rolle spielen, ob man weiß, wer spricht. Im Zweifelsfall ist es ein Erzähler, der von der Autor:in streng zu trennen ist. Insofern erscheint die Identität der Verfasser:in bei erfundenen Texten als besonders überflüssige Information.

Eine Erzählung, die die Lizenzen der Fiktionalität für sich beansprucht, legitimiert diesen Anspruch, indem sie plausibel vermitteln kann, dass ihre wichtigsten Elemente erfunden sind. Fiktionalität ist vor allem ein Geltungsanspruch, den Autor:innen für ihre Texte erheben können, und der auf Produktions- und Rezeptionsseiten mit Privilegien und Pflichten verbunden ist.Footnote 18 Die Autor:innen werben durch den Status der Erfundenheit nicht nur die epistemologischen und ästhetischen Lizenzen der Fiktion ein, sondern auch ethische Lizenzen. Dazu gehören ein Recht auf Verantwortungslosigkeit: Die Autor:in wird nicht für die Handlungen und Haltungen ihrer Figuren verantwortlich gemacht, und ein Recht auf Rücksichtslosigkeit: Die Autor:in kann mit den Figuren schonungslos und indiskret umgehen, weil sie nicht erwarten muss, dass diese Figuren sie eines Tages verklagen oder mit dem Baseballschläger vor ihrer Tür stehen.Footnote 19

Diese Lizenzen dienen vor allem als Schutzschild vor den geläufigen Gefahren des faktualen Erzählens. Sie haben eine ähnliche Funktion wie die Anonymität oder ein markiertes Pseudonym: Es geht darum, die Verfasser:in eines Textes davor zu bewahren, für diesen Text verantwortlich gemacht zu werden. Gerade vor diesem Hintergrund erscheint es verwunderlich, wenn auch Romane unter Pseudonymen publiziert werden. Das gilt zumindest in der Gegenwartsliteratur, in der es sich durchgesetzt hat, Romane unter dem eigenen Namen zu veröffentlichen. Pseudonymität ist schon lange nicht mehr der Normalfall des Publizierens, sondern ein Sonderstatus der Publikationskultur.Footnote 20

Und doch kennt auch die Literatur der letzten Jahrzehnte eine Reihe von Romanen, die unter einem markierten Pseudonym veröffentlicht wurden. Dazu gehört etwa der Roman Primary Colors von 1996, der als Schlüsselroman über Bill Clintons erste Präsidentschaftskampagne gelesen werden konnte. Der Roman erregte Aufsehen, auch, weil das Rätselraten über die Verfasserschaft viel Aufmerksamkeit erzeugte. Noch im selben Jahr wurde der Journalist Joe Klein als Autor aufgedeckt, nachdem beachtliche forensische Energie in die Suche investiert worden war. An diesen aufmerksamkeitsökonomischen Erfolg wollte der Verfasser des Roman O. A Presidential Novel offenbar anknüpfen. Das Buch ist ein Schlüsselroman über Barack Obama. In diesem Fall war die Hoffnung auf ein Rätselraten ein transparenter Teil der Vermarktungsstrategie. Es wurde berichtet, dass der Verlag Journalisten gebeten habe, mit »no comment« zu reagieren, wenn sie gefragt würden, ob sie die Autor:innen seien.Footnote 21

Vergleicht man diese Romane und ihre Veröffentlichungsstrategie mit der Anonymität, unter der die Texte des Trump-Kritikers veröffentlicht wurden, so stellt sich die Frage, warum der Geltungsanspruch der Fiktionalität hier nicht ausreichte, um die Autoren vor Konsequenzen schützen zu können. Die Antwort erscheint naheliegend: Es handelt sich um Texte, deren Fiktionalität von Anfang an fragwürdig erscheint. Die Gattung des Schlüsselromans lebt gerade davon, dass offiziell eine nicht-referenzialisierende Lesart eingefordert wird, die aber durch inoffizielle Signale unterlaufen werden kann. Die Leser:innen von Primary Colors wissen, dass es um die reale Person Bill Clinton geht. Die Anonymität des Autors hätte also dann eine ähnliche Schutzfunktion wie bei einem faktualen Text. Gleichzeitig handelt es sich aber um Romane, die die Lizenzen der Fiktionalität einfordern und die eingeprägte Rezeptionsmuster herausfordern.

Was die genannten Fälle zeigen, ist, dass die Analyse des Verhältnisses von Autorschaft, Pseudonymität und Fiktionalität die theoretische Instabilität dieser Konzepte noch einmal unter Beweis stellen kann. Gerade Fiktionalität erweist sich in diesem Kontext als ein Status, der weit davon entfernt ist, die Autonomie eines Werkes zu gewährleisten. Gerade die in der Literaturwissenschaft und im Literaturunterricht zu einem Dogma geronnene Trennung von Autor und Werk erscheint aus der Perspektive konkreter Konflikte oft alles andere als gesichert. Diskursereignisse, die durch Anonymität und markierte Pseudonymität herausgefordert werden, machen deutlich, wie stark Fiktionalität durch Autorschaft beeinflusst und beglaubigt werden muss.

Ein gesteigertes Interesse an der Theorie und Geschichte der Autorschaft lässt sich in der Literaturwissenschaft seit dem Ende der 1990er-Jahre im Zuge der auch schon wieder historisch gewordenen »Rückkehr des Autors« beobachten. Inzwischen kann man fast von einer Obsession sprechen.Footnote 22 In diesem Zusammenhang zeigt sich auch ein gesteigertes Interesse an Anonymität und Pseudonymität, die als literarische Phänomene ernst genommen werden und wichtige Aspekte der ästhetischen Kommunikation in den Mittelpunkt des Interesses rücken.Footnote 23 Gerade die strategische Verweigerung des realen Namens zeigt Autorschaft als einen ›prekären‹ Status. Das Konzept der »prekären Autorschaft« hat Michael Multhammer in den Diskurs um Anonymität und Pseudonymität eingeführt, vor allem auch, um die wichtigen Aspekte literarischer Kommunikation sichtbar zu machen, die durch die philologische Fest- und Zuschreibung von Autorschaft verschütt gegangen sind.Footnote 24 Das Konzept lässt sich meines Erachtens besonders gut auf die Kommunikationssituation übertragen, in der Fiktionalität fragwürdig erscheint. Die prekäre Autorschaft, die durch den Verzicht auf den realen Namen der Verfasser:in angedeutet und hergestellt wurde, führt zu einem Status prekärer Fiktionalität.

Die Debatte um das Pseudonym Ferrantes zeigt, dass auch Autorschaft und Fiktionalität in einem konfliktreichen Verhältnis zueinanderstehen. Einer der Gründe, die die Autorschaft in diesem Fall besonders prekär erscheinen lässt, ist die Frage nach dem Geschlecht der Autorin. Gatti begründete seine Recherche unter anderem damit, dass immer wieder vermutet wurde, die Romane könnten von einem Mann geschrieben worden sein. Diese Vermutung hatte, wie in der Kontroverse festgestellt wurde, einen sexistischen Unterton. Allerdings erscheint die unterschwellige Paranoia selbst nicht unbegründet. Man kann zumindest davon ausgehen, dass es für die Leser:innen einer Autorin, deren Werk starkes feministisches Identifikationspotential besitzt, ein großes Problem wäre, wenn sich herausstellen würde, dass sich hinter dem Pseudonym ein Mann verbirgt, der sich weibliche Autorschaft durch die Wahl eines bestimmten Namens angemaßt hat.

Nun könnte man sagen, dass die Fiktionalität eines Textes die Verfasser:in von solchen Fragen eigentlich befreien sollte. Die Lizenzen der Fiktionalität würden das Schreiben aus der Perspektive eines anderen Geschlechts grundsätzlich legitimieren. Allerdings zeigen gerade Konflikte wie der um Ferrante, wie stark diese Lizenzen dann eben doch reglementiert werden. Es gibt in Kulturen eine Form von narrativem Eigentumsrecht, das einschränkt, wer welche Geschichte erzählen darf. Dieses narrative Eigentumsrecht ist in den meisten Fällen natürlich nicht juristisch kodiert, sondern beruht auf Konventionen, deren Kontur sich vor allem dann zeigt, wenn es Streit um die Frage gibt, ob eine Person eine Geschichte erzählen durfte. Dabei wird die Berechtigung oftmals an die Frage geknüpft, ob die Autor:in persönlich betroffen ist: Erleben legitimiert erzählen.Footnote 25

Anonymität oder ein markiertes Pseudonym entziehen dem Diskurs die Sicherheit über die narrativen Eigentumsrechte. Wenn der Besitzstand an der Geschichte durch die eigene Autorschaft legitimiert werden muss, dann weckt der Verzicht auf den realen Namen fast automatisch ein gewisses Misstrauen. Man will wissen, wer die Autor:in ist, um sich Klarheit zu verschaffen, ob sie überhaupt erzählen darf. Das Phänomen erzeugt Assoziationen mit Fällen unmarkierter Pseudonymität, in denen sich Autor:innen betrügerische Identitäten angeeignet hatten, die ihren fiktionalen Texten eine gewisse autobiographische Dignität verleihen sollen. Dazu gehören falsche Missbrauchsopfer, falsche Native Americans oder falsche Juden.Footnote 26

Insofern vermittelt die Neugier, wer sich hinter einem Pseudonym verbirgt, auch ein Schutzbedürfnis auf Seiten der Leser:innen, die ihre Zeit und Emotionen nicht in ein Werk investieren wollen, das nicht durch ein eigenes biographisches Investment abgesichert ist. Dieses Bedürfnis verweist auf den fragilen Status der Fiktionalität, die eben doch – gerade in den Rezeptionsbedürfnissen nicht-professioneller Leser:innen – stark an die Realität gebunden ist, von der sie doch eigentlich autonom sein sollte. Der Verzicht auf referenzialisierende Lektüren, der die Professionalität einer wissenschaftlichen Lektüre konstituiert, ist keine Tugend, die in der Alltagslektüre wirklich ernst genommen wird. Wo eine faktualisierende Lesart eines fiktionalen Textes sich anbietet, wird diese Lektüre in den meisten Fällen auch stattfinden.Footnote 27

Die Diskretionsstrategie eines markierten Pseudonyms bei fiktionalen Texten beruht auf der begründeten Vermutung, dass der Fiktionsvertrag in vielen, vielleicht in den meisten Fällen gar nicht eingehalten wird.Footnote 28 Insbesondere bei Erzählungen, die einen autobiographischen Gehalt andeuten, werden referenzialiserende Lektüren – zumindest unter nicht-professionellen Leser:innen – der Normalfall sein. Weder das Recht auf Verantwortungslosigkeit, noch das Recht auf Rücksichtslosigkeit scheinen in diesen Fällen zu gelten, und so erscheint die Pseudonymität der Romanveröffentlichung als effektiver Schutz, der die Schonungslosigkeit des autobiographischen Schreibens gewährleisten soll, auch wenn dadurch die auktoriale Beglaubigung des Erzählendürfens in ein gewisses Zwielicht gerückt wird.

Die Neugier des Publikums, die hinter den Werken und hinter den Pseudonymen indiskret nach der Person der Autorin fandet, ist oft zum Gegenstand einer kulturkritischen Klage geworden, die die Autonomie der Kunst gegen den, wie es Siegrid Löffler einmal genannt hat, aufdringlichen »Lebendigkeitsspeck« der Realität zu verteidigen versucht.Footnote 29 Gleichzeitig wird aber auch immer wieder deutlich, dass die Autor:innen selbst oft diejenigen sind, die mit der Prekarität ihrer Rolle und der Fragilität von Fiktionalität spielen.

3 Pseudonymität als Faktualitätssignal

Der Fall Ferrante zeigt, dass markierte Pseudonymität zwar einerseits die Funktion haben kann, die Autorin vor indiskreten Lektüren zu schützen, dass es sich andererseits aber auch um einen Status handelt, der Indiskretion und Neugier geradezu herausfordert. Die Enthüllung der Verfasserschaft wäre wohl kaum mit so viel Aufwand im Rahmen eines internationalen journalistischen Großereignisses inszeniert worden, wenn man nicht mit dem Interesse der Öffentlichkeit gerechnet hätte. Auch der öffentliche Zorn über diesen paratextuellen Gewaltstreich, der im literarischen Feld inszeniert wurde, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Pseudonymität eine Form von Rätselraten fast zwangsläufig herausfordert.

Das führt bei fiktionalen Texten dazu, dass die Fiktionalität einerseits stabilisiert wird, andererseits aber auch fragiler erscheint. Einerseits werden den Leser:innen epitextuelle Informationen entzogen, die sich auf die fiktiven Elemente des Textes übertragen lassen. Wenn man nicht weiß, wer die Autorin ist, dann ist es auch schwer, sie mit den Figuren ihres Textes gleichzusetzen. Andererseits deutet diese Diskretionsstrategie natürlich auch an, dass die Autor:in etwas zu verbergen hat, was auf eine grundsätzliche Faktualitätsvermutung hinausläuft. Wenn der Text keine Referenten in der Alltagswirklichkeit besitzt, dann müsste Fiktionalität eben eigentlich als Diskretionsstrategie ausreichen. Ein markiertes Pseudonym ist also auch oft ein deutliches Faktualitätssignal, das nahelegt, dass hinter den vordergründig fiktiven Figuren reale Vorbilder stehen, die durch die Pseudonymität geschützt werden müssen bzw. vor denen sich die Autor:in schützen muss.

Mit dieser widersprüchlichen Signalstruktur der Pseudonymität bei fiktionalen Texten wird natürlich gespielt. Das lässt sich vor allem anhand von Romanen zeigen, die als Schlüsselromane gelesen wurden und bei denen die Anonymität oder markierte Pseudonymität als wichtiges Kommunikationsmittel des Schlüsselromanereignisses verwendet wurde. Romane wie Primary Colors und O. A Presidential Novel oder ein Literaturbetriebsroman wie Abstieg vom Zauberberg, der unter dem betont albernen Pseudonym Jens Walther veröffentlicht wurde, deuten an, dass die Enthüllungen und die Polemik, die man hier finden soll, so brisant sind, dass die vordergründige Fiktionalität als Schutzschild nicht ausreicht.

Bei diesen Romanen diente das Pseudonym einerseits dazu, die Autor:innen vor den Sanktionen der Menschen und Institutionen zu schützen, die im Roman angegriffen wurden. Zum anderen diente die ostentative Nicht-Preisgabe des Autor:innennamens auch (und vielleicht vor allem) dazu, ein Faktualitätssignal zu senden und aufmerksamkeitsökonomische Gewinne einzuwerben. Schlüsselromane, deren Erfolg davon abhängt, dass Leser:innen tatsächlich mit dem Entschlüsseln beginnen, sind darauf angewiesen, den Status ihrer Figuren als nur semi-fiktiv im Diskurs um die Romane zu verbreiten. Es gehört zu den konstitutiven Merkmalen von Schlüsselromanen, dass der eigene Status als Schlüsselroman unter Verweis auf die Fiktionalität des Textes geleugnet werden kann. Deshalb ist es wichtig, die suggestiven Faktualitätssignale auf eine vermittelte Art und Weise transparent werden zu lassen.

Die markierte Pseudonymität eines Romans ist ein solches Instrument des Transparentmachens. Indem angedeutet wird, dass die Autor:in sich in Gefahr befindet, wird auf die Referenzen verwiesen, die der scheinbar fiktionale Text enthalten muss, um die Schutzmaßnahme eines Pseudonyms zu rechtfertigen. Die Geheimniskrämerei signalisiert den Geheimnisverrat. Die vordergründige Diskretionsstrategie wird zu einem Instrument der Indiskretion. So dient Anonymität oder das markierte Pseudonym zum einen als Faktualitätssignal, zum anderen als Mittel der Vermarktung. Im Fall des politischen Romans O. ging das, wie bereits erwähnt, so weit, dass die Medien in das Spiel des Autorenratens aktiv miteinbezogen werden sollten.

Der Roman Das Ende des Kanzlers. Der finale Rettungsschuss von 2004, der unter dem Pseudonym Reinhard Liebermann veröffentlicht wurde, illustriert, wie diese Strategien eingesetzt werden können. Es handelt sich um ein literarisches Kuriosum, das nur deshalb viel Aufmerksamkeit erzeugen konnte, weil der Text vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder juristisch aus dem Verkehr gezogen wurde. Der Krimi war im eher obskuren Betzel Verlag erschienen. Darin geht es um einen verzweifelten Drogisten, dessen Laden pleitegeht, und der daraufhin den amtierenden Kanzler (der im Roman Winzling) heißt, erschießt. Auf dem Cover der ersten Auflage war das verschwommene Bild Schröders mit einem Fadenkreuz zu sehen, was dem Roman ein erstes Verbot einbrachte. Allerdings wurde auch eine weitere Auflage ohne das Bild verboten. Die Tatsache, dass hier die Ermordung eines klar als Schröder erkennbaren Kanzlers geplant werde, hieß es in der Urteilsbegründung, stelle eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts dar, die auch durch die Kunstfreiheit nicht legitimiert werden könne.Footnote 30

Der Roman Das Ende des Kanzlers hätte, so kann man unterstellen, ohne diesen Rechtsstreit kaum so viel mediale Öffentlichkeit auf sich gezogen. Das aufmerksamkeitsökonomische Kalkül einer solchen Transgression zielt darauf ab, durch einen Skandal möglichst hohes Interesse auf eine Publikation zu lenken. Das markierte Pseudonym diente nicht nur dazu, den Autor vor möglichen Sanktionen, die ja vor allem den Verlag und das Buch treffen, zu schützen, sondern soll vor allem den Status der Gefahr inszenieren, in die sich der Autor durch sein Buch begeben hat. Gefahr erscheint in diesem Zusammenhang als eine Ressource der Autorinszenierung. Die Information, Buch und Autor:in seien einer gewissen Bedrohung ausgesetzt, bindet also Aufmerksamkeit und heroisiert die Verfasserschaft.

So erscheint die aggressive Verborgenheit als effektive Form der öffentlichen Positionierung. Anstatt das Werk vom Autor zu entfernen, führt Anonymität oft dazu, dass die Person der Autor:in stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, weil Neugier auf diese Art überhaupt erst angeheizt wird. In der Frage danach, was die Autor:in zu verbergen hat, steckt immer auch schon die Frage danach, wer die Autor:in eigentlich ist. Auch dabei handelt es sich natürlich um Phänomene mit einer langen Geschichte. Genette schreibt zum Namen des Autors als Paratext etwa über Walter Scott, dass dieser als »großer literarischer Stratege« sein Inkognito auch dazu genutzt habe, um die Neugier zu reizen, »was den Erfolg seiner Bücher begünstigte.«Footnote 31 Man kann allerdings davon ausgehen, dass diese Form der inszenierten Prekarität von Autorschaft in der autorzentrierten Gegenwart eine besondere Rolle spielt.

Im Fall Ferrantes wurde die Diskretion eines markierten Pseudonyms sogar doppelt heroisiert: als Hinweis auf die schonungslose Selbstentblößung, die einen über die Fiktionalität der Texte hinausgehenden Schutz benötigt, und als Zeichen einer auktorialen Askese, die in Zeiten von Celebrity Culture und Name Economy auf den wichtigen Vermarktungsvorteil der Personalisierung verzichtet. Gleichzeitig trug das Pseudonym, das eben auch in Interviews als »kleine kulturelle Polemik« inszeniert wurde, dazu bei, die Autorin bekannter zu machen und das biographistische Rätselraten anzuheizen, das genau jene Lektüren herausforderte, die diese Diskretion vordergründig verhindern wollte.

Ein Beispiel dafür, welche Funktion das Zusammenspiel von Fiktionalität und Pseudonymität besitzt, stellt die Publikations- und Rezeptionsgeschichte von Sophie Dannenbergs Roman Das bleiche Herz der Revolution dar.Footnote 32 Der Roman war 2004 in der Deutschen Verlagsanstalt als eine Satire auf die 68er-Bewegung veröffentlicht worden. Im Klappentext hieß es: »Eine Auseinandersetzung mit den 68ern aus Sicht ihrer Kinder. All die großen Projekte wie antiautoritäre Erziehung, Emanzipation, freie Sexualität werden von Grund auf in Zweifel gezogen.«Footnote 33 Damit ist die polemische Stoßrichtung des Romans gleich zu Beginn vorgegeben.

Es handelt sich auf der Ebene der Signalstruktur um einen klassischen Schlüsselroman. Auf den ersten Seiten findet sich der geläufige Paratext der Fiktionsbeteuerung: »Dieser Roman beschreibt den Zeitgeist, nichts anderes. Reale Personen sind weder abgebildet noch gemeint.«Footnote 34 Dem widersprechen dann auf der Textebene die transparenten Referenzen auf Personen der Alltagswirklichkeit. Hinter dem Professor Aaron Wisent erkannte man den realen Theodor Wiesengrund Adorno, hinter den linken Anwälten Borsalino von Baguette und Bodo Streicher die beiden ehemaligen RAF-Anwälte Klaus Croissant und Horst Mahler.

Verstärkt wird dieses Spiel mit offiziellen Fiktions- und inoffiziellen Faktualitätssignalen noch durch das markierte Pseudonym, das zu einem unmittelbaren und lustvollen Spiel der Autor:innensuche im Feuilleton führte. Sophie Dannenberg sei, so wurde vermutet, ein Pseudonym, das die Autorin gewählt habe, um ihre Eltern zu schützen. Gerade dieser Hinweis führte zu allerlei Mutmaßungen über die Autor:innenschaft. Der Rezensent Klaus Harpprecht etwa ließ sich zu einer regelrechten Orgie der Autor:innensuche hinreißen. In seiner Rezension in der Zeit heißt es:

Die Sachkennerschaft und die stilistische Akrobatik traute man Tilman Spengler zu, auch Christian Semmler. Nur würde sich keiner der beiden bereitfinden, Jürgen Habermas mit solch brutaler Verlogenheit zu meucheln. Oder begegnen wir in Wahrheit der Sprachartistik konservativ durchwirkter Damen? Miriam Lau zum Beispiel, die der Welt, den Neokons und dem unsäglichen Bush junior nicht alle Sensibilitäten geopfert hat, oder Cora Stephan, die gern ihr Hühnchen mit den 68ern rupfte, oder Katharina Rutschky, die es zuwege brächte, die Absurditäten der ›sexuellen Befreiung von Kindern‹ mit der abgefeimten Drastik vorzuführen, die uns in diesem seltsamen Buch begegnen […].Footnote 35

Auch das Geschlecht der Autor:in war Gegenstand von Mutmaßungen. Harpprecht ging so weit, die satirisch-groteske Erotik des Romans als Indiz dafür zu werten, dass der Roman von einem Mann stammen müsse. Der Rezensent stellt fest, es sei natürlich »antiemanzipatorisch und völlig unaufgeklärt«, wenn ein männlicher Rezensent Frauen »die Fähigkeit zu deftiger Pornografie« abspreche. Fügt dann allerdings hinzu: »Aber nimmt sich der Lustschrei beim Sex in der Damentoilette über ›stalinstarken stahlharten Schwanz‹ nicht doch eher als ein Produkt allzu männlichen Humors aus?«Footnote 36 Der fragwürdig galante Hinweis darauf, dass Frauen zu dergleichen Schweinereien nicht fähig seien, gehört zum Ratespiel um das Geschlecht der Verfasserschaft, das Anonymität immer schon herausgefordert hat.Footnote 37 Die gesamte Rezension scheint wie berauscht von der Frage danach, welche Person, mit welchem Wissen, sich hinter dem Roman verbergen könnte.

Es ist bezeichnend, dass der Roman eigentlich fast durchweg schlecht besprochen wurde, aber trotzdem durch die Suche nach der Autorin viel Aufmerksamkeit erhielt. Die Rezension Harpprechts hätte es ohne die Vorlage zum Rätselraten wohl nicht gegeben. Die Versuchung, über einen eigentlich unwürdigen Roman zu schreiben, steigt mit dem Versprechen auf einen Skandal, der durch den semi-faktualen Status des Textes ausgelöst werden könnte. Dieser Skandal verpuffte allerdings recht schnell, als sich bald darauf herausstellte, dass es sich bei der Autorin um die unbekannte Journalistin Annegret Kunkel handelte, die weder die Tochter berühmter 68er-Eltern war, noch eine bekannte Insiderin.Footnote 38 Man kann davon ausgehen, dass der Roman viel weniger Aufmerksamkeit erhalten hätte, wenn er gleich unter dem Namen der Autorin veröffentlicht worden wäre.

Damit wird noch einmal eine der paratextuellen Funktionen von Anonymität oder markierter Pseudonymität im Fall fiktionaler Texte deutlich. Es geht nicht so sehr um Schutz, sondern darum, das Wissen, das der Roman verspricht, mit der Dignität von Geheimwissen aufzuladen, das die Autor:in aufgrund eines besonderen Status als Insider erworben haben soll. Das Ausplaudern dieses Wissens in Romanform erscheint dann so gefährlich, dass ein schützendes Pseudonym verwendet werden muss. Allerdings stellt sich in einigen Fällen heraus, dass diese Schutzbedürftigkeit selbst eine Fiktion gewesen ist.

Es gehört zu den Ironien des Verhältnisses von Autorschaft und Fiktionalität, dass die Auflösung des Rätsels, das zahlreiche faktuale Lesarten hervorruft, oft zu einer Art Re-Fiktionalisierung in der Rezeption führt. Wenn sich (wie bei Dannenberg) herausstellt, dass die Autorin gar keine Insiderin ist, die in Gefahr war, verlieren auch die möglichen Referenzen des fiktionalen Textes ihren Status als Geheimwissen. Aus Theodor Adorno die Figur Aron Wisent zu machen, ist ein literarischer Kunstgriff, für den man kein besonderes Wissen braucht. Erst die Mischung aus markiertem Pseudonym und prekärer Fiktionalität erzeugen die Suggestion einer aufregenden faktualen Ebene, die in den Text eingezogen wurde.

Diese Suggestionskraft verpufft, wenn die Person der Autor:in sie nicht beglaubigen kann. 2021 wurde unter dem markierten Pseudonym Ferdinand Schwanenburg der Roman Machtergreifung veröffentlicht. Angekündigt wurde die Geschichte einer rechten »Deutschlandpartei«, hinter der unschwer die AfD zu erkennen war. Der Roman wurde vom Verlag als »Pageturner der Extraklasse über die drohende Gefahr von Rechts« angepriesen. Der Autor sei »ein intimer Kenner der rechten Szene in Deutschland«.Footnote 39 Das Autorenfoto zeigte den Hinterkopf eines Mannes, der ins Weite schaut – ein Foto, dass die erzwungene Diskretion inszenieren sollte, die ein solcher Text herausfordert. Über den Autor konnte man erfahren, dass er ein deutscher Politikberater sei, der für viele Parteien gearbeitet habe, unter anderem zwischen 2015 und 2017 auch für die AfD.

Auf diese Art wurde der Insiderstatus etabliert, der sich zu diesem Zeitpunkt nicht überprüfen ließ. Der Roman selbst enthielt allerdings eigentlich kaum Wissen über die Partei, das man nicht auch als regelmäßige Zeitungsleser:in hätte erwerben können. So erschien das markierte Pseudonym von Anfang an als transparente Strategie, um einen konventionellen politischen Schlüsselroman mit der Ressource der Gefahr auszustatten. Dieser Strategie ging allerdings nicht auf. Der Roman wurde wenig besprochen, ein Skandal oder ein weitläufiges Rätselraten um die Person des Autors blieb aus. Auch die von Verlag und Autor inszenierte Enthüllung, dass es sich um den Politikberater Christian F. Hirsch handelte, wurde kaum wahrgenommen. Hier hatte man es mit einem Diskursereignis zu tun, dessen Akteure sich bewusst in die Tradition erfolgreicher Anonymitätsskandale einordnen wollten. Das markierte Pseudonym diente als deutliches Faktualitätssignal, die laute Diskretion der Verfasserschaft sollte eine mediale Großfahndung provozieren. Allerdings ist der Fall vor allem ein Beispiel dafür, dass der Versuch, aus einer inszenierten prekären Autorschaft eine prekäre Fiktionalität zu konstruieren, kläglich verpuffen kann.