In der in der Literaturwissenschaft kontrovers geführten und am Ende auch ausufernden Debatte um Autorschaft spielte das Phänomen der Pseudonymität nur eine höchst marginale Rolle.Footnote 1 Dabei ist diese spezielle Form von Autorschaft, die gleichzeitig ein Weniger und ein Mehr an Information bietet, indem sie den Klarnamen des Autors verschweigt und einen fingierten, semantisch aufgeladenen oder gar sprechenden Namen aufbietet,Footnote 2 prädestiniert für die Diskussion ›blinder‹ Flecken in der bisherigen Debatte um den Stellenwert von Autorschaft und die daraus abzuleitenden Forschungsfragen zur Gewichtung paratextueller Markierungen. Schon der Artikel ›Pseudonym‹ von Erich Kleinschmidt im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft betont diesen umfassenden Mangel an übergreifender Reflexion des Phänomens. Dort ist unter dem Paragrafen ›Forschungsgeschichte‹ zu lesen:

Die Erforschung der literarischen Pseudonyme konzentriert sich traditionell auf deren Auflösung, was sich in nach Nationalliteraturen aufgefächerten Lexika und z. T. umfangreichen Debatten zu Einzeltexten niederschlägt. Eine umfassende, methodisch vielseitig angelegte (Kultur‑)Geschichte des Pseudonyms, zumal unter komparatistischen Gesichtspunkten, steht noch aus.Footnote 3

Bisher folgte die Konjunktur der Pseudonymenlexika dem Lauf der Jahrhundertwenden: angefangen bei den monumentalen Verzeichnissen von Vincent PlacciusFootnote 4 im 17. Jahrhundert und den weiteren Bearbeitern seines Lexikons wie etwa Christoph August Heumann und Johann Heinrich Mylius über das Deutsche[] Pseudonymen-Lexikon (1906) von Michael Holzmann und Hanns BohattaFootnote 5 bis hin zu Jörg Weigands ArbeitenFootnote 6 und Wilfried Eymers PseudonymenlexikonFootnote 7 (1997). Wie Kleinschmidt völlig richtig beobachtet, beschränkte sich das Interesse professioneller Leser:innen aus der Literaturwissenschaft, Rechtsgeschichte und Bibliografienkunde für pseudonyme Autor:innen über Jahrhunderte auf deren Dechiffrierung. Vom 17. bis zum 20. Jahrhundert versuchten sie, deren Eigennamen ausfindig zu machen. Schließlich war der Druck von Texten ohne die Angabe von Drucker, Schreiber, Stadt und Jahr seit dem 16. Jahrhundert gesetzlich verboten.Footnote 8 Der Zwang zu Impressumsangaben war historisch als Selbstzensur konzipiert, der die textproduzierenden Akteure unmittelbar zur Verantwortung für ihre Veröffentlichungen ziehen sollte.Footnote 9 Der Verstoß gegen diese juristische Regelung legte hingegen den Verdacht nahe, dass Texte anstößig waren und beispielsweise gegen staatliche oder kirchliche Interessen opponierten. Es verwundert aus diesem Grund wenig, dass die Bearbeiter der oben aufgeführten Lexika in erster Linie Rechtsgelehrte waren.Footnote 10

Freilich kann dieses Schwerpunktheft Kleinschmidts Forderung nach einer vielseitig angelegten (Kultur‑)Geschichte des Pseudonyms nicht umfassend bedienen. Es will aber zumindest einen substanziellen Beitrag dazu leisten und dahingehend einige Aspekte in interdisziplinärer sowie literaturtheoretischer Hinsicht neu perspektivieren. Unser Erkenntnisinteresse liegt nicht länger auf der Identifizierung von Autor:innen, die unter erfundenen Namen geschrieben haben oder schreiben, sondern auf den heterogenen Spielarten pseudonymer Autorschaft und deren komplexes Funktionssetting – angefangen von der Kongruenz von Gender und Genre bis hin zu Phänomenen, wo pseudonyme Künstler:innenentwürfe die bürgerliche Identität überwuchern. Im Zentrum des Heftes steht die Frage nach den hermeneutischen und interpretatorischen Herangehensweisen an das Phänomen der Pseudonymität, das wir mit Genette paratextuell als das Signieren eines Werks »mit einem falschen, entlehnten oder erfundenen Namen«Footnote 11 verstehen. Pseudonymität – so unsere These – ist nicht einfach Zufälligkeiten oder gar Willkür geschuldet, sondern das Resultat eines bewussten, intentionalen und poetologisch reflektierten Entscheidungsprozesses. Mit Blick auf die zurückliegenden Jahrhunderte kann dieser Prozess auf verschiedene Akteur:innen des Literaturbetriebs zurückreichen, die an der Produktion von Literatur beteiligt sind: Zu denken ist etwa an Verleger:innen, Drucker:innen, Herausgeber:innen, Redakteur:innen, Editor:innen oder Autor:innen. Dies gilt es zunächst einmal, für den jeweiligen Einzelfall zu erforschen. Wir interessieren uns dafür, wie sich derartige Entscheidungen im Austausch zwischen den Akteur:innen gestalten, mit welchen Intentionen sie verbunden sind, in welchen Ausprägungen pseudonyme Signaturen beobachtet werden können, wie unbekannt überhaupt die jeweiligen Akteur:innen waren und sind, und schließlich, wie aus rezeptionsästhetischer Sicht Lektüreeindrücke in Abhängigkeit des Wissens um den Autor/die Autorin ausfallen.

Die Literaturgeschichte kennt eine Reihe von Fallgeschichten, die zeigen, dass Pseudonymität mit ausgreifenden Diskussionen problematisiert wurde. Um nur einige prominente Fälle aus der jüngeren Vergangenheit zu nennen: Elena Ferrante, der in den 1990er-Jahren mit ihrer Neapolitanischen Saga der Durchbruch gelungen war, weckte über Jahre den detektivischen Spürsinn zahlreicher Journalist:innen, Literaturkritiker:innen und privater Leser:innen, die nicht eher zufrieden waren, bis 2016 mittels Steuerfahndung enthüllt wurde, dass sich hinter diesem Namen ein italienisches Schriftstellerehepaar verbarg.Footnote 12 Unter dem erfundenen Namen Binjamin Wilkomirski gingen 1995 Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948 in den Druck, die mit Bekanntwerden des genuinen Texturhebers zu einem Skandal führten, da mit dem Eigennamen klar wurde, dass sich der Verfasser fälschlicherweise als Holocaust-Überlebender ausgegeben hatte.Footnote 13 In den 1950er-Jahren hielt der autobiografische Bestseller Anonyma – eine Frau in Berlin die internationale Leser:innenschaft in Atem, weil auch in diesem Fall nicht sicher war, wer hinter dem Text steckte, und damit, ob die als Kriegserlebnisse inszenierten Tagebuchschilderungen auf tatsächlichem Erlebten beruhten. Erst nach der Neuauflage des Buches und dem Tod der Autorin konnte 2003 das Geheimnis gelüftet und anhand des Nachlasses der Autorin Marta Hillers der Faktualitäts- bzw. Fiktionalitätsgrad eingehend überprüft werden.Footnote 14

Pseudonymität stellte und stellt Leser:innen vor ein hochkomplexes, höchst irritierendes Lektürephänomen. Michel Foucault fasste dies unter dem Begriff des »Rätsels« zusammen, demnach Leser:innen anonyme und pseudonyme Autorschaft nur als ein solches akzeptieren würden und sich permanent auf die Suche von Eigennamen machen würden.Footnote 15 Gérard Genette subsumierte die Beobachtung unter dem Terminus »Pseudonymeffekt«.Footnote 16 Daran anschließend stellen sich eine Vielzahl an Fragen, die wir einerseits als Programm für dieses Heft verstehen, andererseits als eine Ideensammlung, die weitere Forschungsbeiträge anstoßen will: Welche Akteur:innen blieben pseudonym? Lassen sich zwischen ihnen Ähnlichkeiten aufzeigen? Was heißt diskursiv im Einzelfall Pseudonymität? Warum wurde das jeweilige Pseudonym gewählt? Welche Assoziationen ermöglicht oder verhindert es? Korrespondiert es mit dem Textinhalt? Wie sehen die juristischen Rahmenbedingungen aus? Welche Relevanz besitzt pseudonyme Autorschaft im jeweiligen Untersuchungszeitraum? Wie üblich war sie auch in Bezug auf das jeweilige Medium und Format? Welche Texte respektive Textsorten sympathisieren mit pseudonymer Autorschaft? In welchen Fällen ist das Pseudonym als solches bekannt, in welchen Fällen animiert es Rezipient:innen zur Recherche, in welchen Fällen nicht? Wo lässt sich mit Genette gesprochen ein »Pseudonymeffekt« rekonstruieren? Warum machen sich Leser:innen und Forscher:innen überhaupt die Mühe, chiffrierte Namen zu identifizieren? Erschöpft sich Foucaults ›Rätsel‹ mit diesem Spiel? Mit welchen Methoden erfolgen derartige Zuschreibungsprozesse? Was bedeutet die Zuschreibung auf Ebene der Produktion, auf Ebene der Rezeption? Welche zeitlichen und räumlichen Entwicklungslinien, Ähnlichkeiten und Unterschiede können skizziert werden? Welche Akteure – Drucker, Verleger:innen, Sortimenter, Händler:innen, Rezensent:innen – sind beteiligt? Wer weiß wie viel? Wie ist aus einer editionsphilologischen Perspektive mit pseudonym signierten Texten umzugehen? Genügt es, dass auf ursprüngliche pseudonyme Publikationsumstände hingewiesen wird, oder verstößt man nicht gerade gegen den Willen von Autor:innen, wenn man Texte in den Klarnamen überführt? Welche praktischen Folgen hat das für Bedeutungszuschreibungen und Interpretation? Und ganz grundsätzlich: Wie ist das sprachliche Konstrukt ›Pseudonym‹ eigentlich beschaffen? Nicht alle Beiträge in diesem Heft werden die oben formulierten Fragen sämtlich beantworten können. Der Fragenkatalog macht aber deutlich, dass pseudonyme Autorschaft ein komplexes und vielschichtiges Thema darstellt. Komplex ist das Thema auch deshalb, weil selbst scheinbar einfache Fragen nur mit hohem Forschungsaufwand adäquat thematisiert werden können. So stellt etwa die Frage, warum Autor:innen überhaupt pseudonym publizieren, eine durchaus übliche, gleichwohl erstaunlich heikle Frage dar. Zwar zirkulierten bereits im 18. Jahrhundert Listen mit potenziellen Gründen, die von Schutzmaßnahmen über Gattungskonventionen bis hin zu spielerischen Aspekten und interpretatorischen Intentionen reichten. Allerdings lässt sich oftmals lediglich für den konkreten Fall ausreichend Material finden, das Rückschlüsse auf mögliche Motive liefert. Zudem bleibt die Rekonstruktionsleistung oftmals interpretatorischer Natur und lässt sich schwerlich auf ein benennbares Motiv, das tatsächlich für die pseudonyme Erscheinungsform ausschlaggebend war, reduzieren.

Dieses Heft grenzt sich im Wesentlichen in zwei Punkten von der bisherigen, schmalen Forschung ab:Footnote 17 Erstens gehen wir über eine reine Dechiffrierung von Pseudonymen hinaus, wollen uns vielmehr auf deren mögliche Funktionen und Effekte konzentrieren. Die Erfindung eines Namens, der nicht dem Eigennamen entspricht, kann – so unsere These – Auswirkungen auf die Wahrnehmung textueller Produkte haben. Der auf Buchdeckel oder Titelblatt gedruckte Name weckt Assoziationen oder verhindert wiederum mit dem Eigennamen eines Autors verbundene. Das Heft grenzt sich zweitens von der bisherigen Forschung insofern ab, als dass wir in einer heuristischen Perspektive gezielt zwischen anonymer und pseudonymer Autorschaft differenzieren und den Blick vom 18. Jahrhundert wegbewegen. Gerade bei der Untersuchung hermeneutischer Effekte wird deutlich, dass Anonymität und Pseudonymität keineswegs identisch sind und zusätzlich mit unterschiedlichen Effekten einhergehen. Fehlende peritextuelle Signaturen können mitunter ganz andere Wirkungen entfalten als erfundene Namenssignaturen, die zusätzlich mehr oder weniger als solche für Leserinnen und Leser erkennbar sind. Vorliegende Studien haben primär ein Interesse am 18. Jahrhundert gezeigt,Footnote 18 das typischerweise als ›das‹ Jahrhundert der pseudonymen Autorschaft gilt.Footnote 19 Die Beiträgerinnen und Beiträger dieses Schwerpunktheftes machen hingegen sichtbar, dass dies viel zu kurz greift, und konzentrieren sich stattdessen auf den vernachlässigten Zeitraum vom 19. Jahrhundert bis heute.

Michael Multhammer versucht in seinem Beitrag Pseudonymität. Elemente einer Theorie grundsätzlich über die Aussagestatus von Pseudonymen nachzudenken und sie aus sprachphilosophischer Warte zunächst als Eigennamen zu begreifen, die ›etwas‹ bezeichnen. In einem zweiten Schritt wird der Versuch unternommen, die Funktionsweise von Pseudonymen derjenigen von Metaphern kontrastierend zur Seite zu stellen. Beides soll dazu beitragen, eine mögliche Theorie von Pseudonymität auf den Weg zu bringen.

Yashar Mohagheghi rekonstruiert am Beispiel von Stefan Mallarmés Zeitschrift La Dernière Mode (1874) eine »Hermeneutik des Decknamens« und zeigt, dass die Verwendung weiblicher Pseudonyme weit mehr als eine konventionelle Praxis im Ressort ›Mode‹ des ausgehenden 19. Jahrhunderts war. Vielmehr macht Mallarmés Namensspiel ein vielschichtiges Verfahren sichtbar, das mit dem Crossnaming Elemente des Crossgenders, Crossdressings und Crossgenres kombiniert und die Grenzen zwischen Literatur und Mode, Kultur und Alltagswelt verwischt.

Helene Kraus skizziert, wie 1919 der 43-jährige Hermann Hesses in die Rolle eines unbekannten Nachwuchsautors schlüpfte und damit nicht nur eine authentische Autobiografie präsentierte, sondern insbesondere seine Bildungsambitionen unter dem jungen Zielpublikum streute. Unter Berücksichtigung einer Produktions‑, Verlags- und Rezeptionsperspektive lässt sich an Demian. Die Geschichte einer Jungend von Emil Sinclair ein komplexes Bild pseudonymer Publikationspraktiken nachzeichnen, das die heterogenen Interessenslagen der am Literaturbetrieb beteiligten Akteur:innen deutlich macht.

Erika Thomalla springt in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und geht in Underground Homestories der Frage nach, wozu sich eigentlich die Akteure im deutschsprachigen Popjournalismus der 1980er-Jahre häufig erfundene Autornamen zulegten. Denn eines ist klar: Zur Verschleierung von Identitäten dienten sie offensichtlich nicht; der Kreis der Beteiligten war überschaubar, wer unter welchem Namen schrieb, ohnehin offensichtlich. Wie Thomalla am Beispiel von Kid P. alias Andreas Banaski zeigt, wurde mit der Verwendung von Pseudonymen eine Distanzierungsstrategie verfolgt. Banaski, der im Szene-Magazin Sounds ein neues Genre begründete und Home-Stories über Hobby-Autor:innen, Musiker:innen oder Künstler:innen schrieb, erfand sich mittels Pseudonym eine neue Identität, die seine Privatperson von der Rolle des indiskret berichtenden Klatschkolumnisten abgrenzte.

Johannes Franzen diskutiert in Verräterische Diskretionen. Pseudonymität als Faktualitätssignal die Funktion pseudonymer Autorschaft bei fiktionalen Texten, die per se aufgrund ihrer nicht-referenzialisierenden Lektüreforderung ein Schutzschild um ihre Autor:innen bauen. An Beispielen wie Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga, Joe Kleins Primary Colors und Sophie Dannenbergs Das bleiche Herz der Revolution nimmt Franzen das komplexe Verhältnis zwischen markiertem Pseudonym, Autorschaft und Fiktionalität in den Blick und kommt zu dem Schluss, dass gerade Schlüsselromane mit ihrem prekären fiktionalen Status eine konstitutive Verbindung zu pseudonymer Autorschaft eingehen. Das markierte Pseudonym deutet in diesen Fällen eine faktuale Rezeption an und übernimmt eine Schutzfunktion, das vor möglichen Sanktionen bewahren soll.

Wie kann ein Gericht eigentlich damit umgehen, wenn Bushido Fler verklagt? Diese Frage führt ins Zentrum einer Debatte um Pseudonymität, die mittlerweile allgegenwärtig ist. Raja Möller und Fabian Wolbring untersuchen ausgehend von der Konzeption von Super Personae die Entgrenzung von Kunstfiguren und bürgerlicher Entitäten. Als idealtypisches Beispiel hierfür dient ihnen der Rapper Bushido, bei dem schon längst nicht mehr klar ist, wo seine künstlerische Persona endet und seine bürgerliche Identität beginnt – diese Unentscheidbarkeit wird schlussendlich gar zu einer rechtlichen Frage vor Gericht. In der Auslotung dieser Grenzen werden substanzielle Fragen von Autorschaft und Werk problematisiert, die bisher in den literaturwissenschaftlichen Debatten unterbelichtet waren und die zugleich eine Herausforderung an die bisherigen Konzepte darstellen.