Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag versucht Pseudonymität nicht als eine Mangelerscheinung – das Fehlen eines Klarnamens – im paratextuellen Gefüge zu beschreiben, sondern nach genuinen Bedeutungsmöglichkeiten jenseits von Dechiffrierung zu fragen. Dafür rücken sprachphilosophische Überlegungen zu Eigenschaften von Eigennamen ebenso in den Blick wie konzeptuelle Gemeinsamkeiten von Pseudonym und Metapher. Ziel ist es, die poetologisch relevanten Seiten pseudonymen Publizierens deutlich zu machen und dergestalt das Feld für eine Kulturgeschichte der Pseudonymität zu eröffnen.
Abstract
This article attempts to describe pseudonymity not as a deficiency – the lack of a clear name – in the paratextual structure, but to ask for genuine possibilities of meaning beyond decipherment. To this end, linguistic-philosophical considerations on the properties of proper names come into view, as do conceptual commonalities of pseudonym and metaphor. The aim is to make clear the poetologically relevant aspects of pseudonymous publishing and thus to open up the field for a cultural history of pseudonymity.
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Wen oder was bezeichnen respektive benennen Pseudonyme? Diese auf den ersten Blick einfache Frage mit ebenso simpler Antwort – ein Autorsubjekt, das einen bürgerlichen Namen trägt, was denn sonst? – wird deutlich intrikater, wenn man sich die Zeit nimmt, ein wenig länger darüber zu sinnieren. Denn schon in der Wortwurzel, dem ›pseudónymos‹ schwingt eine Wertung mit, die man nicht ganz einfach auf sich beruhen lassen kann. Etwas oder vielmehr jemand sei ›falsch benannt‹, die Benennung selbst beziehe sich auf ›das Unwahre‹ [›pseudós‹],Footnote 1 dem eine wahre Bezeichnung, so ja die logische Folge, gerade entgegensteht. Demnach ist »[d]as Pseudonym […] ein künstlich gewählter Name, mit dessen Hilfe die wahre Verfasserschaft verhüllt wird.«, wie daraus Erich Kleinschmidt in der Explikation des entsprechenden Artikels im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft schlussfolgert.Footnote 2 Noch deutlicher greifbar wird diese Fokussierung auf Unwahrheit in der dort angeführten Definition: das Pseudonym ist ein »Deckname, um den Autor eines Textes zu verschleiern.«Footnote 3 ›Verschleiern‹ und ›verhüllen‹ sind die beiden zentralen Begriffe, die als Wesenseigenschaft des Pseudonyms hier festgeschrieben werden, dazu in einer grammatikalisch finalen Konstruktion. Man benutze ein Pseudonym, um eine wahre Existenz zu verdecken und zu verschleiern.
Vor dem Hintergrund dieser Annahmen kann es kaum verwundern, dass die Entlarvung pseudonym publizierender Autor:innen seit der frühen Neuzeit zu den vordringlichen Aufgaben des Philologen gehörte. Denn teilt man uneingeschränkt die Prämissen des Unwahren und der vorsätzlichen Täuschung, dann kann einzig die Überführung in einen Klarnamen auch den Text selbst neu hin auf Wahrheit oder am Ende gar Wahrhaftigkeit zentrieren. Im Zuge dessen entstanden monumentale Lexika, etwa das von Vincent Placcius im späten 17. Jahrhundert begonnene und danach vielfach erweiterte Hauptwerk Theatrum Anonymorum Et Pseudonymorum. Ex Symbolis & Collatione Virorum per Europam Doctissimorum ac Celeberrimorum, Post Syntagma dudum editum, das 1708 erstmals von Johann Fabricius – als Placcius’ Nachfolger am Akademischen Gymnasium in HamburgFootnote 4 – aus dessen Nachlass herausgegeben wurde. Dieses erste umfassende und mit über 4000 Einträgen in bisher ungeahnte Ausmaße vorstoßende Anonymen- und Pseudonymenlexikon ist ein epochales Werk und Grundlage für alle weiteren Lexika dieser Art.Footnote 5 Es ist die Summe eines Gelehrtenlebens und zugleich ein Ausweis der Leistungsfähigkeit der Respublica litteraria. Auch im 19. Jahrhundert reißt die Faszination für die Entdeckung pseudonym publizierender Autor:innen nicht ab. Ein beredtes Beispiel dafür ist Friedrich Rassmann’s kurzgefaßtes Lexicon deutscher pseudonymer Schriftsteller aus dem Jahr 1830.Footnote 6 Wie Johann Wilhelm Sigismund Lindner in seinem Vorwort bemerkt, zwinge gerade die zeitgenössische »fabrikmäßig[e]«Footnote 7 Buchproduktion den »Literator« die dafür verantwortlichen »Polygraphen« – diese »verkappten Jünger der Finsterniß« – einer interessierten Öffentlichkeit zu entdecken.Footnote 8 Dennoch weiß Lindner auch honorigere Funktionen von pseudonymer Autorschaft zu würdigen. Einen noch größeren Umfang nahm die Zusammenstellung pseudonym publizierender Autoren bei Hanns Bohatta und Michael Holzmann an, deren Lexika (es gibt auch eines, das anonyme und pseudonyme Autor:innen versammelt) um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erscheinen.Footnote 9 Diese Art der Verzeichnisse leisten natürlich zunächst einmal nur eines: Sie überführen einen fingierten Namen in den bürgerlichen Klarnamen einer konkret existenten Person, die nunmehr als reales – bürgerliches, könnte man sagen – Autorsubjekt greifbar wird. Als solches ist es dann auch Rechtssubjekt, man kann den Autor für seinen Text verantwortlich machen, aber auch Fragen des Urheberrechts haben nun einen konkreten Adressaten.Footnote 10 Man kann diesem Autorsubjekt literarische Auszeichnungen und Preise andienen, der Verlag kann es auf Lesereise schicken, mithin: es kann vollumfänglich am literarischen Betrieb teilnehmen, so das denn gewünscht ist. Das ist die eine Seite. Mit der Verwendung eines Pseudonyms geht andererseits aber auch eine dezidierte Bedeutungsverschiebung einher. Ein Name wird semantisch gefüllt, indem ein anderer Name an seine Stelle tritt – zwei unterschiedliche Bezeichnungen referieren auf das gleiche Subjekt. Dass diese Operation sprachphilosophisch nicht ganz unproblematisch ist, sei an dieser Stelle bereits erwähnt. Wenn man die eingangs gestellte Frage nach dem, was oder wen ein Pseudonym eigentlich benennt oder bezeichnet, in letzter Konsequenz ernst nimmt, dann ist man bei einer Fragestellung, die an philosophischer Komplexität nichts zu wünschen übriglässt. Mit der Frage nach der Wahrheit des Aussagesubjektes kommt zugleich der Gesamtkomplex des Realitätsverhältnisses mit in den Blick.
Im Folgenden soll daher zunächst einmal versucht werden zu klären, welchen Stellenwert das Pseudonym als Autornamen im paratextuellen Gefüge hat. In einem zweiten Schritt kommen dann sprachphilosophische Überlegungen hinzu, wenn man das Pseudonym als Eigennamen begreift. In einem dritten Schritt schlage ich ferner vor, Pseudonymität und Konzepte von Metaphorik kurzzuschließen, um ein Modell für etwaige Möglichkeiten der statthabenden Bedeutungsübertragung zu sondieren und deren semantische Extensionen zu erfassen. Anschließend werden einige Elemente genannt, die für eine Kulturgeschichte der Pseudonymität zu berücksichtigen wären.
Die grundlegende These lautet, dass Verhüllung und Verstellung nicht die einzigen denkbaren Zwecke sind, die sich mit Pseudonymität verbinden lassen. Vielmehr scheint es so, dass unter den bislang geltenden Prämissen Intention und Effekt vielleicht allzu vorschnell in eins gesetzt werden. Dieser enge Konnex von pseudonymer Namensverwendung und Chiffrierung sei zugunsten einer produktiven Erweiterung aufzubrechen. In der Summe geht es darum, die zu eng formulierte Definition von Pseudonymität als eines letztlich zu behebenden Mangels zu erweitern, um Momente pseudonymen Schreibens mit in den Blick zu bekommen, die bisher aus dem Raster von Verschleierung und Entdeckung herausfielen. Denn ein Pseudonym kann man auch positiv wenden, es nicht als eine Störung des peritextuellen Gefüges zu begreifen, sondern seine produktive, hermeneutisch fruchtbare Seite mit in den Blick nehmen.
1 Prekäre Autorschaft und Paratext
Die vielfältigen Formen des Publizierens, die bewusst oder unbewusst, freiwillig oder gezwungenermaßen auf die Nennung eines Klarnamens im Paratext verzichten, würde ich gerne unter dem Begriff der ›prekären Autorschaft‹ zusammenfassen.Footnote 11 Prekär ist dabei nicht die Situation der Autor:innen, auch wenn das in einem soziologischen Sinne bisweilen durchaus der Fall sein mag, sondern die der Rezipient:innen. Denn unter ›prekär‹ sollte man zunächst einmal der ursprünglichen lateinischen Wortbedeutung von ›precarius‹ folgend verstehen, dass etwas ›bis auf Widerruf gültig‹ oder aber ›durch Bitten erfragbar‹ ist. Mit diesen beiden Komponenten, der vorläufigen und widerrufbaren Gültigkeit sowie der Möglichkeit des Erfragens einer Bedeutung oder der damit einhergehenden Identität, wird meines Erachtens ein erweitertes Spektrum an Funktionen adressiert als die bloße Konzentration auf eine wie auch immer geartete Form der Verhüllung. Diese möglichen Funktionen gelte es in einem nächsten Schritt weiter zu differenzieren – dazu dann gleich mehr.
In jedem Falle, und das scheint mir für die weiteren Betrachtungen von zentraler Bedeutung, ist der paratextuelle Ort des Autors/der Autorin nicht unbesetzt oder am Ende gar semantisch leer, wie das die Fokussierung auf die Entdeckung einer Autorschaft unter Klarnamen nahelegen würde. Es wäre, so weiter, eine irrige Annahme, wenn allein die Autorschaft unter Klarnamen selbst umfassende Konzepte wie Werk, Epoche, Intertextualität, Kontext und weitere überhaupt erst generieren würde. Sicherlich: Das scheint unter der Ägide anonymen und pseudonymen Publizierens deutlich erschwert. Und dennoch: Prekäre Autorschaft ist per se – in unterschiedlicher Ausprägung – bedeutungstragend, der paratextuelle Ort des Autors semantisch gesättigt, auch wenn er völlig leer bleibt. Daraus folgt aber ebenso unmittelbar, dass die Stelle des Anonyms ebenso wie pseudonym markierte Autorschaft poetologisch relevant sind. Insofern sie selbst bedeutungstragend sind, spielen sie im hermeneutischen Aufschluss nicht nur eine akzidentielle, sondern eine nachgerade konstitutive Rolle, und zwar ganz gleich, ob sie als Pseudonym erkannt werden, oder unerkannt bleiben.Footnote 12 Im ersteren Falle kann es Hinweise auf anzustrebende Lesarten beinhalten, ein bestimmtes Genre anzeigen oder auf satirische Inversionen verweisen, um nur einige Möglichkeiten zu nennen. Im letzteren Falle, also wenn es als solches unerkannt bleibt, ist das Pseudonym insofern poetologisch wirksam, als dass es bestimmte intertextuelle Verweise abschneidet, Werkzusammenhänge durchbricht oder hermeneutische Vorannahmen geradewegs verhindert werden (Pseudoandronyme etwa verhindern eine von vornherein ›weiblich‹ kodierte Form von Autorschaft, die unter Umständen mit bestimmten Interpretationshypothesen einhergehen würde).Footnote 13 Gerade – so paradox es sich anhört – das aus Sicht des Rezipienten (vermeintlich) Nichtssagende wird bedeutsam und für den Lektüreprozess selbst in seiner Auskunftsverweigerung relevant. Zumindest aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive muss man das im Blick haben. Gérard Genette hat darauf explizit hingewiesen:
Diese Anhängsel [des Textes im Sinne eines Paratextes, M.M.], die ja immer einen auktorialen oder vom Autor mehr oder weniger legitimierten Kommentar enthalten, bilden zwischen Text und Nicht-Text nicht bloß eine Zone des Übergangs, sondern der Transaktion: den geeigneten Schauplatz für eine Pragmatik und eine Strategie, ein Einwirken auf die Öffentlichkeit im gut oder schlecht verstandenen oder geleisteten Dienst einer besseren Rezeption des Textes und einer relevanteren Lektüre – relevanter, versteht sich, in den Augen des Autors und seiner Verbündeten.Footnote 14
Mit der schlichten Behauptung, dass Pseudonymität auf eine Falschaussage, eine Verhüllung oder am Ende gar eine direkte Unwahrheit verweise, griffe man nach den bisherigen Hinweisen, das wurde hoffentlich deutlich, zu kurz. Schon bei Genette wird entsprechend festgehalten, dass das Pseudonym nicht nur ein »falsche[r]«, sondern eben auch ein »entlehnte[r] oder erfundene[r] Name[]«Footnote 15 sein kann. Ebenso wie distinkte, markierte Autorschaft Einfluss auf unseren hermeneutischen Verstehensprozess nimmt, passiert das auch im Falle gänzlich unmarkierter, anonymer oder eben mehrdeutig codierter, pseudonymer Autorschaft. Doch wie ließe sich das in einem ersten Schritt auf Beschreibungsebene operationalisieren?
In den Blick kommen soll zunächst einmal die einfachste und auch vielfach naheliegendste Variante eines Pseudonyms, nämlich genau derjenige Fall, »daß ein tatsächlicher Autor sein Werk mit einem Namen ›signiert‹, der nicht, nicht genau oder nicht vollständig sein gesetzlicher Name ist.«Footnote 16 Zentral bleibt bei diesem Zusammenhang, dass der Rezipient, die Rezipientin das Pseudonym weiterhin in der Funktion eines Autornamens wahrnimmt, also eine Zurechenbarkeit von Werk und Schriftsteller:in annimmt. Welche Assoziationen dabei zum Tragen kommen, mithin, welche semantischen Umstände diese Rezeption eines (nicht erkannten) Pseudonyms begleiten, bleibt zunächst mal im Einzelfall zu entscheiden.Footnote 17 Dennoch lässt sich in einem ersten Schritt generalisieren: Wenn das Pseudonym als Autor:innenname fungiert, kann es als Eigenname betrachtet werden.Footnote 18
2 Das Pseudonym als Eigenname
Das neuzeitliche (sprach-)philosophische Nachdenken über die Verwendung von Eigennamen hat seinen Ausgang bereits bei Thomas HobbesFootnote 19 und führt über so prominente Vertreter wie John Stuart MillFootnote 20 bis zu den zentralen Debatten im weiteren Umkreis des logischen Positivismus. Allen voran Gottlob Freges zentraler Beitrag Über Sinn und BedeutungFootnote 21 ist hier zu nennen. Kritisch fortgeführt wurden diese Überlegungen dann in den Arbeiten von Saul Kripke (Naming and Necessity) sowie deren Modifikationen im Ausgang des 20. Jahrhunderts. So differenziert und in den Details auch diffizil die jeweiligen Antworten ausfallen, die Ausgangsfrage ist zunächst einmal gut nachvollziehbar: Gefragt wird, wie die Entsprechung eines Gegenstandes mit einer Äußerung auf der Ausdrucksebene gewährleistet sein kann.Footnote 22 Oder noch einmal anders: Wie kann man garantieren, dass ›dies F ist G‹ richtig ist? Es kann hier natürlich unmöglich das Ziel sein, ordnend in die philosophische Debatte einzugreifen, das Ziel ist wesentlich bescheidener. Mit Blick auf die sprachphilosophische Implikation – so die Hoffnung – lassen sich einige Wesenseigenschaften des Pseudonyms ein wenig trennschärfer bestimmen. Die genauen Filiationen des philosophischen State-of-the-Art müssen dabei gar nicht berührt werden, es reichen einige ganz grundsätzliche Gedanken.Footnote 23
Orientiert man sich etwa an den Ausführungen Gottlob Freges,Footnote 24 dann verweisen Eigennamen einerseits auf »Personennamen (Aristoteles), geographische Namen (Nordsee, London, England) oder ›logische‹ Gegenstandsnamen (5, 3+2, e).« Andererseits treten Eigennamen im Sinne von Kennzeichnungen auf (der Autor des Romans Der Zauberberg, der Weltmeistertrainer von 1990 im Herrenfußball). Als dritte Möglichkeit ergibt sich überdies, dass sich Eigennamen auf Aussagesätze beziehen können, die »als E[igennamen] der beiden Wahrheitswerte ›Wahr‹ und ›Falsch‹ aufgefaßt werden (Sokrates ist sterblich, 3+2=7).«Footnote 25 Die letzte Variante ist für den vorliegenden Fall weniger von Belang. Interessanter ist hingegen eine weitere Version, die Frege als im eigentlichen Sinne ›bedeutungslos‹ wertet, insofern Eigennamen existieren, die »keinen Gegenstand bezeichnen, obwohl sie den Anschein dazu erwecken.«Footnote 26 Diese nennt Frege ›Scheineigennamen‹.
Normalerweise, wie bereits erwähnt, ist die Struktur von Eigennamen die Folgende: »dies F ist G«, wobei in einer vergleichsweise simplen Form eine raumzeitliche Orientierung (›dies‹), ein Gegenstand (›F‹) und eine singuläre Kennzeichnung (›G‹) verknüpft werden. Solange man zusätzlich auf diesen Gegenstand zeigen kann, ihn also in der Raumzeit verorten und zugleich benennen kann, ist das Verfahren eigentlich in ganz vielen Fällen gesichert (die Fallstricke der Logik müssen uns hier nicht weiter bekümmern, wir gehen vom Normalfall aus).
Bei Pseudonymen ist das nun deutlich schwieriger, weil wir gar nicht so leicht angeben können, was dieses ›F‹ ist, zu dem wir ein ›G‹ (das Pseudonym) kennen. Es existiert eine Benennung eines ›Gegenstandes‹, der erst einmal als Person im Sinne eines bürgerlichen Namens nicht existiert, auf den man auch nicht zeigen kann. Zeigen kann man indes auf die real existierende Person, sie im raumzeitlichen Gefüge verorten, indem wir das Pseudonym auflösen. Danach funktioniert das Spiel nach den nämlichen Regeln: Emil Sinclair ist Hermann Hesse.Footnote 27 Doch auch hier zeigen sich einige grundlegende Problemkonstellationen: Ende des Jahres 1919, die dritte Auflage des Demian war mittlerweile ausgeliefert, wurde Emil Sinclair in Abwesenheit der Fontane-Preis für sein Romandebüt verliehen. Entgegengenommen hat ihn – in Stellvertretung – Hermann Hesse. Somit hat der Preis zugleich den tatsächlichen Autor erreicht, ohne dass der ›richtige‹ Autor geehrt worden wäre. Es ist das nämliche Problem, das Gottlob Frege mit der (Nicht‑)Identität von Abendstern und Morgenstern zu illustrieren versucht hatte. Dabei gilt: a=a und a=b, weil man sich auf unterschiedliche (inhaltliche) Konzepte bezieht. Für diesen Bereich ist ebenfalls Dechiffrierung die gangbare Vorgehensweise, eine Identität zu klären. Beide Konzepte, Abendstern und Morgenstern, lassen sich mit der Planetenbezeichnung ›Venus‹ auflösen. Eine dezidierte Erweiterung der Bedeutung findet hingegen nicht statt, im Gegenteil, eine Bedeutung wird in eine andere überführt, die diese dann ersetzt. Es kommt zu einer Bedeutungsreduktion. Gleiches gilt im Falle des Pseudonyms: Emil Sinclair ist dann nicht mehr länger der Autor des Demian, sondern Emil Sinclair ist Hermann Hesse, womit fernerhin gilt: Hermann Hesse ist der (tatsächliche) Autor des Demian. Damit ist genau die Operation der Aufdeckung eines Pseudonyms beschrieben. Eine raumzeitliche Verortung ist indes nicht die einzige Möglichkeit, einen Gegenstand (vergleichsweise eindeutig) zu benennen.
Bei Pseudonymen wäre – analog zu ›tatsächlichen‹ Personennamen – die zweite Möglichkeit der Bestimmung der Semantik angezeigt, nämlich in einem ersten Schritt verschiedene Prädikate des Namens anzugeben. Thomas Mann ist der Verfasser des Romans Der Zauberberg. Damit ist Thomas Mann als Person schon ziemlich eindeutig benannt.Footnote 28 Es mag weitere Verfasser von Werken geben, die den Titel Der Zauberberg tragen, in aller Regel wird man aber doch auf Thomas Mann selbst verweisen. Analog dazu ließe sich festhalten: Emil Sinclair ist der Autor des Demian. Raumzeitliche Absicherung ist dagegen schwierig, ich kann nicht auf Emil Sinclair zeigen, ihn jemandem physisch vor Augen stellen. Diese Stelle bleibt also notwendig leer, wenn man sie nicht mit dem dechiffrierten Autorsubjekt füllen möchte.
Aber in erster Instanz können wir diese Art von Eigennamen zunächst durchaus über die Prädikate meistern, und dann eben behaupten, dass Emil Sinclair genau derjenige ist, der den Demian geschrieben hat. Eine weitere ›Entdeckung‹ und Lüftung der Maske ist demnach – aus einer die Semantik berücksichtigenden Sichtweise – eigentlich nicht notwendig. Das Pseudonym kann Werkzusammenhänge stiften, auf Lebenskontexte verweisen und dergleichen mehr. Pseudonyme, das ist der entscheidende Punkt, sind nicht prima facie mängelbehaftet. Sie erfüllen ihre Funktion als Autornamen vollumfänglich – wie die Verwendungsweise vor der Entdeckung eines pseudonymen Verhältnisses ja auch belegt. Auch pseudonym gezeichnete Schriften ›funktionieren‹ im literarischen Feld und sind ein genuiner Teil davon. Und sie erfüllen diese Funktion auch dann noch, wenn das Pseudonym als solches erkannt wird. Ursula Wolf hält im Rückgriff auf die Überlegungen Saul Kripkes dazu fest: »Das zeigt zugleich, daß ein Gegenstand auch dann Träger eines Namens bleibt, wenn die Beschreibungen, die wir mit dem Namen verbinden, sich als falsch erweisen; dann aber können diese Beschreibungen nicht die Bedeutung des Namens ausmachen.«Footnote 29 In unserem Falle hieße das: selbst wenn sich die angenommene Person, die sich hinter einem Pseudonym verbirgt, als die falsche erweist, bleibt die Verbindung des Pseudonyms zum Text erhalten. Das rekurriert auf meine Begriffsverwendung von ›prekärer Autorschaft‹, die eben bis auf Widerruf gültig bleibt. Das Pseudonym selbst ist das stabile Element und garantiert eine Bedeutung aus sich selbst heraus, indem das Werk zu einem seiner Prädikate wird.
Dennoch muss man einen weiteren Umstand bedenken, der den Überlegungen noch einmal eine zusätzliche Windung hinzufügt: Das Pseudonym ist natürlich ein fiktionaler Eigenname, mithin selbst schon ein dichterisches oder gar literarisches Element.Footnote 30 Mit diesem fiktionalen Status verliert sich, wie wir gesehen haben, die Möglichkeit auf einen realen Gegenstand mit diesem Namen direkt zu verweisen. Rein deiktisch kommt man nicht zu einer genuinen Bedeutung. Vielmehr besteht, auch darauf hatte bereits Kripke hingewiesen, »für vergangene, künftige oder fiktive Gegenstände«Footnote 31 eine andere Generierung von Bedeutung: »Hier ist die konventionalisierte Bedeutung nicht ein bestimmter Gegenstand, sondern sie besteht in Kennzeichnungen«,Footnote 32 die sich in aller Regel aus einem einmal stattgefundenen Taufakt ergeben. Das korrespondiert mit Überlegungen von Genette, der auf die pragmatische Dimension des Pseudonyms im Sinne eines performativen Aktes verweist, wie es sich im paratextuellen Gefüge manifestiert.Footnote 33 Die »Entscheidung für einen Titel oder die Wahl eines Pseudonyms« haben eine »illokutorische Wirkung«, sie verweisen auf den »funktionalen Charakter des Paratextes«, der bedeutungsgenerierend ist.Footnote 34
Ein kurzes Zwischenfazit: Ein Pseudonym ist nicht als paratextueller Mangel zu verstehen, den es aus literaturwissenschaftlicher oder bibliographischer Hinsicht notwendigerweise zu beseitigen gelte, um eine tieferliegende Bedeutung freizulegen. Die Funktionsweise des Pseudonyms ist der von realen, ›tatsächlichen‹ Eigennamen eng verwandt, denn auch solche können über Kennzeichnungen erst zu ihrer eigentlichen Bedeutung kommen, wenn ein Verweis auf sie durch direkte Deixis nicht möglich ist. In einem nächsten Schritt ist zu erweisen, dass das Pseudonym zur genuinen Bedeutung des Textzusammenhangs unter Umständen sogar unmittelbarer beiträgt, als dass das die in einen Klarnamen überführte Autorbezeichnung vermöchte. Dazu scheint es hilfreich einen Seitenblick auf die Metaphorik zu werfen, um Bedeutungsübertragung und übertragene Bedeutung, wie sie im Falle des Pseudonyms gegeben ist, engführen zu können.
3 Pseudonymität und Metaphorik: Verständnis statt Überführung
Metaphern sind – zugespitzt formuliert – gleichzeitig wahr und unwahr, insofern sie eine Ähnlichkeitsbeziehung im sprachlichen Ausdruck als Übertragung manifestieren.Footnote 35 Bereits Aristoteles hebt die damit verbundene spezielle Form der Erkenntnis hervor, die Veranschaulichung sei ›lebendig tätig‹, wie es in der Rhetorik (1411 b 23-27) heißt.Footnote 36 Damit teilt die Metapher wesentliche Eigenschaften mit Pseudonymen. Auch diese sind nicht im literalen Sinne wahr – Emil Sinclair ist der Autor des Demian und ist es eben auch nicht, sondern vielmehr Hermann Hesse. Zugleich aber wird sowohl mit der Metapher als auch im Pseudonym ein semantischer Mehrwert generiert, der in einer literalen Bedeutungsverwendung nicht gleichermaßen – eben ›lebendig‹ und damit verständlich oder überzeugend zum Ausdruck gebracht werden kann. Im Vergleich zu anderen Namen kann man die Wirkung eines Pseudonyms indes direkt kalkulieren, da es ja – im Gegensatz etwa zum bürgerlichen Namen – frei wählbar ist.
Hermann Hesse kann als gut Vierzigjähriger den Coming-of-Age-Roman Demian nicht glaubhaft als Generationenroman schreiben. Die Übertragung auf das Autorsubjekt Emil Sinclair hingegen leistet genau diesen Rekurs auf eine neue Wahrheit. Bereits der Untertitel kündigt das präzise an und stiftet einen enthusiastischen Werkzusammenhang: Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend.Footnote 37 Sinclair führt sich selbst im Roman als Ich-Erzähler ein, der seine eigene Geschichte zu erzählen vorgibt. Damit hat der Autor auch gleich seine eigene Biografie mitgeliefert, die sich mit der erzählten Geschichte selbst deckt. Und es ist eine authentische, wie das Vorwort explizit betont: »Meine Geschichte aber ist mir wichtiger als irgendeinem Dichter die seinige; denn sie ist meine eigene, und sie ist die Geschichte eines Menschen – nicht eines erfundenen, eines möglichen, eines idealen oder sonstwie nicht vorhandenen, sondern eines wirklichen, einmaligen, lebenden Menschen.«Footnote 38 Diese Authentizitätsbekundung bleibt strikt an das Pseudonym gebunden, darin besteht der Mehrwert.
Ein dritter Punkt, der eine Gemeinsamkeit darstellt, ist die Erkennbarkeit respektive Nicht-Erkennbarkeit metaphorischen Sprechens und pseudonymen Publizierens. Wer eine Metapher nicht als Metapher erkennt – das ist kein Beinbruch – verliert einen Teil der semantisch relevanten Information, was aber nicht heißt, dass der Informationsfluss gänzlich unterbunden wäre. Gleiches gilt für das Pseudonym. Auch in diesem Falle kann ein Pseudonym als solches erkannt werden, oder eben auch nicht. In beiden Fällen bleibt seine Funktion als Autornamen allerdings erhalten, wenngleich sich die Bedeutung verschieben kann. Der Sinnzusammenhang, in dem ein hermeneutisches Verstehen seinen Ausgang nimmt, ist in beiden Fällen ein je anderer.
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Allein wenn man diese drei Aspekte hier zusammennimmt, erschließt sich unmittelbar die poetologische Dimension, die mit der Vergabe eines Pseudonyms einhergeht. Die Wahl des Namens, zumal mit der Möglichkeit einer kalkulierenden Wirkung aufgrund des semantischen Gehaltes, ist für den hermeneutischen Verstehensprozess und die den Texten zugrunde liegende implizite Poetologie nicht von akzidentiellem, sondern vielmehr konstitutivem Charakter. Das zeitigt Folgen, die weit über eine bloße Entdeckung und Dechiffrierung einer hinter dem Pseudonym stehenden Autorenfigur hinausgehen.
Im Vordergrund stünde unter diesem Blickwinkel dann nicht länger eine juristische Frage – ist das die wahre oder unwahre Autorpersona – sondern vielmehr eine ästhetische Frage. Pseudonymisierung ließe sich im Anschluss als ein Effekt einer »Fiktionalisierung der Autorposition«Footnote 39 beschreiben, wie das Franz-Josef Deiters schon einmal ins Spiel gebracht hatte. Folgerichtig gelte es, dieser fiktionalisierten Autorposition hermeneutisch zu begegnen, Pseudonymität also nicht zu dechiffrieren und aufzulösen, sondern zu verstehen und für interpretatorische Ansätze fruchtbar zu machen. Ebenso wie die Metapher als Moment semantischer Übertragung Verständnis provoziert, gilt das nämliche für das Pseudonym. Eine Überführung in den Klarnamen kann nur ein kleiner Teil der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung sein, dieser Teilaspekt ist letztlich eine bloß bibliographische Operation. Oder würde man allen Ernstes behaupten wollen, dass es für ein mögliches Verständnis des Textes und seine ihm eigene implizite Poetik irrelevant sein, ob, wie im Falle der umfassenden Goethe-Satire Faust. Der Tragödie dritter Teil,Footnote 40 Friedrich Theodor Vischer oder Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky verantwortlich zeichnen?
4 Semantisch gesättigt – Erscheinungsweisen prekärer Autorschaft
Genette hatte sich am Ende des Abschnittes, in dem er sich mit den Pseudonymen beschäftigt, die Frage gestellt, warum eigentlich primär Autor:innen und Schauspieler:innen sich des Pseudonyms bedienen – »Musiker, Maler, Architekten« hingegen nur sehr selten.Footnote 41 Seine naheliegende und – wie ich finde – durchaus auch überzeugende Antwort lautet: »Das Pseudonym ist ganz offenkundig bereits eine dichterische Tätigkeit und so etwas wie ein Werk.«Footnote 42 Wenn man nun zugesteht, dass Pseudonyme (und auch deren verwandte Formen prekärer Autorschaft) bedeutungstragend sind – vielleicht sogar selbst Werkcharakter haben –, muss man angeben können, worin diese Bedeutung besteht und wie umfassend diese Bedeutung ist – mithin also welchen Stellenwert man dem Pseudonym im hermeneutischen Aufschluss als poetologisch relevantes Element im paratextuellen Zusammenhang zugestehen möchte. Diese doppelte Extension würde ich gerne als ›semantische Sättigung‹ fassen wollen, gleichwohl wissend, dass in der Psychologie damit ein anderes Phänomen bezeichnet wird.Footnote 43 Dennoch scheint mir der Terminus für die angestrebten Zwecke fruchtbar, da er erstens stufenlos skalierbar ist sowie zweitens noch nicht auf den Wirkungszusammenhang einer Bedeutung festgeschrieben ist. Wie sieht das konkret aus? Das bereits genannte Pseudonym Friedrich Theodor Vischers ist sicherlich ein gutes Beispiel, enthält es doch nicht weniger als die vernichtende Kritik an Goethes Faust II in nuce, die den ›Dritten Theil‹ als bitterböse Satire markieren. Wenn sich im Drama die ›Stoffhuber‹ (die Positivisten) und die ›Sinnhuber‹ (die Hermeneutiker) als verfeindete Parteien gegenüberstehen, wird ersichtlich, worauf sich die im Pseudonym angedeutete Kritik richtet. Faust selbst scheitert im Drama daran einer Bande vorlauter Schuljungen den Faust II zu erklären, er verstrickt sich in den symbolischen und allegorischen Bedeutungszuschreibungen und kommt ohne die spitzfindigen Kommentare der Philologen auf keinen grünen Zweig.
Noch ein zweites Beispiel: Was haben John F. Beck, Buster Brack, Matt Brown, Frank Callahan, Riv Colorado, Conny Cuba, Bill Fargo, und Jack Everett gemeinsam? Sie alle sind Western-Pseudonyme des Schriftstellers Kurt Brand (1917–1991). Brand ist einer derjenigen Autoren, dessen Klarnamen so gut wie niemand kennt und der doch regalmeterweise Erzählliteratur verfasst hat. Er war unter anderem Autor in der Perry-Rhodan-Reihe und schrieb darüber hinaus Science-Fiction Geschichten unter Pseudonymen wie Henry Galaxis, Peter L. Starne oder I. S. Osten. Als Philipp Mortimer und Clarke Spencer schrieb er Krimis. Die Anzahl seiner bestätigten und unbestätigten Pseudonyme ist kaum zu überblicken.Footnote 44 Dennoch ist allen diesen Pseudonymen – in unterschiedlicher Ausprägung – eines gemeinsam: Ihre semantische Sättigung verweist eindeutig auf das Genre wie unschwer zu erkennen ist. Emil Sinclair hingegen ist noch ein weitestgehend unbeschriebenes Blatt, eine Projektionsfläche für den Newcomer, die sich aber auch angeleitet füllen lässt. Literaturkundige denken vielleicht an Isaac Sinclair, den engen Freund Friedrich Hölderlins und schon hätte man einen ersten Baustein für einen weiterführenden Verstehensprozess. Es ist die Aufgabe des Interpreten/der Interpretin, Pseudonyme, die man als solche erkannt hat, semantisch zu sättigen und auf ihre jeweilige Bedeutung hin zu befragen. Auch hier gilt freilich, wie bei jedem interpretatorischen Akt, das Prinzip der Plausibilität.
5 Elemente einer Kulturgeschichte pseudonymen Publizierens – einige Ideen
Eine umfassende Kulturgeschichte pseudonymen Publizierens ist ebenso ein Desiderat der Forschung wie vergleichende Analysen zwischen den Philologien und Künsten. Es wäre wohl zielführend, wenn man neben der semantischen Sättigung als erstem Schritt an einer Funktionsgeschichte pseudonymen Publizierens arbeiten würde. Zentral wären dann die praxeologischen Zusammenhänge und die sich daraus ergebenden hermeneutisch relevanten, poetologisch wirksamen paratextuellen Parameter. Das kann von sehr unspektakulären Zusammenhängen – etwa die Umgehung von Zensur – bis hin zu ausgefeilten Modellen poetologisch gesättigter Rezeptionsanweisung gehen, wie im Falle des bereits erwähnten Vischer-Pseudonyms, das sich als umfassende Kritik an Goethes Faust-Dichtung interpretieren lässt. Eine Kulturgeschichte pseudonymen Publizierens muss der Natur der Sache nach interdisziplinär verfahren und Fragen der Buchhandelsgeschichte, der paratextuellen Gestaltung, der sozialgeschichtlichen Möglichkeiten der Akteur:innen, Zugang zum literarischen Feld zu erlangen, gleichzeitig adressieren und damit verwandte Fragestellungen gleichberechtigt neben poetologische und allgemeinästhetische Interessen stellen. Erst in der Überblendung der Sphären wird so etwas wie eine Kulturgeschichte greifbar, die sich nicht allein an genieästhetischen Prämissen von distinkter Autorschaft wird ausrichten lassen. Die Praxis pseudonymen Publizierens in humanistischen Zirkeln oder barocken Sprachgesellschaften (in beiden Fällen ist Dechiffrierung ein substanzieller Teil des Spiels, aber eben auch nicht erschöpfend) muss dabei ebenso in den Blick geraten wie Formen kollektiver Autorschaft unter einem verbindenden Namen (Ludwig Tiecks Autorenwerkstatt)Footnote 45 oder multiperspektivisches Erzählen, wie es uns Grimmelshausen unter seinen unterschiedlichen Pseudonymen im Simplizianischen Zyklus vorführt. Teil einer solchen Kulturgeschichte müsste aber auch der Umgang der Literaturwissenschaften selbst mit dem Phänomen sein, die Eliminierung pseudonymer Rezeptionszusammenhänge im Zuge der Erstellung von Einzeleditionen oder Werkausgaben,Footnote 46 die die ursprünglich intendierte und vom realen Autor beabsichtigte, paratextuelle Auszeichnung überschreiben. Bislang wurden viele dieser Problemlagen nur isoliert betrachtet, die zukünftige Aufgabe im Sinne einer Kulturgeschichte des Pseudonyms bestünde darin, diese Fragen zusammenzudenken.
Notes
Kleinschmidt, Erich: [Art.] »Pseudonymität«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Jan-Dirk Müller [u. a.] Berlin, hier Bd. 3, S. 188–190, Zitat S. 188.
Ebd.
Ebd.
Siehe hierzu Mulsow, Martin: »Wissenspolizei. Die Entstehung von Anonymen- und Pseudonymen-Lexika im 17. Jahrhundert«. In: Ders. (Hg.): Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissens, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart/Weimar 2007, S. 217–245.
Ausführliche Würdigungen finden sich bei Hoffmann, Friedrich Lorenz: Vincent Placcius. Seine Leistungen auf dem Gebiete der Bibliographie, der anonymen und pseudonymen Schriften. Nebst einem kurzen Abrisse seines Lebens und Nachweis über seinen gelehrten Briefwechsel. Leipzig 1857, des Weiteren bei Lemcke, Johannes: Vincent Placcius und seine Bedeutung für die Anonymen- und Pseudonymenbibliographie. Hamburg 1925 (= Mitteilungen aus der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek, Neue Folge 1).
Rassmann, Friedrich: Fr. Rassmann’s kurzgefaßtes Lexicon deutscher pseudonymer Schriftsteller. Leipzig 1830.
Ebd., S. III.
Alle ebd., S. V.
Holzmann, Michael/Bohatta, Hanns: Deutsches Pseudonymen-Lexikon: aus den Quellen bearb. von Michael Holzmann und Hanns Bohatta. Wien/Leipzig 1906.
»In diesen Fällen einer mehr oder minder heiteren Schizophrenie (Kurt Tucholsky) bleibt die Täuschung und auch das Necken des Publikums [in der Verwendung eines nicht dechiffrierten Pseudonyms, M.M.] am Ende bloß urheberrechtlich relevant; derart nämlich, daß für Werke, deren wahrer Autor tatsächlich unbekannt bleibt, die Autor-Rechte siebzig Jahre nach der jeweiligen Veröffentlichung erlöschen, während diese Schutzfrist ansonsten bei ›ordentlichen‹ Autoren erst siebzig Jahre nach ihrem Tod abläuft.« Dietzsch, Steffen: »Über Pseudonyme«. In: Delf Schmidt (Hg.): Literaturmagazin No 45: Masken, Metamorphosen. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 144–152, hier S. 145.
Siehe hierzu auch den programmatischen Aufsatz von Multhammer, Michael: »Prolegomena zu einer Hermeneutik prekärer Autorschaft. Aspekte anonymen und pseudonymen Publizierens zwischen Grimmelshausen und Goethe«. In: International Yearbook for Hermeneutics 14 (2015), S. 367–387.
Vorausgesetzt muss jedoch eine Erwartungshaltung an markierte Autorschaft werden, wie wir sie seit der Frühen Neuzeit kennen.
Zu den unterschiedlichen Formen siehe Hoffmann, Torsten/Langer, Daniele: [Art.] Autor. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft, 3 Bde., Stuttgart 2007, hier Bd. 1, S. 131–170, zum Thema insb. S. 159–162.
Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Frankfurt am Main 2001, S. 10.
Ebd., S. 43.
Ebd., S. 51. Weitere mögliche Varianten wären etwa, dass eine komplette Autorpersona (samt Lebenslauf etc.) erfunden oder imaginiert wird, die dann auch in weiteren paratextuellen Zusammenhängen in Erscheinung tritt. Des Weiteren wäre zu denken an Formen der Namensüberlassung – vom Plagiat bis zum Ghost-Writing – oder an Praktiken allographer Fortsetzungen. Zu letzterem siehe ausführlich Ramdtke, Nora: Anonymität – Onymität. Autorname und Autorschaft in Wilhelm Meisters ›doppelten Wanderjahren‹. Heidelberg 2016.
Genette nennt das den »Pseudonymeffekt«. Genette (s. Anm. 14), S. 52.
»Die Wirkung eines Pseudonyms unterscheidet sich an und für sich nicht von der Wirkung eines x‑beliebigen Namens, allerdings kann der Name gerade im Hinblick auf diese Wirkung gewählt werden, und es ist, beiläufig angemerkt, recht seltsam, daß sich die Bibliographen so eingehend mit den Motiven (Bescheidenheit, Vorsicht, ödipaler Ekel vor dem Vaternamen oder das Gegenteil, Vermeidung von Homonymien usw.) und mit den Methoden beschäftigt haben (Wahl eines geographischen Namens, eines Namens aus dem Buch selbst, Änderung des Vornamens, Umwandlung des Vornamens in den Namen, Weglassen des Vornamens, Abkürzungen, Verlängerungen, Anagramme …), doch so wenig mit dem Wirkungskalkül, dieser Verquickung von Methode und Motiv.«. Ebd.
Siehe hierzu den immer noch sehr lesenswerten Aufsatz von Martin, R. M.: »On the Semantics of Hobbes«. In: Philosophy and Phenomenological Research Vol. 14, No. 2 (1953), S. 205–211.
Mill, John Stuard: A system of logic: ratiocinative and inductive, being a connected view of the principles of evidence, and the methods of scientific investigation. 2 Bde. London 1843. Zur Theorie von Namen siehe insbesondere das Kap. II des ersten Bandes mit dem Titel »Of Names«. In der angeführten Ausgabe S. 27–58.
Frege, Gottlob: »Über Sinn und Bedeutung«. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. Bd. 100, 1892, S. 25–50.
In aller Kürze hierzu Gabriel, Gottfried: [Art.] »Eigenname«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter. 13 Bde. Basel/Stuttgart 1971–2007, hier Bd. 2, S. 333.
Im Folgenden stütze ich mich auf die grundsätzlichen Überlegungen von Wolf, Ursula: »Einleitung«. In: Dies. (Hg.): Eigennamen. Dokumentation einer Kontroverse. Frankfurt am Main 1985, S. 9–41.
Hier noch einmal Gabriel (s. Anm. 22), S. 333.
Ebd.
Ebd.
Das Pseudonym Emil Sinclair (Hermann Hesse) wird mir in diesem Beitrag immer wieder als Beispiel dienen, da sich hier einige substanzielle Eigenschaften gut demonstrieren lassen. Zu den Hintergründen dieses Pseudonyms siehe den Beitrag von Helene Kraus in diesem Heft.
Wolf (s. Anm. 23), S. 36.
Ebd., S. 36.
Darauf weist schon Genette hin, dazu gleich mehr.
Ebd., S. 31.
Ebd.
Genette (s. Anm. 14), S. 18.
Ebd., Hervorhebung im Original.
Wichtig ist die Abgrenzung zu anderen Formen der Ähnlichkeitsbeziehung wie etwa der Allegorie, siehe hierzu den allgemeinen Teil des Artikels Eggs, Ekkehard: [Art.] »Metapher«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. v. Gert Ueding. 11 Bde. Tübingen 2001, hier Bd. 5, S. 1099–1103.
Ebd., S. 1103–1108.
Hesse, Hermann: Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend. Frankfurt am Main 81977.
Ebd., S. 7.
Deiters, Franz-Josef: »Ästhetisierung des Autors. Überlegungen zur meta-diskursiven Funktion des literarischen Pseudonyms«. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 54 (2010), S. 63–81, hier S. 71.
[Friedrich Theodor Vischer:] Faust. Der Tragödie dritter Theil in drei Acten. Treu im Geiste des zweiten Theils des Göthe’schen Faust gedichtet von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky. Tübingen 1862.
Genette (s. Anm. 14), S. 56.
Ebd.
Unter semantischer (oder auch verbaler) Sättigung (engl. Semantic satiation) versteht man in der Psychologie das Phänomen der Sinnentleerung, wenn man ein bestimmtes Wort sehr häufig hintereinander wiederholt, bis dessen Bedeutung für den Sprecher/die Sprecherin nicht mehr anzugeben ist und sich in eine ›bloße‹ Abfolge von Tönen auflöst.
Siehe hierzu die informative Zusammenstellung in der Perrypedia: https://www.perrypedia.de/wiki/Kurt_Brand#Pseudonyme [Datum des letzten Zugriffs: 09.02.2023].
Siehe hierzu Penke, Niels: »Bedrohungsszenarien und routinierte Praktiken. Anonymität und Autorschaft in der ›literarischen Fabrik‹«. In: Publications of the English Goethe Society 11 (2019), S. 229–249.
Für diesen Übergang hinsichtlich der Berücksichtigung paratextueller Elemente siehe Wix, Gabriele: Mixing Oil an Water. Zur Inkorporation selbständiger Publikationen in eine Werkausgabe, hier: Thomas Kling, ›Werke in vier Bänden‹. In: Christopher Busch/Oliver Ruf (Hg.): Buch-Aisthesis. Philologie und Gestaltungsdiskurs. Bielefeld 2022, S. 155–175.
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Multhammer, M. Pseudonymität: Elemente einer Theorie. Z Literaturwiss Linguistik 53, 9–22 (2023). https://doi.org/10.1007/s41244-023-00279-1
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