1 Ästhetische Dimensionen des liturgischen Lobpreises: ein Fallbeispiel

Die cantrix des Zisterzienserinnenklosters Helfta, Mechthild von Hackeborn, wird gleich zu Beginn des Liber specialis gratiae, der hagiographischen Kompilation ihrer Visionen, Gebete und Lehren, für ihre natürlichen Gaben gerühmt: Gott habe sie nicht nur mit Kenntnissen, Verstand und grammatischem Wissen, sondern auch mit einer wohlklingenden, kräftigen Stimme ausgestattet.Footnote 1 Die vox der begnadeten Schwester erweist sich für den Liber als zentral, medialisiert sich in ihr doch der liturgische Lobpreis, für dessen formal und inhaltlich korrekte, verständige und überdies ästhetisch gelungene Ausführung Mechthild im Kloster Helfta zuständig ist. Entsprechend sind Ausführung, Funktion und Deutung des liturgischen Lobs etliche Abschnitte und insbesondere das gesamte dritte Buch des Liber gewidmet.Footnote 2

Die wohlklingende Stimme der im Liber stets als anima bezeichneten Schwester ist aber nicht allein Artikulationsmedium des verpflichtenden monastischen Lobpreises, bei ihr handelt es sich zugleich auch um ein gnadenhaftes Medium des Kontakts mit der Transzendenz. Weil diese Stimme über ihren hörbaren Klang hinaus Ausdruck höchster emotionaler Hingabe ist, zielt ihre Ästhetik darauf, sich selbst zu übertreffen. Sie eröffnet einen Übergang zur Transzendenz, der als Vision wiederum bildhaft gefasst wird. Diese mediale Übergängigkeit zwischen Klang und Bild zeigt sich besonders intensiv in einem der letzten Kapitel des Liber, das von Mechthilds Sterben berichtet. Der Herr lässt seine Braut (sponsa) zunächst in göttlichem Licht umleuchten (circumfulgens) und erstrahlen (perillustrans), dann wendet sich Christus der sterbenden Sängerin zu und entlohnt ihre Pflichten des officium divinum, indem er seine Stimme zum transzendenten Spiegel der ihren werden lässt:

Tunc deliciis affluens Dominus majestatis, […] sponsam suam lumine divinitatis circumfulgens, totam et perillustrans, ipse Cantor cantorum omnium, suavissima voce omnemque humanam capacitatem supergredienti melodia, Philomenae suae, quae toties ei dulciter cantando, multo magis devota intentione quam sonoritate vocis, Cor eius divinum allexerat in terris, vicem rependens intonabat: ›Venite vos, benedicti Patris mei, percipite regnum‹, etc.

›Hierauf, im Überfluss der Wonnen, erschien der Herr der Majestät […], umstrahlte seine Braut mit dem Licht seiner Göttlichkeit und durchleuchtete sie ganz und gar; und er, der Sänger über alle Sänger, vergalt nun ihr, seiner Philomela, seiner Nachtigall, die auf Erden so oft durch ihren süßen Gesang und noch viel mehr durch ihre fromme Andacht als durch den Wohllaut ihrer Stimme sein göttliches Herz entzückt hatte, ihre Pflichten, indem er mit süßester Stimme und allen menschlichen Begriff übersteigendem Wohlklang intonierte: »Venite vos, benedicti Patris mei, percipite regnum… – Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, empfangt das Reich …«‹.Footnote 3

Im transzendenten Echo Christi, das sich wiederum eines liturgischen Verses bedientFootnote 4, erfüllt sich so letztlich das Desiderat einer geistlichen Ästhetik, das ausgehend vom praktischen süßen Singen der Liturgie (dulciter cantando) im unhörbaren, in der devotionalen Intensität des Sanges gleichwohl geistlich vernehmbaren Oberton der Sängerin verfolgt wird, das sich aber erst durch die Hinwendung des Sängers aller Sänger zur Sängerin in dessen süßester Stimme (suavissima vox) erfüllt: die Gnade einer grenzüberschreitenden Verschmelzung von Immanenz und Transzendenz in der geistlichen suavitas der Stimme. Diese besondere, geistliche Ästhetik der Stimme wird über die Kette der ästhetischen Metaphern des Liber specialis gratiae adressiert, die Mechthild als wahre Philomela, als Nachtigall Christi erscheinen lassen.

Gott singend zu preisen kann dabei zugleich auch ein Medium einer mystischen unio laudisFootnote 5 mit dem Höchsten sein, das die Sängerin gleichsam an die Grenze ihrer stimmlichen Möglichkeiten bringt und sie doch darüber hinaus führt. Denn wo ihre Stimme hörbar endet, setzt sich der Sang, getragen von ihrer brennenden Liebe, in einer Vision fort:

Cum vice quadam valde laboriose cantasset, sicut pene frequenter solebat, et jam viribus defecisset, videbatur sibi quod omnem flatum quem spirabat de Corde Dei traheret, et ita non viribus suis, sed quasi divina virtute cantaret. Solita enim erat totis viribus Deo canere, et tam ferventi amore, ut saepe videretur sibi quod si etiam ex hoc spiritum exhalaret, non tamen a cantu cessaret. Cum ergo tali unione cum Deo et in Deo canere videretur […]

›Als sie einmal im Chor nur mit großer Mühe gesungen hatte, so wie es ihr häufiger geschah, hatte sie die Vision, als zöge sie ihren ganzen Atem aus dem Herzen Gottes und singe nicht aus eigener Kraft, sondern in der Kraft Gottes. Sie war es ja gewohnt, mit all ihrer Kraft Gott das Lob zu singen, und dies mit so glühender Liebe, dass es oft schien, als hauche sie dabei ihren Geist aus; sie jedoch ließ sich aber vom Singen nicht abbringen. So in der Vereinigung mit Gott schien es, als singe sie mit Gott und in Gott.‹Footnote 6

In auffallender und für die Literatur des späten 13. Jahrhunderts neuartiger Weise macht die Visionärin des Liber das Singen der Liturgie zum Ausgangspunkt und Schauplatz ihrer intermedialen Visionen:Footnote 7 Diese entwerfen ungewöhnliche synästhetische Bilder, etwa, wenn die Visionärin das göttliche Herz als Instrument schaut, das sich mit den Herzen der gläubigen Schwestern verbindet, oder wenn die irdisch-monastische Liturgie zum Bestandteil eines himmlisch-kosmischem Klangraums wird.Footnote 8 Die Anleihen der Visionen bei den Preziosen einer materiellen höfischen Kultur in Bezug auf Stoffe, Farben, Dekor, Duft und Geschmack erweitern das sinnliche Spektrum dieser liturgisch animierten Schauen.Footnote 9

Die Sinnlichkeit der liturgischen ›Frömmigkeitsarena‹, wie Volker Mertens sie treffend genannt hat,Footnote 10, ist in den Visionstexten der Helftaer Schwester dabei niemals ästhetischer Selbstzweck. Ganz im Sinne der Befunde zur mittelalterlichen Ästhetik als einer ›anderen Ästhetik‹Footnote 11 bleibt sie – gerade in geistlichen Texten – ausgerichtet auf religiöse Gebrauchs- und Funktionszusammenhänge. Im Fall Mechthilds etwa steht der Rekurs auf die Sinnlichkeit der liturgischen Vollzüge im Zusammenhang mit liturgischer Allegorese, geht es der cantrix doch darum, vor allem die Texte der liturgischen Gesänge durch Christus selbst erläutern und erklären zu lassen. Die liturgische Ästhetik ihrer Visionen bereitet die Rezipient*innen so gleichsam für die spirituelle Lehre der Visionärin vor.Footnote 12

2 Liturgische Ästhetik: Umrisse eines transgressiven Phänomens zwischen Zeit und Raum, Bild und Klang

Liturgie als Oberbegriff für die »im christlichen Kult geübten Riten«Footnote 13, die Abläufe, »Worte[...] und Handlungen«Footnote 14, die Gesänge, Gebete und Lesungen des kirchlichen und monastischen Gottesdienstes, des officium divinum, verweist schon auf Grund seiner semantischen Breite auf ein ganzes Bündel von ästhetischen Implikationen einer komplexen historischen Praxis.

Grundlegend sind zunächst die zeitlichen Strukturleistungen der Liturgie: Sie reichen weit über die einzelne Messe und die einzelne Tagzeit hinaus und etablieren in den vormodernen Jahrhunderten vor der Verbreitung der mechanischen Uhr die Einteilung von Tag und Jahr.Footnote 15 Zugleich erscheint die zeitliche Struktur in immer schon semantisierter Form, indem sie den Festkreis des Jahres nicht nur für geistlich lebende Menschen auf die Heilsgeschichte hin transparent macht.Footnote 16 Die Korrelation der einzelnen Tagzeiten mit Stationen der PassionsgeschichteFootnote 17 wiederholt und verdoppelt diese heilsgeschichtliche Zyklik und lässt zugleich eine Spannung zum Festkreis des Kirchenjahres entstehen.

Semantische und ästhetische Mehrdimensionalität weist auch der vormoderne Kirchenraum als Ort der liturgischen Abläufe auf. Unter- und Einteilungen des Kirchenraums in dem männlichen Klerus vorbehaltene Raumabschnitte (Ostchor, Hochaltar), in Teile, die als Pfarrkirche Laien sichtbar und zugänglich (Längsschiff bis zum Lettner, Kapellen, Seitenaltäre), oder, in Klosterkirchen, für Nonnen reserviert sind (Nonnenchöre, oft Emporen im Westchor), gliedern den Kirchenraum sowohl theoretisch-konzeptuell (Immanenz vs. Transzendenz) als auch nach ganz praktischen Faktoren (soziale Zugehörigkeit, Bildung, Geschlecht) mit entsprechenden Implikationen für die Teilhabe an den und Wahrnehmbarkeit der kultischen Handlungen.Footnote 18 Raumsemantiken stehen dabei nicht normativ fest, sondern werden – z. B. in Osterfeiern, Prozessionen oder geistigen Wallfahrten – je performativ hergestellt und sind damit dynamischen Transformationen unterworfen.Footnote 19 In diesem Zusammenhang ist auch die ausgehend von der modernen Messhandlung unterstellte Zentrierung der Beobachter*innen- und Teilnehmer*innenperspektive auf eine zentrale liturgische Handlung (etwa die Eucharistie in der Hauptmesse) zu hinterfragen: Im vormodernen Kirchenraum dürften sich vielmehr – z. B. an den Altären der Bruderschaften und Stiftungen – mehrere Messlesungen zugleich vollzogen haben, so dass von Bewegungen der Teilnehmer*innen im Raum und einer Pluralität von Ritus, Textlesung, Gebet und Gesang auszugehen ist.Footnote 20

Dass der Kirchenraum als Architektur gewordene Theologie auch hinsichtlich seiner materiellen Beschaffenheit und Ausstattung an der ästhetischen Wahrnehmung des offizium divinum bedeutsamen Anteil hat, diskutiert schon die ältere Kunstgeschichte. In jüngeren Arbeiten wird dieses sinnliche Moment aufgegriffen, darüber hinaus aber die Engführung von Materialität und Transzendenz über ästhetische Transgressionsprozesse beschrieben. In diesem Sinne hebt Barbara Schellewald etwa die immersive Wirkung des Lichts in Bezug auf die Gold-Mosaike der Hagia Sophia hervor, Bissera Pentcheva die irrisierende Oberflächenwirkung des hier verwendeten Marmors, wobei sowohl Licht- als auch Wassermetaphoriken Konnotationen der Taufe implizieren.Footnote 21

Die ästhetische Raumwirkung der liturgischen Riten wird zudem unterstrichen durch die materielle Ausstattung von Raum und Akteuren. So erhalten die im Vollzug der liturgischen Zeremonien verwendeten Textilien (Paramente, Ornate, Kaseln) – auf Grund ihrer Preziosität, ihrer Bildprogramme und der ihnen innewohnenden Performativität von Verbergen und Enthüllen – gerade in jüngster Zeit neue interdisziplinäre Aufmerksamkeit.Footnote 22

Neben Konzepten von Zeit und Raum ist vor allem das intrikate theologische Verhältnis von Liturgie und Bild für das Paradigma der liturgischen Ästhetik zentral. Insbesondere Thomas Lentes hat in seinen Arbeiten darauf hingewiesen, dass die Liturgie der Westkirche – anders als die der Ostkirchen – in ihren Zeremonien zwar keinen konkret-materiellen Gebrauch von Bildern macht, jedoch in vielfältiger Weise von Bildern flankiert wird und solche generiert.Footnote 23 Für mittelalterliche Liturgie und Gebetsfrömmigkeit wird man daher zum einen Wechselwirkungen mit materiellen Bildern (Altarretabel, Kruzifixe, Andachtsbilder)Footnote 24 einzubeziehen haben, zum anderen die Praktiken und Verfahren einer schriftbasierten Produktion innerer Bilder. Dass die Animation der inneren Sinne durch intensive Schriftlektüren, durch Rumination, Meditation oder auch das kollektive Chorgebet angeleitet wird, hat vor allem Niklas Largier gezeigt und hierin eine spezifische Möglichkeit vormoderner Ästhetik hervorgehoben.Footnote 25

Das einleitende Fallbeispiel der visionären Nachtigall Christi, Mechthild von Hackeborn, macht darauf aufmerksam, dass Konzepte einer intermedial verstandenen liturgischen Ästhetik insbesondere auch das Klangereignis der gesungenen Liturgie nachdrücklicher einzubeziehen hätten.Footnote 26 Denn Stimme und Klang der Liturgie machen den sakralen Raum zuallererst ästhetisch erfahrbar, erst ihre Musikalität verleiht den Bildern die Möglichkeit einer spezifischen geistlichen Präsenz.Footnote 27 So führt, wie am Beispiel der Vision Mechthilds deutlich wurde, allein der süße liturgische Gesang ins geistlich geschaute Bild. Was hier ästhetisch realisiert wird, weist dabei über die Bildintensität der sogenannten weltlichen Literatur noch deutlich hinaus.Footnote 28 Die geistigen Bilder erhalten über den Klang der Stimme nicht nur jene dynamische Intensität, wie sie für Roman und Lyrik diskutiert worden ist,Footnote 29 vielmehr wird diese im liturgischen Dispositiv nochmals mit Blick auf die Transzendenz gesteigert, um das Unsagbare des geistlichen Sinns ästhetisch in Erfahrung zu bringen.Footnote 30

3 Liturgische Ästhetik als Textkategorie

Liturgische Ästhetik ist mit Blick auf die historische Praxis somit zu bestimmen als sinnliche Wahrnehmung eines zeitlich und räumlich rhythmisierten und semantisierten, multimodalen Geschehensvollzugs aus Textlesung und Gesang, Musik, Duft und Geschmack, der insbesondere auf die Produktion von (inneren) Bildern zielt, die Heilsgeschehen vergegenwärtigen. Im Kontext der Literatur- und Textwissenschaften kann es jedoch kaum ausreichen, das multimodale ästhetische Potential der Liturgie lediglich zu konstatieren. Liturgische Ästhetik ist hier vielmehr als eine sinnliche Dimension geistlicher Texte zu konzeptualisieren, die ihrerseits der literaturwissenschaftlichen Analyse zugänglich ist. Dabei ist die spezifische Pointe der geistlichen Semantik auf der Basis ihrer ästhetischen Transgressionsfigur als zentral anzusehen. Eine solche produktive Verbindung von Liturgie- und Literaturwissenschaft hatte im Jahr 1960 schon John Hennig gefordert, sei die Liturgie der »historischen Betrachtung [… doch] vorzugsweise in Schriftdenkmälern zugänglich«.Footnote 31 In dieser Linie stehen in jüngerer Zeit die Arbeiten von Felix Heinzer und Margot Fassler, die dezidiert nach einer Poetologie liturgischer Textsorten fragen.Footnote 32

Anspruch des vorliegenden Heftes ist es, diese Perspektive aufzunehmen und sie zugleich umzukehren und auszuweiten: Es geht also nicht allein um eine literaturwissenschaftlich präzise Beschreibung der liturgischen Prätexte, sondern darum, die liturgische Praxis als ästhetisches Referenzsystem und autopoietischen Stimulus literarischer Texte allererst zu entdecken und zu beschreiben. Dabei ist das Potential des Konzepts gerade auch für solche Textsorten der geistlichen Literatur auszuloten, die selbst nicht Bestandteil der offiziellen – lateinischen – Liturgie sind, sondern – wie volkssprachige Gebete, Visionstexte, Legenden, Feiern und Spiele – mit ihr in je eigen zu konturierenden Relationen stehen. Methodisch lässt sich ein solcher Ansatz intertextuellen, intermedialen und intergenerischen Fragestellungen zuordnen.Footnote 33

Einen wichtigen Anknüpfungspunkt stellen hier die von Andreas Kraß herausgegebenen Bände der Reihe Liturgie und Volkssprache dar, die poetologische Veränderungen liturgischer Lieder im Zuge der Übertragung in die Volkssprache und damit in veränderte pragmatische Kontexte wie das Laien- und Privatgebet nachzeichnen. Ein Desiderat dürfte in diesem Zusammenhang die umfassendere Charakterisierung einer liturgischen Stilistik sein, die im Bereich der Reimverwendung, der Metaphernbildung sowie lyrisch-narrativer Korrelierungen eine zentrale Bezugsgröße für benachbarte Gattungen wie Legenden und Gebete sowohl im Lateinischen als auch in der Volkssprache darstellt.

Liturgie und Literatur sind in diesem Sinne gerade nicht als zwei distinkte Funktionsbereiche aufzufassen, die von- bzw. gegeneinander abzugrenzen sind. So fasst etwa die Einleitung des Bandes Liturgie und Literatur (2015) die Relation der beiden Begriffe als ein »Komplementär- als auch ein Spannungsverhältnis« auf, das »auf Berührungspunkte ebenso wie auf Gegensätze« verweist und »Abgrenzungsstrategien« sowie »zugleich gemeinsame ästhetische Potentiale« impliziert.Footnote 34

Hatte sich etwa die ältere Forschung zum geistlichen Spiel an der systemischen Unterscheidung von Kult und Kunst abgearbeitet, wenn sie die ästhetische Ablösung des geistlichen Spiels aus dem liturgischen Funktionszusammenhang der kultischen Feier zu beschreiben suchte, finden sich in jüngerer Zeit zahlreiche Versuche, das mediale und ästhetische Potential der geistlichen Spielformen vor dem dramatischen Dispositiv der Liturgie zu beschreiben.Footnote 35

Die teleologische Vorstellung einer Freistellung der Kunst aus dem Kult dominiert auch die ältere mediävistische Legendenforschung, die hierfür vor allem die höfischen Legendenerzählungen eines Hartmann von Aue oder Konrad von Würzburg heranzog. Dass die Legende jedoch auch als pragmatische vorwiegend geistliche Gattung keinesfalls auf den Status der einfachen und zugleich kunstlosen Form beschränkt bleiben muss,Footnote 36 lässt sich nicht nur an hybriden Erzählstrukturen und Heiligkeitsmodellen der Legende festmachen,Footnote 37 es wäre auf der Ebene des discours auch an avancierten hagiographischen Entwürfen wie den Viten des Dietrich von Apolda noch forcierter zu zeigen.Footnote 38 Ästhetische wie pragmatische Rückbindungen des legendarischen Erzählens an Liturgie und Gebet, wie sie in diesem Heft Christian Schmidt diskutiert, sind überdies geeignet, einsinnige Teleologien zu unterlaufen.

Anregungen, wie das intermediale Potential einer liturgischen Ästhetik für einzelne ›Anschlussmedien‹ produktiv zu machen ist, lassen sich für die mediävistischen Literaturwissenschaften derzeit wohl am besten mit Blick auf Kunstgeschichte und hier auf Arbeiten zur Buchmalerei aus spätmittelalterlichen Frauenklöstern gewinnen: Miniaturen und Illustrationen in Chor- und Gebetbüchern, in Legendaren und Heiligenbüchern dokumentieren nicht nur das hohe theologische und liturgische Bildungsniveau der Nonnen, sondern demonstrieren in Text und Bild ein ausgeprägtes Sensorium für die intermediale Ästhetik der Liturgie. Das hier vorgestellte Konzept kann sich auf Jeffrey Hamburger berufen, der dem »feingewebten Teppich aus Text und Bildern, der sich über die Seiten des Manuskripts [hier: eines Graduale, C. E.] zieht«, explizit das Vermögen zuspricht, eine »liturgische Ästhetik« zu entwickeln.Footnote 39 Dass die liturgischen Bücher zu einem zentralen Medium der Selbstverständigung eines Konvents werden können, dem die Nonnen sich in Bild und Text selbst einmalen und -schreiben, zeigen die interdisziplinären Analysen zu den Chorbüchern aus dem Dominikanerinnenkonvent Paradiese bei Soest ebenso wie zu den Gebetbüchern aus den norddeutschen Heideklöstern: Auswahl, Textierung und Zusammenstellung der Gesänge werden in den aufwändigen Illuminationen reflektiert, kommentiert und gedeutet.Footnote 40 Das theologische und ästhetische Potential der liturgischen Handschriften erweist sich dabei im Zusammenspiel aus biblischen und liturgischen Intertexten und ihren medialen Repräsentationen (z. B. singenden Nonnen- und musizierenden Engelfiguren, textierten Spruchbändern).Footnote 41 Die Kunsthistorikern Judith Oliver beobachtet für die textierten Bildinitialen und die farbig ausgezeichnete Musiknotierung im Codex Gisle aus dem Zisterzienserinnenkonvent Rulle bei Osnabrück, dass und wie in der Handschrift »[w]ord, image and music […] fuse into a multisensory devotional experience«, in der »[i]mages resonate with song; [and] words and notes radiate with color«.Footnote 42 Sie bezeichnet dieses Verfahren als ›liturgical‹ bzw. ›symbolic synaesthesia‹Footnote 43 und ordnet es dezidiert den Repräsentationen mystischer Erfahrung zu.Footnote 44 Dass die kunstgeschichtlichen Beiträge als Analogiefälle zu den Beobachtungen an den Chorbüchern dabei immer wieder auf die liturgischen Visionen einer Mechthild von Hackeborn oder Gertrud von Helfta verweisen, zeigt nicht nur die Interdependenz des visuellen und visionären Paradigmas an,Footnote 45 sondern macht den intermedialen Zuschnitt des Konzepts der liturgischen Ästhetik deutlich. Über die Verflechtung von visueller Repräsentation, visionärem Akt und liturgischer Praxis führen die Chorbücher ebenso wie die Offenbarungstexte exemplarische Modelle spiritueller Devotion vor, die sowohl auf die Exegese als auch auf die performative Identifikation mit den biblischen und liturgischen Intertexten und ihre heilsgeschichtliche Verortung in Zeit und Raum zielen.Footnote 46

Schließlich sind unter dem zusammenfassenden Gesichtspunkt des Sakralraums als liturgischem Zeit- und Klangraum die historischen Musikwissenschaften mehr als nur weiterer Stichwortgeber. Für eine als textuelles Paradigma verstandene liturgische Ästhetik dürften sie grundlegende strukturelle und performative Rekonzeptualisierungen ermöglichen: sowohl was die synästhetische Qualität der Süße im cantus, der gesungenen Liturgie anbelangtFootnote 47 als auch hinsichtlich der Korrespondenzverhältnisse von irdischer und transzendenter LiturgieFootnote 48 oder im Verhältnis von Liturgie und Schrift.Footnote 49

In diesem Sinne ist das Konzept einer liturgischen Ästhetik als Kategorie literarischer Texte auszuloten und weiter zu entwickeln. Methodisch könnten sich dabei folgende Zugriffe als produktiv erweisen:

  1. 1)

    konventionelle Text-Text-Beziehungen, die jedoch dadurch verkompliziert sind, dass liturgische Texte immer schon (Inter‑)Texte zweiter oder dritter Ordnung sind und Bezugnahmen entsprechend pluralisieren und verunklaren. Neben den biblischen Prätexten sind hier auch die wirkmächtigen Liturgieallegoresen z. B. des Wilhelm Durandus zu nennen, die einen semantischen (Text‑)Fundus eigenen Rechts darstellen.Footnote 50 Im intertextuellen Rezeptionsprozess ist daher mit mehrfachen semantischen Schichtungen ebenso wie mit Filtern zu rechnen.

  2. 2)

    Referenzen auf Zeit und Ort liturgischer Handlungen sowie auf Handlungen und Akteure selbst, die wiederum sprachlich aber auch rein bildlich – etwa in textilen Metaphern – repräsentiert sein können.Footnote 51

  3. 3)

    intermediale Referenzen im manifesten Text, also Verweise auf Bild‑, Klang- und Duft- oder Geschmackswahrnehmungen, die in liturgisches Handeln und liturgische Texte integriert sein können oder mit ihnen in Bezug stehen.

  4. 4)

    intergenerische Referenzen, die aus der für liturgische Texte durchaus typischen Verbindung von heilsgeschichtlichem Narrativ und diskursivem Lobpreis ästhetisches Potential generieren.

4 Liturgische Ästhetik als andere Ästhetik

Anschließen kann eine derart konzeptualisierte Form liturgischer Ästhetik als Kategorie der Textwissenschaften an ältere Vorschläge zur theologischen und religiösen Ästhetik,Footnote 52 die in der germanistischen Mediävistik lange mit einer Fokussierung auf die Sprachbildlichkeit und Metaphernproduktion geistlicher, insbesondere mystischer Texte verbunden war, neuerdings jedoch verstärkt synästhetische VerfahrenFootnote 53 und insbesondere Klangästhetiken einbezieht, die bereits vielfach mit liturgischen Bezügen operieren.Footnote 54

Insbesondere aber lässt sich der Ansatz einbinden in die rezenten Bemühungen der mediävistischen Disziplinen um Konzepte vormoderner Ästhetik(en),Footnote 55 wie sie unter dem Leitstichwort der ›anderen Ästhetik‹ vor allem im Tübinger SFB 1391 ausgelotet werden.Footnote 56 Es muss dabei zum Zweck dieser Skizze genügen, am Beispiel dieses Forschungsverbundes darauf hinzuweisen, dass ein solcher Anschluss auf eine aufschlussreiche Leerstelle im Rahmen der auch allgemein festzustellenden Wende zur historischen Ästhetik verweist.

Diese Leerstelle wird bereits sehr deutlich aus unterschiedlichen Richtungen angezielt, zum einen bereits durch das Vorgängerprojekt, an das der Forschungsverbund zur ›Anderen Ästhetik‹ institutionell anschließt und das dem Begriff des ›Religiösen Wissens‹ galt.Footnote 57 Dieses Projekt stellt sich rückblickend als Teil einer Art geistlichen Wende dar, die sich für die germanistische Mediävistik in letzter Zeit sehr deutlich abzeichnet.Footnote 58 Andererseits ist, vor allem im Zusammenhang mit den Anregungen der historischen Emotionsforschung und ihrer Akzentuierung der Performativität älterer Literatur, ein breites Interesse an der historischen Neubewertung ästhetischer Grundbegriffe zu verzeichnen.Footnote 59 Der Erfolg dieser Bemühungen ist bereits daran abzusehen, dass schon in den Titelbezeichnungen der jüngeren Publikationen die Ästhetik dem älteren Leitstichwort der Poetik den Rang abgelaufen hat.Footnote 60

Die damit indizierte grundsätzliche Verschiebung des Begriffsinteresses – vom Text und seiner Poetik zum performativen Kontext und der darin entstehenden Ästhetik – birgt aber auch ein Risiko, das die Frage nach der liturgischen Ästhetik mit in den Blick nehmen könnte. Sie ließe sich nämlich nicht nur genauer an der Schnittstelle zwischen den Bemühungen um die geistliche Literatur auf der einen und der allgemeineren Frage nach ästhetischen Prozessen auf der anderen Seite ansiedeln. Darüber hinaus könnte sie vielmehr auch textwissenschaftlich, analog zur literaturwissenschaftlichen Poetologie, die rhetorisch-poetischen Regeln der Liturgie nachzeichnen – und dennoch zugleich die ästhetischen Effekte des liturgischen Vollzugs in den Blick nehmen. Denn die entsprechenden Texte der mystischen oder allgemein geistlichen Literatur, die auf den liturgischen Vollzug rekurrieren, dokumentieren beides: poetische Regelhaftigkeit und ihre ästhetische Aufhebung im liturgischen Vollzug zwischen Reflexion und Teilhabe.

5 Vermessungen im Feld der liturgischen Ästhetik: Zu den Beiträgen dieses Hefts

Die Beiträge dieses Hefts verstehen sich als Vermessungen und Probebohrungen im Feld einer als Kategorie literarischer Texte verstandenen liturgischen Ästhetik. Sie beanspruchen nicht, dieses Feld in Bezug auf Textsorten und Referenzmöglichkeiten abzustecken, liefern aber Anstöße für weitere Explorationen.

Zwei Beiträge beziehen sich in einem engeren Sinne auf liturgische Texte und geben dem Heft zugleich einen zeitlichen Rahmen: Andreas Kraß untersucht deutschsprachige Übersetzungen der frühmittelalterlichen lateinischen Sequenz Johannes Jesu Christo, die den Evangelisten Johannes als Jünger, den Jesus liebte, ins Zentrum stellt. Die Sequenz, eine besonders festliche liturgische Liedform, die im Zentrum der Messe den oder die Heiligen des Tages verehrt, in dem sie narrative Versatzstücke seiner Vita in gattungsüblichen Metaphern fasst, zeichnet sich dadurch aus, dass sie Johannes in vielfältigen weltlichen und geistlichen Verwandtschaftsverhältnissen zeigt, v. a. als Sohn der Gottesmutter und als Braut Christi. Deutschsprachige Prosaübersetzungen der Sequenz finden sich vor allem in Gebetbüchern aus Frauenklöstern. Der Zusammenhang mit dem Formular der Messe ist hier gelockert, stattdessen wird die Sequenz mit anderen liturgischen Liedern, z. B. Johannes-Hymnen, kombiniert. Mit dem Wechsel von Sprache und Form geht dabei nicht nur eine veränderte Funktionsbestimmung des Textes vom Gebrauch in der Messe zum persönlichen Gebet einher, sondern auch eine Perspektivverschiebung auf den Lieblingsjünger: Die wiederholte Bezeichnung als juncfrauwe Christi macht Johannes zu einer Identifikationsfigur für jene religiösen Frauen, welche die deutschsprachigen Übersetzungen in den Gebetbüchern lesen oder meditieren. Kraß plädiert dafür, im ästhetischen Layout der volkssprachigen Gebetbücher eine Kompensation für die im schriftlichen Text nicht darstellbaren ästhetischen Dimensionen der liturgischen Performanz zu sehen.

Der Beitrag von Pavlina Kulagina führt im Gegenzug zu den zeitlichen Ausläufern spätmittelalterlicher Frömmigkeit im 16. Jahrhundert. Er stellt einen geistlichen Einblattdruck von Dürer ins Zentrum, der einen Holzschnitt mit Passionsmotiv (Christus am Kreuz mit Maria und Johannes) mit einer deutschsprachigen Übersetzung der Sequenz Patris sapientia kombiniert. Kulagina kann anhand der deutschsprachigen Rezeption des Textes zeigen, dass die ursprüngliche Einbindung der Sequenz in das Stundengebet in den deutschen Bearbeitungen auf unterschiedliche Weise gelöst wird. Auch im Einblattdruck ist die liturgische Funktion einerseits aufgegeben, andererseits wird der Zusammenhang mit den Tagzeiten neu hergestellt, indem die Überschriften zu den einzelnen Strophen diese als Gebete zu den Horen ausweisen. Als Text-Bild-Medium wird das Flugblatt – auch auf Grund seines ungewöhnlichen Querformats, das es als Andachtsobjekt besonders qualifiziert – damit zu einem Gegenstand einer individualisierten Andacht für Laien.

Die Beobachtungen von Christian Schmidt lassen sich als Komplement zu den Beobachtungen von Kraß und Kulagina lesen: Statt eines Prozesses der Laikalisierung liturgischer Texte verweisen sie auf die liturgische Rückbindung legendarischer Texte. Ausgangspunkt sind für Schmidt lateinische Zeilenfüllsel an den Abschnittsenden in der Handschrift einer niederdeutschen Vita zur Hl. Elisabeth von Thüringen. Schmidt macht plausibel, dass die hier genannten, jeweils rubriziert eingetragenen Stichworte wie Ave Maria oder Veni sancte spiritus auf die pragmatische Rezeption der Legende hindeuten: Es handelt sich um Initien und Kürzestzitate liturgischer Lieder und Gebete, die darauf verweisen, dass die Lektüre der Vita zugleich als rhythmisierte devote Praxis der Heiligenverehrung zu denken ist. Solche meditativen Aneignungen von Legenden führt Schmidt als Gegenbeleg zu der in der Forschung vertretenen These von einer literarischen Autonomisierung der Legende im späten Mittelalter an.

Gleich mehrere Beiträge loten das ästhetische Potential von Liturgiereferenzen in Visionen und Offenbarungen religiöser Frauen aus.

Tanja Mattern untersucht den Liber visionum der Benediktinerin Elisabeth von Schönau, deren Visionen eng mit dem liturgischen Festzyklus des Kirchenjahres verbunden sind und im Kontext der Literatur religiöser Frauen des europäischen Mittelalters einen innovativen literarischen Typus ›liturgischer Visionen‹ etablieren. Insbesondere in Buch I des Liber ist die intensive räumliche Schau des für den jeweiligen Festtag einschlägigen Heilsgeschehens charakteristisch. Die Visionärin vermittelt sie als stumme Ekphrasen, die allein das visuell wahrnehmbare Geschehen wiedergeben, nicht aber wörtliche Reden des geschauten Figurenpersonals. Dabei kann Tanja Mattern zeigen, dass die Prätexte für Elisabeths Schauen nicht allein in den Evangelientexten bestehen, sondern ebenso in performativen liturgischen Formen wie Osterfeiern. Den spezifischen, auch ästhetischen Mehrwert dieser Visionen des ersten Buchs bindet der Beitrag an die Zielsetzungen der Hirsauer Reform, denen Elisabeths Kloster Schönau verpflichtet war: Sie stellen die Liturgie als zentrale Aufgabe des Konvents in den Mittelpunkt, führen über die Öffnung in einen transzendenten Raum aber zugleich über die Klausur des Klosters hinaus. Dass sich die Visionen in den späteren Büchern des Liber von der engen Bindung an das liturgische Geschehen der Festtage lösen, schreibt der Beitrag dem zunehmenden Einfluss von Elisabeths Hagiographen Ekbert zu, der ihre vergegenwärtigenden Schauen stärker auf die diskursive Produktion von geistlicher Lehre ausrichtet.

Im Offenbarungsbuch Legatus divinae pietatis der Helftaer Zisterzienserin Gertrud von Helfta zeigt sich die literarische Arbeit am Muster der liturgischen Vision. Dem Chorgebet kommt in Helfta, wie sich am Liber specialis gratiae der Mechthild von Hackeborn zeigen lässt (vgl. oben Abschn. 1), eine zentrale Funktion für das spirituelle Selbstverständnis der Nonnen zu. Gertrud von Helfta lotet demgegenüber die Möglichkeiten einer Partizipation an der offiziellen Liturgie auch im Privatgebet aus, auf das die Visionärin aus gesundheitlichen Gründen immer wieder beschränkt ist. Franziska Kellermann nimmt am Beispiel des visionären Geschehens zu Maria Lichtmess (Legatus IV,9) die Spannungen in den Blick, die sich für die Visionärin aus der Opposition von Chor- und Privatgebet ergeben. Im Offenbarungstext werden sie übersetzt in ein komplexes Gefüge aus liturgischen Raum- und Zeitverweisen. Gertruds Visionen vollziehen das Chorgebet auf diese Weise nach, leisten aber zugleich eine semantische Entfaltung und Deutung der Liturgie, die dem Konvent wiederum zugutekommt. Der liturgische Wert des Privatgebets wird so gesichert und legitimiert und zugleich der Beitrag der begnadeten Visionärin für den Konvent unterstrichen.

Claire Taylor Jones widmet sich Liturgiereferenzen in den Kurzviten der dominikanischen Schwesternbücher, die ebenfalls vielfach im Zusammenhang mit Berichten von visionären Erfahrungen der Schwestern stehen. Jones fasst das Referenzsystem der dominikanischen Liturgie methodisch als ›Intertext literarischer Produktion‹ auf, über den insbesondere ästhetisch-kreative Bedeutungsvalenzen in die Vitentexte eingespielt werden. Die Visionsberichte der Viten setzen dabei nicht allein das Geschehen des Festtags ins Bild, sondern bieten vielmehr eine Auslegung der gesungenen liturgischen Texte. Die Kenntnis des liturgischen Intertexts wird dabei vielfach vorausgesetzt oder allenfalls anzitiert. Diese produktive Auseinandersetzung mit den lateinischen Texten und Gesängen der Liturgie von Offizium und Messe lässt sich als eigenständiger theologischer Beitrag der dominikanischen Schwestern verstehen und unterstreicht, ganz im Sinne der jüngeren Forschungsdebatten, das Bildungsniveau auch in solchen Klöstern, deren Textproduktion sehr bewusst die Volkssprache nutzt.

Die drei Beiträge machen auf je eigene Weise deutlich, dass die Visionstexte religiöser Frauen besonders ergiebige Explorationsfelder für eine vor dem Erfahrungs- und Wissenshintergrund monastischer Liturgie im Text emergierende liturgische Ästhetik sind. Das Potential der liturgischen Intertexte ermöglicht dabei die räumliche Öffnung und performative Intensivierung der Schau (Elisabeth von Schönau) sowie die Legitimierung eines die Liturgie meditierenden Privatgebets als Stellvertretung für das Chorgebet (Gertrud von Helfta). Bezugnahmen auf die Liturgie können aber auch zum Gegenstand von Exegese und Allegorese werden (Schwesternbücher) und die Visionstexte zu einem insbesondere von geistlichen Frauen nutzbaren theologischen Aussagemedium machen. Die Beiträge verdeutlichen zugleich, dass die spezifische Ästhetik der Visionstexte nicht auf eine Freistellung von pragmatischen Zwecken zielt, sondern ganz im Gegenteil in eine spirituell-theologische Bedeutungsproduktion eingebunden ist.

Der Beitrag von Jörg Bölling und Gesa Heilmann widmet sich mit dem neukatholischen Roman Gertruds von LeFort schließlich einem literarischen Entwurf für die moderne Rezeption mittelalterlicher liturgischer Praxis. In der unvorbereiteten Begegnung der protestantisch getauften Protagonistin des Romans Das Schweißtuch der Veronika (1928) mit der Karfreitagsliturgie im Vatikan können die ästhetischen Valenzen des liturgischen Ritus deshalb so unmittelbare Wirkung entfalten, weil sie anders als für die monastischen Frauen des Mittelalters erratisch, unverstanden und vom Wissenshorizont der liturgischen Texte abgekoppelt bleiben. Aber gerade weil die Figur der Veronika die liturgischen Zeichen nicht zu lesen und zu deuten versteht, kann sie affiziert werden von ihrer symbolischen Bedeutung, die ihr ein quasi mystisches Gotteserlebnis verschafft. Die Ästhetik der Karfreitagsliturgie würde sich hier demnach gerade jenen – der Figur des Romans ebenso wie der konvertierten Autorin LeFort – vermitteln, die das liturgische Ritual als Beobachter verfolgen, ohne schon als Teilnehmer an ihm zu partizipieren. Dies wiederum verbindet die Protagonistin des Romans mit der Position der (Literatur‑)Wissenschaftler*in, die – fasziniert von der ›anderen Ästhetik‹ des literarischen Gegenstands – in die intermedialen Dimensionen der liturgischen Ästhetik eintauchen muss, um sie anschließend methodisch kontrolliert und in gebührender Distanz zum Gegenstand beschreiben zu können.