1 Einleitung

Die Liturgie hat als Text und Praxis sowohl eine strukturierende als auch semantisierende Funktion für die Zeit im Kloster. Sie gliedert den klösterlichen Alltag sowie das Kirchenjahr und versieht die Tagzeiten, Tage und Wochen durch die gelesenen und gesungenen Inhalte mit Bedeutung. Diese semantische Strukturierungsleistung gilt ebenso für die räumliche Gestaltung eines Konvents, die durch liturgische Vorgaben bestimmt ist.Footnote 1 In Form der Nennungen von Festtagen, Tagzeiten, Klosterräumen und liturgischen Gesängen lässt sich die Liturgie als zentraler Referenzrahmen für den im späten 13. Jahrhundert im Zisterzienserinnenkloster Helfta entstandenenFootnote 2Legatus divinae pietatisFootnote 3 festhalten. Sowohl der umfangreiche Text als auch das visionäre Geschehen werden über diese Verweise zeitlich angeordnet,Footnote 4 inhaltlich gerahmt und stimuliert.Footnote 5 Jenseits der zeitlichen Bezüge finden sich auch Hinweise auf liturgische Räume im Legatus.Footnote 6

Doch geht Liturgie funktional über diese strukturelle Ebene hinaus, da das klösterliche Gebet den performativen Vollzug einschließt: Sie ist als ein komplexes intermediales Zusammenspiel zu verstehen, das auf eine immer wieder neu zu konstituierende Aktualisierung der Heilsgeschichte abzielt. Lineare und zyklische Zeitrhythmen werden im monastischen Kollektivgebet synchronisiert, Texte gelesen, gehört und gesungen und somit an einem Ort versammelt, kombiniert und dadurch dynamisiert.Footnote 7 Die diesem kollektiven Vollzug inhärente Gleichzeitigkeit wird notwendigerweise durch eine ›Gleichräumigkeit‹ ergänzt: Die Untrennbarkeit von Zeit und Raum wird anhand der Liturgie besonders erfahrbar, wie gleichfalls die Verbundenheit von liturgischem Vollzug, Zeit und Raum.Footnote 8

In diesem Zusammenhang stellt es ein Problem dar, wenn eine Konventualin aufgrund von Krankheit von der Gemeinschaft isoliert ist. Indem die liturgische Mitfeier räumlich eingeschränkt wird, scheint die kollektive Performanz für sie erstarren zu müssen. Besonders in Buch IV des Legatus ist dieses Problem virulent.Footnote 9 Es verdichtet sich im Ausruf der bettlägerigen Visionärin Gertrud am Festtag Mariä Reinigung:

O si nunc, Domine mi, locorum distantia non impedirer, posset cor meum saltem per aliqua verba cantus ad delectandum in te provocari! (LDP IV,9,2)

›Würde mich, Herr, jetzt die örtliche Entfernung nicht behindern, so könnte mein Herz wenigstens durch einige gesungene Worte zur Freude in dir angeregt werden.‹ (Übers. Brem [s. Anm. 3], Bd. 3, S. 105)

Ablesen lassen sich an dieser Stelle nicht nur die bereits aufgezeigten Parameter einer Liturgie, sondern auch eine Statik, die sich in der direkten Rede manifestiert: Im Mittelpunkt stehen der Herr und das gläubige Ich (Domine mi), die umschlossen sind von Zeit (nunc), Raum (locorum distantia) und Gesang (aliqua verba cantus).

Die frühe theologische Beobachtung durch Cyprian Vagaggini, dass die Liturgie im Legatus divinae pietatis »nicht nur den äußern Rahmen, sondern auch den innern Angelpunkt ihres [Gertruds, F. K.] Daseins«Footnote 10 biete, ist auch für den vorliegenden Beitrag leitend: Ausgehend vom skizzierten räumlichen Dilemma und anhand der Oppositionen von Außen und Innen bzw. Rahmen und Kern ist im Folgenden erstens eine präzise Beschreibung dieser »ganz eigene[n] Form der visionär-liturgischen Mystik«Footnote 11 angezielt, für die räumliche Konzepte zentral sind. Die performative Qualität der Liturgie wird demnach im Visionstext analytisch über die Kategorie des Raums nachgezeichnet.Footnote 12 Daraus ergibt sich zweitens ein Interesse, das stärker auf die Diskussion der Liturgie im frauenklösterlichen Zusammenhang und ferner der literarischen Produktion an diesem Ort ausgerichtet ist. Die detaillierte Analyse der literarischen Bewegungen durch Raum und Zeit soll die These eines dynamischen Konzepts von Liturgie im Legatus stärken: Kollektiv- und Privatgebet werden gegeneinander abgewogen und letztlich als reziproke Frömmigkeitsformen liturgisch abgesichert. Die gemeinsame Chorliturgie wird in den Innenraum der Visionärin verlagert und das private Einzelgebet zugleich zu einem fluiden Raum-Zeit-Gefüge ausgestaltet, in dem sich die Liturgie alternativ vollziehen und weiterdenken lässt. Auf diese Weise setzt der Visionstext Individualität und Kollektivität wechselseitig immer wieder zueinander in Spannung und bringt sie miteinander in Einklang.Footnote 13 Liturgie kommt folglich als doppelter Referenzpunkt in den Blick, der den Visionstext nicht nur strukturell prägt, sondern selbst durch die Ästhetisierung wiederum weiterentwickelt wird. Das Verhältnis von Liturgie und Visionstext ist daher interdependent zu denken und es ist im Folgenden zum einen zu diskutieren, wie die wechselseitigen Bezüge im Sinne einer liturgischen Ästhetik zu bewerten sind, und zum anderen, inwiefern sich die exemplarischen Befunde für die Funktion des Legatus in seinem monastischen Kontext neu perspektivieren lassen.Footnote 14

2 Text- und Raumdynamiken

Die Entstehungs- und Gebrauchszusammenhänge des Legatus in Helfta als einem Kloster hochgradig gebildeter FrauenFootnote 15 sind vor allem vor dem Hintergrund der vielschichtigen Textstruktur diskutiert worden. Lange war der Legatus ausschließlich in der sog. Standardfassung überliefert, worunter ein lateinischer Visionstext in fünf Büchern verstanden wird, in dessen Mittelpunkt die Visionärin Gertrud von Helfta steht. Markant ist der Wechsel der Erzähl- bzw. Sprechhaltungen, der für die Diskussion der Textgenese nicht unerheblich ist: Während Buch II eine autodiegetische Sprechinstanz aufweist, stellen die Bücher I sowie III–V Berichte einer überwiegend heterodiegetisch-hagiographischen Erzählinstanz dar, die in Buch V als compilatrix (LDP V,34) greifbar ist. Während einerseits die hagiographische Instanz als maßgeblich verantwortliche redaktionelle Hand diskutiert worden ist,Footnote 16 wird inzwischen andererseits wieder verstärkt die These einer kollektiven Verfasserschaft für den Legatus vertreten.Footnote 17 Argumentativ erwogen wurde dafür auch die Komposition der »umfangreiche[n] Materialsammlung«Footnote 18, wie Bernard McGinn den Legatus bezeichnet: Buch I stellt mit Wunder- und Zeugenberichten deutlich ein hagiographisches Bemühen in den Vordergrund, während Buch V den Legatus mit Sterbeberichten und -visionen beschließt. Die Bücher III und IV versammeln Visionen Gertruds nach unterschiedlichen Verfahren. In Buch III lässt sich tendenziell eine thematische Ordnung erkennen, Buch IV ist streng nach dem liturgisches Festkreis organisiert.Footnote 19 Somit arbeitet die Anordnung dem Syntagma eines heiligmäßigen Lebens Gertruds zuFootnote 20 und lässt sich gleichzeitig poetologisch als Autorisierungsstrategie für den Visionstext verstehenFootnote 21. Der Fund des ältesten Textzeugen in einer Leipziger Handschrift in jüngerer Zeit bestätigt den kompilativen Status des Legatus: Die sog. Sonderausgabe enthält Textpassagen, die der Standard-Legatus nicht kennt, und besitzt darüber hinaus eine andere Ordnung.Footnote 22 Diese Befunde und Positionen sind für die weiteren Überlegungen präsent zu halten, da sie den unfesten Status eines kompilativen Texts spiegeln, der einerseits eine einzelne Visionärin ins Zentrum rückt und dementsprechend um Legitimation bemüht ist und sich andererseits in redaktioneller Bewegung befindet, die von einem Kollektiv verantwortet wird.

Die Textgeschichte wirft ebenso wie die Geschichte des Klosters Helfta noch immer Fragen auf, dies gilt auch für die historische Anlage des Konvents und für die damit verbundenen räumlichen Gegebenheiten des Gebets. Neben historischen und archäologischen Befunden, die Cornelia Oefelein ausgewertet hat,Footnote 23 weist Ulrike Wiethaus auf den Legatus selbst als Quelle hin, der durch seine topografischen Details einen Einblick in die Bauweise des Klosters gewährt. Insbesondere aber kann sie für den Visionstext herausarbeiten, wie historisches Klostergebäude und imaginierte Räume in wechselseitigem Bezug zueinanderstehen.Footnote 24 Schon an Gertruds Initialbegnadung in Buch II lässt sich das besondere Verhältnis von Innen- und Außenräumen erkennen: Die geistliche Kehre ist gerade nicht innerhalb der geordneten Klostermauern verortet, sondern an einem natürlichen Ort außerhalb des Konvents, einem Fischteich. Innere Hinwendung zu Gott und äußere Umgebung werden geradezu chiastisch miteinander verschränkt.Footnote 25 Beobachtungen zu den literarischen Verfahren der Raumstiftung im Legatus bietet auch Jeffrey Hamburger: Anhand der Passionsvisionen in Buch IV kann er zeigen, wie sich Wechsel der Räume und Zeiten als Konstitutionswechsel der Visionärin verstehen lassen. Dieses Konzept der Innerlichkeit zeige sich im Text als »a series of radical dislocations in time as well as space«Footnote 26. Im Unterschied zu Wiethaus betont er allerdings weniger die Reziprozität dieser Räume und Zeiten, sondern stellt die lineare, auf einen inneren Zielpunkt zulaufende Richtung dieser Ortswechsel und Grenzüberschreitungen heraus.Footnote 27 Diese Beobachtung korreliert mit der These zur leitmotivischen Herzensraummetaphorik von Sabine Spitzlei: Die gemeinschaftliche Liturgiefeier rege nachgerade zu einem »innerseelischen Vollzug«Footnote 28 an und werte dadurch das individuelle Gebet auf.Footnote 29 Diese Lektüren betonen zurecht die unverkennbare Individualität der Begnadung, sind jedoch einerseits auf die Protagonistin Gertrud fokussiert und unterschätzen andererseits die Katalysatorfunktion, die dem Text zuzusprechen ist, indem er die Möglichkeit bietet, diese Alternative schriftsprachlich zu entwerfen.Footnote 30 Nicht zuletzt scheint das räumliche Dilemma der Visionärin diametral zu der Beobachtung zu stehen, dass visionäre Räume im Legatus tendenziell unbestimmter und abstrakter bleiben, während Zeiten hingegen präziser benannt werden.Footnote 31

Die jüngeren kulturwissenschaftlich geleiteten Überlegungen zu (Innen‑)Räumlichkeiten in mittelalterlicher Literatur eröffnen hier weitere Deutungsperspektiven, die auch die Verschränkung von Liturgie und Legatus noch einmal neu beleuchten können.Footnote 32 Gemein ist den in soziologischen Denkhorizonten stehenden Forschungszugängen, dass sie architektonische Räume selbst als Produkte eines sozialen Handelns verstehen, das prozesshaft und unabgeschlossen ist. Dieses dynamische Raumverständnis wird auch durch statisch konzipierte Räume nicht konterkariert, da diese durch Grenzüberschreitungen immer wieder prozessualisiert werden können.Footnote 33 Es eignet sich daher dazu, in einer literarischen Verwendung besonders solche Denkfiguren aufzufangen, die selbst dynamisch gedacht werden, da Bedeutungszuweisung und -konstitution zwar unterschieden, jedoch nicht voneinander losgelöst verstanden werden: »›Innenräume‹ erscheinen also noch da, wo sie an physische Räume gebunden sind, als Funktionen kommunikativer Sinnzuschreibung, so daß Räumlichkeit nicht nur als Bildspender für Deutungsfiguren erscheint, sondern zugleich über ihre vermeintliche Objektivität solchen Modellen Anschaulichkeit und Evidenz verleiht.«Footnote 34 Literarische Innenräume können also gleichzeitig Fluchtpunkt des Darzustellenden und Zielpunkt der Darstellung sein.

Für eine Verhandlung der Liturgie, die sich als intermediales Zusammenspiel selbst mit der Denkfigur der doppelten Referenzialität verstehen lässt, können sie daher produktiv sein: Die Präsenz in Raum und Zeit, in der das soziale bzw. liturgische Zusammenspiel von rituellen Handlungen und memorialen Lektüren stattfindet, zielt auf Kontakt mit dem Transzendenten ab. In diesem Sinne strukturiert die Liturgie diesen Vorgang physisch in Zeit und Raum vor.Footnote 35 Zugleich ist die Liturgie aber auch Zielpunkt dieses Zusammenspiels, da Tagzeiten und architektonische Räume durch den rituellen Vollzug fortlaufend mit Bedeutung angereichert werden.Footnote 36 Der Liturgie selbst wohnt damit eine reziproke Bewegung inne, die durch die textuelle Einbindung potenziert wird. Diese intermedialen Zusammenhänge führen Elke Koch und Heike Schlie in ihren Überlegungen zu sakralen Räumen aus: »Die mediale Formierung des Sakralen in der christlichen Kultur des Mittelalters verstehen wir daher als etwas, das nicht schon in den Objekten – Bildern, Texten, Architektur, etc. – abgeschlossen ist, sondern sich in der Erfahrung und dem religiösen Handeln der Mitglieder dieser Kultur manifestiert.«Footnote 37 Die kulturelle Leistung liege mithin in der Verschränkung architektonischer und imaginierter Räume und insbesondere, so Koch und Schlie, »[d]ie Liturgie mach[e] vielfach von solchen Verfahren Gebrauch«Footnote 38.

Wenn die Visionärin also immer wieder danach fragt, wie die räumliche Abgeschiedenheit vom Konvent kompensiert werden könne, wird auf ein Problem verwiesen, das nicht nur im Sinne einer eindimensionalen Verinnerlichung den individuellen Vollzug, sondern auch die fortlaufende Arbeit an der kollektiven Semantisierung der Liturgie betrifft. Dieser Beitrag geht davon aus, dass der Legatus konstruktiv an diesem Problem arbeitet. Am Beispiel von reziproken Wechseln zwischen klösterlichen und imaginierten Räumen, Innen und Außen, liturgischem Geschehen und visionärer Schau soll daher herausgearbeitet werden, wie die skizzierte zeiträumliche Bewegung alternativ in den literarischen Text hineingeholt und die Spannung zwischen verinnerlichter und kollektiver Liturgie poetisch prozessiert wird.

Die Analyse untersucht exemplarisch Kapitel IV,9, das sich in zweierlei Hinsicht für die entwickelte Fragestellung empfiehlt: Zum einen wird in Form eines mise-en-abyme das Problem der räumlichen Abgeschiedenheit der Visionärin vom Konvent thematisiert. Zum anderen hat der Festtag Mariä Reinigung als Marienfest, das mit einer Prozession begangen wird, einen besonderen Status: Der performative Charakter der Chorliturgie ist hier nochmals verstärkt und die individuelle Isolation scheint umso prekärer.Footnote 39 Ausgangspunkt der Untersuchung sind die Hinweise auf die Liturgie, die intertextuell und funktional zu befragen sind.Footnote 40 Daran anschließend lässt sich diskutieren, ob und wie sich diese metapoetischen Bewegungen im Sinne Niklaus Largiers als ein »Skript[]«Footnote 41 fassen lassen, das die (auch räumlich) vollzogene Performanz der Chorliturgie in eine schriftliche Form überführt und wiederum den Nachvollzug in der Rezeption stimuliert.Footnote 42

3 Formen der Reziprozität in der Vision am Festtag Mariä Reinigung (LDP IV,9)

3.1 Versenkung. Von der Chorliturgie zur Privatliturgie

Kapitel IV,9 über den Festtag Mariä Reinigung wird, wie alle Kapitel in Buch IV, diskursiv mit einer Überschrift, die das Fest benennt, angekündigt und ist in acht nummerierte, unterschiedlich lange Abschnitte eingeteilt. Das erste und das letzte Unterkapitel verweisen explizit auf das Zeichen zur Matutin bzw. eine Prozession in der Kapelle; dazwischen wird ebenso explizit auf einzelne Responsorien und Antiphonen (Abschnitte 3 und 6) angespielt. Den Kern des Festtagkapitels bilden der vierte und fünfte Abschnitt mit der Darstellung des Herrn nach dem Lukasevangelium, diese beiden Abschnitte werden jedoch nicht ausdrücklich als liturgischer Text oder Teil der Prozession markiert.Footnote 43 Mit diesen Anhaltspunkten spielt das Kapitel lose auf den liturgischen Ablauf an, ein stringenter Verlauf des gesamten Festtags, der auf unterschiedliche Tagzeiten oder die Messe rekurriert, lässt sich jedoch nicht erkennen.Footnote 44

Die Nennung des Festtags wird zu Beginn wiederholt, intradiegetisch durch den Schlag zur Matutin auch auditiv greifbar, der bei Gertrud Freude auslöst: Purificationis beatae Virginis festo devoto, dum ad Matutinas audiret primum signum pulsari, gaudens in spiritu ait ad Dominum[.] (LDP IV,9,1)Footnote 45 Sowohl die Visionärin als auch der Herr übertragen das Zeichen in eine quasi-physische Affizierung: Gertrud berücksichtigt dabei den Klang (sonitu signi istius, LDP IV,9,1), der die Begrüßung ihres Herzens und ihrer Seele (cor meum et anima, ebd.) repräsentiere, der Herr dagegen überführt den einmaligen Schlag in einen Rhythmus, nach dem sein Innerstes vollständig für sie pulsiere (omnia viscera pietatis meae pulsant pro te, ebd.).Footnote 46 Der Schlag, der als Strukturelement der ganzen Gemeinschaft die Gebetszeit anzeigt, kann von Gertrud demnach gehört werden, wird jedoch lediglich auf sie und ihren individuellen Austausch mit Gott bezogen.

Der gemeinschaftliche Rahmen wird im anschließenden Abschnitt implizit aufgerufen, wenn Gertrud ihre Abwesenheit vom Chor beklagt. Sie wünscht zu hören, was gesungen wird, kann dies aber nicht verstehen, weil sie bettlägerig ist, was eigens betont wird: sed lecto decumbens nequiret intelligere (LDP IV,9,2). Während der Schlag als strukturelles Zeichen demnach hörbar ist, bleibt der Gesang verborgen und die Liturgie zunächst inhaltlich unausgefüllt. Es folgt eine stellvertretend zu vollziehende Gebetshaltung, die ihr der Herr nahelegt: ›Si ignoras, carissima, quid modo cantetur in choro, convertere ad me, et diligentius considera quid agatur in me, qui sum contentivus omnium quae unquam possunt delectare te.‹ (LDP IV,9,2)Footnote 47 Die Chorliturgie erscheint so zwar nicht abgelöst oder abgewertet, doch es wird ihr eine alternative Form des liturgischen Vollzugs durch göttliche Autorität korreliert, die auf die klösterliche Gemeinschaft verzichten kann. Im Fokus steht statt des gemeinschaftlichen Gebets das Gebet der Einzelnen, das mit besonderer Sorgfalt zu tun ist.Footnote 48

Der Beginn des Kapitels entfaltet folglich diskursiv wie narrativ die beiden Funktionen der kollektiven Liturgie, Struktur und Vermittlung. Der strukturgebende Schlag wird im Dialog zugunsten einer Privatliturgie umgeprägt, mithilfe derer die Gebetsinhalte allererst zu erarbeiten sind. Die dialogische Aushandlung zwischen Visionärin und göttlicher Instanz bleibt für die folgenden Abschnitte bestimmend insofern, als Gertrud wiederholt das Problem der Abwesenheit vom Chor vorbringt und dies, obwohl sie in der Lage ist, den Chorgesang nach ihrer Klage zu hören.Footnote 49 Von dieser wiederholten Klage nimmt auch das weitere Geschehen bis zum letzten Abschnitt hin seinen Ausgang, sodass die physische Abgeschiedenheit präsent gehalten und die Vision als solche markiert wird. Der alternative Status der so vollzogenen liturgischen Handlung im Geist bleibt entsprechend explizit.

3.2 Herleitung. Liturgische Erkenntnisse

Für den Legatus, wie für den Liber Mechthilds von Hackeborn, kann es als markant gelten, dass liturgische Gesänge durch ein Incipit konkret benannt werden.Footnote 50 Dies geschieht in IV,9 in dreifacher Hinsicht, wenn Responsorien und Antiphonen aufgerufen werden, die zu den Antwort- bzw. Wechselgesängen des Stundengebets gehören und Lesungen und Psalmen kommentieren und rahmen.Footnote 51 Das zweite Responsorium, das Gertrud nach ihrer anfänglichen Klage sodann hören kann, bleibt allerdings unbenannt, es dient vielmehr dazu, das Bedauern über das verpasste erste Responsorium auszudrücken. Anzitiert wird hier mit Adorna thalamum tuum, Sion ein Antwortgesang byzantinischer Herkunft, der die Vereinigung der Seele durch Bereitung des Brautgemachs ankündigt.Footnote 52 Das versäumte Responsorium ist durch das Incipit Adorna markiert und in eine konkrete Bitte der Visionärin umgemünzt: ›Doce me, amantissime Domine, qualiter thalamum cordis mei tibi placitissime debeam exornare.‹ (LDP IV,9,3)Footnote 53 Der Gesang setzt das Stichwort thalamum gedanklich fort und führt in eine Anweisung des Herrn ([e]xpande cor tuum, ebd.), die abermals in eine Erkenntnis mündet (intellexit, ebd.). Die Liturgie bietet mit ihrer räumlichen Semantik die Basis für die Ausformulierung einer inneren, kontemplativen Gebetshaltung der Einzelnen und wird auf diese Weise für eine Form der Privatliturgie fruchtbar gemacht. Die anhand der Innenräume Brautgemach und Herz entwickelte Form des Gebets ist durch das geöffnete Herz eines jeden (corde illius, ebd.), das auf diese Weise den Herrn erfreut, aber auch auf die Gemeinschaft bezogen.Footnote 54 Scheint das Aufrufen der Liturgie hier also vordergründig als Kompensationsgestus, so lässt sich die Liturgiereferenz auch rhetorisch verstehen, indem sie ermöglicht, die Erkenntnis der Visionärin herzuleiten und zu formulieren, dass die Qualität der Gebetshaltung entscheidend ist.

Die Antiphonen, die im weiteren Textverlauf benannt sind, haben dagegen vor allem eine illustrierende und die visionäre Schau stimulierende Funktion, die sich in Form einer intertextuellen Überblendung zeigt. Während die Antiphonen Post partum VirgoFootnote 55 und Beata MaterFootnote 56 gesungen werden, sieht die Visionärin nämlich Maria, die den gesamten Konvent mit ihrem Mantel reinigt und die Bitten der Gemeinschaft per quoddam osculum suavissimum (LDP IV,9,3) dem Herrn übermittelt. Die Antiphonen korrelieren im Text aufs Engste mit der Schau, wenn Maria in illo verbo: ›Intercede‹ (LDP IV,9,3) die Bitten vorbringt und setzen dadurch nicht nur die mit dem Festtag Mariä Reinigung verbundene Semantik ins Bild, sondern profilieren vor allem die Rolle Mariens »as active and independent agent in heaven«Footnote 57, die dann ausdrücklich auf den Begriff der mediatri[x] (vgl. LDP IV,9,6) gebracht wird. Die Vision setzt ins Bild, was später terminologisch festgehalten wird. Die explizite Benennung dieser Rolle ist durch das visionäre Geschehen gleichsam performativ vorweggenommen bzw. vor Augen gestellt.Footnote 58

Der Abschnitt kennt folglich zwei Modi der Verknüpfung von gesungener Liturgie und Visionstext, die sich im Sinne Caroline Emmelius’ als ›liturgische Visionen‹ fassen lassen: Einerseits wird durch die aufgerufenen Responsorien und Antiphonen eine inhaltliche Setzung begründet und hergeleitet, andererseits wird sie dadurch stimuliert und visualisiert. Die liturgischen Gesänge bieten die Grundlage dafür, nicht etwa das klösterliche Chorgebet visionär einzuholen, sondern daraus vielmehr eine individuelle Gebetspraxis abzuleiten und deren Nutzen zu reflektieren und vorzuführen.Footnote 59 Die Abfolge der Abschnitte zeigt einen Doppelschritt, in dem zunächst durch Bilder der Innenräumlichkeit die Gebetshaltung entwickelt und daraufhin das liturgische Geschehen vor Augen gestellt wird.Footnote 60 Die Rolle Gertruds als Visionärin, die diese Schritte vollzieht, bleibt darüber hinaus präsent. Diese Exposition der einzelnen, visionären Vermittlerin lässt sich auch anhand der Figur Mariens sowie des Visionärs Simeon nachvollziehen.

3.3 Annäherung. Vom Gebet in das Evangelium

Der Text des Evangeliums, der am Hochfest Mariä Reinigung bzw. Darstellung des Herrn gelesen bzw. gesungen wird und der für die anschließenden Abschnitte (LDP IV,9,4 f.) als Prätext leitend ist, ist dem Lukasevangelium entnommen: Die Eltern Jesu bringen ihren Sohn in den Tempel und opfern zwei Tauben. Vom Geist ist ebenso der Seher Simeon dorthin geführt worden, der den Messias erkennt und die Vision verkündet, die durch die Seherin Hanna bestätigt wird (vgl. Lk 2,21–40).Footnote 61 Der biblische Text selbst kennt mit dem Gang in den Tempel eine räumliche Grenzüberschreitung, die in einer Visionsverkündung mündet. In Legatus IV,9 ist diese intradiegetische Bewegung erweitert, indem sie erstens auf den klösterlichen Raum jenseits der Diegese bezogen und zweitens die zeitliche Dimension des biblischen Geschehens zerdehnt ist.

Zu Beginn des Abschnitts wird Gertruds Krankheit mit den beiden biblischen Visionären in Verbindung gebracht und von der göttlichen Instanz ausgelegt: Sie bedeute, dass Gertrud von Simeon und Hanna (hier: Anna) im Tempel von der Teilnahme am Offizium abgehalten werde (vgl. LDP IV,9,4). Das Evangelium und der Zustand der einzelnen, vom Chor abwesenden Nonne sind exegetisch aufeinander bezogen, was die individuelle Teilhabe an der Glaubensgemeinschaft betont. Es ließe sich jedoch auch argumentieren, dass das Evangelium als Teil der Liturgie an dieser Stelle unvereinbar mit den monastischen Pflichten Gertruds scheint bzw. stärker noch, dass die konkrete, gelesene Liturgie sich als kontraproduktiv für die zeiträumliche Teilnahme am Chorgebet erweist. Eine göttliche Anweisung löst dieses Paradox auf, die Gertrud zu einer Bewegung in Raum und Zeit auffordert: [] [E]gredere ad me in montem Calvariae, ubi invenies juvenem adultum formosum amatorem extensum.‹ (LDP IV,9,4)Footnote 62 Anstatt eine Rückbindung an den Konvent zu suchen, stellt der Text die Zuwendung der Einzelnen zum Herrn aus. Diese präsentiert sich nicht als eine Bewegung in einen Innenraum, wie zuvor am Bild des Gemachs in Bezug auf das Responsorium entwickelt oder hinsichtlich des Tempels denkbar, sondern geradezu als ein Schreiten in einen bzw. zu einem äußeren Raum. Die lokale Bewegung ist durch eine temporale gestützt: Gertrud solle sich nicht auf das Kind im Tempel fokussieren, sondern auf die Leiden Christi, die zeitlich – heilsgeschichtlich wie jahreszyklisch – erst noch folgen. Die Visionärin leistet dieser Anweisung Folge und es ist gerade diese Form der Passionsmemoria, die ihr einen konkreten räumlich gedachten Zugang zum liturgischen Geschehen ermöglicht:

Quo cum pervenisset in spiritu, et per moram in suaviflua memoria dominicae passionis multiplici delectatione affectata fuisset, videbatur sibi progredi per portam quamdam in parte septentrionis et venire in templum gloriosum[.] (LDP IV,9,4)

›Nachdem sie im Geist dorthin gelangt war und eine Zeitlang beim beglückenden Gedächtnis an das Leiden des Herrn mit vielfältiger Freude erfüllt worden war, schien es ihr, als ob sie durch eine gewisse Tür in nördlicher Richtung hindurchschritt und in einen herrlichen Tempel gelangte.‹ (Übers. Brem [s. Anm. 3], Bd. 3, S. 109)

Das Detail, dass Gertrud durch eine Tür in nördlicher Richtung schreitet, steigert die Verschränkung von Innen und Außen bzw. Privat- und Kollektivgebet: Nach Oefelein ist davon auszugehen, dass die Klausur in Helfta nicht südlich, sondern nördlich der Klosterkirche angelegt war. Mit der imaginierten Tür, die die Visionärin durchschreitet, könnte die historische Tür zwischen Kirche und Dormitorium gemeint sein.Footnote 63 In dieser Überblendung wird dementsprechend eine mehrfache Grenzüberschreitung ins Bild gesetzt, die extra- wie intradiegetisch wiederum vom Kollektivraum ausgeht und in die Privaträume hineinführt. Aus dem einzeln geleisteten Gedächtnis bzw. der individuellen Kontemplation erwächst die Möglichkeit visionär am biblischen Geschehen teilzunehmen: Gertrud bewegt sich aktiv durch eine Tür als Schwelle in das Geschehen der Darstellung des Herrn hinein und wird auf diese Weise Teil der Heilsbotschaft. Die Grenzüberschreitung läuft zwar auf ein inneres Ziel zu, erfolgt jedoch nicht eindimensional, sondern kennt räumlich wie zeitlich ein Vor und Zurück und verschränkt architektonische und imaginierte Räume.

Im biblischen Text wird die Zeit nicht weiter thematisiert, der Ort wiederum ist festgelegt, einzig durch das Verb venire wird eine Bewegung greifbar. Anders verfährt der Legatus: Obwohl Simeon bereits gleichsam statisch im Tempel wartet, sind Raum und Zeit entscheidend, fragt der Visionär doch dreifach danach, wann der Herr kommen und schließlich, ob er ihn an diesem Ort finden werde: ›Quando veniet? Quando videbo? Putas durabo? Putas me hic inveniet?‹ (LDP IV,9,4)Footnote 64 Im Legatus ist die biblische Vision geradezu vorweggenommen: Fraglich ist nicht, ob der Herr komme, sondern vielmehr, wann und ob er den Visionär dort finden werde. Die Beobachtung hinsichtlich der Bewegung im Raum lässt sich dementsprechend um die aufwändige zeitliche Gestaltung ergänzen. Der temporäre Akt des Wartens wird von Gertrud beobachtet, durch Simeons Fragen ausgesprochen und dadurch geradezu zerdehnt. Die abschließende Erzählerrede potenziert diese Zerdehnung und überführt sie in eine Gleichzeitigkeit, die im Text in Form von durchgehendem Präteritum ausgedrückt wird:

Haec et his similia cum multiplicaret verba, exhilaratus spiritu et quasi in impetu conversus, vidit beatam Virginem coram altari stantem et puerum Jesum prae omnibus filiis hominum forma speciosum suis ulnis gestantem. (LDP IV,9,5)

›Als er diese und ähnliche Worte oftmals aussprach, wurde er im Geist aufgerichtet und drehte sich fast ungestüm um. Da sah er die selige Jungfrau vor dem Altar stehen, die das Jesuskind trug, das schöner an Gestalt ist als alle Menschenkinder.‹ (Übers. Brem [s. Anm. 3], Bd. 3, S. 109)

Die aufwändige und gleichsam detaillierte Gestaltung hinsichtlich des Raumes und der Zeit arbeitet dem Höhepunkt des liturgisch-visionären Geschehens zu, auf den sich der Text lokal wie temporär zubewegt. Diese Annäherung lässt sich für den folgenden Abschnitt besonders stark herausstellen, in dem die intertextuellen Bezüge zum biblischen Text durch direkte Zitate deutlich markiert sind (vgl. LDP IV,9,5): Visionäre Schau und Evangelientext passen sich nahezu vollständig aneinander an, sodass die Form des performativen Vollzugs der Liturgie mit einem Präsenzmoment in der Vision verknüpft wird. Visionstypologisch wäre der Verweis auf das Evangelium als subtile Form einer visionären Liturgie zu werten: Der Text des Evangeliums stimuliert die Vision, die Gertrud eine individuelle Prozession hinein in das biblische Geschehen vollziehen lässt. Das Ritual der Lichtmessprozession als Verfahren der Präsenzstiftung wird im Visionstext selbst aufgefangen.

3.4 Spiegelung. Zur Vision des Simeon in der Vision Gertruds

Die Bewegung in Raum und Zeit, die von der Liturgie aus entwickelt ist, arbeitet außerdem einem Vergleich der beiden Visionäre zu. Das Evangelium wird zur Reflexions- und Legitimationsfläche für die Visionärin Gertrud: Heißt es im Lukasevangelium knapp, Simeon sei vom Geist in den Tempel geführt worden (et venit in Spiritu in templum, Lk 2,27), ist dieser Gedanke der Bewegung Simeons in den Tempel hinein zurückgenommen und kommt der Visionärin Gertrud zu, die stattdessen dort hineinschreitet. Sie ist diejenige, die durch die aktive Bewegung die Grenze in den Innenraum übertritt und zugleich als eine passive Beobachterin das Geschehen ebendort verfolgt. Gertruds Rolle im Tempelgeschehen bleibt zwar beobachtend,Footnote 65 aber die Perspektivführung fokussiert den einzelnen Seher. Simeon bleibt im Fokus, auch als Maria mit dem Jesuskind erscheint und der Visionsbericht wieder in den Evangelientext zurücklenkt. Darüber hinaus ist die Rolle des Visionärs vor Eintreffen des Messias im Gegensatz zum Prätext ausgebaut. In der wörtlichen Rede Simeons wird durch die vierfache Nachfrage deutlich ein Zweifeln, eine Unsicherheit des Visionärs manifest, die durch die Erzählinstanz nochmals verstärkt wird (vgl. LDP IV,9,4). Aufgehoben wird diese Unsicherheit in der sorgfältig hergeleiteten und inszenierten visionären Erkenntnis, die ebenso weiter entfaltet ist. Schlägt diese sich im Lukasevangelium in wörtlicher Rede nieder,Footnote 66 ist die mündliche Offenbarung in Kap. IV,9 solchermaßen ausgestaltet, dass der Wortlaut mit Handlungen Simeons und Bildern enggeführt wird: Während er spricht, nimmt er das Kind in seine Arme, küsst es und erhebt es. Seinen Höhepunkt erreicht das Geschehen in der Erleuchtung des Herrn, die das Verfahren der Verzahnung von Liturgie und Visionstext in der Vision exemplarisch zu illustrieren vermag:

Tunc arca tamquam speculum perlucidum illico resplenduit, et in ea cum luce se involvens imago delicatissimi et amabilissimi pueri Jesu comparuit, significans ac palam protestans ipsum esse per quem omnis oblatio veteris ac novi testamenti est perfecta. Quod videns Simeon ardentissimo affectu exclamavit: ›Lumen ad revelationem gentium‹. (LDP IV,9,5)

›Da erglänzte sogleich der Altartisch wie ein leuchtender Spiegel. Auf ihm erschien lichtumflutet das Bild des zarten und liebenswürdigen Jesuskindes. Es war der Ausdruck und das öffentliche Zeugnis dafür, dass es dieses Kind war, durch das jede Opfergabe des Alten und Neuen Testaments vollendet wird. Als Simeon das sah, rief er mit glühender Liebe aus: Ein Licht, das die Heiden erleuchtet!‹ (Übers. Brem [s. Anm. 3], Bd. 3, S. 111)

Die bildlichen Zeichen des spiegelleuchtenden Altars und des darin erscheinenden leuchtenden Bildes illustrieren die Offenbarung in ihrer Semantik und darüber hinaus sind sie auch funktional als significans ac palam protestans benannt. Der Ausruf des Visionärs ist schließlich die wortwörtliche Bestätigung dessen, was narrativ bereits offengelegt ist.

Diese Form der Bildauslegung wird nochmals vorgeführt, indem die von Maria geopferten Tauben in einen Kommentar über HeiligkeitFootnote 67 überführt werden, der mit großer Vorsicht formuliert ist: si licet dici (LDP IV,9,5; ›wenn man so sagen darf‹, Übers. Brem [s. Anm. 3], Bd. 3, S. 111). Strukturell wird auf diese Weise ein Bogen zum Beginn des Abschnitts geschlagen, der – wie oben aufgezeigt – ebenso exegetisch verfährt. Ist es zu Beginn der Herr, der die aktuelle Krankheit Gertruds auf den biblischen Text bezieht, damit begründet und die Vision einleitet, ist es hier die Sprechinstanz, die durch die Auslegung der Tauben aus dem Bibeltext herausführt und in einem mehrschrittigen Verfahren eine Erkenntnis darlegt, die sowohl über die Überwindung der Abwesenheit vom Chorgebet als auch die Auslegung der Liturgie hinausweist. Greifbar wird vielmehr ein Bemühen um eine Legitimierung von Heiligkeit, die zwar ein vorbildlich geführtes religiöses Leben aufruft, subtil allerdings auf eine Form von Wissen bzw. Weisheit zuläuft: [D]um ipsi sua conversatione sancta ex parte supplent aliqua quae Dominus dispensative perficere praetermisit in doctrina sua perfectissima. (LDP IV,9,5)Footnote 68 Heiligmäßigkeit wird einerseits als eine Form der Zuwendung, andererseits als eine Form der Vollendung verstanden, die die göttliche Vollkommenheit anerkennt und zu reformulieren vermag. Der Schlussabsatz verdichtet nochmals diskursiv, was zuvor narrativ durch die Tempelszene entfaltet worden ist und wiederholt auf diese Weise das rhetorische Prinzip.

Die visionäre Liturgie, die sich in den diskutierten Abschnitten in Form des Prätexts sehr plastisch greifen lässt, dient daher auch dazu, diese abschließende Erkenntnis vorzubereiten und herzuleiten. Die Vision des Simeon kann in diesem Zusammenhang als Moment verstanden werden, in dem Visionärin und visionäre Schau sich in einer Art Meta-Vision verdichten und selbst reflektieren: Dies zeigt sich in der aufwändigen Hinführung zur visionären Erkenntnis des Simeon wie auch in der Fokussierung auf ihn, denn auch die Bestätigung durch die Seherin Hanna kennt der Legatus hier nicht. Nicht zuletzt kann das Bild des spiegelleuchtenden Altars im wahrsten Sinne spiegelbildlich verstanden werden. Im Mittelpunkt steht hier nicht der kollektive Vollzug, sondern die individuelle Versenkung in die Liturgie, die in die Vision mündet und diese reflektiert.

3.5 Erkenntnis. Gemeinschaft in der Innerlichkeit – Innerlichkeit in der Gemeinschaft

Nach dieser Metavision in der individuellen Kontemplation wird mit dem achten Responsorium wieder ein Element der gemeinsamen Chorliturgie aufgerufen und Maria als mediatrix expliziert.Footnote 69 Es setzt der letzte Abschnitt des Kapitels somit relativ abrupt ein, in dem die aufgespannten Linien zusammengeführt werden: Erstens kehrt der Fokus der Darstellung von den einzelnen visionären Figuren hin zur Gemeinschaft und zum gemeinschaftlichen Gebet zurück. Zweitens wird das programmatische Problem der Abwesenheit vom Chor ein drittes Mal von Gertrud vorgebracht. Dies führt, drittens, zu einem Dialog zwischen Gertrud und der Mittlerin Maria, den der Herr lediglich ergänzt. Der Text führt aus der inneren Schau der Visionärin heraus und wird in den gemeinschaftlichen Rahmen zurückgetragen, der zugleich als Zusammenschluss Einzelner gedacht ist: Maria bittet pro singulis (LDP IV,9,6).

Mit dem achten Responsorium – und hier noch genauer mit dem Vers Ora pro nobis – wird der Abschnitt zwar zeitlich relativ verortet, bleibt räumlich jedoch scheinbar unbestimmter. Der ausschlaggebende Schutzbefehl Mariens bezieht sich allerdings auf den konkreten Ort des Klosters,Footnote 70 der hier als conventum (LDP IV,9,6) bezeichnet wird und stimuliert eine erneute Frage der Visionärin zur Abgeschiedenheit: ›Numquid, Mater misericordiae, hac firmissima tutela non proteguntur quae modo non sunt in choro?‹ (LDP IV,9,6)Footnote 71 Es folgt eine weite Auslegung der Gemeinschaft, der congregatio (LDP IV,9,6), die räumliche Grenzen nicht kennt. Diese Gemeinschaft umfasse alle, die in loco isto vel ubicumque (ebd.) – ›an diesem Ort oder wo auch immer‹ (Übers. Brem [s. Anm. 3], Bd. 3, S. 113) – sich stets um ein rechtes Glaubensleben bemühen, die anderen hingegen seien ausgeschlossen. Die Mittlerin Maria enthebt die Gemeinschaft abschließend ihrer konkreten Räumlichkeit. Es findet ein weiteres Mal ein Prozess der Übertragung statt, wenn der Herr diese Raumlosigkeit des Glaubens zumindest in eine abstrakte Form der Innerlichkeit überführt. Anhand eines Vergleichs mit den Schutzschilden des Schutzwalls, die oben klein und unten breit sind, werden zwei entscheidende Werte benannt, humilitas und confidentia, die es zu verinnerlichen gilt. Explizit wird diese Innerlichkeit erläutert, denn durch die Demut solle ein jeder in sich (in semetipso, LDP IV,9,7) klein sein, durch das Vertrauen in den Erlöser (in me, ebd.) groß.

Der Festtag schließt mit einer finalen Profilierung Mariens als mediatrix, die sich so vor dem Jesuskind verneigt, als wolle sie die Bitten der Gemeinschaft dem Herrn darbringen. Dieses abschließende Bild zeigt eine Verbindung mit dem Konvent, wenn es in dem Moment zeitlich verortet ist, in dem man in der Kapelle Ora pro nobis singt ([c]umque ad processionem in capella cantaretur versus ›Ora pro nobis‹, LDP IV,9,8). Mit der bittenden Maria steht am Ende des Kapitels eine einzelne Stellvertreter- bzw. Mediationsfigur im Fokus und auch die religiöse Gemeinschaft wird enträumlicht und individuell gedacht. An der Textoberfläche zeigt sich jedoch ein Schluss, in dem der monastische Referenzrahmen zeitlich über die Nennung des Verses und räumlich über die Kapelle markiert bleibt.

4 Fazit

Die Abwesenheit vom Chor stellt für die Visionärin des Legatus ein ausdrückliches Problem dar, das erst visionär bewältigt werden muss. Dass diese isolierte Position Gertruds sich vor allem als räumliches Dilemma greifen lässt, weist auf die poetologischen Befunde der Analyse hinaus. Die oberflächlich unterbestimmte Räumlichkeit im Legatus wird in den Verfahren der Verbindung von Liturgie und Vision unterlaufen: Innen- und Außenräume werden ausgehend von den gelesenen liturgischen Texten und der klösterlichen Architektur konkretisiert und entwickelt. Den räumlichen Verschränkungen kommt für die Präsenzstiftung, die auch durch die expliziten zeitlichen Referenzen geleistet wird, nichtsdestotrotz eine besondere Bedeutung zu. Denn die verschiedenen Formen der Grenzziehung und -überschreitung evozieren Bewegungseffekte, die es ermöglichen, den performativen Charakter des gemeinsamen Gebets in der individuellen Kontemplation meditativ nachzuvollziehen. Die beschriebenen rhetorischen Verfahren lassen sich so als Teil eines ›Skripts‹, als eine schriftliche Anleitung zum sinnlichen Nachvollzug verstehen, dessen Ausgangspunkt stets die schriftliche Liturgie (Gesänge, Bibeltexte) ist.Footnote 72 Die Verfahren der intertextuellen Verzahnung zeigen sich variantenreich: Partien liturgischer Visionen und solche visionärer Liturgie, in denen die liturgischen Bewegungen in der Vision vollzogen werden, sind miteinander kombiniert. Die strukturelle Abfolge der Liturgie ist in Legatus IV,9 rhetorisch überformt, worin sich ein flexibler Umgang mit dem liturgischen Textmaterial zeigt.Footnote 73

Diese ästhetisch gewendete Liturgie kann einen Beitrag dazu leisten, die Begnadung und Funktion Gertruds innerhalb der Gemeinschaft zu reflektieren und legitimieren: So kann die Helftaer Visionärin subtil als Begnadete exponiert und zugleich in den Konvent eingebunden werden. Dieser Befund korreliert mit der theologisch-historischen Forschung, die den normativen Gehalt des literarischen Visionstextes betont. Dementsprechend argumentiert Anne Clark dezidiert gegen eine Lesart des Legatus als »a hagiographical attempt to demonstrate heroic sanctity«Footnote 74 und betont wiederum den frauenklösterlichen Zusammenhang, in dem der Text entsteht und rezipiert wird. Zumindest für das untersuchte Kapitel gehen die erarbeiteten Skripts allerdings über den belehrenden Anspruch des monastischen Texts, der freilich auch im Prolog zu Buch IV benannt ist, hinaus und lassen sich zugunsten eines Ausdrucks von Heiligkeit werten: Die Liturgie bietet auf textueller Ebene ein Mittel, das heiligmäßige Leben der Gertrud von Helfta zu verhandeln. Zwar wird eine alternative Form der Liturgie, die ohne die Präsenz im Chor auskommt, entwickelt, der kollektive Rahmen ist aber keinesfalls suspendiert. Gertruds Abgeschiedenheit wird nachgerade durch die Visionen, die durch das Offizium stimuliert sind und immer den Bezug dazu suchen, entproblematisiert. Die kollektive Liturgie bildet den Rahmen für die individuelle Kontemplation, Teil und Ganzes stehen jedoch letztlich immer in reziprokem Verhältnis: Die Chorliturgie wird durch die Ästhetisierung in der Vision weiterentwickelt und kommt wiederum dem Desiderat nach, an der gemeinschaftlichen Semantisierung der Liturgie mitzuwirken. Hagiographischer Anspruch und theologische Grundlegung ließen sich so gerade durch die Liturgie als mittelnde Instanz zwischen klösterlicher Gemeinschaft und Individualität einerseits, biblischen Texten und individueller Erkenntnis andererseits miteinander in Einklang bringen. Im Visionstext wird die Liturgie rhetorisch fruchtbar gemacht und ästhetisiert, um die doctrina auf diese Weise poetisch zu interpretieren und zugleich im Sinne einer Privatliturgie zu ergänzen. In der diskutierten Lichtmess-Vision durch Maria, Simeon und den spiegelleuchtenden Altar ins Bild gesetzt, lässt sich dieser literarische Zugriff auf die Liturgie auch hinsichtlich der Funktion des Legatus selbst interpretieren: Neben der Liturgie erscheint der kollektiv redigierte Visionstext selbst als Vermittlungs- und Spiegelungsinstanz.