1 Einleitung: Die Ästhetik von Zeit und Raum zwischen Immanenz und Transzendenz

Incipit liber. (I.) Fuit in diebus Eugenii pape in finibus Trevirensis dioceseos, in cenobio, cui nomen Sconaugia, sub regimine Hildelini abbatis adolescentula quedam monastice professionis nomine Elisabeth. Que cum inter religiosas feminas undecimum in monasterio ageret annum, habens etatis annos viginti tres, in anno dominice incarnationis mill. CLII. visitata est a domino.

›Es beginnt das Buch. Es lebte in den Tagen des Papstes Eugen innerhalb der Diözese Trier im Schönau genannten Kloster unter der Leitung des Abtes Hildelin ein Mädchen namens Elisabeth, das die Klostergelübde abgelegt hatte. Als diese unter den Klosterfrauen das elfte Jahr im Kloster zubrachte, wurde sie im Alter von dreiundzwanzig Jahren im Jahr der Fleischwerdung des Herrn 1152 vom Herrn heimgesucht.‹Footnote 1

Die kurze einleitende Vita, die dem Liber Visionum Primus Elisabeths von Schönau über ihre Offenbarungen vorangestellt ist, beginnt geradezu mit einem Überschuss zeitlicher und räumlicher Determinierung. Unterschiedliche Raum- und Zeitdimensionen werden aufgerufen: kirchlich, monastisch, biographisch und heilsgeschichtlich, die sich alle in unterschiedlicher Weise als bedeutsam für den folgenden Text erweisen und ihn einordnen. Sicher trägt diese detaillierte Bestimmung zur Authentifizierung des Textes bei, der er im Hinblick auf sein zentrales Thema in besonderer Weise bedarf. Sie bindet ihn aber auch fest an das hic et nunc seiner immanenten Existenz, während die Transzendenz, deren Erfahrung er sich widmet, auch und gerade durch die Überschreitung von Raum und Zeit gekennzeichnet ist.Footnote 2 Das Erzählen von Heiligkeit und Transzendenz steht stets vor dem Problem der Darstellung und Vermittlung »des kategorial Anderen« und »Unverfügbaren«Footnote 3; der Textbeginn deutet bereits darauf hin, dass Raum und Zeit in der literarischen Bewältigung dieser Transgression eine entscheidende Rolle spielen.

Zu Beginn seiner Schrift Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie konstatiert Gotthold Ephraim Lessing, dass nach dem Gefühl des Liebhabers der Künste sowohl die Poesie als auch die Malerei »abwesende Dinge als gegenwärtig« vorstellen. Zur Herstellung dieses Präsenzeffekts müssten beide Künste zum Mittel der Täuschung greifen, die aber Gefallen beim Rezipienten auslöse. Auch wenn dieser sich über die Illusion im Klaren ist, sollen das »künstlerische Medium selbst, die technischen Mittel und Kunstgriffe der Täuschung« aber nicht sichtbar sein.Footnote 4 Transzendenz ist, so könnte man im Anschluss daran folgern, der Inbegriff des Abwesenden und es stellt sich die Frage, welche Mittel der Täuschung oder Illusion bei der Darstellung von Transzendenz möglich oder zulässig sind und ob diese eher verschleiert oder ausgestellt werden.

Lessing stellt bekanntlich die Kategorien Raum und Zeit in den Fokus seiner Bestimmung der Künste und ihres Verhältnisses zueinander:

»Wenn es wahr ist, daß die Mahlerey zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie, jene nehmlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältniß zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Theile neben einander existiren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Theile aufeinander folgen. Gegenstände, die neben einander existiren, heissen Körper. Folglich sind Körper, mit ihren sichtbaren Eigenschaften, die eigentlichen Gegenstände der Malerey. Gegenstände, die auf einander, oderen Theile auf einander folgen, heissen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.«Footnote 5

Lessing unterscheidet dementsprechend zwei »Grundformen« der Darstellung, die des Beschreibens und die des Erzählens:Footnote 6 »während eine Beschreibung das Nebeneinander von Körpern im Raum ausmalt, entwickelt eine Erzählung das Nacheinander von Handlungen in der Zeit«Footnote 7 – erstere ist die Darstellungsweise der Malerei, letztere die der Poesie. Die Malerei ist dadurch an die Darstellung eines bestimmten Augenblicks gebunden und steht in einem Verhältnis der Ähnlichkeit zu dem Dargestellten und verwendet natürliche Zeichen.Footnote 8 Die Literatur als »immaterielles, geistiges Medium«, das sich willkürlicher Zeichen bedient, hat dagegen einen größeren Gestaltungspielraum. Andererseits gelingt der Malerei die »anschauliche Unmittelbarkeit [...] abwesende[r] Dinge« besser, eben weil sie natürliche Zeichen verwendet, die sich durch ihre Ähnlichkeit mit den Dingen auszeichnen.Footnote 9 Um die zu Beginn genannte Illusionswirkung zu erzeugen, muss die Literatur diesen Mangel kompensieren, indem sie sich auf Gegenstände konzentriert, die ebenfalls sukzessiv sind. Wenn sie zum Mittel der Beschreibung dessen greift, was simultan im Raum ist, wird demnach die Simultanität der sprachlichen Zeichen sichtbar. Die für die Täuschung erforderliche Transparenz des Mediums ist nicht mehr gegeben.Footnote 10 Die Offenbarungen Elisabeths von Schönau machen, wie gezeigt werden soll, in spezifischer Weise Gebrauch von intermedialen Anleihen wie Ekphrasen, um Transzendenz erfahrbar bzw. deren Erfahrung darstellbar zu machen. Diese werden also einerseits als Mittel zu deren Imagination und Vergegenwärtigung genutzt, andererseits wird die Defizienz sprachlicher Mittel erkennbar, was jedoch durchaus in der Intention des Textes liegen kann, um die Grenze zwischen Immanenz und Transparenz zwar ›passierbar‹ zu machen, aber nicht zu verwischen.Footnote 11 Dies trifft sich mit der transgredierenden Funktion, die der Ekphrasis häufig zugeschrieben wird.Footnote 12 Im Folgenden wird es darum gehen, diesen Darstellungsformen transzendenter Erfahrung im Liber Visionum genauer nachzugehen.

2 Elisabeth und Ekbert von Schönau – Monastisches Leben im Zeichen der Reform

Um das Jahr 1141/42, nach eigenen Angaben im Alter von 12 Jahren, tritt Elisabeth, die aus einem nicht genauer identifizierbaren rheinischen Adelsgeschlecht stammte, in das Nonnenkloster Schönau im Taunus ein – ein typischer Lebensweg, der zunächst nicht erahnen lässt, dass sie zu einer geachteten Visionärin und Heiligen werden wird, deren Werke im Mittelalter deutlich weiter verbreitet waren als die ihrer berühmten Zeitgenossin Hildegard von Bingen, zu der sie brieflich in Kontakt stand.Footnote 13 Diese bilden gerade in ihrer spezifisch liturgischen Prägung den Auftakt zu einer bis ins Spätmittelalter reichenden Reihe von Offenbarungen, überwiegend von Frauen und aus monastischem Kontext,Footnote 14 und verdienen in dieser Hinsicht mehr Beachtung der Germanistik, als das gerade in der deutschsprachigen Forschung bisher der Fall ist.Footnote 15

Elisabeths Klostereintritt fällt in eine Zeit religiösen Aufbruchs, bestimmt von monastischen und kirchlichen Reformen, in der zunehmend Frauen den Weg ins Kloster gehen.Footnote 16 Die Familie entschied sich mit Kloster Schönau signifikanter Weise nicht für einen alteingesessenen Konvent, der bereits über ein gewisses Renommee verfügte, sondern für ein noch junge Gründung des Grafen Dudo (Tuto) von Laurenburg, Stammvater des späteren Hauses Nassau.Footnote 17 Erst 1126, also gut 15 Jahre vor ihrem Eintritt, war das seit neun Jahren bestehende und zunächst in Lipporn angesiedelte Männerkloster zur Abtei erhoben worden, ab wann genau der Frauenkonvent bestand und mit diesem zusammen unter der Leitung des ersten Abtes Hildelin in Schönau ein Doppelkloster bildete, ist nicht endgültig geklärt.Footnote 18

Schönau gehörte zum Kreis der Hirsauer Reformkonvente. Diese zeichneten sich durch ihre positive Haltung zu Frauen aus, aber auch durch die strenge Einhaltung der Klausur und die Betonung der Liturgie.Footnote 19 Da eine Reihe weiterer Familienmitglieder kirchliche und monastische Ämter innehatteFootnote 20 und besonders ihr Onkel sich in seiner Funktion als Bischof von Münster für die Reformen einsetzte,Footnote 21 kann man davon ausgehen, dass die Wahl bewusst auf Schönau fiel.Footnote 22

Die geistliche Karriere ihres Bruders Ekbert passt in dieses Bild: Er studierte in dieser Zeit mit Rainald von Dassel in Paris, wurde anschließend Kanoniker in BonnFootnote 23 und verfasste selbst theologische Schriften.Footnote 24 Das etablierte Narrativ lautet, dass Ekbert gegen den Willen der Familie auf eine Karriere als Weltgeistlicher verzichtet habe,Footnote 25 um auf Drängen der Schwester in den Männerkonvent von Schönau einzutreten und sie, die seit ihrem 23. Lebensjahr (1152) Visionen erlebte, geistlich zu betreuen. Plausibler erscheint, dass beide sich aus unterschiedlichen Positionen heraus für die Reformen einsetzten und dass Ekbert diese Bemühungen von Schönau aus gemeinsam mit seiner Schwester fortsetzen wollte. 1155 trat er dort ein, zwei Jahre später wurde Elisabeth zur magistra (also Leiterin) des Nonnenkonvents gewählt und er selbst nahm wenige Jahre nach ihrem Tod 1164 die Position des Abtes ein.Footnote 26 Das Modell, das Ekbert und Elisabeth als geistlicher Betreuer/Hagiograph und Visionärin in den Offenbarungsschriften etablierten, war für die spätmittelalterliche ›Frauenmystik‹ von besonderer Wirkmächtigkeit.Footnote 27

3 Liturgische Zeit und transzendenter Raum im Liber Visionum Primus

Elisabeths Offenbarungsschriften wurden in mehreren, überwiegend erst nach ihrem Tod von Ekbert verantworteten und überarbeiteten Redaktionen überliefert. Es handelt sich um den Liber Visionum I–III (1152/60), der v. a. Visionen Marias, der Heiligen sowie über Himmel und Heilsgeschichte enthält; dann den Liber Viarum Dei (1156/63), der Kritik und Belehrung der verschiedenen Stände bietet, den Liber Revelationum de sacro Exercitu Virginum Coloniensium (1156/57), Visionsberichte zur Ursula-Legende, die diese mit Reliquienfunden aus Köln in Einklang bringen sollte,Footnote 28 schließlich einen Text über die Himmelfahrt Mariens (De Resurrectione Marie, mit Ep. 20) sowie 22 erhaltene Briefe.

Insgesamt dokumentieren ca. 150 überlieferte Handschriften die große Verbreitung ihrer Schriften. Die erste Redaktion (A) enthielt noch nicht den Liber Visionum, sondern nur die Offenbarungen, die Elisabeth nach Ekberts Eintritt in Schönau erfuhrFootnote 29 und nach allgemeiner Einschätzung von seinem theologischen Einfluss zeugen.Footnote 30 Sie sind geprägt von konkreten Fragestellungen wie etwa die nach der leiblichen Auferstehung Mariens, mit der sich Ekbert selbst in seinen Schriften befasste.Footnote 31 Erst die zweite Redaktion (B) enthielt den Liber Visionum Primus, und zwar in einer Kurzfassung (Kap. 1–25); die späteren Redaktionen bieten eine deutlich erweiterte Langfassung des ersten Buches (Kap. 26–79) sowie ein zweites und drittes Buch.Footnote 32

Die folgende Untersuchung wird sich auf den in der Forschung weniger beachteten Liber Visionum PrimusFootnote 33 konzentrieren, der als authentischer aber auch als anspruchsloser gilt, da es sich um Elisabeths frühe, von Ekbert noch unbeeinflusste Visionen handele.Footnote 34 Aus diesem Grund werden auch die Veränderungen berücksichtigt, die sich bereits in den der Langfassung hinzugefügten Kapiteln einstellen und in den folgenden Büchern weiterverfolgen lassen, um die These der mangelnden Elaboriertheit der ersten Kapitel, die bis heute Einfluss auf das Bild Elisabeths in der Forschung hat, auf den Prüfstand zu stellen.

3.1 Iterativität und Exzeptionalität

Das erste Buch der Visionen setzt ›mehrstufig‹ ein: An erster Stelle steht ein Vorwort Ekberts, der als ›Herausgeber‹ den fertigen Text erläutert; es folgt eine kurze Vita Elisabeths in der 3. Person, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie auf Befehl des Abtes ihre Visionen in schriftlicher Form offenbart. Erst dann beginnt Elisabeths Bericht in der Ich-Form, der sich wie ein Brief an Ekbert richtet und im Rückblick ihre Visionen von Anfang an schildert.Footnote 35 Dieser Einstieg etabliert nicht nur ein intrikates Verhältnis von Visionärin und Herausgeber, Offenbarung und Schrift, sondern stellt der (scheinbar) klaren liturgischen Zeitstruktur des Berichtes selbst ein komplexes Zeitmodell seiner Entstehungsgeschichte voran. Die Vita beginnt, wie zu Anfang gezeigt, geradezu mit einem Überschuss an zeitlicher Verortung.

Die chronologische Determinierung setzt sich in den Revelationen selbst fort, indem sie regelmäßig mit der Angabe des Festtags und der Tagzeit bzw. Messe beginnen: In festivitate beatorum apostolorum Petri et Pauli in prima vespera collapsa sum in extasim. et vidi gloriosos illos principes [...] (›Am Fest der seligen Apostel Petrus und Paulus fiel ich am Beginn der Vesper in Ekstase, und ich sah jene glorreichen Fürsten [...]‹, LV I, 15). Felix Heinzer bezeichnet dies als »liturgische[…] Matrix«Footnote 36, die formal und inhaltlich die Visionen prägt – im ›großen‹ Zirkel des Kirchenjahrs und im ›kleinen‹ Zirkel der täglich wiederkehrenden Horen. Kurt Köster charakterisiert sie daher als »Zeugnisse ekstatischen Miterlebens des kirchlichen Jahreslaufs im engen Anschluss an die klösterliche Liturgie.«Footnote 37

Programmatische Qualität hat es, dass die Visionen aller drei Bücher jeweils an Pfingsten beginnen.Footnote 38 Dieses Datum dient der Legitimierung der Offenbarungen und einem aus ihnen abgeleiteten Sprechen, das durch die Berufung auf göttliche Inspiration Gültigkeit beansprucht, indem es dem bibelkundigen Leser den Empfang des Heiligen Geistes durch die Jünger und deren Aussendung ins Gedächtnis ruft.Footnote 39 Dass in Vorwort und Beginn so sehr auf Elisabeths Unkenntnis des Lateinischen insistiert wird,Footnote 40 obwohl sie im Zusammenhang mit den Offenbarungen lateinisch kommuniziert, dient nicht nur der Authentifizierung ihrer Visionen, sondern stellt auch einen Bezug zur Xenoglossie des ›Pfingstwunders‹ her. Petrus selbst spricht in seiner Pfingstrede, den Propheten Joel zitierend, von Visionen:

et erit in novissimis diebus dicit Dominus effundam de Spiritu meo super omnem carnem et prophetabunt filii vestri et filiae vestrae et iuvenes vestri visiones videbunt et seniores vestri somnia somniabunt et quidem super servos meos et super ancillas meas in diebus illis effundam de Spiritu meo et prophetabunt [...]. (Actus Apostolorum 2, 17–18)Footnote 41

›In den letzten Tagen wird es geschehen, / so spricht Gott: / Ich werde von meinem Geist ausgießen / über alles Fleisch. / Eure Söhne und eure Töchter werden Propheten sein, / eure jungen Männer werden Visionen haben, / und eure Alten werden Träume haben. Auch über meine Knechte und Mägde werde ich von meinem Geist ausgießen in jenen Tagen und sie werden Propheten sein.‹Footnote 42

Mit dem Rekurs auf Pfingsten wird ausdrücklich auch das prophetische Sprechen von Frauen legitimiert, wie eine spätere Vision (LV I, 52) zu diesem Fest unterstreicht, in der eine Taube während der Messe nicht nur den Priester, sondern auch alle Schwestern mit etwas Rotem wie eine Feuerflamme beträufelt.Footnote 43 Auch die Anordnung der Offenbarungen in den drei Büchern folgt demnach einer biblisch-liturgischen Logik.

Die Nennung des Festtags und der jeweiligen Tagzeit ist nicht einfach eine präzise Datierung der Visionen.Footnote 44 Schon die Vita konstatiert, dass die Offenbarungen ›an den Sonntagen und anderen Feiertagen‹ stattfänden, denn dies seien jene ›Stunden, in denen die Andacht der Gläubigen am heißesten brennt‹ (horas, in quibus maxime fidelium fervet devotio, LV I, 1). Tatsächlich finden die Visionen bevorzugt an den großen Festen statt wie Ostern, Pfingsten, Allerheiligen und Weihnachten, an den Marienfesten sowie den Festtagen der Apostel, Johannes’ des Täufers und des Ordensgründers Benedikt. Auch inhaltlich stehen sie meist in Konnex mit dem Festtag, indem sie durch die liturgischen Texte und Gesängen induziert werden und die betreffenden Heiligen oder das gefeierte Heilsgeschehen darin erscheinen:Footnote 45

Post hec in festivitate Palmarum in priori vespera. cum dicerent sorores responsorium: Ingressus Pilatus, et usque ad hoc verbum processissent: Crucifigatur, stabam inter eas. et subito in extasim cecidi cum magna corporis mei concussione. et vidi salvatorem quasi in cruce pendentem.

›Danach am Palmsonntag zur ersten Vesper, als die Schwestern das Responsorium: Pilatus trat ein, sangen und bis zu dem Wort: Er soll gekreuzigt werden, gekommen waren, stand ich unter ihnen; und plötzlich fiel ich mit großer Erschütterung meines Leibes in Ekstase und sah den Heiland wie am Kreuze hängend.‹ (LV I, 43)Footnote 46

Der Text setzt damit tendenziell Adressaten voraus, die mit diesen Strukturen und den anzitierten liturgischen Texten und Gebeten vertraut sind.

Die Neuerung von Elisabeths Offenbarungen, die Verankerung der Visionen im liturgischen Festkreis, erzeugt eine primär zirkuläre oder iterative zeitliche Struktur. Das wird bereits durch den jeweiligen Beginn der Bücher an Pfingsten ersichtlich, wird aber auch sonst durchweg im Text hervorgehoben:

Ab illo die usque ad hec tempora singulis fere sabbatis et quandoque aliis diebus, cum de ea officium celebraretur. eandem visionem videre consuevi.

›Seit diesem Tag bis zur Gegenwart bin ich es gewohnt, fast an allen Samstagen und bisweilen auch an anderen Tagen, wenn die Messe für sie [Maria] gefeiert wird, dieselbe Vision zu sehen.‹ (LV I, 11)Footnote 47

Je nach liturgischem Anlass können sich die Visionen also wöchentlich oder jährlich wiederholen. So gibt es auch mehrere ›Durchgänge‹ durch das Kirchenjahr:

He sunt, frater, miserationes domini, quas in primo anno visitationis mee operatus est in me. In hac autem secundi anni revolutioneFootnote 48eadem fere, que anno priore in festivitatibus sanctorum circa me accidere solebant [...].Footnote 49

›Dies sind, mein Bruder, die Erbarmungen des Herrn, die er im ersten Jahr meiner Heimsuchung in mir gewirkt hat. Im Laufe dieses zweiten Jahres aber geschah in etwa dasselbe, was im vorigen Jahr an den Heiligenfesten mit mir zu geschehen pflegte.‹ (LV I, 53)

Elisabeth betont selten das Singuläre, häufig jedoch das Gewohnheitsmäßige ihrer Erlebnisse: et veniens in extasim vidi visionem, quam dominicis diebus videre soleo (›Ich schaute die Vision, die ich an den Sonntagen zu sehen pflege‹, LV I, 23), columba speciosa, quam videre soleo (›die schöne Taube, die ich zu sehen pflege‹, LV I, 52) oder Invocavi igitur eam solito more (›Ich rief sie [die Himmelskönigin] also in der gewohnten Weise an‹, LV I, 59).Footnote 50 Zunächst erscheint dies überraschend, da es die Exzeptionalität der Visionen zu nivellieren scheint. Gérard Genette bezeichnet solche »Wiederholungsbeziehungen zwischen Erzählung und Diegese« als »narrative Frequenz«. In der klassischen Erzählung seien solche iterativen Segmente den singulativen Szenen funktionell untergeordnet.Footnote 51 Hier kommt es jedoch zu einem auffälligen Konnex beider Typen, wenn oftmals zunächst die Vision als ›singulative Szene‹ erzählt und in der Regel erst im Anschluss oder in beiläufigen Bemerkungen ihr Wiederholungscharakter deutlich wird. Das Exzeptionelle wird durch die Liturgie zum vorhersagbar wiederkehrenden Modus – was Monotonie erzeugen könnte, wird gerade zum Garanten des Außerordentlichen.Footnote 52

Die liturgische Zeit ist selbst kein abstraktes System, sondern ihrerseits mit sakraler Bedeutung aufgeladen. Eine Semantisierung der Tagzeiten selbst durch ihre Verknüpfung mit der Passion, wie sie später feststellbar ist, findet allerdings noch nicht statt.Footnote 53 Deren Memoria ist mit dem Osterfestkreis verbunden und zieht sich in ausführlichen Visionen über mehrere Tage hin. Zwar kann man nicht von einer fortlaufenden Narration sprechen, doch treten damit neben die zyklischen Zeitvorstellungen auch Ansätze von Linearität, eine Überlagerung, die typisch ist für die christliche Liturgie und sich daher auch in den Visionen niederschlägt.Footnote 54

Visionen können demnach auch von Tagzeit zu Tagzeit oder sogar an mehreren Tagen hintereinander fortgesetzt werden, dabei werden sie eng mit dem klösterlichen Tagesablauf verbunden:Footnote 55

Factum est in vigilia nativitatis domini tempore matutini sacrificii, dum essem in oratione [...]. Qui cum iam instante vespertino tempore advenisset [...]. Dum ergo orarent supra me sorores cum lacrimis. circa orationis finem vidi [...]. Tempore matutino [...]. In die vero ad maiorem missam [...]. (LV I, 57 f.)

›Es geschah zur Vigil der Geburt des Herrn, zur Zeit des Morgenopfers, als ich im Gebet war. [...] schon begann die Vesperzeit [...]. Als also die Schwestern mit Tränen über mir beteten, sah ich am Ende des Gebets [...]. Zur Zeit der Matutin [...]. Am Tag aber, bei der Hauptmesse [...].‹

Paradoxerweise haben diese zahlreichen temporalen Angaben nicht die Funktion, das Voranschreiten der Zeit erkennbar zu machen oder einen im eigentlichen Sinne chronologischen Bericht zu strukturieren,Footnote 56 sie dienen dazu, den Einfall transzendenter Erfahrung in das monastische Zeitkonzept einzubetten. Die Darstellung der transzendenten Erfahrung selbst weist lediglich minimale temporäre Markierungen auf, insofern Handlungen in ihr stattfinden; der Fokus liegt jedoch auf deren räumlichen Vollzug und im Sinne Lessings auf dem, was nebeneinander im Raum wahrnehmbar ist.

3.2 Ekphrastische Heilsvermittlung: Transzendenz als räumlich-visuelle Erfahrung

Die Offenbarungen Elisabeths sind strikt an den Sehsinn gebunden, wie dies bereits in Visionen des Alten und Neuen Testaments der Fall ist.Footnote 57 Sie sind oft, aber nicht immer, verbunden mit Ekstase, hinter der im Wortsinn die räumliche Vorstellung des ›Außer-sich-Seins‹ steht.Footnote 58 Ausgehend von Festen des Kirchenjahres und den Tagzeiten eröffnen sich den Blicken des Ichs unterschiedliche Dinge. Es kann sich um Geschehen an für Elisabeth unzugänglichen Orten handeln,Footnote 59 um Erscheinungen während der Mess- und Gebetszeiten selbst,Footnote 60 Beobachtungen biblischer Ereignisse, besonders aus dem Leben Jesu (z. B. LV I, 17), um das Erscheinen von Heiligen, deren in der Liturgie gedacht wird (z. B. LV I, 19), oder um Himmelsvisionen (z. B. LV I, 20). Damit werden unterschiedliche Räume, nah und entfernt, diesseitig und jenseitig, sowie unterschiedliche Zeitebenen – gleichzeitig, vorzeitig, überzeitlich, selten auch zukünftig – aufgerufen und die Inszenierung des Übergangs und des Verhältnisses zwischen Immanenz und Transzendenz gestaltet sich auch nicht immer gleich. Während etwa bei den Erscheinungen im liturgischen Geschehen Immanenz und Transzendenz verschmelzen, wird bei den Visionen, die im Himmel situiert sind, durch die Art der Transgression die Grenze zwischen beiden Sphären durchaus betont. Bei letzteren wird Elisabeth mal selbst erhöht, mal ist es auch nur der Blick, der sich nach oben richtet. Der Öffnung des Himmels geht meist eine Öffnung des Herzens voraus; gleich in der ersten derartigen Vision heißt es:

et apertum est cor meum. et vidi super aerem istum rotam magni luminis similem lune plene, sed quasi duplo maiorem. Et introspexi per medium rote, ad vidi similitudinem regalis femine [...]

›Und mein Herz öffnete sich, und ich sah über dieser Luft ein hell leuchtendes Rad, das dem Vollmond glich, aber etwa doppelt so groß war. Und ich schaute in der Mitte des Rades hinein und sah etwas wie eine königliche Frau [...]‹ (LV I, 5).

Es ist daher nicht leicht zu bestimmen, wo dieser himmlische Raum zu situieren ist, ob sich der ›Blick des Geistes‹ (mentis intuitu, LV I, 17) auf einen inneren oder auf einen transzendenten Raum richtet. Genau diese Frage wird im 8. Kapitel des dritten Buchs verhandelt werden. Elisabeth bittet dort in einer Vision um die Unterscheidung der drei Himmel und fragt weiter nach einem Zitat des Apostels Paulus, das sich auf dessen visiones und revelationes bezieht: sive in corpore nescio/sive extra corpus nescio/deus scit (›Ob im Körper, ob außerhalb des Körpers, weiß ich nicht, Gott weiß es‹, II Cor 12, 2).Footnote 61 Der Engel erläutert daraufhin, was bei der Ekstase geschieht, auch wenn er die Bezeichnung nicht verwendet. Der Mensch könne dann nicht entscheiden, ob sein Geist innerhalb oder außerhalb des Körpers sei. Auch er lässt die Frage also offen.Footnote 62

In den Visionen kann der Himmel zunächst wie eine Bildfläche wirken: Factumque est cor meum quasi ferro scinderetur in duas partes. Et ecce rota flammea grandis in celo emicuit [...] (›Und meinem Herz geschah es so, als ob es mit einem Schwert in zwei Teile zerschnitten würde. Und siehe, ein großes Flammenrad strahlte am Himmel auf [...]‹, LV I, 20). Dann aber öffnet er sich Elisabeths Blicken: Post hec in eodem loco quasi ostium apertum est, et introspexi per illud [...] (›Danach öffnet sich an derselben Stelle etwas wie eine Pforte, und ich sah durch sie hinein [...]‹, LV I, 20). Er erscheint räumlich, ähnlich wie eine Bühne. Diese Himmelsbühne weist eine Staffelung in eine untere und eine obere Sphäre auf, die genutzt wird, um Nähe und Distanz zwischen Elisabeth und den himmlischen Figuren zu markieren.Footnote 63 Darüber hinaus erweist sich ihre Räumlichkeit nicht durch die Beschreibung des Himmels selbst, sondern durch die Beschreibung von Lichterscheinungen darin, von Figuren und ihrer Anordnung sowie von wenigen ›Requisiten‹ wie dem Thron Marias oder Gottes.

Die Visionen in den frühen Kapiteln des ersten Buches erlebt Elisabeth allein auf diese visuelle Weise, denn sie kann die biblischen und heiligen Figuren nicht hören,Footnote 64 selbst wenn sie sich ihr zuwenden:

Et cum paululum descendisset. contra me stabat. Et ego intendens in eam, motum labiorum eius diligenter observabam. et cognovi. quod nominaret me nomine meo Elisabeth, et amplius non adiecit. Quod ego pro consolatione recipiens, gratias egi illi. et recessit a me.

›Und da sie [die Jungfrau Maria] ein wenig herabgestiegen war, stand sie mir gegenüber, und ich blickte auf sie und beobachtete genau die Bewegung ihrer Lippen und erkannte, daß sie mich bei meinem Namen Elisabeth nannte, aber weiter fügte sie nichts hinzu. Dies empfing ich als Tröstung, dankte ihr, und sie verließ mich.‹ (LV I, 11)

Dieses anfängliche Fehlen der Audition wird nicht weiter begründet. Man kann darin eine Form der Distanzierung sehen, denn die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz wird auch in der Vision nicht völlig aufgehoben. Andererseits trägt die fehlende akustische Wahrnehmung zur Fokussierung auf das Visuelle auch in der Darstellungsform bei, sowie die strikte Rückbindung an das vidi, die den Bericht im Modus der descriptio hält.Footnote 65 Dazu kommen die zahlreichen ekphrastischen Passagen im engeren Sinne wie dieser kurze exemplarische Ausschnitt aus der umfangreichen Beschreibung der himmlischen Ordnung im 20. Kapitel:

et multa milia sanctorum in ea. Stabant autem in circuitu maiestatis magne, secundum huiusmodi ordinem dispositi. Erant in quadam fronte illius circuitus viri quidam magnifici, et excellentes valde. adornati palmis et coronis copiose radiantibus, et titulo passionis in fronte signati.

›Und viele Tausende Heilige standen darin rund um eine große Majestät, in folgender Ordnung verteilt: Es befanden sich vorne in jenem Kreis einige hervorragende und sehr hervorgehobene Männer, geschmückt mit Palmen und weithin strahlenden Kronen und an der Stirn ausgezeichnet mit dem Zeichen ihrer Passion [...].‹ (LV I, 20)

Während die Immanenz in erster Linie über Zeitangaben definiert wird,Footnote 66 wird die Transzendenz vor allem über den Raum und eine gewisse ›Zeitlosigkeit‹ etabliert, denn die ekphrastischen Passagen stellen die erzählte Zeit stillFootnote 67 und auch die sich wiederholenden VisionenFootnote 68 erzeugen den Eindruck, dass sie der Zeit nicht unterworfen sind, da die Visionärin immer wieder in sie zurückkehren kann.Footnote 69 Allerdings wird nach Lessing in solchen descriptiones das Nebeneinander im transzendenten Raum in das Nacheinander der Schrift überführt; die demnach defizitäre Wiedergabe der Simultanität des Sehens in der Sukzession der Schrift kann hier als notwendig defizitäre immanente Reproduktion transzendenter Erfahrung gewertet werden. Diese Art der DarstellungFootnote 70 markiert die Transzendenz als etwas, das sich auch noch in der Vision der vollständigen Verfügbarkeit entzieht,Footnote 71 so dass die Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz präsent gehalten wird. Zugleich wird eine andere Art der Wahrnehmung und Erkenntnis, jenseits der verbalen Kommunikation, etabliert. Stimme und mündliche Kommunikation kehren mit dem Ende einer Vision oder Ekstase allerdings zurück und Elisabeth entströmen dabei scheinbar unwillkürlich lateinische Worte, häufig biblischen oder liturgischen Ursprungs wie in diesem Beispiel: Post hec expergiscens, in hec verba prorupi: Te sanctum dominum. et cetera cum versu (›Danach erwachend, brach ich in folgende Worte aus: Dich heiligen Herrn, und das Übrige mit dem Vers‹, LV I, 23).Footnote 72 Die hörbare Artikulation ist also an den diesseitigen Bereich gebunden bzw. markiert die Übergänge zwischen Vision und monastischem Umfeld.

Diese Offenbarungen wirken also zunächst nur durch die Glossolalien im Diesseits nach; sie berichten weder über deren Inhalt noch enthalten sie Botschaften,Footnote 73 es handelt sich um biblisch-liturgische Worte, wie sie die Vision auch auslösen. Der ›Mehrwert‹ in diesen Kapiteln liegt für die Rezipienten daher kaum in diesen Äußerungen, auch wenn sie zur Beglaubigung des visionären Zustands beitragen. Er liegt vielmehr im Nachvollzug der Visionen, in der durch den Text und seine detaillierten Angaben angeregten Imagination und der mit ihnen einhergehenden ›Erkenntnisse‹, wie ein weiterer Ausschnitt aus der bereits zitierten, sich überdies wiederholenden Vision zeigt, in der die Heiligen und Engel konzentrische Kreise um eine strahlende Mitte bilden:

In medio autem omnium gloriam maiestatis immense, quam effari omnino non possum, cuius thronum gloriosum yris fulgida ambiebat. A dextris autem maiestatis vidi similem filio hominis in summa gloria residentem. A sinistris vero signum crucis vehementer radiosum apparuit.

›In der Mitte von allem aber [sah ich] die Glorie der unendlichen Majestät, die überhaupt nicht in Worte fassen kann. Ihren glorreichen Thron umgab ein glänzender Regenbogen. Zur Rechten der Majestät aber sah ich einen in höchster Glorie thronen, ähnlich dem Menschensohn. Zur Linken aber erschien das intensiv strahlende Zeichen des Kreuzes.‹ (LV I, 20)

Ausgehend von der Liturgie eröffnet sich in der Vision insofern auch ein Raum ästhetischer Wahrnehmung, als der Himmel zunächst einmal »in der unübersehbaren Fülle seiner Aspekte« und »seiner unreduzierten Gegenwärtigkeit« von Elisabeth wahrgenommen wird, wie der Philosoph Martin Seel in seinem Entwurf einer Ästhetik des Erscheinens formuliert.Footnote 74 Diese Wahrnehmung führt überdies zu einer besonderen Form theologischer Einsicht:

Cumque hec omnia trementi corde aspicerem, hoc quoque adicere dignatus est dominus, ut mihi indignissime peccatrici de gloria sue ineffabilis trinitatis modo quodam. quem explicare non audeo, hoc significaret. quoniam vere una divinitas in personis trina est, et tres persone una divina substantia.

›Und da ich dies alles zitternden Herzens anschaute, würdigte der Herr mich noch, dies hinzuzufügen, daß er mir unwürdigsten Sünderin über die Glorie seiner unaussprechlichen Dreifaltigkeit auf eine Weise, die zu erklären ich nicht wage, diese bedeutete, daß nämlich wirklich eine Gottheit in drei Personen ist und die drei Personen eine göttliche Substanz.‹ (LV I, 20)

Die ästhetische Wahrnehmung ist hier nicht in einem strengen Sinne »selbstzweckhaft«, wie von Martin Seel gefordert.Footnote 75 Es ist jedoch bezeichnend, dass die Art der Erkenntnis, die von ihr ausgeht, nicht näher erläutert werden kann, weil sie unmittelbar in dieser und in göttlicher Gnade begründet liegt.

3.3 Performative Heilsvermittlung: Das Ostergeschehen in den Visionen

Et quid amplius requiris frater? Omnia pene. que circa tempus illud gesta fuisse in evangeliis leguntur, mihi demonstrata sunt.

›Und was fragst du weiter mein Bruder? Fast alles, von dem in den Evangelien gelesen wird, das in jener Zeit geschah, wurde mir gezeigt.‹ (LV I, 50)

Mit diesen Worten bricht Elisabeth den Bericht ihrer Vision am Ostermorgen ab, die in knappster Weise formulieren, um was es geht: Die Ereignisse, die aus der Schriftlektüre hinlänglich bekannt und vertraut sind, werden in den Visionen ›gezeigt‹ (demonstrata) und damit sinnlich erfahrbar gemacht. Darin manifestiert sich ein Schriftverständnis, das – wie Niklaus Largier herausgearbeitet hat – durch Ignatius von Loyola bekannt gemacht wurde, dessen Tradition sich jedoch weit bis ins Mittelalter und darüber hinaus zurückverfolgen lässt.Footnote 76 Dieses setzt an bei einer »›ästhetisierende[n]‹ Lektüre der Schrift«, die diese »in einen sinnlich-emotionalen Erfahrungsraum übersetzt«. Diese »Theorie der inneren Sinne« bzw. »Phänomenologie der aisthesis« geht auf Origenes zurück,Footnote 77 es ist daher sicher kein Zufall, dass sein Name in den Visionen genannt wird. Elisabeth sieht in einer leuchtenden und farbigen Vision (LV III, 5) Maria als »Gottesgebärerin« mit dem Kind und fragt sie nach Origenes, der sie als erster so bezeichnet haben soll.Footnote 78 Diese entlastet ihn, der mehrmals verurteilt wurde, da sein Irrtum ohne Bosheit geschehen sei, verweigert jedoch weitere Auskünfte hinsichtlich des göttlichen Gerichts über ihn, um diesem nicht vorzugreifen. Origenes ging es bei seinem Verständnis der inneren Sinne um Schriftexegese, jedoch als einer »Praxis des kontemplativen Lesens, das zum Medium der Erfahrung wird, wo es sich als Animation der inneren Sinne« begreift.Footnote 79 In seinem Kommentar zum Hohelied benennt er auch eine ästhetische Dimension der Rezeption:

»Keine historische explicatio als Wissensform ist gefordert, sondern ästhetische applicatio, die der Leser zu vollziehen hat, soll er die Schrift erfahrungshaft realisieren und schließlich über die sinnlich anschauliche Erfahrung die pädagogische Intention des Textes verwirklichen.«Footnote 80

Bereits die zitierte Himmelsvision hat vorgeführt, wie die sinnliche Wahrnehmung Elisabeth ein Verständnis der Trinität vermittelt; die genauen Ekphrasen leiten die Rezipienten an, dies nachzuvollziehen. Sie sind aber nicht der einzige Darstellungsmodus, der die »ästhetische applicatio« befördert.

Stationen des Lebens Jesu spielen in den Visionen eine wichtige Rolle: »Ganze Passagen aus der Bibel, wie die Passion des Herrn von Palmsonntag bis Pfingsten werden zu den entsprechenden Zeitpunkten des Jahres visionär nachgezeichnet.«Footnote 81 Auf den ersten Blick scheint es, als bestünde diese visionäre ›Nachzeichnung‹ nur aus einer reduzierten Wiederholung dessen, was auch die Evangelien berichten, bei genauerem Hinsehen erweist sich die Darstellung jedoch als komplexer. Wie bereits dargelegt, fällt Elisabeth vor dem Beginn der Visionen meist in Ekstase, die Visionen selbst werden mit vidi eingeleitet.Footnote 82 Dadurch ist alle Darstellung zwar von diesem Sehensprozess abhängig, abgesehen davon ist Elisabeth jedoch eine an der Handlung selbst völlig unbeteiligte Zuschauerin.Footnote 83 Das heißt allerdings nicht, dass die Wahrnehmung als solche ein passiver Vorgang ist.Footnote 84

Das, was sie in diesen heilsgeschichtlichen Visionen sieht, ist weder statisch noch narrativ. Durch die Abhängigkeit von Elisabeths Blick sind auch diese Passagen in einem Modus der Beschreibung dessen verfasst, was sich teils gleichzeitig teils nacheinander im Raum abspielt, der selbst wiederum höchstens rudimentär bestimmt wird.Footnote 85 Die Vorgehensweise des Textes wird an der ausführlichen Darstellung des Ostergeschehens besonders deutlich. Die erste Vision dazu findet bereits zur Vigil des Festtags von Maria Magdalena statt:Footnote 86

In vigilia beate Marie Magdalene ad vesperam vidi illam cum corona lucidissima, et simul cum ea matrem domini. Stabant autem contra se quasi colloquentes ad invicem, et post pusillum converse sunt ad orientem.

›An der Vigil der seligen Maria Magdalena sah ich sie zur Vesper mit einer hell leuchtenden Krone und zugleich mit ihr die Mutter des Herrn. Sie standen aber einander gegenüber, als ob sie sich miteinander besprächen, und binnen kurzem wandten sie sich nach Osten.‹ (LV I, 17)

Maria Magdalena trägt hier bereits die Märtyrerkrone, so dass die verschiedenen Zeitebenen – irdisches Geschehen der Passion und Auszeichnung als Heilige nach dem Tod – überblendet werden; das bedeutet, dass Elisabeth nicht etwa in einer Art Zeitreise oder einem ›historischen Rückblick‹ die Ereignisse zu sehen bekommt, sondern eher in ihrer überzeitlichen Bedeutung.

Am Festtag selbst erblickt sie zunächst die Engel am Grab, kann diese aber nicht identifizieren:

In die ad missam, dum orarem positis in terra genibus, vidi in aëre quasi prope terram duos viros splendidos sedentes contra se, et in medio eorum lucidum quiddam quasi formam habens sepulchri. et ecce mulier similis ei, quam in sero videram, accessit, et stabat diligenter inspiciens eandem sepulchri speciem. Dum autem staret, accessit retro eam iuvenis candidissimo amictu circumdatus, nigram habens comam ac barbe lanuginem, et faciem supra modum speciosam. Moxque illa ad eum conversa ibat in occursum eius, et stabat quasi interrogans aliquid ab eo. Tunc cepi anxie cogitare intra me, quisnam esset ille iuvenis. Cumque magno desiderio sciendi hoc estuarem, subito in dextera eius crux aurea apparuit. Vnde mox coniectabam, quoniam ipse esset is, qui surgens a mortuis primo Marie apparuit.

›Unter Tags bei der Messe, als ich mich auf den Boden gekniet hatte und betete, sah ich in der Luft recht nahe der Erde zwei leuchtende Männer einander gegenüber sitzen und in ihrer Mitte etwas Leuchtendes, das ungefähr die Gestalt eines Grabes hatte. Und siehe, eine Frau, ähnlich jener, die ich am Abend gesehen hatte, trat hinzu und blieb stehen, wobei sie die Form dieses Grabes genau betrachtete. Als sie aber dort stand, trat von hinten ein Jüngling hinzu, umgeben von einer ganz weißen Kleidung, mit schwarzen Haaren und einem flaumigen Bart und einem überaus schönen Antlitz. Sogleich wandte sich jene zu ihm und ging ihm entgegen, blieb stehen und schien etwas von ihm zu erfragen. Dann begann ich angstvoll bei mir zu denken, wer denn dieser Jüngling wäre. Und als ich in großem Verlangen glühte, dies zu wissen, erschien plötzlich in seiner Rechten ein goldenes Kreuz. Daraus erschloss ich sogleich, daß er selbst es sei, der von den Toten auferstehend zuerst Maria erschien.‹ (LV I, 17)

Die Art der Darstellung orientiert sich wie gesagt nicht an der Narration der Evangelien, sie erinnert eher an Osterfeiern oder -spiele, besonders an die Regieanweisungen, da die Figurenrede fehlt und stattdessen die Handlungen sowie Aussehen und Kleidung beschrieben werden.Footnote 87 Übereinstimmungen und Unterschiede werden deutlicher durch die Gegenüberstellung der entsprechenden Szene aus dem Marienberger Osterspiel, überliefert in einem Antiphonar des bei Helmstedt gelegenen Augustiner-Chorfrauenstifts Marienberg aus dem 12./13. Jahrhundert:Footnote 88

Post hec una vadat ad Monumentum choro cantante: *Maria stabat ad monumentum / foris plorans, dum ergo fleret, / inclinavit se et prospexit in monumentum / et vidit duos angelos / in albis sedentes unum ad caput et unum ad pedes, ubi positus fuerat corpus Domini Jesu. [...]

Et illa adorato Sepulcro convertat se ad Populum et dicerat: *Tulerunt Dominum meum / et nescio, ubi posuerunt eum.

sacerdos: *Mulier, quid ploras, quem queris?

Et illa: *Domine, si tu sustulisti eum, / dicito michi, ubi posuisti eum / et ego eum tollam. Tunc apparebit sibi Quidam in Specie Christi cantans: *Maria! Et illa quasi eum tangere volens dicat: *Raboni!

Bereits Felix Heinzer hat festgestellt, dass sich im Liber Visionum eine »gewisse Affinität der visionären Imaginierung zu dramatisch aufgeladenen liturgischen Situationen« feststellen lasse.Footnote 89 Durch das Vorbild der Osterfeier scheint sie hier noch deutlicher auszufallen, auch wenn diese nicht einfach reproduziert wird. Der Unterschied liegt noch auf einer anderen Ebene, wie ein Blick auf Erika Fischer-Lichtes Bestimmung des Theaters zeigt:

»Theater erfüllt immer zugleich eine referentielle und eine performative Funktion. Während die referentielle Funktion auf die Darstellung von Figuren, Handlungen, Beziehungen, Situationen etc. bezogen ist, richtet sich die performative auf den Vollzug der Handlungen – durch die Akteure und zum Teil auch durch die Zuschauer – sowie auf ihre unmittelbare Wirkung.«Footnote 90

In Elisabeths Offenbarungen fällt die referentielle Funktion aus, da es sich um die ›wahren‹ Begebenheiten handelt: Sie sieht tatsächlich den Auferstandenen und Maria Magdalena, auch wenn ihre Identität nicht gleich festzustehen scheint. Umso deutlicher ist aber die performative Funktion, die auch durch den Zuschauerstatus Elisabeths unterstrichen wird. Eine entscheidende Umformung liegt darin, dass die Erkenntnis, um wen es sich bei dem jungen Mann handelt, die im Johannesevangelium und in der Feier Maria Magdalena gewinnt, sich in der Vision auf Elisabeth verlagert: Sie ist es, die zunächst nicht weiß, um wen es sich handelt, und ihn dann am plötzlich und wie auf ihr Verlangen hin erscheinenden goldenen Kreuz in seiner Hand erkennt, das ebenfalls nicht in den Evangelien erwähnt wird. Auch hier könnte es sich um eine intermediale Anleihe des Textes handeln, denn die Bildtradition kennt die Siegesfahne mit dem Kreuz als »Symbol seiner siegreichen Auferstehung«Footnote 91. Vielleicht hielten auch manche Priester, die in den Osterfeiern gewöhnlich den Jesus darstellten, ein solches Kreuz in der Hand. Zwar wird diese Identifikation des Auferstandenen im Konjunktiv formuliert, aber im Gegensatz zu Feier oder Spiel sieht sie den Herrn selbst und nicht den Priester, der diesen verkörpert.Footnote 92 Trotz der beobachtenden Distanz gegenüber dem Geschehen identifiziert sich Elisabeth hier also mit der Position Maria Magdalenas und partizipiert, auch emotional, am dramatischen Geschehen.

Eine weitere Übereinstimmung mit Feier und Spiel stellt das so auffällig oft wiederholte quasi dar. Einerseits ist es Teil der generellen Reduzierung auf den Augenschein,Footnote 93 andererseits ist dies eine weitere Übereinstimmung mit den Regieanweisungen, wie die zitierte Noli-me-tangere-Szene der Marienberger Feier exemplarisch zeigt. Für seine ausführlichen deutschen Regieanweisungen bekannt ist das Donaueschinger Passionsspiel mit Osterteil aus einer Handschrift des späten 15. Jahrhunderts; in diesen sind die ›als ob‹-Angaben noch häufiger.Footnote 94 Gerhard Wolf benennt im Hinblick auf dieses Spiel drei jeweils mögliche Gründe für diese Angaben: Sie zeigen, dass die dargestellte Handlung nicht real ist, sie signalisieren eine Diskrepanz zwischen Handeln und Intention der Person oder sie dienen der Ausgestaltung der Handlungsszenen und der Deutung des Geschehens gerade dort, wo der Bibeltext wenig mitteilt.Footnote 95

Elisabeth erscheint in der Rolle einer Zuschauerin, die allerdings – da ihr die Redeanteile fehlen – Aussehen und Handlungen der Figuren beschreibt, während die Regieanweisung diese vorschreibt. Durch die Reduktion auf die sichtbare Bewegung der Körper im Raum wird die Performativität des Heilsgeschehens betont; das ›als ob‹ verweist jedoch nicht auf das Mimetische wie beim Schauspiel und auch nicht auf einen Widerspruch zwischen Handlung und Motivation der Figur, sondern auf den interpretatorischen Anteil der Betrachterin an der Vision und ihrer Verschriftlichung. Die Visionen exponieren hier noch mit dem Fokus auf Körper und Raum das Performative der Transzendenz und ziehen mit dem quasi eine Grenze zu dessen zuverlässiger Interpretierbarkeit ein.Footnote 96

Die Vision zu Ostern vollzieht die Ereignisse am Grab erneut und nun vollständiger nach, entspricht jedoch im Ablauf keinem der divergierenden Evangelienberichte, stattdessen gibt es große Übereinstimmungen mit den Osterfeiern des sog. Typs III, deren Überlieferung insbesondere auf Frauenklöster und -stifte verweist. Kennzeichnend gegenüber den Typen I und II ist, dass hier der Auferstandene selbst auftritt und in der Gestalt des Gärtners als Erster Maria Magdalena erscheint und ihr den Kündungsauftrag erteilt. Auch der Szenenbestand stimmt überein, allerdings werden die ersten beiden Szenen vertauscht, denn üblicherweise beginnen die Feiern mit dem Gang der drei Marien zum Grab (Visitatio sepulchri) und erst danach erscheint Christus Maria Magdalena (Hortulanus- oder Noli me tangere-Szene). Der ›Jüngerlauf‹ von Petrus und Johannes, die zum Grab eilen, um die Botschaft zu prüfen, ist bei manchen Feiern vorhanden, bei anderen nicht.Footnote 97

Helmut de Boor hat den Entstehungszeitraum der deutschen Osterfeiern des Typs III auf Anfang des 12. Jahrhunderts angesetzt.Footnote 98 Zwar gibt es keine Belege für eine entsprechende Tradition in Schönau und Elisabeths Kenntnis dieses Typs der Osterfeier lässt sich daher nicht in einem strengen Sinn beweisen, gleichwohl ist denkbar, dass sie solche Feiern kannte.

Elisabeths diesbezügliche Visionen beginnen während der Vesper am Ostersamstag. Ihr erscheinen ›verehrungswürdige Matronen, als ob sie Spezereien trügen‹ (venerabiles quedam matrone quasi gestantes aromata, LV I, 49). Am Ostermorgen setzen sich die Ereignisse in der Vision fort:

In die sancto Pasce, cum iam dilucesceret, sedebam in loco orationis et legebam in psalmis. Cumque iam ad finem psalmorum appropinquarem, veni in extasim, et vidi hortum, in quo erat monumentum, et lapidem ab hostio eius sublatum, et angelos assidentes, et ecce matrona quedam veniens accessit ad monumentum plorans, et introspexit, et non invento ibi corpore, quasi mesta paululum recessit. Occurrit autem ei dominus, moxque illa substitit. quasi interrogans aliquid ab eo. Et post pusillum conversa est. ut rediret ad monumentum, iterumque subito se convertit quasi vocata ab illo, et currens procidit ad pedes eius. Cunque ipse disparuisset. surgens illa velociter cucurrit usque ad domum, ubi erant discipuli congregati, et nuntiavit eis. Continuo post hec, cum paululum respirassem, vidi duas matronas venientes ad sepulchrum cum aromatibus, et ut viderunt angelos, substiterunt quasi stupefacte. Post hec cum timore propius accesserunt. Factaque ibi parva mora, discesserunt. Occurrit autem et illis dominus in via, moxque ille accurentes prociderunt coram eo, et tenuerunt pedes eius. Hoc autem nequaquam de predicta illa matrona visum michi est. Post hec, cum celebraretur missa, vidi duos discipulos properantes ad sepulchrum, quorum alter quidem senior, alter autem videbatur esse iunior. Et hic quidem, cum cicius pervenisset ad sepulchrum, non introivit. Senior vero. cum pervenisset, statim introivit. postea vero et alter.

›Am Heiligen Ostertag, als es schon hell wurde, saß ich an meinem Betplatz und las in den Psalmen. Und als ich mich bereits dem Ende der Psalmen näherte, fiel ich in Ekstase und schaute einen Garten, in dem sich ein Grabmonument befand, doch der Stein war von seinem Eingang entfernt, und Engel saßen dort. Und siehe, eine Matrone kam und trat weinend zum Grab hin und blickte hinein. Als sie dort den Körper nicht fand, wich sie wie traurig ein wenig zurück. Der Herr aber eilte ihr entgegen, und bald blieb jene stehen, wie um irgend etwas von ihm zu erfragen, und nach kurzem wandte sie sich um, um zum Grab zurückzugehen. Und wieder wandte sie sich rasch um, wie von jenem gerufen, und warf sich eilig zu seinen Füßen nieder. Und nachdem dieser verschwunden war, erhob sich jene schnell und eilte bis zu dem Haus, wo die Jünger versammelt waren, und berichtete es ihnen. Gleich darauf, nachdem ich mich ein wenig erholt hatte, sah ich, wie zwei Matronen mit Spezereien zum Grab kamen, und wie erstaunt stehen blieben, als sie die Engel sahen. Danach kamen sie mit Zagen näher heran. Nachdem sie dort ein wenig verweilt hatten, gingen sie fort. Auch ihnen eilte aber der Herr auf dem Weg entgegen, und bald eilten jene heran, warfen sich vor ihm nieder und umfaßten seine Füße. Dies aber wurde mir keineswegs auch von der vorhergenannten Matrone gezeigt. Danach, als die Messe gefeiert wurde, sah ich, wie zwei Jünger zum Grab eilten, von denen der eine freilich älter, der andere jedoch jünger zu sein schien. Und dieser trat aber nicht ein, obschon er schneller zum Grab gekommen war. Doch als der Ältere hingekommen war, trat er sofort ein, danach aber auch der andere.‹ (LV I, 50)

Der Zeitpunkt der Vision ist liturgisch bestimmt, entsprechend fanden auch die Osterfeiern nach der Matutin am Ostersonntag statt,Footnote 99 allerdings fällt auf, dass diese Vision nicht unmittelbar an die Tagzeit gebunden ist, sondern an die private Lektüre. Der Auferstandene begegnet also zuerst Maria Magdalena, die hier anders als die Engel und der Herr selbst nicht identifiziert wird. Elisabeths Darstellung legt Wert darauf, dass diese Jesus nicht berührt (Io 20, 17), dass dieser aber nochmal den beiden Marien erscheint. Diese erneute Christophanie fehlt in den Osterfeiern, auch wenn sie sich auf das Matthäus-Evangelium (28, 9) stützen kann. Elisabeth hält sich also an die Evangelien, baut damit aber der Schlussfolgerung eines Berührungsverbotes durch eine Frau vor. Auch hier fehlt die verbale Interaktion, selbst wenn es Elisabeth und den Rezipienten nicht schwer gefallen sein dürfte, die aus Evangelien und Liturgie bekannten Dialoge mithilfe der memoria zu ergänzen. Durch den Fokus auf Bewegung und Ausdruck der Körper im Raum appelliert der Text implizit damit an die Rezipienten, das Gelesene in der Imagination zu visualisieren. Er erzeugt dadurch Bilder, ähnlich wie die Vision Elisabeth das ›zeigt‹, was sie in der Schrift gelesen hat. Dafür wird auf Performanzvorstellungen zurückgegriffen, wie sie vermutlich die Osterfeiern als Erweiterungen der selbst performative Züge aufweisenden Liturgie vermitteln. Damit nimmt der Text Rezeptionsformen vorweg, die besonders im Spätmittelalter virulent werden. So hat Carla Dauven-van Knippenberg für das Wienhäuser Osterspiel des 14. Jahrhunderts in Verbindung mit dem erhaltenen Heiligen Grab des Klosters eine prinzipiell ganzjährig mögliche Lektüre des Textes als »Schauspiel für das innere Auge« in Erwägung gezogen.Footnote 100 Christian Schmidt wiederum hat Darstellungsformen von spätmittelalterlichen Gebetstexten untersucht, die der »innere[n] Theatralisierung« dienen.Footnote 101 Man kann in dieser Form ästhetisierender Bearbeitung der Evangelientexte, wie sie vergleichbar auch zur Epiphanie, Passion, Himmelfahrt oder Pfingsten zu finden sind,Footnote 102 dementsprechend eine Hilfestellung zum Verständnis der Schrift durch die Imagination sehen.

4 Transformationen in der Langfassung des Liber Visionum Primus und den folgenden Büchern

4.1 Von der Vision zur Kommunikation

Wie bereits erläutert, gibt es in den Visionen der frühen Kapitel keine direkten Dialoge, auch wenn Elisabeth Gebete spricht oder die Heiligen anredet. Worte können sich ihr allerdings auch ungesagt oder ungehört vermitteln, so bereits in der ersten Vision, in der sie Maria im Himmel sieht:

Stans autem domina mea signo crucis me consignavit. et hec verba menti mee nescio qualiter inseruit: Ne timueris. quia nihil tibi ista nocebunt. Vocis quidem sonitum non audivi. sed tantummodo labiorum eius motum distincte aspexi.

›Meine Herrin stand aber da, bezeichnete mich mit dem Kreuzeszeichen und gab meinen Gedanken – ich weiß nicht wie – diese Worte ein: Fürchte dich nicht, weil dir dies nicht schaden wird. Ich hörte aber keinen Laut einer Stimme, sondern erblickte nur deutlich die Bewegung ihrer Lippen.‹ (LV I, 5)

Es fehlt also die Audition, selbst da wo die Rede sich direkt an Elisabeth richtet, als gäbe es eine Art akustischer Barriere. In den später hinzugefügten Kapiteln der Langfassung des Liber Visionum Primus findet dann ein allmählicher Übergang zu direkter Kommunikation statt. Zugleich ist bereits hier die in der Forschung öfter beschriebene Hinwendung zu von Ekbert und Elisabeths Umfeld formulierten Fragen erkennbar, die die späteren Offenbarungen leiten.Footnote 103 Nun tritt auch ein Engel des Herrn auf (LV I, 31),Footnote 104 der in den folgenden Visionen zu ihrem ständigen Begleiter und Gesprächspartner wird. Bei seinem ersten Auftritt heißt er sie allerdings noch mit einem Kopfnicken zu schweigen und spricht selbst ebenfalls nicht. Auch bei seinem nächsten Erscheinen bleibt die Kommunikation noch stimmlos: Tunc convertit ad me faciem. quasi indignans, et continuo verba hec cordi meo infixa sunt: Ego sum angelus testamenti (›Da wandte er wie unwillig sein Antlitz zu mir, und sogleich wurden folgende Worte in mein Herz eingedrückt: Ich bin der Engel des Testamentes!‹, LV I, 35).Footnote 105

Einen Wendepunkt stellt die Vision im 40. Kapitel dar, die Elisabeth ihrem Bruder als Ausdruck besonderen göttlichen Erbarmens ankündigt. Sie erfährt an zwei Sonntagen der Fastenzeit hintereinander eine komplexe bildhafte Vision,Footnote 106 die sie mit den Worten einleitet: Mirificavit deus misericordias suas in me etiam frater mi ex quo nuper a me discessisti, et hec fecit mihi (›Gott hat auch an mir, mein Bruder, sein Erbarmen wunderbarerweise gezeigt, seitdem du neulich von mir geschieden bist. Und dieses tat er mir‹, LV I, 39). Die Vision von einem sich drehenden Rad mit einem sich nur mühsam darauf haltenden Vogel und einer Leiter löst in ihr den Wunsch nach tieferer Einsicht aus.Footnote 107 Sie erbittet daher vom seligen Gregor, dessen Fest gefeiert wird, seine Fürsprache zu deren Verständnis, der sie jedoch auf die Erklärung durch die Schriftgelehrten verweist: Non potes intelligere, quid ista significent, sed dic doctoribus, qui legunt scripturas; ipsi sciunt. (›Du vermagst nicht zu verstehen, was dies bedeutet, sondern sage es den Gelehrten, die die Schriften lesen, diese wissen es‹, LV I, 40). Auch wenn ihr eine direkte Allegorese zunächst verweigert wird, setzt hier ein Transformationsprozess ein, denn die bisherigen Visionen waren aus der Anschauung selbst wirksam und bedurften kaum einer zusätzlichen Erläuterung. Diese Vision aber erfordert gelehrtes Wissen und Auslegungskompetenz. Parallel dazu setzt nun verbale Kommunikation ein. In LV I, 57 kommt es zu einem ersten kleinen Dialog mit dem Engel des Herrn; am Ende ihres Gebets sieht sie ihn ›[...] wie mir von oben zur Hilfe kommen. Und als er bei mir stehengeblieben war, sagte ich ihm: Mein Herr, ich bin erschöpft, dies zu ertragen. Und er sagte zu mir: Du wirst gestärkt und getröstet werden, laß nicht nach auf deinem Weg!‹ (circa orationis finem vidi angelum domini desurum venientem quasi in adiutorium mihi. Et cum stetisset coram me, dixi illi: Domine mi, lassa sum ad sustinendum. Et ait ad me: Confortare. consolare, noli deficere in via.). Sukzessive nimmt danach die Kommunikation und vor allem die Belehrung durch den Engel zu, häufiger sind nun Botschaften an die Außenwelt darunter.Footnote 108 Auch Ekberts Rolle wird erweitert: Er ist nicht mehr nur Adressat ihres Berichtes und späterer Herausgeber, sondern zunehmend auch Ansprechpartner und Begleiter der Offenbarungen im Hintergrund.

Zeitgleich wird das anfängliche Schweigen Elisabeths über den Inhalt ihrer Visionen überführt in einen Prozess der Veröffentlichung:Footnote 109 Da sie sich zunächst weigert, wird sie durch den Engel sogar mit Schlägen (LV I, 78) und zeitweiliger Stummheit dazu gedrängt, das Wort Gottes, das ihr in den Mund gelegt sei,Footnote 110 öffentlich zu machen und einen schriftlichen Bericht anfertigen zu lassen.Footnote 111 Nachdem sie ihr ›geheimes Büchlein‹ dem Abt ausgehändigt hat,Footnote 112 verkündet ihr der Engel das Ende der bisherigen Visionen, nun solle sie sich auf das ›Licht des Himmels‹ konzentrieren.Footnote 113

Hier wird ein Konnex erkennbar zwischen der Veränderung der Offenbarung als visuelle Erfahrung liturgisch gesteuerter Inhalte hin zur verbal vermittelten Didaxe durch den Engel und der Veröffentlichung der Visionen und Elisabeths Auftreten als Prophetin.Footnote 114 Vor dem Hintergrund der Entstehungs- und Erweiterungsgeschichte des Liber Visionum gewinnt man den Eindruck, dass die Offenbarungen der Langfassung bewusst so arrangiert und erweitert wurden, dass deren Veröffentlichung und Elisabeths prophetisches Auftreten durch diesen Text legitimiert wurden.

4.2 Von der visio zur doctrina, von der Präsenz zum Sinn. Ausblick auf Buch II und III

Im zweiten und dritten Buch, die laut Ekberts Vorwort von Visionen nach Fertigstellung des ersten Buches berichten,Footnote 115 werden diese auch weiterhin mit der Angabe des jeweiligen Festtags eingeleitet. Die Tagzeiten fehlen hier jedoch so gut wie völlig, während Messe und Eucharistie häufiger zur Terminierung der Visionen genannt werden. Der Hintergrund für diese Veränderung könnte sein, dass sich im monastischen Leben der Fokus von den Tagzeiten hin zur Messe verschob, was gerade für die Frauenklöster eine nachteilige Entwicklung darstellte, da sie für diese auf einen Priester angewiesen waren.Footnote 116 Zwar treten weiterhin die liturgisch mit dem Tag verbundenen Heiligen auf, ansonsten sind die Visionen inhaltlich oft ganz vom Offizium entkoppelt. Der Engel bleibt aber Elisabeths leitende Figur, der mit ihr ausführliche Lehrdialoge führt.Footnote 117

Eines der zentralen Themen, wenn nicht das zentrale Thema des zweiten Buchs sind die in der Offenbarungsliteratur etablierten JenseitsvisionenFootnote 118 und die damit verbundene Frage nach der Wirksamkeit des Gebets für die Verstorbenen und deren Verbleib nach dem Tod. Es geht in erster Linie um das Schicksal bestimmter Menschen, die mit dem Kloster oder Ekbert und Elisabeth in Beziehung standen, wie verstorbene Brüder, Verwandte oder die Stifter des Klosters.Footnote 119 Wie im ersten Buch werden auch hier die monastisch-liturgischen Verpflichtungen in ihrer Sinnhaftigkeit vorgeführt, allerdings nicht durch die visuelle Erfahrung und Partizipation an Transzendenz und Heilsgeschehen, sondern in sehr viel expliziterer, verbalisierter Form. Elisabeth wird zu einem Medium der Kommunikation zwischen Transzendenz und Immanenz, indem sie Fragen und Botschaften hin und her übermittelt. Dabei erweist sie sich als kluge Gesprächspartnerin, die gezielt nachfragt, Zitate einbringt und den Dialog steuert.Footnote 120 In der Forschung wird darin überwiegend der Einfluss des gelehrten Bruders Ekbert gesehen, auch aufgrund entsprechender Hinweise im Text.Footnote 121 Unabhängig davon, ob diese Einschätzung zutrifft, tritt das, was die Visionen des ersten Buches ausmacht, der Selbstwert der liturgischen Struktur und die »Selbstzweckhaftigkeit«Footnote 122 der sinnlichen Transzendenzerfahrung zurück zugunsten von formal eher konventionellen Lehrdialogen, die den Fokus auf kognitiv-verbale Didaxe und hermeneutische Auslegung bildhafter Visionen richten. Im Anschluss an Hans Ulrich Gumbrecht kann man diese Entwicklung so interpretieren, dass in den frühen Kapiteln eine Kultur der Präsenz, in den späteren Kapiteln und Büchern dagegen eine Kultur des Sinns dominiert.Footnote 123 Während in Sinnkulturen das Bewusstsein des Menschen im Vordergrund steht, sein Handeln in der Zeit und seine Interpretation der Dinge zur Erzeugung von Sinn, ist der Mensch in Präsenzkulturen zunächst Körper und damit »Teil der kosmischen Ordnung«; hier ist der Raum entscheidend, die Zeit dagegen revidierbar und daher das »Wieder-Gegenwärtigmachen« möglich.Footnote 124 Karl-Heinrich Bieritz, auf dessen Diskussion von Gumbrechts Thesen ich mich hier beziehe, rekurriert in seiner Untersuchung zur »Vergegenwärtigung des Heils in Liturgie und geistlichem Spiel« daneben auf das Anamnesis- und das Mimesis-Konzept, um die Unterschiede zwischen Messe und Spiel herauszuarbeiten. Im Gegensatz zur Sinn- und Präsenzkultur ist die Opposition hier weniger scharf, so richten sich beide Konzepte auf die (Wieder‑)Herstellung von Präsenz. Das Anamnesis-Konzept gründet sich auf jüdische Traditionen und vergegenwärtigt göttliches Handeln in der Zeit und damit – darin stimmt es mit Lessing überein – im Wort und in einer Erzählung von der Vergangenheit bis zur Zukunft. Das Mimesis-Konzept dagegen vergegenwärtigt Heil im Raum, als »zeitlose immerwährende Gegenwart«, daher ist das Leitmedium das Bild, das bewegte Bild oder Spiel.Footnote 125

Freilich kann im Liber Visionum nicht von einer strikten Gegenüberstellung unterschiedlicher Konzepte die Rede sein, gleichwohl ist eine Verschiebung des Fokus erkennbar, denn dieser liegt zunächst auf der sinnlichen Erfahrung einer deskriptiv oder performativ vergegenwärtigten Transzendenz im Raum und verlagert sich dann auf Gespräch und hermeneutische Durchdringung der Visionen. Buch III setzt diese Entwicklung fort, die Offenbarungen sind nun häufiger so umfangreich, dass sie sich über mehrere Kapitel hinziehen und die Festtage als strukturierendes Element vollends in den Hintergrund treten.Footnote 126 Mehrmals gibt es ›Zeitsprünge‹ von einem Jahr, um die Fortsetzung der Vision dieses Festtages zu schildern; dieser ist jetzt nur noch Anlass zu einem bestimmten Thema.Footnote 127 Der Ablauf ist nun in der Regel so, dass Elisabeth den Engel, die Gottesmutter oder einen anderen Heiligen um Belehrung bittet, zu denen sie nun auch ohne Vermittlung des Engels in Kontakt tritt, die dann in längeren Erläuterungen oder Dialogen gewährt wird. In beiden Büchern werden auch Themen behandelt, die einen klaren Bezug zu den Visionen und Ekstasen selbst haben,Footnote 128 wenn ihr etwa ausgehend von einer Stelle bei Dionysius Areopagita der Engel erklärt, dass die oberen Engel ihre Einsichten vom Herzen Gottes empfangen und er wiederum von ihnen:

Nuper, cum me interrogares, unde tibi essent verba epistolarum, quas ex inproviso proferebas, nunquid meministi, quid responderim tibi? Dixi, me ea accepisse de corde die vivi, et locutum me fuisse ad cor tuum: Hoc ergo ita intelligere debes. Superiores illi a corde dei ea acceperant, et ego ab illis, et ita per mediatores ego a corde dei illa acceperam.

›Neulich, als du mich fragtest, von wo dir die Worte der Briefe kämen, die du ohne Vorbereitung vortrugst – erinnerst du dich nicht, was ich dir antwortete? Ich sagte, dies vom Herzen des lebendigen Gottes empfangen und zu deinem Herzen gesprochen zu haben. Dies sollst du also so verstehen: Jene Oberen haben dies vom Herzen Gottes empfangen und ich von jenen. Und so habe ich durch Vermittler jenes vom Herzen Gottes empfangen.‹ (LV III, 13)

Gerade diese Erläuterung ist symptomatisch für die Funktionsweise dieses Offenbarungstyps. Es führt eine direkte Linie zu Gott, die die Authentizität der Botschaft verbürgt, es gibt jedoch weder ein unmittelbares Erleben der Transzendenz noch eine direkt daraus folgende Erkenntnis wie in den früheren Visionen. Diese autoreferentiell angelegten Kapitel dienen in erster Linie der textinternen Erklärung und Absicherung von Elisabeths Revelationen. Das dritte Buch endet schließlich mit der bereits genannten Wiederholung der komplexen bildlichen Vision im 40. Kapitel des ersten Buchs.Footnote 129 Anders als beim ersten Mal wird sie nun von ihrem Bruder einer ausführlichen Allegorese unterzogen; damit erhalten seine Gelehrsamkeit und die auf den Sinn zielende rationale Exegese der Vision buchstäblich das letzte Wort im Liber Visionum.Footnote 130

5 Fazit

Elisabeths Visionen finden ausschließlich im klausurierten Raum des Kloster statt, ein im Sinne Foucaults heterotopischer Ort, eine der »tatsächlich realisierte[n] Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.«Footnote 131 Diese sind auch durch ihr besonderes Verhältnis zur Zeit gekennzeichnet: »Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen.«Footnote 132 So ist das monastische Leben durch seine Ausrichtung auf die himmlische Ewigkeit bereits auf Erden bestimmt. Das schlägt sich auch in Elisabeths Liber Visionum nieder; zwar ist dieser chronologisch organisiert, doch sind bereits die liturgischen Zeitangaben durch das Paradox gekennzeichnet, die irdische Zeit zwar zu strukturieren, jedoch nicht in einem linear quantifizierenden Sinne, sondern in der permanenten Referenz auf Heilsgeschichte und die in ihr implizierte Eschatologie. Die wiederkehrende Erfahrung der Transzendenz wird an diese Fest- und Tagzeiten gekoppelt. Elisabeths Offenbarungen sind in dieser Hinsicht ein Novum.

Die liturgische Zeit fungiert als Bindeglied zwischen Immanenz und Transzendenz, sie ermöglicht die Erfahrung von Himmel und Heilsgeschichte aus eigener visuell-sinnlicher Anschauung. Um die Transzendenz als das Andere sicht- und beschreibbar zu machen, nutzen insbesondere die Visionen des ersten Buchs intermediale und intertextuelle Anleihen in Form von Ekphrasen und performativ aufgeladenen Passagen. Der Wechsel in den deskriptiven Modus, nach Lessing ein Bruch mit den ›bequemen‹ Möglichkeiten der Literatur, ermöglicht die Vergegenwärtigung der Transzendenz und hält zugleich die Differenz in der Wahl der Mittel präsent. Allerdings ist der liturgisch-monastische Lebensrhythmus der transzendenten ›Zeitlosigkeit‹ nicht einfach entgegengesetzt. Die zirkuläre Struktur, der iterative Charakter von Gesängen und Texten zur Memoria von Heilsgeschichte und Heiligen stehen selbst quer zu Vorstellungen vom Vergehen der Zeit. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass in Elisabeths Texten die Visionen zugleich exzeptionelle Erfahrungen sind und ihre Frequenz betont wird. Lineare irdische Zeit, Zirkularität der liturgischen Zeit und ›Zeitlosigkeit‹ der jenseitigen Welt werden so in eine spannungsreiche Beziehung gebracht.Footnote 133

Die Visionen erscheinen als besonders intensive Form liturgischer Versenkung. Dass dies vor dem Hintergrund der Hirsauer Reform und benediktinischer Spiritualität zu verstehen ist, scheint mir evident.Footnote 134 Im Gegenzug zur strikten Schließung des irdischen Raumes in der KlausurFootnote 135 eröffnet sich in Elisabeths Visionen aus der chronologisch reglementierten Liturgie heraus ein weiter himmlischer Raum, der sie in Kontakt zu Engeln und Heiligen bringt, die sich wiederum durch ihre Nähe zu Gott auszeichnen. Auch das kongruiert mit Vorstellungen des Klosters als paradiesischem Ort und der angelica vita der Mönche bzw. Nonnen, die gerade von der Hirsauer Reformspiritualität gepflegt wurden.Footnote 136 Die Transzendenzerfahrung nimmt bei Elisabeth allerdings nicht die Form der unio an und ihr ist auch nicht die ästhetische Qualität der ›Süße‹ eigen,Footnote 137 doch liegt der Fokus der frühen Kapitel des ersten Buchs auf der sinnlich-visuellen Wahrnehmung und unmittelbaren Wirkung der Transzendenz durch ihre Vergegenwärtigung.

Die erweiterte Fassung des ersten Buchs und die Bücher II und III brechen mit der Struktur der frühen Kapitel, da eine Entwicklung implementiert wird und damit eine Veränderung in der Zeit. Die Veröffentlichung der Offenbarungen und die Zunahme verbaler Kommunikation führen auf die folgenden Bücher hin, in denen die Festtage und Tagzeiten vor allem einen Rahmen für die in den Offenbarungen vermittelte doctrina bilden. Die zusätzlichen Kapitel der Langfassung des Liber Primus leiten also einen Transformationsprozess ein hin zu Elisabeths öffentlicher Rolle als Prophetin. Die Bücher II und III entfernen sich damit von der ästhetisierenden sinnlichen Erfahrung von Transzendenz in der Gegenwärtigkeit der räumlichen Schau und der Performanz biblischer Ereignisse zugunsten einer expliziten Belehrung oder einer Didaxe, die durch allegorische Deutung bildhafter Visionen vermittelt wird. Der Fokus verschiebt sich von der Wahrnehmung auf die Hermeneutik, von der Präsenz auf den Sinn. Im Vordergrund steht die Vermittlung reformorientierter Botschaften an die Umwelt. Die Inhalte der späteren Kapitel und Bücher mögen durch Ekberts Einfluss theologisch ausgefeilter sein, das schlüssigere Konzept einer monastisch geprägten, über die Liturgie entwickelten neuen Form der Literarisierung visionärer Schau bieten jedoch die frühen Kapitel des ersten Buches.Footnote 138 Sollten diese tatsächlich in erster Linie auf die Visionärin selbst zurückgehen, sind sie keineswegs ein Zeugnis von Elisabeths »schlichtem Geist«Footnote 139, vielmehr erweisen sie sich in ihrer Eigenart im Hinblick auf die folgende Offenbarungsliteratur als der wirkmächtigere Teil ihrer Visionsbücher.