Zusammenfassung
Die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstandenen Visionsbücher Elisabeths von Schönau sind ein bemerkenswert frühes Beispiel der Texte, die vor dem Hintergrund monastischer Reformen liturgische Erfahrung als chronologische Grundstruktur nutzen und sie zum Ausgangspunkt wiederkehrender Visionen machen. Diese changieren daher zwischen der Exzeptionalität des jeweiligen ekstatischen Erlebnisses und der an die Liturgie gebundenen Iterativität bestimmter Offenbarungen. In diesem chronologischen Rahmen wird die Transzendenz als sinnlich wahrnehmbare räumliche Schau erfahren, in der besonders himmlisches und biblisches Geschehen deskriptiv erfasst oder in einer an liturgienahe Feiern und geistliche Spiele erinnernde Weise performativ inszeniert wird. Ziel des Beitrags ist es, diese literarische Verfasstheit und die ästhetische Gestaltung und Verknüpfung von Liturgie und Vision in Elisabets oft unterschätztem Liber Visionum genauer zu analysieren.
Abstract
Elisabeth von Schönaus’s Liber Visionum, written in the second half of the 12th century, is a remarkable early example of texts that use, in the context of monastic reform, liturgical experience as chronological structure and take it as a starting point of recurring visions. Therefore, they oscillate between exceptional ecstatic experience and the regularity of some revelations caused by liturgy. In this chronological framework transcendence is witnessed as a sensually perceivable spatial vision which describes heavenly or biblical events or performes them almost like a liturgical ceremonial or a sacred play. The objective is, to analyse more precisely this literariness and aesthetic presentation as well as the conjunction between liturgy and vision in Elisabeth’s often underestimated Books of Vision.
Avoid common mistakes on your manuscript.
1 Einleitung: Die Ästhetik von Zeit und Raum zwischen Immanenz und Transzendenz
Incipit liber. (I.) Fuit in diebus Eugenii pape in finibus Trevirensis dioceseos, in cenobio, cui nomen Sconaugia, sub regimine Hildelini abbatis adolescentula quedam monastice professionis nomine Elisabeth. Que cum inter religiosas feminas undecimum in monasterio ageret annum, habens etatis annos viginti tres, in anno dominice incarnationis mill. CLII. visitata est a domino.
›Es beginnt das Buch. Es lebte in den Tagen des Papstes Eugen innerhalb der Diözese Trier im Schönau genannten Kloster unter der Leitung des Abtes Hildelin ein Mädchen namens Elisabeth, das die Klostergelübde abgelegt hatte. Als diese unter den Klosterfrauen das elfte Jahr im Kloster zubrachte, wurde sie im Alter von dreiundzwanzig Jahren im Jahr der Fleischwerdung des Herrn 1152 vom Herrn heimgesucht.‹Footnote 1
Die kurze einleitende Vita, die dem Liber Visionum Primus Elisabeths von Schönau über ihre Offenbarungen vorangestellt ist, beginnt geradezu mit einem Überschuss zeitlicher und räumlicher Determinierung. Unterschiedliche Raum- und Zeitdimensionen werden aufgerufen: kirchlich, monastisch, biographisch und heilsgeschichtlich, die sich alle in unterschiedlicher Weise als bedeutsam für den folgenden Text erweisen und ihn einordnen. Sicher trägt diese detaillierte Bestimmung zur Authentifizierung des Textes bei, der er im Hinblick auf sein zentrales Thema in besonderer Weise bedarf. Sie bindet ihn aber auch fest an das hic et nunc seiner immanenten Existenz, während die Transzendenz, deren Erfahrung er sich widmet, auch und gerade durch die Überschreitung von Raum und Zeit gekennzeichnet ist.Footnote 2 Das Erzählen von Heiligkeit und Transzendenz steht stets vor dem Problem der Darstellung und Vermittlung »des kategorial Anderen« und »Unverfügbaren«Footnote 3; der Textbeginn deutet bereits darauf hin, dass Raum und Zeit in der literarischen Bewältigung dieser Transgression eine entscheidende Rolle spielen.
Zu Beginn seiner Schrift Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie konstatiert Gotthold Ephraim Lessing, dass nach dem Gefühl des Liebhabers der Künste sowohl die Poesie als auch die Malerei »abwesende Dinge als gegenwärtig« vorstellen. Zur Herstellung dieses Präsenzeffekts müssten beide Künste zum Mittel der Täuschung greifen, die aber Gefallen beim Rezipienten auslöse. Auch wenn dieser sich über die Illusion im Klaren ist, sollen das »künstlerische Medium selbst, die technischen Mittel und Kunstgriffe der Täuschung« aber nicht sichtbar sein.Footnote 4 Transzendenz ist, so könnte man im Anschluss daran folgern, der Inbegriff des Abwesenden und es stellt sich die Frage, welche Mittel der Täuschung oder Illusion bei der Darstellung von Transzendenz möglich oder zulässig sind und ob diese eher verschleiert oder ausgestellt werden.
Lessing stellt bekanntlich die Kategorien Raum und Zeit in den Fokus seiner Bestimmung der Künste und ihres Verhältnisses zueinander:
»Wenn es wahr ist, daß die Mahlerey zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie, jene nehmlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältniß zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Theile neben einander existiren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Theile aufeinander folgen. Gegenstände, die neben einander existiren, heissen Körper. Folglich sind Körper, mit ihren sichtbaren Eigenschaften, die eigentlichen Gegenstände der Malerey. Gegenstände, die auf einander, oderen Theile auf einander folgen, heissen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.«Footnote 5
Lessing unterscheidet dementsprechend zwei »Grundformen« der Darstellung, die des Beschreibens und die des Erzählens:Footnote 6 »während eine Beschreibung das Nebeneinander von Körpern im Raum ausmalt, entwickelt eine Erzählung das Nacheinander von Handlungen in der Zeit«Footnote 7 – erstere ist die Darstellungsweise der Malerei, letztere die der Poesie. Die Malerei ist dadurch an die Darstellung eines bestimmten Augenblicks gebunden und steht in einem Verhältnis der Ähnlichkeit zu dem Dargestellten und verwendet natürliche Zeichen.Footnote 8 Die Literatur als »immaterielles, geistiges Medium«, das sich willkürlicher Zeichen bedient, hat dagegen einen größeren Gestaltungspielraum. Andererseits gelingt der Malerei die »anschauliche Unmittelbarkeit [...] abwesende[r] Dinge« besser, eben weil sie natürliche Zeichen verwendet, die sich durch ihre Ähnlichkeit mit den Dingen auszeichnen.Footnote 9 Um die zu Beginn genannte Illusionswirkung zu erzeugen, muss die Literatur diesen Mangel kompensieren, indem sie sich auf Gegenstände konzentriert, die ebenfalls sukzessiv sind. Wenn sie zum Mittel der Beschreibung dessen greift, was simultan im Raum ist, wird demnach die Simultanität der sprachlichen Zeichen sichtbar. Die für die Täuschung erforderliche Transparenz des Mediums ist nicht mehr gegeben.Footnote 10 Die Offenbarungen Elisabeths von Schönau machen, wie gezeigt werden soll, in spezifischer Weise Gebrauch von intermedialen Anleihen wie Ekphrasen, um Transzendenz erfahrbar bzw. deren Erfahrung darstellbar zu machen. Diese werden also einerseits als Mittel zu deren Imagination und Vergegenwärtigung genutzt, andererseits wird die Defizienz sprachlicher Mittel erkennbar, was jedoch durchaus in der Intention des Textes liegen kann, um die Grenze zwischen Immanenz und Transparenz zwar ›passierbar‹ zu machen, aber nicht zu verwischen.Footnote 11 Dies trifft sich mit der transgredierenden Funktion, die der Ekphrasis häufig zugeschrieben wird.Footnote 12 Im Folgenden wird es darum gehen, diesen Darstellungsformen transzendenter Erfahrung im Liber Visionum genauer nachzugehen.
2 Elisabeth und Ekbert von Schönau – Monastisches Leben im Zeichen der Reform
Um das Jahr 1141/42, nach eigenen Angaben im Alter von 12 Jahren, tritt Elisabeth, die aus einem nicht genauer identifizierbaren rheinischen Adelsgeschlecht stammte, in das Nonnenkloster Schönau im Taunus ein – ein typischer Lebensweg, der zunächst nicht erahnen lässt, dass sie zu einer geachteten Visionärin und Heiligen werden wird, deren Werke im Mittelalter deutlich weiter verbreitet waren als die ihrer berühmten Zeitgenossin Hildegard von Bingen, zu der sie brieflich in Kontakt stand.Footnote 13 Diese bilden gerade in ihrer spezifisch liturgischen Prägung den Auftakt zu einer bis ins Spätmittelalter reichenden Reihe von Offenbarungen, überwiegend von Frauen und aus monastischem Kontext,Footnote 14 und verdienen in dieser Hinsicht mehr Beachtung der Germanistik, als das gerade in der deutschsprachigen Forschung bisher der Fall ist.Footnote 15
Elisabeths Klostereintritt fällt in eine Zeit religiösen Aufbruchs, bestimmt von monastischen und kirchlichen Reformen, in der zunehmend Frauen den Weg ins Kloster gehen.Footnote 16 Die Familie entschied sich mit Kloster Schönau signifikanter Weise nicht für einen alteingesessenen Konvent, der bereits über ein gewisses Renommee verfügte, sondern für ein noch junge Gründung des Grafen Dudo (Tuto) von Laurenburg, Stammvater des späteren Hauses Nassau.Footnote 17 Erst 1126, also gut 15 Jahre vor ihrem Eintritt, war das seit neun Jahren bestehende und zunächst in Lipporn angesiedelte Männerkloster zur Abtei erhoben worden, ab wann genau der Frauenkonvent bestand und mit diesem zusammen unter der Leitung des ersten Abtes Hildelin in Schönau ein Doppelkloster bildete, ist nicht endgültig geklärt.Footnote 18
Schönau gehörte zum Kreis der Hirsauer Reformkonvente. Diese zeichneten sich durch ihre positive Haltung zu Frauen aus, aber auch durch die strenge Einhaltung der Klausur und die Betonung der Liturgie.Footnote 19 Da eine Reihe weiterer Familienmitglieder kirchliche und monastische Ämter innehatteFootnote 20 und besonders ihr Onkel sich in seiner Funktion als Bischof von Münster für die Reformen einsetzte,Footnote 21 kann man davon ausgehen, dass die Wahl bewusst auf Schönau fiel.Footnote 22
Die geistliche Karriere ihres Bruders Ekbert passt in dieses Bild: Er studierte in dieser Zeit mit Rainald von Dassel in Paris, wurde anschließend Kanoniker in BonnFootnote 23 und verfasste selbst theologische Schriften.Footnote 24 Das etablierte Narrativ lautet, dass Ekbert gegen den Willen der Familie auf eine Karriere als Weltgeistlicher verzichtet habe,Footnote 25 um auf Drängen der Schwester in den Männerkonvent von Schönau einzutreten und sie, die seit ihrem 23. Lebensjahr (1152) Visionen erlebte, geistlich zu betreuen. Plausibler erscheint, dass beide sich aus unterschiedlichen Positionen heraus für die Reformen einsetzten und dass Ekbert diese Bemühungen von Schönau aus gemeinsam mit seiner Schwester fortsetzen wollte. 1155 trat er dort ein, zwei Jahre später wurde Elisabeth zur magistra (also Leiterin) des Nonnenkonvents gewählt und er selbst nahm wenige Jahre nach ihrem Tod 1164 die Position des Abtes ein.Footnote 26 Das Modell, das Ekbert und Elisabeth als geistlicher Betreuer/Hagiograph und Visionärin in den Offenbarungsschriften etablierten, war für die spätmittelalterliche ›Frauenmystik‹ von besonderer Wirkmächtigkeit.Footnote 27
3 Liturgische Zeit und transzendenter Raum im Liber Visionum Primus
Elisabeths Offenbarungsschriften wurden in mehreren, überwiegend erst nach ihrem Tod von Ekbert verantworteten und überarbeiteten Redaktionen überliefert. Es handelt sich um den Liber Visionum I–III (1152/60), der v. a. Visionen Marias, der Heiligen sowie über Himmel und Heilsgeschichte enthält; dann den Liber Viarum Dei (1156/63), der Kritik und Belehrung der verschiedenen Stände bietet, den Liber Revelationum de sacro Exercitu Virginum Coloniensium (1156/57), Visionsberichte zur Ursula-Legende, die diese mit Reliquienfunden aus Köln in Einklang bringen sollte,Footnote 28 schließlich einen Text über die Himmelfahrt Mariens (De Resurrectione Marie, mit Ep. 20) sowie 22 erhaltene Briefe.
Insgesamt dokumentieren ca. 150 überlieferte Handschriften die große Verbreitung ihrer Schriften. Die erste Redaktion (A) enthielt noch nicht den Liber Visionum, sondern nur die Offenbarungen, die Elisabeth nach Ekberts Eintritt in Schönau erfuhrFootnote 29 und nach allgemeiner Einschätzung von seinem theologischen Einfluss zeugen.Footnote 30 Sie sind geprägt von konkreten Fragestellungen wie etwa die nach der leiblichen Auferstehung Mariens, mit der sich Ekbert selbst in seinen Schriften befasste.Footnote 31 Erst die zweite Redaktion (B) enthielt den Liber Visionum Primus, und zwar in einer Kurzfassung (Kap. 1–25); die späteren Redaktionen bieten eine deutlich erweiterte Langfassung des ersten Buches (Kap. 26–79) sowie ein zweites und drittes Buch.Footnote 32
Die folgende Untersuchung wird sich auf den in der Forschung weniger beachteten Liber Visionum PrimusFootnote 33 konzentrieren, der als authentischer aber auch als anspruchsloser gilt, da es sich um Elisabeths frühe, von Ekbert noch unbeeinflusste Visionen handele.Footnote 34 Aus diesem Grund werden auch die Veränderungen berücksichtigt, die sich bereits in den der Langfassung hinzugefügten Kapiteln einstellen und in den folgenden Büchern weiterverfolgen lassen, um die These der mangelnden Elaboriertheit der ersten Kapitel, die bis heute Einfluss auf das Bild Elisabeths in der Forschung hat, auf den Prüfstand zu stellen.
3.1 Iterativität und Exzeptionalität
Das erste Buch der Visionen setzt ›mehrstufig‹ ein: An erster Stelle steht ein Vorwort Ekberts, der als ›Herausgeber‹ den fertigen Text erläutert; es folgt eine kurze Vita Elisabeths in der 3. Person, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie auf Befehl des Abtes ihre Visionen in schriftlicher Form offenbart. Erst dann beginnt Elisabeths Bericht in der Ich-Form, der sich wie ein Brief an Ekbert richtet und im Rückblick ihre Visionen von Anfang an schildert.Footnote 35 Dieser Einstieg etabliert nicht nur ein intrikates Verhältnis von Visionärin und Herausgeber, Offenbarung und Schrift, sondern stellt der (scheinbar) klaren liturgischen Zeitstruktur des Berichtes selbst ein komplexes Zeitmodell seiner Entstehungsgeschichte voran. Die Vita beginnt, wie zu Anfang gezeigt, geradezu mit einem Überschuss an zeitlicher Verortung.
Die chronologische Determinierung setzt sich in den Revelationen selbst fort, indem sie regelmäßig mit der Angabe des Festtags und der Tagzeit bzw. Messe beginnen: In festivitate beatorum apostolorum Petri et Pauli in prima vespera collapsa sum in extasim. et vidi gloriosos illos principes [...] (›Am Fest der seligen Apostel Petrus und Paulus fiel ich am Beginn der Vesper in Ekstase, und ich sah jene glorreichen Fürsten [...]‹, LV I, 15). Felix Heinzer bezeichnet dies als »liturgische[…] Matrix«Footnote 36, die formal und inhaltlich die Visionen prägt – im ›großen‹ Zirkel des Kirchenjahrs und im ›kleinen‹ Zirkel der täglich wiederkehrenden Horen. Kurt Köster charakterisiert sie daher als »Zeugnisse ekstatischen Miterlebens des kirchlichen Jahreslaufs im engen Anschluss an die klösterliche Liturgie.«Footnote 37
Programmatische Qualität hat es, dass die Visionen aller drei Bücher jeweils an Pfingsten beginnen.Footnote 38 Dieses Datum dient der Legitimierung der Offenbarungen und einem aus ihnen abgeleiteten Sprechen, das durch die Berufung auf göttliche Inspiration Gültigkeit beansprucht, indem es dem bibelkundigen Leser den Empfang des Heiligen Geistes durch die Jünger und deren Aussendung ins Gedächtnis ruft.Footnote 39 Dass in Vorwort und Beginn so sehr auf Elisabeths Unkenntnis des Lateinischen insistiert wird,Footnote 40 obwohl sie im Zusammenhang mit den Offenbarungen lateinisch kommuniziert, dient nicht nur der Authentifizierung ihrer Visionen, sondern stellt auch einen Bezug zur Xenoglossie des ›Pfingstwunders‹ her. Petrus selbst spricht in seiner Pfingstrede, den Propheten Joel zitierend, von Visionen:
et erit in novissimis diebus dicit Dominus effundam de Spiritu meo super omnem carnem et prophetabunt filii vestri et filiae vestrae et iuvenes vestri visiones videbunt et seniores vestri somnia somniabunt et quidem super servos meos et super ancillas meas in diebus illis effundam de Spiritu meo et prophetabunt [...]. (Actus Apostolorum 2, 17–18)Footnote 41
›In den letzten Tagen wird es geschehen, / so spricht Gott: / Ich werde von meinem Geist ausgießen / über alles Fleisch. / Eure Söhne und eure Töchter werden Propheten sein, / eure jungen Männer werden Visionen haben, / und eure Alten werden Träume haben. Auch über meine Knechte und Mägde werde ich von meinem Geist ausgießen in jenen Tagen und sie werden Propheten sein.‹Footnote 42
Mit dem Rekurs auf Pfingsten wird ausdrücklich auch das prophetische Sprechen von Frauen legitimiert, wie eine spätere Vision (LV I, 52) zu diesem Fest unterstreicht, in der eine Taube während der Messe nicht nur den Priester, sondern auch alle Schwestern mit etwas Rotem wie eine Feuerflamme beträufelt.Footnote 43 Auch die Anordnung der Offenbarungen in den drei Büchern folgt demnach einer biblisch-liturgischen Logik.
Die Nennung des Festtags und der jeweiligen Tagzeit ist nicht einfach eine präzise Datierung der Visionen.Footnote 44 Schon die Vita konstatiert, dass die Offenbarungen ›an den Sonntagen und anderen Feiertagen‹ stattfänden, denn dies seien jene ›Stunden, in denen die Andacht der Gläubigen am heißesten brennt‹ (horas, in quibus maxime fidelium fervet devotio, LV I, 1). Tatsächlich finden die Visionen bevorzugt an den großen Festen statt wie Ostern, Pfingsten, Allerheiligen und Weihnachten, an den Marienfesten sowie den Festtagen der Apostel, Johannes’ des Täufers und des Ordensgründers Benedikt. Auch inhaltlich stehen sie meist in Konnex mit dem Festtag, indem sie durch die liturgischen Texte und Gesängen induziert werden und die betreffenden Heiligen oder das gefeierte Heilsgeschehen darin erscheinen:Footnote 45
Post hec in festivitate Palmarum in priori vespera. cum dicerent sorores responsorium: Ingressus Pilatus, et usque ad hoc verbum processissent: Crucifigatur, stabam inter eas. et subito in extasim cecidi cum magna corporis mei concussione. et vidi salvatorem quasi in cruce pendentem.
›Danach am Palmsonntag zur ersten Vesper, als die Schwestern das Responsorium: Pilatus trat ein, sangen und bis zu dem Wort: Er soll gekreuzigt werden, gekommen waren, stand ich unter ihnen; und plötzlich fiel ich mit großer Erschütterung meines Leibes in Ekstase und sah den Heiland wie am Kreuze hängend.‹ (LV I, 43)Footnote 46
Der Text setzt damit tendenziell Adressaten voraus, die mit diesen Strukturen und den anzitierten liturgischen Texten und Gebeten vertraut sind.
Die Neuerung von Elisabeths Offenbarungen, die Verankerung der Visionen im liturgischen Festkreis, erzeugt eine primär zirkuläre oder iterative zeitliche Struktur. Das wird bereits durch den jeweiligen Beginn der Bücher an Pfingsten ersichtlich, wird aber auch sonst durchweg im Text hervorgehoben:
Ab illo die usque ad hec tempora singulis fere sabbatis et quandoque aliis diebus, cum de ea officium celebraretur. eandem visionem videre consuevi.
›Seit diesem Tag bis zur Gegenwart bin ich es gewohnt, fast an allen Samstagen und bisweilen auch an anderen Tagen, wenn die Messe für sie [Maria] gefeiert wird, dieselbe Vision zu sehen.‹ (LV I, 11)Footnote 47
Je nach liturgischem Anlass können sich die Visionen also wöchentlich oder jährlich wiederholen. So gibt es auch mehrere ›Durchgänge‹ durch das Kirchenjahr:
He sunt, frater, miserationes domini, quas in primo anno visitationis mee operatus est in me. In hac autem secundi anni revolutioneFootnote 48eadem fere, que anno priore in festivitatibus sanctorum circa me accidere solebant [...].Footnote 49
›Dies sind, mein Bruder, die Erbarmungen des Herrn, die er im ersten Jahr meiner Heimsuchung in mir gewirkt hat. Im Laufe dieses zweiten Jahres aber geschah in etwa dasselbe, was im vorigen Jahr an den Heiligenfesten mit mir zu geschehen pflegte.‹ (LV I, 53)
Elisabeth betont selten das Singuläre, häufig jedoch das Gewohnheitsmäßige ihrer Erlebnisse: et veniens in extasim vidi visionem, quam dominicis diebus videre soleo (›Ich schaute die Vision, die ich an den Sonntagen zu sehen pflege‹, LV I, 23), columba speciosa, quam videre soleo (›die schöne Taube, die ich zu sehen pflege‹, LV I, 52) oder Invocavi igitur eam solito more (›Ich rief sie [die Himmelskönigin] also in der gewohnten Weise an‹, LV I, 59).Footnote 50 Zunächst erscheint dies überraschend, da es die Exzeptionalität der Visionen zu nivellieren scheint. Gérard Genette bezeichnet solche »Wiederholungsbeziehungen zwischen Erzählung und Diegese« als »narrative Frequenz«. In der klassischen Erzählung seien solche iterativen Segmente den singulativen Szenen funktionell untergeordnet.Footnote 51 Hier kommt es jedoch zu einem auffälligen Konnex beider Typen, wenn oftmals zunächst die Vision als ›singulative Szene‹ erzählt und in der Regel erst im Anschluss oder in beiläufigen Bemerkungen ihr Wiederholungscharakter deutlich wird. Das Exzeptionelle wird durch die Liturgie zum vorhersagbar wiederkehrenden Modus – was Monotonie erzeugen könnte, wird gerade zum Garanten des Außerordentlichen.Footnote 52
Die liturgische Zeit ist selbst kein abstraktes System, sondern ihrerseits mit sakraler Bedeutung aufgeladen. Eine Semantisierung der Tagzeiten selbst durch ihre Verknüpfung mit der Passion, wie sie später feststellbar ist, findet allerdings noch nicht statt.Footnote 53 Deren Memoria ist mit dem Osterfestkreis verbunden und zieht sich in ausführlichen Visionen über mehrere Tage hin. Zwar kann man nicht von einer fortlaufenden Narration sprechen, doch treten damit neben die zyklischen Zeitvorstellungen auch Ansätze von Linearität, eine Überlagerung, die typisch ist für die christliche Liturgie und sich daher auch in den Visionen niederschlägt.Footnote 54
Visionen können demnach auch von Tagzeit zu Tagzeit oder sogar an mehreren Tagen hintereinander fortgesetzt werden, dabei werden sie eng mit dem klösterlichen Tagesablauf verbunden:Footnote 55
Factum est in vigilia nativitatis domini tempore matutini sacrificii, dum essem in oratione [...]. Qui cum iam instante vespertino tempore advenisset [...]. Dum ergo orarent supra me sorores cum lacrimis. circa orationis finem vidi [...]. Tempore matutino [...]. In die vero ad maiorem missam [...]. (LV I, 57 f.)
›Es geschah zur Vigil der Geburt des Herrn, zur Zeit des Morgenopfers, als ich im Gebet war. [...] schon begann die Vesperzeit [...]. Als also die Schwestern mit Tränen über mir beteten, sah ich am Ende des Gebets [...]. Zur Zeit der Matutin [...]. Am Tag aber, bei der Hauptmesse [...].‹
Paradoxerweise haben diese zahlreichen temporalen Angaben nicht die Funktion, das Voranschreiten der Zeit erkennbar zu machen oder einen im eigentlichen Sinne chronologischen Bericht zu strukturieren,Footnote 56 sie dienen dazu, den Einfall transzendenter Erfahrung in das monastische Zeitkonzept einzubetten. Die Darstellung der transzendenten Erfahrung selbst weist lediglich minimale temporäre Markierungen auf, insofern Handlungen in ihr stattfinden; der Fokus liegt jedoch auf deren räumlichen Vollzug und im Sinne Lessings auf dem, was nebeneinander im Raum wahrnehmbar ist.
3.2 Ekphrastische Heilsvermittlung: Transzendenz als räumlich-visuelle Erfahrung
Die Offenbarungen Elisabeths sind strikt an den Sehsinn gebunden, wie dies bereits in Visionen des Alten und Neuen Testaments der Fall ist.Footnote 57 Sie sind oft, aber nicht immer, verbunden mit Ekstase, hinter der im Wortsinn die räumliche Vorstellung des ›Außer-sich-Seins‹ steht.Footnote 58 Ausgehend von Festen des Kirchenjahres und den Tagzeiten eröffnen sich den Blicken des Ichs unterschiedliche Dinge. Es kann sich um Geschehen an für Elisabeth unzugänglichen Orten handeln,Footnote 59 um Erscheinungen während der Mess- und Gebetszeiten selbst,Footnote 60 Beobachtungen biblischer Ereignisse, besonders aus dem Leben Jesu (z. B. LV I, 17), um das Erscheinen von Heiligen, deren in der Liturgie gedacht wird (z. B. LV I, 19), oder um Himmelsvisionen (z. B. LV I, 20). Damit werden unterschiedliche Räume, nah und entfernt, diesseitig und jenseitig, sowie unterschiedliche Zeitebenen – gleichzeitig, vorzeitig, überzeitlich, selten auch zukünftig – aufgerufen und die Inszenierung des Übergangs und des Verhältnisses zwischen Immanenz und Transzendenz gestaltet sich auch nicht immer gleich. Während etwa bei den Erscheinungen im liturgischen Geschehen Immanenz und Transzendenz verschmelzen, wird bei den Visionen, die im Himmel situiert sind, durch die Art der Transgression die Grenze zwischen beiden Sphären durchaus betont. Bei letzteren wird Elisabeth mal selbst erhöht, mal ist es auch nur der Blick, der sich nach oben richtet. Der Öffnung des Himmels geht meist eine Öffnung des Herzens voraus; gleich in der ersten derartigen Vision heißt es:
et apertum est cor meum. et vidi super aerem istum rotam magni luminis similem lune plene, sed quasi duplo maiorem. Et introspexi per medium rote, ad vidi similitudinem regalis femine [...]
›Und mein Herz öffnete sich, und ich sah über dieser Luft ein hell leuchtendes Rad, das dem Vollmond glich, aber etwa doppelt so groß war. Und ich schaute in der Mitte des Rades hinein und sah etwas wie eine königliche Frau [...]‹ (LV I, 5).
Es ist daher nicht leicht zu bestimmen, wo dieser himmlische Raum zu situieren ist, ob sich der ›Blick des Geistes‹ (mentis intuitu, LV I, 17) auf einen inneren oder auf einen transzendenten Raum richtet. Genau diese Frage wird im 8. Kapitel des dritten Buchs verhandelt werden. Elisabeth bittet dort in einer Vision um die Unterscheidung der drei Himmel und fragt weiter nach einem Zitat des Apostels Paulus, das sich auf dessen visiones und revelationes bezieht: sive in corpore nescio/sive extra corpus nescio/deus scit (›Ob im Körper, ob außerhalb des Körpers, weiß ich nicht, Gott weiß es‹, II Cor 12, 2).Footnote 61 Der Engel erläutert daraufhin, was bei der Ekstase geschieht, auch wenn er die Bezeichnung nicht verwendet. Der Mensch könne dann nicht entscheiden, ob sein Geist innerhalb oder außerhalb des Körpers sei. Auch er lässt die Frage also offen.Footnote 62
In den Visionen kann der Himmel zunächst wie eine Bildfläche wirken: Factumque est cor meum quasi ferro scinderetur in duas partes. Et ecce rota flammea grandis in celo emicuit [...] (›Und meinem Herz geschah es so, als ob es mit einem Schwert in zwei Teile zerschnitten würde. Und siehe, ein großes Flammenrad strahlte am Himmel auf [...]‹, LV I, 20). Dann aber öffnet er sich Elisabeths Blicken: Post hec in eodem loco quasi ostium apertum est, et introspexi per illud [...] (›Danach öffnet sich an derselben Stelle etwas wie eine Pforte, und ich sah durch sie hinein [...]‹, LV I, 20). Er erscheint räumlich, ähnlich wie eine Bühne. Diese Himmelsbühne weist eine Staffelung in eine untere und eine obere Sphäre auf, die genutzt wird, um Nähe und Distanz zwischen Elisabeth und den himmlischen Figuren zu markieren.Footnote 63 Darüber hinaus erweist sich ihre Räumlichkeit nicht durch die Beschreibung des Himmels selbst, sondern durch die Beschreibung von Lichterscheinungen darin, von Figuren und ihrer Anordnung sowie von wenigen ›Requisiten‹ wie dem Thron Marias oder Gottes.
Die Visionen in den frühen Kapiteln des ersten Buches erlebt Elisabeth allein auf diese visuelle Weise, denn sie kann die biblischen und heiligen Figuren nicht hören,Footnote 64 selbst wenn sie sich ihr zuwenden:
Et cum paululum descendisset. contra me stabat. Et ego intendens in eam, motum labiorum eius diligenter observabam. et cognovi. quod nominaret me nomine meo Elisabeth, et amplius non adiecit. Quod ego pro consolatione recipiens, gratias egi illi. et recessit a me.
›Und da sie [die Jungfrau Maria] ein wenig herabgestiegen war, stand sie mir gegenüber, und ich blickte auf sie und beobachtete genau die Bewegung ihrer Lippen und erkannte, daß sie mich bei meinem Namen Elisabeth nannte, aber weiter fügte sie nichts hinzu. Dies empfing ich als Tröstung, dankte ihr, und sie verließ mich.‹ (LV I, 11)
Dieses anfängliche Fehlen der Audition wird nicht weiter begründet. Man kann darin eine Form der Distanzierung sehen, denn die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz wird auch in der Vision nicht völlig aufgehoben. Andererseits trägt die fehlende akustische Wahrnehmung zur Fokussierung auf das Visuelle auch in der Darstellungsform bei, sowie die strikte Rückbindung an das vidi, die den Bericht im Modus der descriptio hält.Footnote 65 Dazu kommen die zahlreichen ekphrastischen Passagen im engeren Sinne wie dieser kurze exemplarische Ausschnitt aus der umfangreichen Beschreibung der himmlischen Ordnung im 20. Kapitel:
et multa milia sanctorum in ea. Stabant autem in circuitu maiestatis magne, secundum huiusmodi ordinem dispositi. Erant in quadam fronte illius circuitus viri quidam magnifici, et excellentes valde. adornati palmis et coronis copiose radiantibus, et titulo passionis in fronte signati.
›Und viele Tausende Heilige standen darin rund um eine große Majestät, in folgender Ordnung verteilt: Es befanden sich vorne in jenem Kreis einige hervorragende und sehr hervorgehobene Männer, geschmückt mit Palmen und weithin strahlenden Kronen und an der Stirn ausgezeichnet mit dem Zeichen ihrer Passion [...].‹ (LV I, 20)
Während die Immanenz in erster Linie über Zeitangaben definiert wird,Footnote 66 wird die Transzendenz vor allem über den Raum und eine gewisse ›Zeitlosigkeit‹ etabliert, denn die ekphrastischen Passagen stellen die erzählte Zeit stillFootnote 67 und auch die sich wiederholenden VisionenFootnote 68 erzeugen den Eindruck, dass sie der Zeit nicht unterworfen sind, da die Visionärin immer wieder in sie zurückkehren kann.Footnote 69 Allerdings wird nach Lessing in solchen descriptiones das Nebeneinander im transzendenten Raum in das Nacheinander der Schrift überführt; die demnach defizitäre Wiedergabe der Simultanität des Sehens in der Sukzession der Schrift kann hier als notwendig defizitäre immanente Reproduktion transzendenter Erfahrung gewertet werden. Diese Art der DarstellungFootnote 70 markiert die Transzendenz als etwas, das sich auch noch in der Vision der vollständigen Verfügbarkeit entzieht,Footnote 71 so dass die Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz präsent gehalten wird. Zugleich wird eine andere Art der Wahrnehmung und Erkenntnis, jenseits der verbalen Kommunikation, etabliert. Stimme und mündliche Kommunikation kehren mit dem Ende einer Vision oder Ekstase allerdings zurück und Elisabeth entströmen dabei scheinbar unwillkürlich lateinische Worte, häufig biblischen oder liturgischen Ursprungs wie in diesem Beispiel: Post hec expergiscens, in hec verba prorupi: Te sanctum dominum. et cetera cum versu (›Danach erwachend, brach ich in folgende Worte aus: Dich heiligen Herrn, und das Übrige mit dem Vers‹, LV I, 23).Footnote 72 Die hörbare Artikulation ist also an den diesseitigen Bereich gebunden bzw. markiert die Übergänge zwischen Vision und monastischem Umfeld.
Diese Offenbarungen wirken also zunächst nur durch die Glossolalien im Diesseits nach; sie berichten weder über deren Inhalt noch enthalten sie Botschaften,Footnote 73 es handelt sich um biblisch-liturgische Worte, wie sie die Vision auch auslösen. Der ›Mehrwert‹ in diesen Kapiteln liegt für die Rezipienten daher kaum in diesen Äußerungen, auch wenn sie zur Beglaubigung des visionären Zustands beitragen. Er liegt vielmehr im Nachvollzug der Visionen, in der durch den Text und seine detaillierten Angaben angeregten Imagination und der mit ihnen einhergehenden ›Erkenntnisse‹, wie ein weiterer Ausschnitt aus der bereits zitierten, sich überdies wiederholenden Vision zeigt, in der die Heiligen und Engel konzentrische Kreise um eine strahlende Mitte bilden:
In medio autem omnium gloriam maiestatis immense, quam effari omnino non possum, cuius thronum gloriosum yris fulgida ambiebat. A dextris autem maiestatis vidi similem filio hominis in summa gloria residentem. A sinistris vero signum crucis vehementer radiosum apparuit.
›In der Mitte von allem aber [sah ich] die Glorie der unendlichen Majestät, die überhaupt nicht in Worte fassen kann. Ihren glorreichen Thron umgab ein glänzender Regenbogen. Zur Rechten der Majestät aber sah ich einen in höchster Glorie thronen, ähnlich dem Menschensohn. Zur Linken aber erschien das intensiv strahlende Zeichen des Kreuzes.‹ (LV I, 20)
Ausgehend von der Liturgie eröffnet sich in der Vision insofern auch ein Raum ästhetischer Wahrnehmung, als der Himmel zunächst einmal »in der unübersehbaren Fülle seiner Aspekte« und »seiner unreduzierten Gegenwärtigkeit« von Elisabeth wahrgenommen wird, wie der Philosoph Martin Seel in seinem Entwurf einer Ästhetik des Erscheinens formuliert.Footnote 74 Diese Wahrnehmung führt überdies zu einer besonderen Form theologischer Einsicht:
Cumque hec omnia trementi corde aspicerem, hoc quoque adicere dignatus est dominus, ut mihi indignissime peccatrici de gloria sue ineffabilis trinitatis modo quodam. quem explicare non audeo, hoc significaret. quoniam vere una divinitas in personis trina est, et tres persone una divina substantia.
›Und da ich dies alles zitternden Herzens anschaute, würdigte der Herr mich noch, dies hinzuzufügen, daß er mir unwürdigsten Sünderin über die Glorie seiner unaussprechlichen Dreifaltigkeit auf eine Weise, die zu erklären ich nicht wage, diese bedeutete, daß nämlich wirklich eine Gottheit in drei Personen ist und die drei Personen eine göttliche Substanz.‹ (LV I, 20)
Die ästhetische Wahrnehmung ist hier nicht in einem strengen Sinne »selbstzweckhaft«, wie von Martin Seel gefordert.Footnote 75 Es ist jedoch bezeichnend, dass die Art der Erkenntnis, die von ihr ausgeht, nicht näher erläutert werden kann, weil sie unmittelbar in dieser und in göttlicher Gnade begründet liegt.
3.3 Performative Heilsvermittlung: Das Ostergeschehen in den Visionen
Et quid amplius requiris frater? Omnia pene. que circa tempus illud gesta fuisse in evangeliis leguntur, mihi demonstrata sunt.
›Und was fragst du weiter mein Bruder? Fast alles, von dem in den Evangelien gelesen wird, das in jener Zeit geschah, wurde mir gezeigt.‹ (LV I, 50)
Mit diesen Worten bricht Elisabeth den Bericht ihrer Vision am Ostermorgen ab, die in knappster Weise formulieren, um was es geht: Die Ereignisse, die aus der Schriftlektüre hinlänglich bekannt und vertraut sind, werden in den Visionen ›gezeigt‹ (demonstrata) und damit sinnlich erfahrbar gemacht. Darin manifestiert sich ein Schriftverständnis, das – wie Niklaus Largier herausgearbeitet hat – durch Ignatius von Loyola bekannt gemacht wurde, dessen Tradition sich jedoch weit bis ins Mittelalter und darüber hinaus zurückverfolgen lässt.Footnote 76 Dieses setzt an bei einer »›ästhetisierende[n]‹ Lektüre der Schrift«, die diese »in einen sinnlich-emotionalen Erfahrungsraum übersetzt«. Diese »Theorie der inneren Sinne« bzw. »Phänomenologie der aisthesis« geht auf Origenes zurück,Footnote 77 es ist daher sicher kein Zufall, dass sein Name in den Visionen genannt wird. Elisabeth sieht in einer leuchtenden und farbigen Vision (LV III, 5) Maria als »Gottesgebärerin« mit dem Kind und fragt sie nach Origenes, der sie als erster so bezeichnet haben soll.Footnote 78 Diese entlastet ihn, der mehrmals verurteilt wurde, da sein Irrtum ohne Bosheit geschehen sei, verweigert jedoch weitere Auskünfte hinsichtlich des göttlichen Gerichts über ihn, um diesem nicht vorzugreifen. Origenes ging es bei seinem Verständnis der inneren Sinne um Schriftexegese, jedoch als einer »Praxis des kontemplativen Lesens, das zum Medium der Erfahrung wird, wo es sich als Animation der inneren Sinne« begreift.Footnote 79 In seinem Kommentar zum Hohelied benennt er auch eine ästhetische Dimension der Rezeption:
»Keine historische explicatio als Wissensform ist gefordert, sondern ästhetische applicatio, die der Leser zu vollziehen hat, soll er die Schrift erfahrungshaft realisieren und schließlich über die sinnlich anschauliche Erfahrung die pädagogische Intention des Textes verwirklichen.«Footnote 80
Bereits die zitierte Himmelsvision hat vorgeführt, wie die sinnliche Wahrnehmung Elisabeth ein Verständnis der Trinität vermittelt; die genauen Ekphrasen leiten die Rezipienten an, dies nachzuvollziehen. Sie sind aber nicht der einzige Darstellungsmodus, der die »ästhetische applicatio« befördert.
Stationen des Lebens Jesu spielen in den Visionen eine wichtige Rolle: »Ganze Passagen aus der Bibel, wie die Passion des Herrn von Palmsonntag bis Pfingsten werden zu den entsprechenden Zeitpunkten des Jahres visionär nachgezeichnet.«Footnote 81 Auf den ersten Blick scheint es, als bestünde diese visionäre ›Nachzeichnung‹ nur aus einer reduzierten Wiederholung dessen, was auch die Evangelien berichten, bei genauerem Hinsehen erweist sich die Darstellung jedoch als komplexer. Wie bereits dargelegt, fällt Elisabeth vor dem Beginn der Visionen meist in Ekstase, die Visionen selbst werden mit vidi eingeleitet.Footnote 82 Dadurch ist alle Darstellung zwar von diesem Sehensprozess abhängig, abgesehen davon ist Elisabeth jedoch eine an der Handlung selbst völlig unbeteiligte Zuschauerin.Footnote 83 Das heißt allerdings nicht, dass die Wahrnehmung als solche ein passiver Vorgang ist.Footnote 84
Das, was sie in diesen heilsgeschichtlichen Visionen sieht, ist weder statisch noch narrativ. Durch die Abhängigkeit von Elisabeths Blick sind auch diese Passagen in einem Modus der Beschreibung dessen verfasst, was sich teils gleichzeitig teils nacheinander im Raum abspielt, der selbst wiederum höchstens rudimentär bestimmt wird.Footnote 85 Die Vorgehensweise des Textes wird an der ausführlichen Darstellung des Ostergeschehens besonders deutlich. Die erste Vision dazu findet bereits zur Vigil des Festtags von Maria Magdalena statt:Footnote 86
In vigilia beate Marie Magdalene ad vesperam vidi illam cum corona lucidissima, et simul cum ea matrem domini. Stabant autem contra se quasi colloquentes ad invicem, et post pusillum converse sunt ad orientem.
›An der Vigil der seligen Maria Magdalena sah ich sie zur Vesper mit einer hell leuchtenden Krone und zugleich mit ihr die Mutter des Herrn. Sie standen aber einander gegenüber, als ob sie sich miteinander besprächen, und binnen kurzem wandten sie sich nach Osten.‹ (LV I, 17)
Maria Magdalena trägt hier bereits die Märtyrerkrone, so dass die verschiedenen Zeitebenen – irdisches Geschehen der Passion und Auszeichnung als Heilige nach dem Tod – überblendet werden; das bedeutet, dass Elisabeth nicht etwa in einer Art Zeitreise oder einem ›historischen Rückblick‹ die Ereignisse zu sehen bekommt, sondern eher in ihrer überzeitlichen Bedeutung.
Am Festtag selbst erblickt sie zunächst die Engel am Grab, kann diese aber nicht identifizieren:
In die ad missam, dum orarem positis in terra genibus, vidi in aëre quasi prope terram duos viros splendidos sedentes contra se, et in medio eorum lucidum quiddam quasi formam habens sepulchri. et ecce mulier similis ei, quam in sero videram, accessit, et stabat diligenter inspiciens eandem sepulchri speciem. Dum autem staret, accessit retro eam iuvenis candidissimo amictu circumdatus, nigram habens comam ac barbe lanuginem, et faciem supra modum speciosam. Moxque illa ad eum conversa ibat in occursum eius, et stabat quasi interrogans aliquid ab eo. Tunc cepi anxie cogitare intra me, quisnam esset ille iuvenis. Cumque magno desiderio sciendi hoc estuarem, subito in dextera eius crux aurea apparuit. Vnde mox coniectabam, quoniam ipse esset is, qui surgens a mortuis primo Marie apparuit.
›Unter Tags bei der Messe, als ich mich auf den Boden gekniet hatte und betete, sah ich in der Luft recht nahe der Erde zwei leuchtende Männer einander gegenüber sitzen und in ihrer Mitte etwas Leuchtendes, das ungefähr die Gestalt eines Grabes hatte. Und siehe, eine Frau, ähnlich jener, die ich am Abend gesehen hatte, trat hinzu und blieb stehen, wobei sie die Form dieses Grabes genau betrachtete. Als sie aber dort stand, trat von hinten ein Jüngling hinzu, umgeben von einer ganz weißen Kleidung, mit schwarzen Haaren und einem flaumigen Bart und einem überaus schönen Antlitz. Sogleich wandte sich jene zu ihm und ging ihm entgegen, blieb stehen und schien etwas von ihm zu erfragen. Dann begann ich angstvoll bei mir zu denken, wer denn dieser Jüngling wäre. Und als ich in großem Verlangen glühte, dies zu wissen, erschien plötzlich in seiner Rechten ein goldenes Kreuz. Daraus erschloss ich sogleich, daß er selbst es sei, der von den Toten auferstehend zuerst Maria erschien.‹ (LV I, 17)
Die Art der Darstellung orientiert sich wie gesagt nicht an der Narration der Evangelien, sie erinnert eher an Osterfeiern oder -spiele, besonders an die Regieanweisungen, da die Figurenrede fehlt und stattdessen die Handlungen sowie Aussehen und Kleidung beschrieben werden.Footnote 87 Übereinstimmungen und Unterschiede werden deutlicher durch die Gegenüberstellung der entsprechenden Szene aus dem Marienberger Osterspiel, überliefert in einem Antiphonar des bei Helmstedt gelegenen Augustiner-Chorfrauenstifts Marienberg aus dem 12./13. Jahrhundert:Footnote 88
Post hec una vadat ad Monumentum choro cantante: *Maria stabat ad monumentum / foris plorans, dum ergo fleret, / inclinavit se et prospexit in monumentum / et vidit duos angelos / in albis sedentes unum ad caput et unum ad pedes, ubi positus fuerat corpus Domini Jesu. [...]
Et illa adorato Sepulcro convertat se ad Populum et dicerat: *Tulerunt Dominum meum / et nescio, ubi posuerunt eum.
sacerdos: *Mulier, quid ploras, quem queris?
Et illa: *Domine, si tu sustulisti eum, / dicito michi, ubi posuisti eum / et ego eum tollam. Tunc apparebit sibi Quidam in Specie Christi cantans: *Maria! Et illa quasi eum tangere volens dicat: *Raboni!
Bereits Felix Heinzer hat festgestellt, dass sich im Liber Visionum eine »gewisse Affinität der visionären Imaginierung zu dramatisch aufgeladenen liturgischen Situationen« feststellen lasse.Footnote 89 Durch das Vorbild der Osterfeier scheint sie hier noch deutlicher auszufallen, auch wenn diese nicht einfach reproduziert wird. Der Unterschied liegt noch auf einer anderen Ebene, wie ein Blick auf Erika Fischer-Lichtes Bestimmung des Theaters zeigt:
»Theater erfüllt immer zugleich eine referentielle und eine performative Funktion. Während die referentielle Funktion auf die Darstellung von Figuren, Handlungen, Beziehungen, Situationen etc. bezogen ist, richtet sich die performative auf den Vollzug der Handlungen – durch die Akteure und zum Teil auch durch die Zuschauer – sowie auf ihre unmittelbare Wirkung.«Footnote 90
In Elisabeths Offenbarungen fällt die referentielle Funktion aus, da es sich um die ›wahren‹ Begebenheiten handelt: Sie sieht tatsächlich den Auferstandenen und Maria Magdalena, auch wenn ihre Identität nicht gleich festzustehen scheint. Umso deutlicher ist aber die performative Funktion, die auch durch den Zuschauerstatus Elisabeths unterstrichen wird. Eine entscheidende Umformung liegt darin, dass die Erkenntnis, um wen es sich bei dem jungen Mann handelt, die im Johannesevangelium und in der Feier Maria Magdalena gewinnt, sich in der Vision auf Elisabeth verlagert: Sie ist es, die zunächst nicht weiß, um wen es sich handelt, und ihn dann am plötzlich und wie auf ihr Verlangen hin erscheinenden goldenen Kreuz in seiner Hand erkennt, das ebenfalls nicht in den Evangelien erwähnt wird. Auch hier könnte es sich um eine intermediale Anleihe des Textes handeln, denn die Bildtradition kennt die Siegesfahne mit dem Kreuz als »Symbol seiner siegreichen Auferstehung«Footnote 91. Vielleicht hielten auch manche Priester, die in den Osterfeiern gewöhnlich den Jesus darstellten, ein solches Kreuz in der Hand. Zwar wird diese Identifikation des Auferstandenen im Konjunktiv formuliert, aber im Gegensatz zu Feier oder Spiel sieht sie den Herrn selbst und nicht den Priester, der diesen verkörpert.Footnote 92 Trotz der beobachtenden Distanz gegenüber dem Geschehen identifiziert sich Elisabeth hier also mit der Position Maria Magdalenas und partizipiert, auch emotional, am dramatischen Geschehen.
Eine weitere Übereinstimmung mit Feier und Spiel stellt das so auffällig oft wiederholte quasi dar. Einerseits ist es Teil der generellen Reduzierung auf den Augenschein,Footnote 93 andererseits ist dies eine weitere Übereinstimmung mit den Regieanweisungen, wie die zitierte Noli-me-tangere-Szene der Marienberger Feier exemplarisch zeigt. Für seine ausführlichen deutschen Regieanweisungen bekannt ist das Donaueschinger Passionsspiel mit Osterteil aus einer Handschrift des späten 15. Jahrhunderts; in diesen sind die ›als ob‹-Angaben noch häufiger.Footnote 94 Gerhard Wolf benennt im Hinblick auf dieses Spiel drei jeweils mögliche Gründe für diese Angaben: Sie zeigen, dass die dargestellte Handlung nicht real ist, sie signalisieren eine Diskrepanz zwischen Handeln und Intention der Person oder sie dienen der Ausgestaltung der Handlungsszenen und der Deutung des Geschehens gerade dort, wo der Bibeltext wenig mitteilt.Footnote 95
Elisabeth erscheint in der Rolle einer Zuschauerin, die allerdings – da ihr die Redeanteile fehlen – Aussehen und Handlungen der Figuren beschreibt, während die Regieanweisung diese vorschreibt. Durch die Reduktion auf die sichtbare Bewegung der Körper im Raum wird die Performativität des Heilsgeschehens betont; das ›als ob‹ verweist jedoch nicht auf das Mimetische wie beim Schauspiel und auch nicht auf einen Widerspruch zwischen Handlung und Motivation der Figur, sondern auf den interpretatorischen Anteil der Betrachterin an der Vision und ihrer Verschriftlichung. Die Visionen exponieren hier noch mit dem Fokus auf Körper und Raum das Performative der Transzendenz und ziehen mit dem quasi eine Grenze zu dessen zuverlässiger Interpretierbarkeit ein.Footnote 96
Die Vision zu Ostern vollzieht die Ereignisse am Grab erneut und nun vollständiger nach, entspricht jedoch im Ablauf keinem der divergierenden Evangelienberichte, stattdessen gibt es große Übereinstimmungen mit den Osterfeiern des sog. Typs III, deren Überlieferung insbesondere auf Frauenklöster und -stifte verweist. Kennzeichnend gegenüber den Typen I und II ist, dass hier der Auferstandene selbst auftritt und in der Gestalt des Gärtners als Erster Maria Magdalena erscheint und ihr den Kündungsauftrag erteilt. Auch der Szenenbestand stimmt überein, allerdings werden die ersten beiden Szenen vertauscht, denn üblicherweise beginnen die Feiern mit dem Gang der drei Marien zum Grab (Visitatio sepulchri) und erst danach erscheint Christus Maria Magdalena (Hortulanus- oder Noli me tangere-Szene). Der ›Jüngerlauf‹ von Petrus und Johannes, die zum Grab eilen, um die Botschaft zu prüfen, ist bei manchen Feiern vorhanden, bei anderen nicht.Footnote 97
Helmut de Boor hat den Entstehungszeitraum der deutschen Osterfeiern des Typs III auf Anfang des 12. Jahrhunderts angesetzt.Footnote 98 Zwar gibt es keine Belege für eine entsprechende Tradition in Schönau und Elisabeths Kenntnis dieses Typs der Osterfeier lässt sich daher nicht in einem strengen Sinn beweisen, gleichwohl ist denkbar, dass sie solche Feiern kannte.
Elisabeths diesbezügliche Visionen beginnen während der Vesper am Ostersamstag. Ihr erscheinen ›verehrungswürdige Matronen, als ob sie Spezereien trügen‹ (venerabiles quedam matrone quasi gestantes aromata, LV I, 49). Am Ostermorgen setzen sich die Ereignisse in der Vision fort:
In die sancto Pasce, cum iam dilucesceret, sedebam in loco orationis et legebam in psalmis. Cumque iam ad finem psalmorum appropinquarem, veni in extasim, et vidi hortum, in quo erat monumentum, et lapidem ab hostio eius sublatum, et angelos assidentes, et ecce matrona quedam veniens accessit ad monumentum plorans, et introspexit, et non invento ibi corpore, quasi mesta paululum recessit. Occurrit autem ei dominus, moxque illa substitit. quasi interrogans aliquid ab eo. Et post pusillum conversa est. ut rediret ad monumentum, iterumque subito se convertit quasi vocata ab illo, et currens procidit ad pedes eius. Cunque ipse disparuisset. surgens illa velociter cucurrit usque ad domum, ubi erant discipuli congregati, et nuntiavit eis. Continuo post hec, cum paululum respirassem, vidi duas matronas venientes ad sepulchrum cum aromatibus, et ut viderunt angelos, substiterunt quasi stupefacte. Post hec cum timore propius accesserunt. Factaque ibi parva mora, discesserunt. Occurrit autem et illis dominus in via, moxque ille accurentes prociderunt coram eo, et tenuerunt pedes eius. Hoc autem nequaquam de predicta illa matrona visum michi est. Post hec, cum celebraretur missa, vidi duos discipulos properantes ad sepulchrum, quorum alter quidem senior, alter autem videbatur esse iunior. Et hic quidem, cum cicius pervenisset ad sepulchrum, non introivit. Senior vero. cum pervenisset, statim introivit. postea vero et alter.
›Am Heiligen Ostertag, als es schon hell wurde, saß ich an meinem Betplatz und las in den Psalmen. Und als ich mich bereits dem Ende der Psalmen näherte, fiel ich in Ekstase und schaute einen Garten, in dem sich ein Grabmonument befand, doch der Stein war von seinem Eingang entfernt, und Engel saßen dort. Und siehe, eine Matrone kam und trat weinend zum Grab hin und blickte hinein. Als sie dort den Körper nicht fand, wich sie wie traurig ein wenig zurück. Der Herr aber eilte ihr entgegen, und bald blieb jene stehen, wie um irgend etwas von ihm zu erfragen, und nach kurzem wandte sie sich um, um zum Grab zurückzugehen. Und wieder wandte sie sich rasch um, wie von jenem gerufen, und warf sich eilig zu seinen Füßen nieder. Und nachdem dieser verschwunden war, erhob sich jene schnell und eilte bis zu dem Haus, wo die Jünger versammelt waren, und berichtete es ihnen. Gleich darauf, nachdem ich mich ein wenig erholt hatte, sah ich, wie zwei Matronen mit Spezereien zum Grab kamen, und wie erstaunt stehen blieben, als sie die Engel sahen. Danach kamen sie mit Zagen näher heran. Nachdem sie dort ein wenig verweilt hatten, gingen sie fort. Auch ihnen eilte aber der Herr auf dem Weg entgegen, und bald eilten jene heran, warfen sich vor ihm nieder und umfaßten seine Füße. Dies aber wurde mir keineswegs auch von der vorhergenannten Matrone gezeigt. Danach, als die Messe gefeiert wurde, sah ich, wie zwei Jünger zum Grab eilten, von denen der eine freilich älter, der andere jedoch jünger zu sein schien. Und dieser trat aber nicht ein, obschon er schneller zum Grab gekommen war. Doch als der Ältere hingekommen war, trat er sofort ein, danach aber auch der andere.‹ (LV I, 50)
Der Zeitpunkt der Vision ist liturgisch bestimmt, entsprechend fanden auch die Osterfeiern nach der Matutin am Ostersonntag statt,Footnote 99 allerdings fällt auf, dass diese Vision nicht unmittelbar an die Tagzeit gebunden ist, sondern an die private Lektüre. Der Auferstandene begegnet also zuerst Maria Magdalena, die hier anders als die Engel und der Herr selbst nicht identifiziert wird. Elisabeths Darstellung legt Wert darauf, dass diese Jesus nicht berührt (Io 20, 17), dass dieser aber nochmal den beiden Marien erscheint. Diese erneute Christophanie fehlt in den Osterfeiern, auch wenn sie sich auf das Matthäus-Evangelium (28, 9) stützen kann. Elisabeth hält sich also an die Evangelien, baut damit aber der Schlussfolgerung eines Berührungsverbotes durch eine Frau vor. Auch hier fehlt die verbale Interaktion, selbst wenn es Elisabeth und den Rezipienten nicht schwer gefallen sein dürfte, die aus Evangelien und Liturgie bekannten Dialoge mithilfe der memoria zu ergänzen. Durch den Fokus auf Bewegung und Ausdruck der Körper im Raum appelliert der Text implizit damit an die Rezipienten, das Gelesene in der Imagination zu visualisieren. Er erzeugt dadurch Bilder, ähnlich wie die Vision Elisabeth das ›zeigt‹, was sie in der Schrift gelesen hat. Dafür wird auf Performanzvorstellungen zurückgegriffen, wie sie vermutlich die Osterfeiern als Erweiterungen der selbst performative Züge aufweisenden Liturgie vermitteln. Damit nimmt der Text Rezeptionsformen vorweg, die besonders im Spätmittelalter virulent werden. So hat Carla Dauven-van Knippenberg für das Wienhäuser Osterspiel des 14. Jahrhunderts in Verbindung mit dem erhaltenen Heiligen Grab des Klosters eine prinzipiell ganzjährig mögliche Lektüre des Textes als »Schauspiel für das innere Auge« in Erwägung gezogen.Footnote 100 Christian Schmidt wiederum hat Darstellungsformen von spätmittelalterlichen Gebetstexten untersucht, die der »innere[n] Theatralisierung« dienen.Footnote 101 Man kann in dieser Form ästhetisierender Bearbeitung der Evangelientexte, wie sie vergleichbar auch zur Epiphanie, Passion, Himmelfahrt oder Pfingsten zu finden sind,Footnote 102 dementsprechend eine Hilfestellung zum Verständnis der Schrift durch die Imagination sehen.
4 Transformationen in der Langfassung des Liber Visionum Primus und den folgenden Büchern
4.1 Von der Vision zur Kommunikation
Wie bereits erläutert, gibt es in den Visionen der frühen Kapitel keine direkten Dialoge, auch wenn Elisabeth Gebete spricht oder die Heiligen anredet. Worte können sich ihr allerdings auch ungesagt oder ungehört vermitteln, so bereits in der ersten Vision, in der sie Maria im Himmel sieht:
Stans autem domina mea signo crucis me consignavit. et hec verba menti mee nescio qualiter inseruit: Ne timueris. quia nihil tibi ista nocebunt. Vocis quidem sonitum non audivi. sed tantummodo labiorum eius motum distincte aspexi.
›Meine Herrin stand aber da, bezeichnete mich mit dem Kreuzeszeichen und gab meinen Gedanken – ich weiß nicht wie – diese Worte ein: Fürchte dich nicht, weil dir dies nicht schaden wird. Ich hörte aber keinen Laut einer Stimme, sondern erblickte nur deutlich die Bewegung ihrer Lippen.‹ (LV I, 5)
Es fehlt also die Audition, selbst da wo die Rede sich direkt an Elisabeth richtet, als gäbe es eine Art akustischer Barriere. In den später hinzugefügten Kapiteln der Langfassung des Liber Visionum Primus findet dann ein allmählicher Übergang zu direkter Kommunikation statt. Zugleich ist bereits hier die in der Forschung öfter beschriebene Hinwendung zu von Ekbert und Elisabeths Umfeld formulierten Fragen erkennbar, die die späteren Offenbarungen leiten.Footnote 103 Nun tritt auch ein Engel des Herrn auf (LV I, 31),Footnote 104 der in den folgenden Visionen zu ihrem ständigen Begleiter und Gesprächspartner wird. Bei seinem ersten Auftritt heißt er sie allerdings noch mit einem Kopfnicken zu schweigen und spricht selbst ebenfalls nicht. Auch bei seinem nächsten Erscheinen bleibt die Kommunikation noch stimmlos: Tunc convertit ad me faciem. quasi indignans, et continuo verba hec cordi meo infixa sunt: Ego sum angelus testamenti (›Da wandte er wie unwillig sein Antlitz zu mir, und sogleich wurden folgende Worte in mein Herz eingedrückt: Ich bin der Engel des Testamentes!‹, LV I, 35).Footnote 105
Einen Wendepunkt stellt die Vision im 40. Kapitel dar, die Elisabeth ihrem Bruder als Ausdruck besonderen göttlichen Erbarmens ankündigt. Sie erfährt an zwei Sonntagen der Fastenzeit hintereinander eine komplexe bildhafte Vision,Footnote 106 die sie mit den Worten einleitet: Mirificavit deus misericordias suas in me etiam frater mi ex quo nuper a me discessisti, et hec fecit mihi (›Gott hat auch an mir, mein Bruder, sein Erbarmen wunderbarerweise gezeigt, seitdem du neulich von mir geschieden bist. Und dieses tat er mir‹, LV I, 39). Die Vision von einem sich drehenden Rad mit einem sich nur mühsam darauf haltenden Vogel und einer Leiter löst in ihr den Wunsch nach tieferer Einsicht aus.Footnote 107 Sie erbittet daher vom seligen Gregor, dessen Fest gefeiert wird, seine Fürsprache zu deren Verständnis, der sie jedoch auf die Erklärung durch die Schriftgelehrten verweist: Non potes intelligere, quid ista significent, sed dic doctoribus, qui legunt scripturas; ipsi sciunt. (›Du vermagst nicht zu verstehen, was dies bedeutet, sondern sage es den Gelehrten, die die Schriften lesen, diese wissen es‹, LV I, 40). Auch wenn ihr eine direkte Allegorese zunächst verweigert wird, setzt hier ein Transformationsprozess ein, denn die bisherigen Visionen waren aus der Anschauung selbst wirksam und bedurften kaum einer zusätzlichen Erläuterung. Diese Vision aber erfordert gelehrtes Wissen und Auslegungskompetenz. Parallel dazu setzt nun verbale Kommunikation ein. In LV I, 57 kommt es zu einem ersten kleinen Dialog mit dem Engel des Herrn; am Ende ihres Gebets sieht sie ihn ›[...] wie mir von oben zur Hilfe kommen. Und als er bei mir stehengeblieben war, sagte ich ihm: Mein Herr, ich bin erschöpft, dies zu ertragen. Und er sagte zu mir: Du wirst gestärkt und getröstet werden, laß nicht nach auf deinem Weg!‹ (circa orationis finem vidi angelum domini desurum venientem quasi in adiutorium mihi. Et cum stetisset coram me, dixi illi: Domine mi, lassa sum ad sustinendum. Et ait ad me: Confortare. consolare, noli deficere in via.). Sukzessive nimmt danach die Kommunikation und vor allem die Belehrung durch den Engel zu, häufiger sind nun Botschaften an die Außenwelt darunter.Footnote 108 Auch Ekberts Rolle wird erweitert: Er ist nicht mehr nur Adressat ihres Berichtes und späterer Herausgeber, sondern zunehmend auch Ansprechpartner und Begleiter der Offenbarungen im Hintergrund.
Zeitgleich wird das anfängliche Schweigen Elisabeths über den Inhalt ihrer Visionen überführt in einen Prozess der Veröffentlichung:Footnote 109 Da sie sich zunächst weigert, wird sie durch den Engel sogar mit Schlägen (LV I, 78) und zeitweiliger Stummheit dazu gedrängt, das Wort Gottes, das ihr in den Mund gelegt sei,Footnote 110 öffentlich zu machen und einen schriftlichen Bericht anfertigen zu lassen.Footnote 111 Nachdem sie ihr ›geheimes Büchlein‹ dem Abt ausgehändigt hat,Footnote 112 verkündet ihr der Engel das Ende der bisherigen Visionen, nun solle sie sich auf das ›Licht des Himmels‹ konzentrieren.Footnote 113
Hier wird ein Konnex erkennbar zwischen der Veränderung der Offenbarung als visuelle Erfahrung liturgisch gesteuerter Inhalte hin zur verbal vermittelten Didaxe durch den Engel und der Veröffentlichung der Visionen und Elisabeths Auftreten als Prophetin.Footnote 114 Vor dem Hintergrund der Entstehungs- und Erweiterungsgeschichte des Liber Visionum gewinnt man den Eindruck, dass die Offenbarungen der Langfassung bewusst so arrangiert und erweitert wurden, dass deren Veröffentlichung und Elisabeths prophetisches Auftreten durch diesen Text legitimiert wurden.
4.2 Von der visio zur doctrina, von der Präsenz zum Sinn. Ausblick auf Buch II und III
Im zweiten und dritten Buch, die laut Ekberts Vorwort von Visionen nach Fertigstellung des ersten Buches berichten,Footnote 115 werden diese auch weiterhin mit der Angabe des jeweiligen Festtags eingeleitet. Die Tagzeiten fehlen hier jedoch so gut wie völlig, während Messe und Eucharistie häufiger zur Terminierung der Visionen genannt werden. Der Hintergrund für diese Veränderung könnte sein, dass sich im monastischen Leben der Fokus von den Tagzeiten hin zur Messe verschob, was gerade für die Frauenklöster eine nachteilige Entwicklung darstellte, da sie für diese auf einen Priester angewiesen waren.Footnote 116 Zwar treten weiterhin die liturgisch mit dem Tag verbundenen Heiligen auf, ansonsten sind die Visionen inhaltlich oft ganz vom Offizium entkoppelt. Der Engel bleibt aber Elisabeths leitende Figur, der mit ihr ausführliche Lehrdialoge führt.Footnote 117
Eines der zentralen Themen, wenn nicht das zentrale Thema des zweiten Buchs sind die in der Offenbarungsliteratur etablierten JenseitsvisionenFootnote 118 und die damit verbundene Frage nach der Wirksamkeit des Gebets für die Verstorbenen und deren Verbleib nach dem Tod. Es geht in erster Linie um das Schicksal bestimmter Menschen, die mit dem Kloster oder Ekbert und Elisabeth in Beziehung standen, wie verstorbene Brüder, Verwandte oder die Stifter des Klosters.Footnote 119 Wie im ersten Buch werden auch hier die monastisch-liturgischen Verpflichtungen in ihrer Sinnhaftigkeit vorgeführt, allerdings nicht durch die visuelle Erfahrung und Partizipation an Transzendenz und Heilsgeschehen, sondern in sehr viel expliziterer, verbalisierter Form. Elisabeth wird zu einem Medium der Kommunikation zwischen Transzendenz und Immanenz, indem sie Fragen und Botschaften hin und her übermittelt. Dabei erweist sie sich als kluge Gesprächspartnerin, die gezielt nachfragt, Zitate einbringt und den Dialog steuert.Footnote 120 In der Forschung wird darin überwiegend der Einfluss des gelehrten Bruders Ekbert gesehen, auch aufgrund entsprechender Hinweise im Text.Footnote 121 Unabhängig davon, ob diese Einschätzung zutrifft, tritt das, was die Visionen des ersten Buches ausmacht, der Selbstwert der liturgischen Struktur und die »Selbstzweckhaftigkeit«Footnote 122 der sinnlichen Transzendenzerfahrung zurück zugunsten von formal eher konventionellen Lehrdialogen, die den Fokus auf kognitiv-verbale Didaxe und hermeneutische Auslegung bildhafter Visionen richten. Im Anschluss an Hans Ulrich Gumbrecht kann man diese Entwicklung so interpretieren, dass in den frühen Kapiteln eine Kultur der Präsenz, in den späteren Kapiteln und Büchern dagegen eine Kultur des Sinns dominiert.Footnote 123 Während in Sinnkulturen das Bewusstsein des Menschen im Vordergrund steht, sein Handeln in der Zeit und seine Interpretation der Dinge zur Erzeugung von Sinn, ist der Mensch in Präsenzkulturen zunächst Körper und damit »Teil der kosmischen Ordnung«; hier ist der Raum entscheidend, die Zeit dagegen revidierbar und daher das »Wieder-Gegenwärtigmachen« möglich.Footnote 124 Karl-Heinrich Bieritz, auf dessen Diskussion von Gumbrechts Thesen ich mich hier beziehe, rekurriert in seiner Untersuchung zur »Vergegenwärtigung des Heils in Liturgie und geistlichem Spiel« daneben auf das Anamnesis- und das Mimesis-Konzept, um die Unterschiede zwischen Messe und Spiel herauszuarbeiten. Im Gegensatz zur Sinn- und Präsenzkultur ist die Opposition hier weniger scharf, so richten sich beide Konzepte auf die (Wieder‑)Herstellung von Präsenz. Das Anamnesis-Konzept gründet sich auf jüdische Traditionen und vergegenwärtigt göttliches Handeln in der Zeit und damit – darin stimmt es mit Lessing überein – im Wort und in einer Erzählung von der Vergangenheit bis zur Zukunft. Das Mimesis-Konzept dagegen vergegenwärtigt Heil im Raum, als »zeitlose immerwährende Gegenwart«, daher ist das Leitmedium das Bild, das bewegte Bild oder Spiel.Footnote 125
Freilich kann im Liber Visionum nicht von einer strikten Gegenüberstellung unterschiedlicher Konzepte die Rede sein, gleichwohl ist eine Verschiebung des Fokus erkennbar, denn dieser liegt zunächst auf der sinnlichen Erfahrung einer deskriptiv oder performativ vergegenwärtigten Transzendenz im Raum und verlagert sich dann auf Gespräch und hermeneutische Durchdringung der Visionen. Buch III setzt diese Entwicklung fort, die Offenbarungen sind nun häufiger so umfangreich, dass sie sich über mehrere Kapitel hinziehen und die Festtage als strukturierendes Element vollends in den Hintergrund treten.Footnote 126 Mehrmals gibt es ›Zeitsprünge‹ von einem Jahr, um die Fortsetzung der Vision dieses Festtages zu schildern; dieser ist jetzt nur noch Anlass zu einem bestimmten Thema.Footnote 127 Der Ablauf ist nun in der Regel so, dass Elisabeth den Engel, die Gottesmutter oder einen anderen Heiligen um Belehrung bittet, zu denen sie nun auch ohne Vermittlung des Engels in Kontakt tritt, die dann in längeren Erläuterungen oder Dialogen gewährt wird. In beiden Büchern werden auch Themen behandelt, die einen klaren Bezug zu den Visionen und Ekstasen selbst haben,Footnote 128 wenn ihr etwa ausgehend von einer Stelle bei Dionysius Areopagita der Engel erklärt, dass die oberen Engel ihre Einsichten vom Herzen Gottes empfangen und er wiederum von ihnen:
Nuper, cum me interrogares, unde tibi essent verba epistolarum, quas ex inproviso proferebas, nunquid meministi, quid responderim tibi? Dixi, me ea accepisse de corde die vivi, et locutum me fuisse ad cor tuum: Hoc ergo ita intelligere debes. Superiores illi a corde dei ea acceperant, et ego ab illis, et ita per mediatores ego a corde dei illa acceperam.
›Neulich, als du mich fragtest, von wo dir die Worte der Briefe kämen, die du ohne Vorbereitung vortrugst – erinnerst du dich nicht, was ich dir antwortete? Ich sagte, dies vom Herzen des lebendigen Gottes empfangen und zu deinem Herzen gesprochen zu haben. Dies sollst du also so verstehen: Jene Oberen haben dies vom Herzen Gottes empfangen und ich von jenen. Und so habe ich durch Vermittler jenes vom Herzen Gottes empfangen.‹ (LV III, 13)
Gerade diese Erläuterung ist symptomatisch für die Funktionsweise dieses Offenbarungstyps. Es führt eine direkte Linie zu Gott, die die Authentizität der Botschaft verbürgt, es gibt jedoch weder ein unmittelbares Erleben der Transzendenz noch eine direkt daraus folgende Erkenntnis wie in den früheren Visionen. Diese autoreferentiell angelegten Kapitel dienen in erster Linie der textinternen Erklärung und Absicherung von Elisabeths Revelationen. Das dritte Buch endet schließlich mit der bereits genannten Wiederholung der komplexen bildlichen Vision im 40. Kapitel des ersten Buchs.Footnote 129 Anders als beim ersten Mal wird sie nun von ihrem Bruder einer ausführlichen Allegorese unterzogen; damit erhalten seine Gelehrsamkeit und die auf den Sinn zielende rationale Exegese der Vision buchstäblich das letzte Wort im Liber Visionum.Footnote 130
5 Fazit
Elisabeths Visionen finden ausschließlich im klausurierten Raum des Kloster statt, ein im Sinne Foucaults heterotopischer Ort, eine der »tatsächlich realisierte[n] Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.«Footnote 131 Diese sind auch durch ihr besonderes Verhältnis zur Zeit gekennzeichnet: »Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen.«Footnote 132 So ist das monastische Leben durch seine Ausrichtung auf die himmlische Ewigkeit bereits auf Erden bestimmt. Das schlägt sich auch in Elisabeths Liber Visionum nieder; zwar ist dieser chronologisch organisiert, doch sind bereits die liturgischen Zeitangaben durch das Paradox gekennzeichnet, die irdische Zeit zwar zu strukturieren, jedoch nicht in einem linear quantifizierenden Sinne, sondern in der permanenten Referenz auf Heilsgeschichte und die in ihr implizierte Eschatologie. Die wiederkehrende Erfahrung der Transzendenz wird an diese Fest- und Tagzeiten gekoppelt. Elisabeths Offenbarungen sind in dieser Hinsicht ein Novum.
Die liturgische Zeit fungiert als Bindeglied zwischen Immanenz und Transzendenz, sie ermöglicht die Erfahrung von Himmel und Heilsgeschichte aus eigener visuell-sinnlicher Anschauung. Um die Transzendenz als das Andere sicht- und beschreibbar zu machen, nutzen insbesondere die Visionen des ersten Buchs intermediale und intertextuelle Anleihen in Form von Ekphrasen und performativ aufgeladenen Passagen. Der Wechsel in den deskriptiven Modus, nach Lessing ein Bruch mit den ›bequemen‹ Möglichkeiten der Literatur, ermöglicht die Vergegenwärtigung der Transzendenz und hält zugleich die Differenz in der Wahl der Mittel präsent. Allerdings ist der liturgisch-monastische Lebensrhythmus der transzendenten ›Zeitlosigkeit‹ nicht einfach entgegengesetzt. Die zirkuläre Struktur, der iterative Charakter von Gesängen und Texten zur Memoria von Heilsgeschichte und Heiligen stehen selbst quer zu Vorstellungen vom Vergehen der Zeit. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass in Elisabeths Texten die Visionen zugleich exzeptionelle Erfahrungen sind und ihre Frequenz betont wird. Lineare irdische Zeit, Zirkularität der liturgischen Zeit und ›Zeitlosigkeit‹ der jenseitigen Welt werden so in eine spannungsreiche Beziehung gebracht.Footnote 133
Die Visionen erscheinen als besonders intensive Form liturgischer Versenkung. Dass dies vor dem Hintergrund der Hirsauer Reform und benediktinischer Spiritualität zu verstehen ist, scheint mir evident.Footnote 134 Im Gegenzug zur strikten Schließung des irdischen Raumes in der KlausurFootnote 135 eröffnet sich in Elisabeths Visionen aus der chronologisch reglementierten Liturgie heraus ein weiter himmlischer Raum, der sie in Kontakt zu Engeln und Heiligen bringt, die sich wiederum durch ihre Nähe zu Gott auszeichnen. Auch das kongruiert mit Vorstellungen des Klosters als paradiesischem Ort und der angelica vita der Mönche bzw. Nonnen, die gerade von der Hirsauer Reformspiritualität gepflegt wurden.Footnote 136 Die Transzendenzerfahrung nimmt bei Elisabeth allerdings nicht die Form der unio an und ihr ist auch nicht die ästhetische Qualität der ›Süße‹ eigen,Footnote 137 doch liegt der Fokus der frühen Kapitel des ersten Buchs auf der sinnlich-visuellen Wahrnehmung und unmittelbaren Wirkung der Transzendenz durch ihre Vergegenwärtigung.
Die erweiterte Fassung des ersten Buchs und die Bücher II und III brechen mit der Struktur der frühen Kapitel, da eine Entwicklung implementiert wird und damit eine Veränderung in der Zeit. Die Veröffentlichung der Offenbarungen und die Zunahme verbaler Kommunikation führen auf die folgenden Bücher hin, in denen die Festtage und Tagzeiten vor allem einen Rahmen für die in den Offenbarungen vermittelte doctrina bilden. Die zusätzlichen Kapitel der Langfassung des Liber Primus leiten also einen Transformationsprozess ein hin zu Elisabeths öffentlicher Rolle als Prophetin. Die Bücher II und III entfernen sich damit von der ästhetisierenden sinnlichen Erfahrung von Transzendenz in der Gegenwärtigkeit der räumlichen Schau und der Performanz biblischer Ereignisse zugunsten einer expliziten Belehrung oder einer Didaxe, die durch allegorische Deutung bildhafter Visionen vermittelt wird. Der Fokus verschiebt sich von der Wahrnehmung auf die Hermeneutik, von der Präsenz auf den Sinn. Im Vordergrund steht die Vermittlung reformorientierter Botschaften an die Umwelt. Die Inhalte der späteren Kapitel und Bücher mögen durch Ekberts Einfluss theologisch ausgefeilter sein, das schlüssigere Konzept einer monastisch geprägten, über die Liturgie entwickelten neuen Form der Literarisierung visionärer Schau bieten jedoch die frühen Kapitel des ersten Buches.Footnote 138 Sollten diese tatsächlich in erster Linie auf die Visionärin selbst zurückgehen, sind sie keineswegs ein Zeugnis von Elisabeths »schlichtem Geist«Footnote 139, vielmehr erweisen sie sich in ihrer Eigenart im Hinblick auf die folgende Offenbarungsliteratur als der wirkmächtigere Teil ihrer Visionsbücher.
Notes
Im Folgenden werden lateinische Texte und Übersetzungen Elisabeths von Schönau zitiert nach: Die Visionen und Briefe der hl. Elisabeth sowie die Schriften der Aebte Ekbert und Emecho von Schönau. Hg. von Ferdinand W. E. Roth. Brünn: Verlag der »Studien aus dem Benedictiner- und Cistercienser-Orden«, 2. Aufl. 1886, hier S. 1 und Elisabeth von Schönau: Werke. Eingel., kom. und übers. von Peter Dinzelbacher. Paderborn u. a.: Schöningh, 2006, hier S. 6. Der Liber Visionum wird im Folgenden LV, der Liber Visionum Dei wird LVD abgekürzt; die Hervorhebungen der Zitate im Text durch Sperrdruck werden übernommen.
Vgl. besonders zum Verhältnis von Zeit und Ewigkeit Haug, Walter: »Der Durchbruch durch die Ordnung der Zeit in der abendländischen Mystik«. In: Tilo Schabert/Matthias Riedl (Hg.): Das Ordnen der Zeit. Wiesbaden: Eranos 2003, S. 15–45; Huth, Volkhard: »Zeit und Zeitberechnung«. In: Gert Melville/Martial Staub (Hg.): Enzyklopädie des Mittelalters. Bd. 1. Darmstadt: Wiss. Buchges., 3., unveränd. und bibl. akt. Aufl. 2017, S. 384–388.
Vgl. Strohschneider, Peter: »Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns Gregorius«. In: Christoph Huber/Burghart Wachinger/Hans-Joachim Ziegeler (Hg.): Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Tübingen: Niemeyer, 2000, S. 105–133, hier S. 105 f.
Vgl. Giuliani, Luca: »Laokoon in der Höhle des Polyphem. Zur einfachen Form des Erzählens in Bild und Text«. In: Poetica 28 (1996), S. 1–47, hier S. 6. Er konstatiert weiter, dass mit dem L’art-pour-l’art-Prinzip Kategorien wie Nachahmung und Täuschung ihre Gültigkeit verloren haben. Vgl. auch Frank, Gustav: »›Nebeneinander‹ erzählen: Das Laokoon-Problem der Narration/Narratologie«. In: Julia Abel/Andreas Blödorn/Michael Scheffel (Hg.): Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung. Trier: Wiss. Verl. Trier, 2009, S. 55–70.
Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe. Hg. von Friedrich Vollhardt. Stuttgart: Reclam, 2012, Kap. XVI. Seine Thesen sind nicht unwidersprochen geblieben, vgl. Wandhoff, Haiko: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin u. a.: de Gruyter, 2003, S. 6. Vgl. zum Text und seiner ›Bildskepsis‹ auch Robert, Jörg: »Laokoon oder: Krieg und Frieden im Reich der Künste«. In: Ders./Friedrich Vollhardt (Hg.): Unordentliche Collectanea. Gotthold Ephraim Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin/Boston: de Gruyter, 2013, S. 9–40.
Während das (missverstandene) Dictum des Horaz ut pictura poiesis »die prinzipielle Konvertierbarkeit des einen in das andere Medium« behauptet, betont Lessing die grundsätzlichen Unterschiede »als Ansatz zu einer vergleichenden Medientheorie«. Giuliani (s. Anm. 4), S. 1 f.
Giuliani (s. Anm. 4), S. 13. Er legt zudem dar, dass tatsächlich der Gegensatz der Künste in diesem Punkt nicht so scharf ist (vgl. S. 19).
Vgl. ebd., S. 11 f.
Ebd., S. 11; zitiert wird Lessing (s. Anm. 5), Paralipomena 25, S. 259.
Vgl. ebd., S. 14.
Christine Stridde erläutert, dass das Christentum auf diese »Differenz des wirklich Sichtbaren zum religiösen Mysterium angewiesen« sei, daher werde in seinen »Medien pausenlos auf diese Grenze aufmerksam« gemacht, selbst dann noch, wenn sie kollabiere. Mystische Texte ignorierten »diese religionskonstitutive Kippfigur« jedoch (»Spirituelle Selbstmitteilung und poetische Selbstreferenz. Literaturwissenschaftliche Überlegungen zur Ästhetik der Offenbarungsrede anhand einiger mittelalterlicher Beispiele«. In: Andrea Polaschegg/Daniel Weidner [Hg.]: Das Buch in den Büchern. Wechselwirkungen von Bibel und Literatur. München: Fink, 2012, S. 355–369, hier S. 362). M. E. begegnen Elisabeths frühe Texte diesem Dilemma, indem auf der Inhaltsebene von der Erfahrung der Transzendenz berichtet wird, diese auf der Ebene der sprachlichen Darstellung jedoch uneinholbar bleibt.
Die Ekphrasis ermöglicht die Implementierung anderer Themen, besonders solche autoreferentieller Art, durch die der Schreibprozess selbst oder die Fiktionalität des Textes in den Blick rückt, vgl. Starkey, Kathryn: »Time Travel. Ekphrasis and Narrative in Medieval German Literature«. In: Hans Adler/Sabine Groß (Hg.): Anschauung und Anschaulichkeit. Visualisierung im Wahrnehmen, Lesen und Denken. Paderborn: Fink, 2016, S. 179–193, hier S. 180 f. Die Funktionalisierung ist also anders als in diesem geistlichen Text. Vgl. auch Wandhoff (s. Anm. 5), hier bes. S. 7 f.
Zum Verhältnis von Hildegard und Elisabeth vgl. Dinzelbacher, Peter: Mittelalterliche Frauenmystik. Paderborn u. a.: Schöningh, 1993, Kap. »Die Offenbarungen der Elisabeth von Schönau: Bildwelt, Erlebnisweise und Zeittypisches«, S. 78–167, hier S. 78 f.; Heinzer, Felix: »Unequal Twins. Visionary Attitude and Monastic Culture in Elisabeth of Schönau and Hildegard of Bingen«. In: Beverly Mayne Kienzle/Debra L. Stoudt/George P. Ferzoco (Hg.): A companion to Hildegard of Bingen. Leiden u. a.: Brill, 2014, S. 85–108; Kemper, Joachim: »Das benediktinische Doppelkloster Schönau und die Visionen Elisabeths von Schönau«. In: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 54 (2002), S. 55–102, hier S. 83–85; O’Dell, M. Colman: »Elizabeth of Schönau and Hildegard of Bingen. Prophets of the Lord«. In: Lillian Thomas Shank/John A. Nichols (Hg.): Medieval religious women. Bd. 2: Peaceweavers. Kalamazoo, MI: Cistercian Publications, 1987, S. 85–102. Speziell zu den Briefen Elliott, Dyan/Kerby-Fulton, Kathryn: »Self-Image and the Visionary Role in Two Letters from the Correspondence of Elizabeth of Schönau and Hildegard of Bingen«. In: Vox Benedictina 2/2 (1985), S. 204–223. Die Briefe sind verstreut ediert, vgl. Roth (s. Anm. 1), S. 139–153, Übersetzungen: Deutsche Mystikerbriefe des Mittelalters. 1100–1550. Hg. von Wilhelm Oehl. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1972 [unveränd. reprograf. Nachdr. d. Ausg. München 1931], S. 129–137 und 752–754; Dinzelbacher (s. Anm. 1), S. 165–183.
Vgl. Dinzelbacher, Peter: »Elisabeth von Schönau«. In: LexMA 3 (1986), Sp. 1842 f.: »Charakteristisch für E.s Visionen sind u.a. das Eingebundensein in die Liturgie des Kirchenjahres, Wiederholungen und Verweise auf frühere Gesichte, die Allegorese des Geschauten. Diese Züge hat sie mit der Frauenmystik des späteren MA gemeinsam, an deren Beginn sie steht«; vgl. auch ders. (s. Anm. 13), bes. S. 89 f.
Vgl. Dinzelbacher (s. Anm. 13), S. 101.
Vgl. dazu die Arbeiten von Brigitte Degler-Spengler, etwa »Die religiöse Frauenbewegung des Mittelalters. Konversen – Nonnen – Beginen«. In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 3 (1984), S. 75–88.
Zur Geschichte des Klosters vgl. zuletzt Hartmann, Stephanie: »Schönau im Taunus als Ort der heiligen Elisabeth von Schönau (gest. 1164/65)«. In: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 65 (2013), S. 25–39; Kemper (s. Anm. 13); Michel, Walter: »Schönau«. In: Friedhelm Jürgensmeier (Hg.): Die Männer- und Frauenklöster der Benediktiner in Rheinland-Pfalz und Saarland. St. Ottilien: EOS-Verl., 1999, S. 728–756.
Vgl. Kemper (s. Anm. 13), S. 65 und Anm. 62 sowie 68 f.; zur Gründungsgeschichte vgl. auch Kloft, Matthias Theodor: »Geschichte des Klosters Schönau«. In: Ders./Dominik Müller (Hg.): Wie die 11.000 Jungfrauen nach Köln kamen – Elisabeth von Schönau, eine Seherin aus dem Taunus. Eine Ausstellung des Diözesanmuseums Limburg, 15. Juli – 23. Oktober 2016. Limburg a. d. L.: Diözesanmuseum Limburg, 2016, S. 8–13, hier S. 8 und Michel (s. Anm. 17), S. 729.
Vgl. dazu Roitner, Ingrid: »Sorores inclusae. Bistumspolitik und Klosterreform im Geist von Cluny/Hirsau in der Diözese Salzburg«. In: Revue Mabillon, N. S. 18 (2007), S. 73–131; Küsters, Urban: »Formen und Modelle religiöser Frauengemeinschaften im Umkreis der Hirsauer Reform des 11. und 12. Jahrhunderts«. In: Hirsau St. Peter und Paul 1091–1991. Tl. 2: Geschichte, Lebens- und Verfassungsformen eines Reformklosters. Bearb. von Klaus Schreiner. Stuttgart: Theiss, 1991, S. 195–220; Heinzer, Felix: »Klösterliche Netzwerke und kulturelle Identität. Die Hirsauer Reform des 11./12. Jahrhunderts als Vorläufer spätmittelalterlicher Ordensstrukturen«. In: Barbara Fleith/René Wetzel (Hg.): Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte. Berlin/New York: de Gruyter, 2009, S. 127–140. Zu den Doppelklöstern generell vgl. Haarländer, Stephanie: »›Schlangen unter Fischen‹. Männliche und weibliche Religiosen in Doppelklöstern des hohen Mittelalters«. In: Sigrid Schmitt (Hg.): Frauen und Kirche. Stuttgart: Steiner, 2002, S. 55–69. Wie das Zusammenleben sich konkret in Schönau gestaltete, ist nicht klar. Einerseits lebten Männer und Frauen räumlich getrennt in verschiedenen Gebäuden und es gab, wie es Vorschrift ist, ein Fenster für den Kontakt. Elisabeth berichtet jedoch mehrfach von der Anwesenheit des Abtes, ihres Bruders sowie der Mönche und davon, was sie während der Messe am Altar sieht. Hier bleibt jedoch mitunter vage, was sich ihr einzig in der Vision vermittelt.
Vgl. Köster, Kurt: »Ekbert von Schönau«. In: 2VL 2 (1980), Sp. 436–440 und 11 (2004), Sp. 399, hier 2, Sp. 436.
Er hieß ebenfalls Ekbert, starb 1132 und war Berater Kaiser Lothars, vgl. Bistum Münster. Bd. 7,1: Die Diözese. Bearb. von Wilhelm Kohl. Berlin/New York: de Gruyter, 1999, hier S. 95 f. Zu seinen Reformbestrebungen vgl. Kemper (s. Anm. 13), S. 80 und Köster, Kurt: »Elisabeth von Schönau«. In: Nassauische Lebensbilder 3 (1948), S. 35–59, hier S. 36. Dass er für Elisabeth und ihren Bruder eine zentrale Figur war, zeigt sich auch daran, dass sie ihm in Visionen als Verstorbenem in LV II, 19 und III, 11 im Bischofsornat im Kreise der ›Gerechten‹ begegnet.
Zur Nähe Schönaus zur Hirsauer Reform vgl. Kemper (s. Anm. 13), S. 58. Michel (s. Anm. 17) erwähnt sie nicht. Die Verbindung zur Stifterfamilie könnte ebenfalls einen Ausschlag gegeben haben. Zu Elisabeths Nähe zu den Grafen von Lauenburg vgl. Elisabeth of Schönau: The Complete Works. Übers. u. hg. von Anne L. Clark. New York/Mahwah, NJ: Paulist Press, 2000, Introduction, S. 2: »Several visions relate to the activities of Count Rupert of Laurenburg, the patron of Schönau, and his widow, Beatrice, was at Elisabeth’s side in the final days of her life.«
Vgl. Dinzelbacher, Peter: »Ekbert (Egbert) von Schönau«. In: LexMA 3 (1986), Sp. 1763; Köster (s. Anm. 20), Sp. 436 f.; Kaiser, Reinhold: »Bonn. II. Geschichte im Mittelalter«. In: LexMA 2 (1983), Sp. 426–428.
Aufgrund von Fehlzuschreibungen sind Ekberts Schriften, von denen zahlreiche Handschriften überliefert sind, nur schwer zu fassen, auch sind sie nicht gut erforscht. Seine Schriften zeigen den Einfluss durch die mystische Theologie Bernhards von Clairvaux und der Viktoriner, sie sind geprägt von Christologie und Mariologie. Er ist ein bedeutsamer Vorläufer der Herz-Jesu- und Mariä-Verehrung, dazu gehört auch die Entwicklung der Lehre von der leiblichen Auferstehung Mariä, vgl. Köster (s. Anm. 20) und Dinzelbacher (s. Anm. 23).
Vgl. LV I, 1 (S. 7) und dazu Köster (s. Anm. 20), Sp. 437.
Das genaue Datum ist unbekannt, vielleicht 1165 oder 1167, vgl. Dinzelbacher (s. Anm. 23), Köster (s. Anm. 20), Sp. 437.
Vgl. mit unterschiedlicher Akzentuierung Anne L. Clark: »Repression or Collaboration? The Case of Elisabeth and Ekbert of Schönau«. In: Scott L. Waugh/Peter D. Diehl [Hg.]: Christendom and Its Discontents. Exclusion, Persecution, and Rebellion, 1100–1550. Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1996, S. 151–167, und Ariane Westphälinger: Der Mann hinter der Heiligen. Die Beichtväter der Elisabeth von Schönau, der Elisabeth von Thüringen und der Dorothea von Montau. Krems: Medium Aevum Quotidianum, 2007, S. 11–69, die allerdings Elisabeths Einfluss als Frau und Nonne generell geringschätzt; Grundsätzlich zum Paradigma von Seelsorger bzw. Hagiograph und weiblicher Heiliger vgl. Bürkle, Susanne: Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts. Tübingen u. a.: Francke, 1999, S. 193–233.
Mit über 80 Hss. ist es das verbreitetste Werk, das großen Einfluss auf Hagiographie, Ikonographie und Kunst ausübte, vgl. Köster (s. Anm. 37), Sp. 490 f.; zum Text demnächst Mattern, Tanja: »Authentifikation durch Offenbarung – Authentifikation von Offenbarung. Elisabeth von Schönau, die Kölner ›Reliquienfunde‹ und die Legende der hl. Ursula«. In: Andreas Bihrer/Julia Weitbrecht (Hg.): Gesicht und Handschrift. Transzendente Begründung und Authentifikation in mittelalterlichen Visionen. Stuttgart 2022 [im Erscheinen].
Der früheste Hinweis auf eine Schriftensammlung Elisabeths (Redaktion A) stammt aus dem Jahr 1164, kurz vor ihrem Tod; zur Datierung der Schriften und Redaktionen vgl. Köster, Kurt: »Das visionäre Werk Elisabeths von Schönau. Studien zur Entstehung, Überlieferung und Wirkung in der mittelalterlichen Welt«. In: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 4 (1952), S. 79–119, hier S. 85 f. Der Liber Viarum Dei wird im Vorwort und implizit auch zu Beginn von Elisabeths Bericht auf das Jahr 1156 datiert (Roth, s. Anm. 1), dazu bemerkt Köster (S. 80): »Eine ausdrückliche Jahresangabe findet sich einzig zu Eingang des Liber Viarum Dei […]. Danach haben die zugrunde liegenden Visionen kurz vor dem Pfingstfest 1156 (3. Juni) begonnen.« Die Jahresangaben in Prolog und Eingangsteil des Liber Visionum Primus zumindest in der von Roth edierten Fassung zählt er nicht mit. Nach Clark (s. Anm. 22, S. 46) gibt es frühestens 1159 Hinweise auf Schriften außerhalb des Klosters.
Vgl. Köster (s. Anm. 29), S. 83. Das gelte besonders für den Liber Viarum Dei. Köster hat sich in mehreren Veröffentlichungen mit Elisabeth, ihren Texten und deren Überlieferung auseinandergesetzt und damit wichtige Grundlagenarbeit geleistet; seine Charakterisierung Elisabeths als kränklich, schlicht und von ihrem Bruder geleitet beeinflusst ihr Bild in der Forschung jedoch leider bis heute. Vgl. auch ders.: »Elisabeth von Schönau. Werk und Wirken im Spiegel der mittelalterlichen handschriftlichen Überlieferung«. In: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 3 (1951), S. 243–315; ders. (s. Anm. 21).
Vgl. Heinzer, Felix: »Imaginierte Passion. Vision im Spannungsfeld zwischen liturgischer Matrix und religiöser Erfahrung bei Elisabeth von Schönau«. In: Andreas Bihrer/Elisabeth Stein (Hg.): Nova de veteribus. Mittel- und neulateinische Studien für Paul Gerhard Schmidt. München/Leipzig: Saur, 2004, S. 463–476, hier S. 464; Dinzelbacher (s. Anm. 13), S. 91.
Alle drei Bücher zusammen und in der längsten Fassung finden sich erst in der letzten Fassung E, zwischen 1164 und 1188; diese liegt Roths Ausgabe zugrunde, vgl. Köster (s. Anm. 29), S. 84 f. und 92; vgl. die Übersicht der Überlieferung und die kritische Diskussion von Kösters Rekonstruktion bei Clark (s. Anm. 22), S. 137–142.
Vgl. Heinzer (s. Anm. 31), S. 465. Das gilt zumindest für die deutschsprachige Forschung.
Vgl. etwa Köster (s. Anm. 29), S. 83: »Nur im ersten und im Anfang des zweiten Buches ist das schlichte, kaum beeinflußte visionäre Erleben der Frühzeit Elisabeths noch faßbar. Die späteren, von Egbert maßgeblich bestimmten Teile der visionären Tagebücher gehören offenbar den letzten Lebensjahren Elisabeths an.« Heinzer (s. Anm. 31, S. 464 f.) geht davon aus, dass diese frühen Visionen »in ihrer inhaltlichen Kargheit im Grunde nur für sie selbst bestimmt seien«.
Es entsteht der Eindruck, dass der in den Schriften allenthalben spürbare Legitimierungs- und Authentifizierungsdrucks, der auf dieser neuartigen Form der Offenbarungen durch eine Frau lastete, eine gewisse biographische Kontextualisierung insofern erforderlich machte, als die radikale Anbindung der Texte an das Ich der Visionärin deren Überzeugungskraft sehr wesentlich von ihrer Vorbildlichkeit abhängig machte. Vgl. dazu insbesondere die Vorworte von Ekbert, aber auch den Beginn von Elisabeths eigenem Bericht, in denen sie sich beide explizit mit der Frage der Glaubwürdigkeit göttlicher Offenbarungen durch eine Frau auseinandersetzen. Auch in dem im LV III, 19 eingefügten Brief an Hildegard von Bingen wird gegen Elisabeth gerichteter Spott und Kritik thematisiert.
Vgl. Heinzer (s. Anm. 31).
Köster, Kurt: »Elisabeth von Schönau«. In: 2VL 2 (1980), Sp. 488–494, hier Sp. 490. Die exakte Datierung zu Beginn und die liturgischen Zeitangaben ermöglichen es prinzipiell, zumindest die Offenbarungen des ersten Buchs jeweils mit einem historischen Datum zu versehen und biographisch exakt zu verorten. Köster ging sogar so weit, sie als »visionäre Tagebücher« zu bezeichnen (Ders., s. Anm. 29, S. 83) – eine mehrfach aufgegriffene Formel, vgl. Heinzer (s. Anm. 31), S. 464; auch Anne Louise Clark spricht von »diaries« (»The priesthood of the Virgin Mary. Gender trouble in the twelfth century«. In: Journal of feminist studies in religion 18 [2002], S. 5–24, hier S. 18). Der anachronistische Begriff suggeriert jedoch eine Spontaneität, Individualität und Privatheit, die bei genauerem Hinsehen der Verfasstheit und Intention der Texte in ihrer Ausrichtung auf Kirche und Konvent nicht gerecht wird.
LV I, 2: Factum est in die sancto Pentecosten [...] (›Es geschah am heiligen Pfingsttag [...]‹); LV II, 3: Visionem, quam vidit ancilla domini in vigilia Pentecosten, quod erat in principio quarti anni visitationis eius iuxta hunc modum enarravit [...] (›Die Vision, welche die Magd des Herrn an der Pfingstvigil schaute, die in den Beginn des vierten Jahres ihrer Heimsuchung fiel, erzählte sie in folgender Weise [...]‹); LV III, 1: Assumpsit me angelus domini in spiritu in locum celsitudinis magne, et ostendit michi similitudinem urbis cuiusdam admirabilis et gloriose. Factum est autem hoc primum quidem in die festo Pentecostes (›Es erhob mich der Engel des Herrn im Geiste an einen sehr hochgelegenen Ort und zeigte mir das Bild einer bewundernswerten und ruhmreichen Stadt. Dies geschah aber zuerst an einem Pfingsfest [...]‹); LVD 1: Factum est in exordio quinti anni visitationis mee, iam appropinquante die festo Pentecostes [...] (›Es geschah am Beginn des fünften Jahres meiner Heimsuchung, als sich schon das Pfingsfest näherte [...]‹). Eine Ausnahme bilden die Offenbarungen über das Heer der Jungfrauen, denn diese beginnen mit der Translation der Reliquien nach Schönau (vgl. Roth [s. Anm. 1], S. 123–138, hier Kap. 2). Vgl. dazu Kleine, Uta: »›Ce sont les mots que profère une langue nouvelle‹. Élisabeth de Schönau et le renouveau de la prophétie du XIIe siècle«. In: Hagiographie et prophétie (VIe–XIIIe siècles). Hg. von Patrick Henriet, Klaus Herbers u. Hans-Christian Lehner. Firenze: Sismel Edizioni del Galluzzo, 2017, S. 145–192, hier S. 161 f.; vgl. auch dies.: »Visionäre, Exegeten und göttliche Orakel: Neue Horizonte der Prophetie im 12. Jahrhundert«. In: Archiv für Kulturgeschichte 97 (2015), S. 47–88, hier S. 80 f. Möglicherweise folgt Elisabeth hier einer Begründung, die für die Hirsauer, die Inklusen und Doppelklöster besonders förderten, typisch ist, vgl. Roitner (s. Anm. 19), S. 76: »Nicht nur die hirsauischen Chronisten legitimierten den Anteil der Frauen an ihrer Bewegung nach urchristlichem Vorbild, auch in einer Pfingstpredigt des Admonter Homiliencorpus, wird das Anwachsen der Zahl von Männern und Frauen, die sich dem monastischen Leben zuwenden, als Folge des Pfingstgeschehens und als apostolische Nachfolge mit Berufung auf Act. 4, 32 interpretiert.«
Zum Pfingstfest, seinen Ursprüngen und der Deutung des Pfingstgeschehens im Lukas-Evangelium vgl. Weiser, Alfons/Bieritz, Karl-Heinrich: »Pfingsten/Pfingstfest/Pfingstpredigt«. In: TRE 26 (1996), S. 379–387; Stemberger, Günter/Weiser, Alfons/Adam, Adolf: »Pfingsten, Pfingstfest«. In: 3LThK 8 (1999), Sp. 187–189.
Vgl. das Vorwort Ekberts zum LV (S. 5) sowie auch den Brief ihres Neffen Simon von Schönau (s. Anm. 1, S. 15 f.). Die Urteile der Forschung gehen in diesem Punkt auseinander, vgl. z. B. Clark (s. Anm. 22), S. 8: »His denigration of her Latin skills is a means of asserting the divine origin of her visions.« Außerdem betont sie Elisabeths Ausbildung, die sich in ihren Texten niederschlage. Für Elisabeths Kenntnisse sprechen weitere Punkte: Die Klöster der Hirsauer Reform achteten offenbar auf eine gute Ausbildung der Nonnen, was aufgrund des Stellenwerts der Liturgie auch nicht verwunderlich ist, vgl. Roitner (s. Anm. 19), S. 96. Zwischen Elisabeths Eintritt mit 12 und ihrer Einkleidung mit 18 Jahren dürften die Jahre ihrer Ausbildung liegen (vgl. dazu besonders die Arbeiten von Eva Schlotheuber, u. a. »Sprachkompetenz und Lateinvermittlung. Die intellektuelle Ausbildung der Nonnen im Spätmittelalter«. In: Nathalie Kruppa/Jürgen Wilke [Hg.]: Kloster und Bildung im Mittelalter. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006, S. 61–87) und schließlich zeugt auch ihre Wahl zur magistra davon, dass sie über die notwendigen Voraussetzungen zur Leitung des Frauenkonvents verfügte und sicher keine ungebildete Frau war.
Hier und im Folgenden zit. nach Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Hg. von Robertus Weber. Überarb. von Roger Gryson. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 4. Aufl., 1994, hier S. 1700.
Hier und im Folgenden zit. nach Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Freiburg i. Br./Basel/Wien: Katholische Bibelanstalt, 1980, hier S. 1228.
Die Taube mit etwas Rotem im Schnabel ist ihr bereits zu Beginn der Visionen in LV I, 7 erschienen. Vgl. dazu Clark (s. Anm. 37, S. 20): »Here, just as Mary was not differentiated from the apostles in reception of the Holy Spirit and subsequent preaching, so the nuns of Schönau are not distinguished from the clerical ministers in receiving this sign of inspiration.« Bis zur Aufklärung waren konkrete Darstellungen, wie das Herablassen einer lebendigen oder hölzernen Taube, im Rahmen der Liturgie verbreitet, vgl. Stemberger/Weiser/Adam (s. Anm. 39), Sp. 189.
Die Visionen gehen häufig mit körperlichen Symptomen einher, auch am Beginn der Erscheinungen befindet sich Elisabeth in einem krankhaften Zustand. Wie auch bei anderen Mystikerinnen wurde in ihrem Fall über moderne physische und psychische Diagnosen spekuliert, vgl. etwa Dinzelbacher, Peter: »Ekstase, das zentrale körperliche Phänomen der Mystik«. In: Waltraud Pulz (Hg.): Zwischen Himmel und Erde. Körperliche Zeichen der Heiligkeit. Stuttgart: Steiner, 2012, S. 17–34, hier S. 32.
Daniela Fuhrmann, die in ihrer Dissertation unterschiedliche zeitliche Strukturen der Dominikanerinnenviten und deren Semantisierung und Funktionalisierung untersucht, spricht von einer »seriell-paradigmatische[n] Struktur der Texte«. Sie betont dabei, dass »die Offenbarungen nicht nur auf der Ebene des Dargestellten einen Gotteskontakt ausstellen, sondern sich selbst als Weg zu Gott ausgeben«, indem sie ihn »in seiner Vielgestaltigkeit sukzessive zur Erscheinung« bringen und durch die »repetitive Struktur« zur ruminatio bei der Rezeption auffordern (Konfigurationen der Zeit. Dominikanerinnenviten des späten Mittelalters. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2015, S. 41 f.).
Vgl. auch LV I, 11 und 14. Eine besonders enge Anbindung an die Messliturgie zeigt LV I, 35 zur Geburt des Herrn: Cum autem iam fieret apparatus ad celebrationem prioris misse. que inter matutinale officium erat decantanda [...]. Cumque inchoaretur liber generationis [...] Cumque finito evangelio secundum consuetudinem antiphona illa decantaretur, que est: O mundi domina [...] (›Als aber schon die Vorbereitungen zur Feier der ersten Messe im Gang waren [...]. Und als das Buch der Genealogie begonnen wurde [...]. Und als nach Beendigung des Evangeliums wie üblich jene Antiphon gesungen wurde, die lautet: Oh Herrin der Welt [...]‹).
Vgl. auch LV I, 21 und I, 27: Die, nescio quo, simile accidit. Videbam, sicut mos mihi est [...] Et nunc quidem rarum mihi non est videre huiusmodi (›An einem anderen Tag, ich weiß nicht wann, ereignete sich Ähnliches. Ich sah alles so, wie es mir üblich ist [...]. Auch jetzt freilich ist es nicht selten, daß ich dergleichen sehe‹).
Es ist bezeichnend für die Zeitvorstellung, dass Elisabeth für die Wiederholung der Offenbarungen den Begriff revolutio verwendet, der im übertragenen Sinne schlicht Rückkehr bedeutet, abgeleitet von revolvo aber Vorstellungen einer kreisförmigen Bewegung transportiert. Das Verb kann darüber hinaus auch ›wiederlesen‹, ›wieder überdenken‹, ›sich wieder vor die Seele rufen‹ bedeuten (vgl. Georges, Karl Ernst: Ausführliches Lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel. Unveränd. Nachdr. der 8., verb. und verm. Aufl. von Heinrich Georges. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1998, Bd. 2, Sp. 2881 f.).
Allerdings berichtet Elisabeth im Anschluss an dieses Zitat auch von Abweichungen bei den ihr eingegebenen Worten nach der Ekstase, vgl. dazu auch die späteren Worte des Engels in LV I, 79 (s. Anm. 114). Diese weisen auf Veränderungen in den Visionen hin, auf die ich noch zurückkommen werde.
Vgl. auch LV I, 14. Dinzelbacher betont, dass dies eine neue Qualität von Elisabeths Offenbarungen sei, die sie von früheren Jenseitsvisionen unterscheide, die als einmalige Erfahrung ausführlich dargestellt werden. Er bringt dies mit der benediktinischen Spiritualität in Verbindung ([s. Anm. 13], bes. S. 89 und Anm. 97, 92 f. und 98).
Genette, Gérard: Die Erzählung. Paderborn: Fink, 3., durchges. u. korr. Aufl. 2010, S. 73–75.
Vgl. ebd., S. 80: »Aber die bloße Tatsache der Wiederkehr definiert nicht die Iteration in ihrer strengsten Form. [...] Die Wiederholung muss auch noch regelmäßig sein, sie muss einem Frequenzgesetz gehorchen, und dieses Gesetz muss erkennbar und formulierbar sein, d. h. in seinen Auswirkungen vorhersehbar sein.« Genette bezieht sich auf Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in der das iterative Erzählen eine andere Funktion hat. Urban Küsters beobachtet zutreffend, dass Elisabeths »Visionen sich immer mehr zu einem eigenen Lebensrhythmus verdichten« und »beinahe den Status von consuetudines annehmen« (Der verschlossene Garten. Volkssprachliche Hohelied-Auslegung und monastische Lebensform im 12. Jahrhundert. Düsseldorf: Droste, 1985, S. 260).
Besonders eindrücklich ist in dieser Hinsicht das Beispiel der Elisabeth von Spaelbeck (1248–1316). Sie erlebt während der Tagzeiten die Passion am eigenen Körper; der Abt Philipp von Clairvaux, der sie besuchte, beschreibt regelrecht ›theatrale‹ Szenen und ihre Stigmatisierung, vgl. Dinzelbacher (s. Anm. 44), S. 22–24.
Vgl. Angenendt, Arnold: »Die liturgische Zeit: zyklisch und linear«. In: Hans-Werner Goetz (Hg.): Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen. Berlin: Akad.-Verl., 1998, S. 101–115.
Wenn die Heiligen ihr Erscheinen vom Offizium abhängig machen oder sogar unmittelbar auf die Liturgie reagieren, wird diese ebenfalls als Medium des Kontakts vorgeführt (z. B. LV I, 34). Elisabeth bzw. ihre Visionen üben umgekehrt auch Einfluss auf die liturgischen Abläufe im Kloster aus, indem sie etwa um das Lesen einer bestimmten Messe in Bezug auf eine Vision bittet (z. B. LV I, 20 zur Dreifaltigkeit), die Brüder und Schwestern für sie ein bestimmtes Gebets‑, Mess- und Askeseprogramm absolvieren (LV I, 9), indem sogar ein Festtag geändert wird (vgl. LV II, 20 und 11) oder der Priester auf ihren Wunsch hin die Litanei liest (LV I, 6). Zur Frage der Einheitlichkeit der Liturgie der Hirsauer Reformklöster vgl. Heinzer (s. Anm. 19).
Vgl. Dinzelbacher (s. Anm. 13), S. 98: »Für Elisabeth charakteristisch ist die Angabe eines genauen Datums, namentlich wenn sie eine Vision zum ersten Mal sieht: Zeit des Kirchenjahres, Tag und manchmal auch Stunde.« In seiner Übersetzung (s. Anm. 1) überträgt er die sich wiederholenden liturgischen Zeitangaben in den Fußnoten in fortlaufende Tages‑, Monats- und Jahresangaben. Das erleichtert dem heutigen Leser die Orientierung, erzeugt aber auch eine Linearität, die der Text nicht in dieser Weise beabsichtigt.
Vgl. Newman, Barbara: »What Did It Mean to Say ›I Saw‹? The Clash between Theory and Practice in Medieval Visionary Culture«. In: Speculum 80 (2005), S. 1–43, hier S. 1. Sie nennt besonders Jesaja (6, 1): in anno quo mortuus est rex Ozias vidi Dominum sendentem super solium excelsum et elevatum [...] (›Im Todesjahr des Königs Usija sah ich den Herrn. Er saß auf einem hohen und erhabenen Thron‹), Ezechiel (1, 1): Et factum est in tricesimo anno in quarto in quinqua mensis cum essem in medio captivorum iuxta fluvium Chobar aperti sunt caeli et vidi visiones Dei (›Am fünften Tag des vierten Monats im dreißigsten Jahr, als ich unter den Verschleppten am Fluß Kebar lebte, öffnete sich der Himmel, und ich sah eine Erscheinung Gottes‹) und die Offenbarung des Johannes (1, 12 f.): et conversus vidi septem candelabra aurea et in medio septem candelabrorum et in medio septem candelabrorum similem Filio hominis [...] (›Als ich mich umwandte, sah ich sieben goldene Leuchter und mitten unter den Leuchtern einen, der wie ein Mensch aussah [...]‹). Elisabeths Text hat nicht nur die Einleitung vidi mit den prophetischen Texten gemeinsam. Ezechiel und Johannes sprechen von einer Öffnung des Himmels, alle drei berichten von einem Thron Gottes und Ezechiel und Johannes beschreiben, was sie in ihren Himmelsvisionen sehen, um nur drei weitere wichtige Übereinstimmungen mit Elisabeths Text herauszugreifen.
Vgl. dazu Dinzelbacher (s. Anm. 44), bes. S. 19 und ders. (s. Anm. 13), bes. S. 85 f. und 88 f. Newman (s. Anm. 57), S. 9, die verschiedene Arten von Visionen diskutiert, weist darauf hin, dass die Bezeichnung ›Ekstase‹ v. a. bei Dionysius Areopagita und von ihm beeinflussten Autoren gebraucht wird. Auch Elisabeth bezieht sich in LV III, 13 auf ihn. Kurt Ruh erläutert die verschiedenen von ihr verwendeten Begriffe, sieht aber die Ekstase letztlich »als ausschließliche Erfahrungsform von Elisabeths Visionen« (Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit. München: C. H. Beck, 1993, S. 63–80 [zu Elisabeth], hier S. 78).
Vgl. beispielsweise LV I, 17: Eadem die ad vesperam, cum non possem interesse conventui propter invalitudinem, sedebam in capitolio cum magistra. et eramus in psalmis vespertinis. Erat autem pluvie tempus, et vidi irim fulgidam solo mentis intuitu. Exterioribus enim oculis faciem celi ab eo loco. in quo eram, intueri non poteram (›Am selben Tag bei der Vesper, als ich aus Schwäche nicht bei dem Konvent sein konnte, saß ich mit der Meisterin im Kapitelsaal, und wir beschäftigten uns mit den Abendpsalmen. Es war aber regnerisches Wetter, und ich sah allein mit den Blicken des Geistes einen glänzenden Regenbogen; mit den äußeren Augen konnte ich nämlich das Himmelszeit von dem Ort, an dem ich mich befand, nicht sehen‹). Elisabeth bittet Gott um eine Bestätigung ihrer Vision und darauf erblicken die Schwestern und dann auch sie selbst und die Magistra den Regenbogen im Kreuzgang. Ähnlich LV I, 18, 44 f. und 55; vgl. dazu Heinzer (s. Anm. 31), S. 463 und 465 f.
Vgl. beispielsweise LV I, 15: In die ad missam. dum imponeretur officium. vidi columbam descendentem de celo. et usque ad dextrum cornu altaris pervenit, ibique resedit (›Untertags während der Messe, als der Gottesdienst angestimmt wurde, sah ich eine Taube vom Himmel herabschweben, und sie kam bis zum rechten Eck des Altares und setzte sich dort nieder‹).
Vgl. zu dieser Stelle im Hinblick auf Augustinus’ Haltung zu Visionen Newman (s. Anm. 57), S. 7. Zur Bedeutung des Himmels vgl. Knoch, Wendelin: »›Der Himmel‹ – ein bergender ›Raum‹ für die Ewigkeit? Theologische Anmerkungen zu einem kontrovers diskutierten Thema«. In: Elisabeth Vavra (Hg.): Imaginäre Räume. Sektion B des Internationalen Kongresses ›Virtuelle Räume, Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter‹. Krems an der Donau, 24. bis 26. März 2003. Wien: Verl. der Österr. Akad. der Wiss., 2007, S. 17–32.
Auf die hier erkennbare Tendenz zur autoreferentiellen Verhandlung der Visionen auf einer Metaebene in den späteren Büchern wird noch zurückzukommen sein.
Vgl. z. B. LV I, 25, 26 und 56.
Vgl. Clark (s. Anm. 22), S. 13 f. Es gibt allerdings in LV I, 1 eine initiale Audition: et audivi in visione nocturna vocem dicentem michi: Deus autem noster in celo omnia, quecunque voluit, fecit (›und ich hörte in nächtlicher Vision eine Stimme, die mir sagte: Unser Gott im Himmel aber vollbrachte alles, was immer er wollte‹). Daraus schlussfolgert Elisabeth, ihren kranken Körper nicht weltlichen Medikamenten, sondern Gott zu überantworten. Die Bedeutung der Stimme wird auch in Bezug auf sie selbst deutlich, denn sie betont, trotz der Starre des Körpers die Psalmen zu ruminieren und wenn auch die Zunge versagt, diese im Geist aufzusagen. Die Stimme bleibt als letztes Organ funktionstüchtig und wird an die Erfüllung der lectio divina gebunden. Versagt auch diese, bleibt die ›Stimme‹ des Geistes.
Die Stille erinnert auch an die Schweigegebote der Hirsauer und deren Bedeutung. Sie wurden damit begründet, dass sie Anteil am Silentium aeternum vermitteln und das monastische Leben in die Nähe der Engel und Apostel rücken sollten, vgl. Schreiner, Klaus: »Hirsau und die Hirsauer Reform. Spiritualität, Lebensform und Sozialprofil einer benediktinischen Erneuerungsbewegung im 11. und 12. Jahrhundert«. In: Gert Melville (Hg.) in Verbindung mit Mirko Breitenstein (Bearb.): Gemeinsam leben. Spiritualität, Lebens- und Verfassungsformen klösterlicher Gemeinschaften in Kirche und Gesellschaft des Mittelalters. Berlin: LIT, 2013, S. 153–204, hier S. 167; vgl. auch Roitner (s. Anm. 19), S. 95.
Auch Fuhrmann (s. Anm. 45, Kap. II. »Das Kloster – ein Gnadenzeit-Raum«, S. 43–54) bemerkt, dass der klösterliche Raum im Vergleich zu Zeitangaben in den von ihr untersuchten dominikanischen Offenbarungsschriften erstaunlich undeutlich bleibt.
Vgl. auch die Höllen- und Paradiesvision in LV I, 32.
Vgl. LV I, 21.
Vgl. zu den teils ähnlich, teils anders gestalteten Zeitvorstellungen in den Jenseitsvisionen Röckelein, Hedwig: »Geschichtsbewußtsein in hochmittelalterlichen Jenseitsvisionen«. In: Hans-Werner Goetz (Hg.): Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen. Berlin: Akad.-Verl., 1998, S. 143–160, hier S. 150–153.
Heinzer (s. Anm. 31, S. 472) hält sie für ein Charakteristikum, das auf die spätmittelalterliche Schaufrömmigkeit vorausweise. Zum Entstehungskontext und zur grundsätzlichen Kritik an diesem Konzept vgl. Toussaint, Gia: »›Der gotische Mensch will sehen‹. Die Schaufrömmigkeit und ihre Deutungen in der Zeit des Nationalsozialismus«. In: Maike Steinbach/Bruno Reudenbach (Hg.): Mittelalterbilder im Nationalsozialismus. Berlin: Akad.-Verl., 2013, S. 31–47.
Clark bezeichnet sie entsprechend als »otherworld« ([s. Anm. 22], S. 101 et passim).
Vgl. beispielsweise auch LV I, 22, 25 und 70. Entsprechend können sich diese Worte auch an sie selbst richten wie in LV I, 22: O virgo cave, ne iterum cadas. ne aliquid deterius tibi contingat. Quia bonus pastor curam habet de ovibus suis (›Oh Jungfrau, hüte dich, nicht wieder zu fallen, daß dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre, weil der Gute Hirte für seine Schafe sorgt‹). In einem anderen Fall (LV I, 46) handelt es sich um die Worte Christi in Gethsemane, so dass ihr Ich und sein Ich mehrmals wechseln: Tunc ego ad me ipsam rediens, statim hec verba in ore meo habui: Factus est Jesus in agonia, prolixius oravit, et factus est sudor eius sicut gutte sanguinis decurrentis ab eo in terram. Et adieci: In monte oliveti oravi ad patrem meum: Pater si fieri potest, transeat a me calix iste. Et post pusillum redii in extasim. Et vidi, et ecce dominus ab oratione rediens assumptis discipulis venit in ortum (›Dann kehrte ich zu mir zurück und hatte sofort diese Worte in meinem Mund: Jesus war im Leiden, betete lange, und sein Schweiß wurde wie zu Blutstropfen, die von ihm zur Erde rannen. Und ich fügte hinzu: Am Ölberg betete ich zu meinem Vater: Vater, wenn es geschehen kann, möge dieser Kelch an mir vorübergehen! Und nach kurzem fiel ich wieder in die Ekstase, und ich schaute, und siehe, der Herr kam vom Gebet zurück, nahm seine Jünger mit sich und gelangte in den Garten‹). Zu dieser ›Mehrstimmigkeit‹ des Ich vgl. Emmelius, Caroline: »Das visionäre Ich. Ich-Stimmen in der Viten- und Offenbarungsliteratur zwischen Selbstthematisierung und Heterologie.« In: Sonja Glauch/Katharina Philipowski (Hg.): Von sich selbst erzählen. Historische Dimensionen des Ich-Erzählens. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2017, S. 361–388.
Das gilt zumindest für die Kapitel der Kurzfassung des Liber Visionum Primus, in den späteren Kapiteln können sich die Glossolalien beispielsweise deutend auf die Vision beziehen wie in LV I, 40.
Vgl. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 6. Aufl. 2019, S. 52. Seel zufolge geht es um eine Interdependenzbeziehung zwischen ästhetischer Wahrnehmung und ästhetischem Gegenstand. »Ästhetisch sind Objekte, die sich in ihrem Erscheinen von ihrem begrifflich fixierbaren Aussehen, Sichanhören oder Sichanfühlen mehr oder weniger radikal abheben. Sie sind uns in einer ausgezeichneten Weise sinnlich gegeben; sie werden von uns in einer ausgezeichneten Weise sinnlich erfaßt«. Grundsätzlich kann demzufolge alles, was sinnlich wahrnehmbar ist, zum ästhetischen Gegenstand werden, allerdings geht es dabei nicht um dessen »sinnliche[s] Sosein«, sondern um dessen »ästhetische[s] Erscheinen« (S. 47).
Vgl. dazu ebd., S. 62: »Diese Begegnung [mit dem Vorhandenen] ist nicht als solche ästhetisch; die ästhetische Aufmerksamkeit stellt vielmehr einen Modus dieser Begegnung dar. Dieser stellt sich ein, wo es in einer wesentlich sensitiven Begegnung um diese – wesentlich, aber keineswegs ausschließlich – sensitive Begegnung geht, wo es also zu einer selbstzweckhaften Begegnung mit dem Gegebenen kommt«. Vgl. zur ästhetischen Erfahrung und deren Verhältnis zur religiösen Erfahrung auch ähnlich Bieritz, Karl-Heinrich: »Zwischen Raum- und Zeitgenossenschaft. Vergegenwärtigung des Heils in Liturgie und geistlichem Spiel«. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 48 (2009), S. 38–61, hier S. 60 f.
Largier, Niklaus: »Die Applikation der Sinne. Mittelalterliche Ästhetik als Phänomenologie rhetorischer Effekte«. In: Manuel Braun (Hg.): Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Berlin u. a.: de Gruyter, 2007, S. 43–60, hier S. 48.
Ebd., S. 49. Largier grenzt sie ab von »der aus Aristoteles und den arabischen Philosophen seit dem 12. Jahrhundert übernommenen Theorie der inneren Sinne«, auch wenn es gewisse Überschneidungen und Versuche der Verbindung gibt. Diese Theorie »beschäftigt sich mit dem Wahrnehmungs- und Erkenntnisvorgang auf der Basis eines Modells der Sinneserfahrung, das zunächst einen Prozess psychophysischer Datenverarbeitung [...] darstellt und in einem zweiten Schritt die Funktion der höheren Vermögen (des Willens und des Intellekts) analysiert.«
Vgl. Dinzelbacher (s. Anm. 1), S. 74, Anm. 8.
Largier (s. Anm. 76), S. 51.
Ebd., S. 50.
Dinzelbacher (s. Anm. 13), S. 90.
Newman (s. Anm. 57, S. 4) erläutert, dass die mittelalterlichen Autoren diese biblische Formulierung gegenüber anderen wie ›ich träumte‹, ›ich stellte mir vor‹ oder ›ich visualisierte‹ bevorzugen, weil sie die Spontaneität betone und die ästhetische Gestaltung und die meditative Vorbereitung der Vision unterschlage.
Zu dieser Distanz, der auch fehlenden unio mystica und den Unterschieden zu späteren Visionärinnen vgl. Dinzelbacher (s. Anm. 13), S. 94.
Vgl. Largier (s. Anm. 76), S. 54; vgl. auch Genette (s. Anm. 51, S. 64), der ekphrastische Passagen in Prousts À la recherche du temps perdu untersucht, die ebenfalls von der ›aktiven‹ Wahrnehmung des Erzählers bestimmt sind.
Gerade in Verbindung mit der Betonung des Lichts erinnert diese Art der Darstellung an den Goldgrund der mittelalterlichen Malerei, der zwischen »Fläche« und »räumliche[r] Aufladung« changiert und dem Betrachter die Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz erfahrbar macht. Interessant ist in dem hier verhandelten Zusammenhang daher auch, dass bei den Altären die Mitteltafeln häufig noch einen Goldgrund aufweisen, während die Seitentafeln mit narrativen Szenen bereits darauf verzichten, vgl. Rudolph, Pia: »Goldenes Mittelalter. Zur Verwendung von Gold im Hoch- und Spätmittelalter aus kunsthistorischer Sicht unter besonderer Sicht unter besonderer Berücksichtigung des Goldgrunds«. In: Ingrid Bennewitz/Andrea Schindler (Hg.): Farbe im Mittelalter. Materialität – Medialität – Semantik. 2 Bde. Berlin: Akad.-Verl., 2011, Bd. 1, S. 283–294, hier S. 289.
Vgl. dazu Mattern, Tanja: »Vere vidi Dominum vivere. Die Christophanie der Maria Magdalena und die Osterfeiern des Typs III aus norddeutschen Frauenklöstern«. In: Elke Huwiler/Elisabeth Meyer/Arend Quak (Hg.): Wat nyeus verfraeyt dat herte ende verlicht den sin. Studien zum Schauspiel des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Festschrift für Carla Dauven-van Knippenberg zum 65. Geburtstag. Leiden/Boston: Brill Rodopi, 2015, S. 53–85, zum Verhältnis von Elisabeths Vision zu den Osterfeiern S. 53–57 und 66 f.
Vgl. Schulze, Ursula: Geistliche Spiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Von der liturgischen Feier zum Schauspiel. Eine Einführung. Berlin: Schmidt, 2012, S. 30: »Die einfachste, aber wichtigste Form der Spielanweisung nennt die Personen, denen die Rollentexte zugeordnet sind, meist verbunden mit dem Zusatz dicit/spricht, cantat/singt o.ä. Dazu kommen u.U. Angaben zur Lautstärke und emotionalen Tönung der Stimme, dann zur Gestik, Bewegung, Hinweise auf Orte und den Gebrauch von Requisiten. Aus diesen Zusätzen ergeben sich Vorstellungen von der Performanz.«
Edition des Marienberger Osterspiels bei Lipphardt, Walther (Hg.): Lateinische Osterfeiern und Osterspiele. Bd. 5. Berlin/New York: de Gruyter, 1976, Nr. 791, S. 1548–1551 (Texteinrichtung T. M.); vgl. dazu Linke, Hansjürgen: »Marienberger Osterspiel«. In: 2VL 6 (1987), Sp. 1. Seiner Einschätzung nach entspricht der Text im Wesentlichen einer Osterfeier, lediglich einige Rubriken verrieten, dass Petrus, Johannes und v. a. Christus »nicht mehr nur priesterlich repräsentiert, sondern als Rollen verkörpert wurden«, daher bezeichnet er den Text als Osterspiel.
Heinzer (s. Anm. 31), S. 468.
Fischer-Lichte, Erika: »Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Weg zu einer performativen Kultur«. In: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, S. 277–300, hier S. 279. Ihr zufolge kennzeichnen das Performative als Schlüsselbegriff der Kunstentwicklung bzw. das Theater »als performative Kunst par excellence [...] eine spezifische Art der Raumwahrnehmung, ein besonderes Körperempfinden, eine bestimmte Form von Zeiterlebnis sowie eine neue Wertigkeit von Materialien und Gegenständen« (S. 288 f.). Vgl. zum Performanzbegriff den Forschungsüberblick von Uwe Wirth: »Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität«. In: Ders. (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, S. 9–60.
Vgl. Holl, Oskar u. a.: »Noli me tangere«. In: Lexikon der christlichen Ikonographie 3 (1971), Sp. 332–336, hier Sp. 333. Es ist z. B. auf einer Miniatur der Salzburger Malschule (clm 15903), entstanden um 1140, zu sehen.
Vgl. zu diesem Problemfeld Müller, Jan-Dirk: »Realpräsenz und Repräsentation. Theatrale Frömmigkeit und Geistliches Spiel«. In: Hans-Joachim Ziegler (Hg.): Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Tübingen: Niemeyer, 2004, S. 113–133.
Diese ist allerdings nicht konsequent, denn bei der Vigil erkennt sie Maria Magdalena und die Gottesmutter Maria, am Ostertag hingegen erkennt sie die Personen nicht, selbst bei Maria Magdalena konstatiert sie nur die Ähnlichkeit.
Vgl. zu diesem Spiel Schulze (s. Anm. 88), S. 100–105, hier bes. S. 105: »Häufig kommt in den Spielanweisungen die Wendung als ob vor, um die Spieler zu einer imitierenden Vorführung von Schlaf, Ohnmacht, Schmerz usw. zu veranlassen [...]«.
Wolf, Gerhard: »Inszenierte Wirklichkeit und literarisierte Aufführung: Bedingungen und Funktion der ›performance‹ in Spiel- und Chroniktexten des Spätmittelalters«. In: Jan-Dirk Müller (Hg.): ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und früher Neuzeit. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1996, S. 381–405, hier S. 387–389. Karl Heinrich Bieritz weist darauf hin, dass im mittelalterlichen Spiel das ›als ob‹ suspendiert werden konnte, in dem die Zuschauer in die Handlung eingriffen. Er erklärt dies mit einem Vorrang der »Raumgenossenschaft« gegenüber der »Zeitgenossenschaft« (s. Anm. 75, S. 45). Von einer tatsächlichen Raumgenossenschaft kann in Elisabeths Offenbarungen wohl erst die Rede sein, wenn sie auch mit den Heiligen spricht und sie hört.
Vgl. dazu Bieritz (s. Anm. 75), S. 39 f.
Vgl. zu den Osterfeiern die grundlegende Arbeit von de Boor, Helmut: Die Textgeschichte der lateinischen Osterfeiern. Tübingen: Niemeyer, 1967; den Überblick von Linke, Hansjürgen: »Drama und Theater«. In: Ingeborg Glier (Hg.): Die deutsche Literatur im späten Mittelalter 1250–1370. Tl. 2: Reimpaargedichte, Drama, Prosa. München: C. H. Beck, 1987, S. 153–183 und die Übersicht von Linke, Hansjürgen/Mehler, Ulrich: »Osterfeiern«. In: 2VL 7 (1989), Sp. 92–108.
de Boor (s. Anm. 97), S. 24. Den terminus ante quem für die deutsche Feier III liefert ihm die Ostererzählung der Frau Ava im Leben Jesu (S. 301–328).
Vgl. Muschiol, Gisela: »Osterliturgie in Frauenklöstern des Mittelalters«. In: Linda Maria Koldau (Hg.): Passion und Ostern in den Lüneburger Klöstern. Bericht des VIII. Ebstorfer Kolloquiums, Kloster Ebstorf, 25. bis 29. März 2009. Ebstorf: Kloster Ebstorf, 2010, S. 45–66.
Dauven-van Knippenberg, Carla: »Ein Schauspiel für das innere Auge? Notiz zur Benutzerfunktion des Wienhäuser Osterspielfragments«. In: Christa Tuczay/Ulrike Hirhager/Karin Lichtblau (Hg.): Ir sult sprechen willekomen. Grenzenlose Mediävistik. Festschrift für Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag. Bern u. a.: Lang, 1998, S. 778–787.
Schmidt, Christian: »Innere Performanz. Formen theatraler Frömmigkeit in niederdeutschen Gebetszyklen der Lüneburger Frauenklöster und des Hamburger Beginenkonvents«. In: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte (2013), https://mittelalter.hypotheses.org/2446 (zuletzt abgerufen am 10.9.2021). Eine Parallele zur Ekphrasis kann man überdies darin sehen, dass auch »das Theater mit seinen ›natürlichen‹ Zeichen letztlich auf der Schwelle zwischen bildenden und redenden Künsten steht« (Robert, Jörg/Vollhardt, Friedrich: »Einleitung«. In: Dies. [Hg.]: Unordentliche Collectanea. Gotthold Ephraim Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin/Boston: de Gruyter, 2013, S. 16, hier S. 4).
Vgl. LV I, 38, 43, 46–48 und 51 f.
Zum ersten Mal in LV I, 29, in dem sie den Bruder wieder direkt apostrophiert und sich auf seine Bitte bezieht, die Patrone der Bonner Kirche, in der er Kanoniker ist, anzurufen. Vgl. zum Hintergrund dieser Bitte Höroldt, Dietrich: Das Stift St. Cassius in Bonn von den Anfängen der Kirche bis zum Jahre 1580. Bonn: Bonner Heimat- u. Geschichtsverein, 1957, hier »Das Stift St. Cassius, VI. Exkurs: Der dritte Patron des Bonner Münsters«, S. 196–202.
Zugleich erfährt sie ihre erste Elevation in den Himmel, vgl. dazu Grossel, Marie-Geneviève: »Voir des yeux du cœur, faire de la Vision Parole. Quelques remarques sur les Visions d’Elisabeth de Schönau«. In: Florence Bouchet/Danièle James-Raoul (Hg.): Desir n’a repos. Hommage à Danielle Bohler. Pessac: Presses Univers. de Bordeaux, 2015, S. 367–378.
In der pseudo-augustinischen, mittlerweile Alcher von Clairvaux zugeschriebenen Schrift De spiritu et anima werden solche Visionen als besonders vertrauenswürdig beschrieben, in denen es zu einer geheimnisvollen Verbindung des Bewusstseins von Mensch und Engel kommt. Noch besser sei allerdings die Vision ohne Bilder, vgl. Newman (s. Anm. 57), S. 10 f.
Zur Symbolik der Visionen vgl. Dinzelbacher (s. Anm. 13), S. 86 f.
Man kann hier eine Verbindung zu Jakobs Traum von der Himmelsleiter ziehen, der wie Elisabeths Visionen den geöffneten Himmel beschreibt, vgl. dazu Bruggisser-Lanker, Therese: »Mittelalterliche Kunst zwischen Wahrheitssuche, Gotteserfahrung und Ewigkeitssehnsucht. Zur Einführung«. In: Dies. (Hg.): Den Himmel öffnen ... Bild, Raum und Klang in der mittelalterlichen Sakralkultur. Bern u. a.: Lang, 2014, S. 9–34, bes. S. 23–27.
In LV I, 58 teilt der Engel ihr etwa göttliche Ermahnungen an Klerus und Religiosen mit und in LV I, 59 lässt die Gottesmutter einem verwandten Diakon, wohl Ekbert selbst (so Dinzelbacher [s. Anm. 1], S. 36, Anm. 100), ausrichten, dass er Priester werden soll, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Sie spricht zunächst, ohne es zu bemerken, laut während der Ekstasen: Post hec in festivitate purificationis in prima vespera novum quiddam et insuetum fecit michi deus. Cum enim essem in excessu meo solito more. et orarem in spiritu ad dominum, ac dominam meam, quam per spiritum intuebar, salutarem, et devotas coram ipsa preces effunderem, omnem orationis mee tenorem sorores. que erant in circuitu mei. palam audierunt. Ego vero, cum redissem ad me, credere nolebam narrantibus hec, quousque eadem verba, quibus in oratione usa fueram, per ordinem replicuerunt (›Danach am Fest der Reinigung zur ersten Vesper tat mir Gott etwas Neues und Ungewohntes. Als ich nämlich in gewohnter Weise in meiner Entraffung war und im Geiste zum Herrn betete und meine Herrin, die ich durch den Geist schaute, grüßte und vor ihr andächtige Gebete verströmte, hörten die Schwestern, die um mich herum waren, klar den ganzen Wortlaut meines Gebetes. Ich aber, als ich wieder zu mir gekommen war, wollte ihnen, da sie dies erzählten, nicht glauben, bis sie eben die Worte, die ich im Gebet gebraucht hatte, der Reihe nach wiederholten‹, LV I, 63); Cum hec dixissem, et ex integro ad me ipsam redissem. nesciebam, me revelasse visionem, et advocans magistram secreto cepi narrare ei, que videram. Illa autem eadem omnia se ex ore meo audisse confitebatur (›Nachdem ich dies gesagt hatte und ganz zu mir zurückgekehrt war, wußte ich nicht, daß ich die Vision geoffenbart hatte, und indem ich die Meisterin herbeirief, begann ich, ihr im Geheimen zu erzählen, was ich geschaut hatte. Jene aber bekannte, dies alles habe sie schon aus meinem Munde gehört‹, LV I, 64).
Ausdrücklich fordert der Engel sie mehrmals zum Sprechen auf: Et dixi: Domine, nescio loqui, et tarda sum ad loquendum. Et dixit: Aperi os tuum, et ego dicam, et qui audit te, audit et me (›Ich sagte: Herr, ich weiß nicht zu sprechen und bin zögerlich beim Sprechen. Und er sagte: Öffne deinen Mund, und ich werde sprechen, und wer dich hört, hört auch mich‹, LV I, 70).
Ego autem signum feci sororibus, ut allatis tabulis verba ista scripto exciperent. Non enim aliud quicquam loqui poteram, quousque omnia secundum narrationem meam conscripta sunt (›Ich aber machte den Schwestern ein Zeichen, daß sie die Wachstafeln bringen und diese Worte schriftlich aufzeichnen sollten. Ich konnte nämlich nichts anderes sagen, bis alles nach meinem Bericht aufgeschrieben worden war‹, LV I, 67). Vgl. zur Bewertung des Schreibbefehls in der Forschung, auch unter Einbeziehung Elisabeths von Schönau, Garber, Rebecca L. R.: Feminine figurae. Representations of gender in religious texts by medieval German woman writers, 1100–1375. New York u. a.: Routledge, 2003, S. 22–30.
Der Engel tadelt sie noch einmal am Ende des ersten Buches für ihre Weigerung: Quare abscondis aurum in luto? Hoc est verbum dei, quod missum est per os tuum in terram, non ut abscondatur, sed ut manifestetur ad laudem et gloriam domini nostri, et ad salvationem populi sui (›Warum verbirgst du das Gold im Schmutz? Dies ist das Wort Gottes, das durch deinen Mund auf die Erde gesandt wurde, nicht daß es verborgen werde, sondern daß es offenbar werde zum Lob und Ruhm unseres Herrn und zur Errettung seines Volkes‹, LV I, 78). Dann legt er ihr wiederum ein Schweigen auf bis zur neunten Stunden, in der sich das Wirken des Herrn an ihr offenbaren soll. Und erst nachdem sie das ›geheime Büchlein‹ an den Abt übergeben hat, wird ihre Zunge gelöst. Zum Schluss des Kapitels wendet sie sich an ihren Bruder und erklärt, dass es sich dabei um ›einen Teil des vorliegenden Büchleins, das du, mein Bruder, bei mir zurückgelassen hattest‹ (videlict partem libelli presentis, quam apud me frater reliqueras, LV I, 78) handelt, das nach ihrem gemeinsamen Beschluss bis zu ihrem Tod geheim bleiben sollte. Damit scheint angedeutet zu sein, dass ihr Bruder bereits zu diesem Zeitpunkt in die Verschriftlichung ihrer Visionen eingebunden war.
[Engel des Herrn:] Noli contristari, et ne turbetur cor tuum. Visiones sanctas, quas vides et habes quasi consuetudinem, ultra non videbis usque in diem obitus tui, sed semper conspice et attende iugiter lumen sanctum, lumen celicum. hoc tibi datum est usque ad finem vite tue (›Sei nicht traurig und lasse nicht dein Herz sich verwirren! Die heiligen Visionen, die du schaust und geradezu gewohnheitsmäßig hast, wirst du bis zum Tage deines Hinscheidens nicht mehr sehen, sondern betrachte stets und beachte stetig das heilige Licht, das Licht des Himmels, dies ist dir bis zum Ende des Lebens gewährt‹, LV I, 79). Diese Ankündigung ist nicht recht vereinbar mit ihren eigenen Angaben, dass sich bestimmte Visionen dauerhaft wiederholen, und könnte auf eine nachträgliche Konzeptionsänderung hindeuten. Ekbert greift in LV II, 2 diesen Widerspruch auch selbst auf und erläutert, dass diese Ankündigung des Engels nur auf die Visionen an den höchsten Feier- und Sonntagen zu beziehen sei, ›die sie wie durch ein geöffnetes Tor im Himmel‹ (quas velut per ostium apertum in celo) zu sehen pflegte.
Uta Kleine beschreibt dies als Wandlung von der Visionärin zur Prophetin (s. Anm. 38, S. 158–169 und S. 83 f.).
Vgl. LV II, 1: Et nunc quia in mentibus humilium aliquid edificationis hec habitura sperantur, ea quoque, que post prioris libri consummationem dominus in ancilla sua operari dignatus est, secundum narrationem oris eius premissis annectantur (›Und da zu hoffen steht, daß im Geist der Demütigen dies etwas Erbauung bewirken werde, wird jetzt auch das, was der Herr nach Fertigstellung des ersten Buches in seiner Magd zu wirken sich herabgelassen hat, gemäß der Erzählung aus ihrem Munde dem Vorhergegangenen angefügt‹).
Vgl. dazu Clark (s. Anm. 37, S. 19 f.). Auch sie beschreibt die Veränderungen in Buch II und III und konstatiert, dass die Messe in Buch II gegenüber den Tagzeiten wichtiger werde. Sie beobachtet überdies, dass Maria in den späteren Büchern zurücktritt gegenüber den männlichen Figuren.
Die Offenbarungen können räumlich ganz unbestimmt bleiben, es gibt aber auch solche, in denen sie der Engel an einen jenseitigen Ort bringt, dessen Sehen, Beschreiben und Deuten dann von Belang ist.
Dinzelbacher (s. Anm. 13, S. 95 f. u. a.) betont mehrfach den ›Übergangscharakter‹ von Elisabeths Offenbarungen, unter denen sowohl Jenseitsvisionen älterer Prägung seien als auch solche, »die die erste Stufe der typisch spätmittelalterlichen Visionsform bilden«. Zur Raumdarstellung der Jenseitsvisionen vgl. Benz, Maximilian/Weitbrecht, Julia: »Die Formierung des Jenseits als Bewegungsraum in Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters (›Paulus-Apokalypse‹, ›Visio Pauli‹, ›Visio Tnugdali‹)«. In: Mittellateinisches Jahrbuch 46 (2011), S. 229–244.
Vgl. etwa LV II, 21 und 22. Auch die Freude der Heiligen über den Dienst des Konvents wird thematisiert, vgl. LV II, 13 und 15.
Besonders deutlich ist dies in der Vision zur körperlichen Auferstehung der Gottesmutter, die hier integriert wurde und mit der das zweite Buch endet, vgl. LV II, 31 f. Der Text etabliert damit eine komplexe Gesprächssituation mit dem Engel als Kommunikator Gottes auf der einen und Elisabeth als Kommunikatorin der Menschen auf der anderen Seite, dazu kommt neben ihrem Bruder aber auch noch der Abt, der ihr Wort nicht zuletzt in seinen Predigten verkündet.
Vgl. u. a. Köster (s. Anm. 20), Sp. 492; Westphälinger (s. Anm. 27), S. 64–69; Clark (s. Anm. 27), bes. S. 159.
Nach Martin Seel (s. Anm. 74, S. 62) ist dies eines der Merkmale ästhetischer Erfahrung, vgl. auch Anm. 75.
Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Übers. von Joachim Schulte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004, S. 99–107. Die Präsenzkultur steht Gumbrecht zufolge eher dem Mittelalter nahe, die Sinnkultur der Frühen Neuzeit, doch sind dies, wie er selbst sagt, »Idealtypen« und »alle Kulturen« können »als komplexe Konfigurationen analysiert werden« (S. 99 f.). Vgl. zur kritischen Diskussion einer allzu schematischen Kontrastierung der Konzepte in der altgermanistischen Forschung Bieritz (s. Anm. 75), S. 57 und zur Frage einer Transformation, die diese Dichotomie korrigiert S. 58 f.
Bieritz (s. Anm. 75), S. 40; er zitiert hier aus: Gumbrecht, Hans Ulrich: »Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und Inszenierung«. In: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001, S. 48–76, hier S. 65–67. Bieritz weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das intensive ästhetische Erleben, das durch die »Präsenzeffekte« hervorgerufen wird, auch »Offenbarungsqualität« hat und sich daher Verbindungslinien zu Formen des religiösen Erlebens ziehen lassen, durch die ebenfalls »hermeneutische Prozesse suspendier[t]« werden (S. 41).
Ebd., S. 52–54.
Das gilt besonders für die Beschreibung der himmlischen Stadt gleich zu Beginn (LV III, 1).
Dies ist beispielsweise der Fall, wenn sie nach dem Ausgang des Geistes von Vater und Sohn fragt (LV III, 9), nach einer Stelle aus dem Römerbrief (LV III, 10) oder nach Gebeten für im Kampf Gefallene, die exkommuniziert waren (LV III, 12). Der universitär-scholastische Lehrdialog scheint hier das Vorbild zu sein.
Elisabeth erhält z. B. zwei Mitteilungen über den Grund ihrer Auserwähltheit, ihren Auftrag, und die Funktionsweise der Visionen (LV II, 17). In einem anderen Kapitel wird erläutert, wie es kommt, dass Menschen Engel sehen können, obwohl sie doch Geistwesen sind (LV III, 15).
Vgl. LV III, 29 f.
Ekbert deutet das Bild als Rad der Fortuna, auch wenn er es nicht so bezeichnet. Demzufolge steht es für das Vergehen der irdischen Zeit und die Vergänglichkeit der Welt, während die Leiter für den Aufstieg zum Himmel steht. Auch schon vorher zeichnet sich Ekberts zentrale Rolle ab, indem Elisabeth mitunter nur noch als ›Medium‹ zwischen dem Engel und ihm fungiert, vgl. z. B. LV III, 17: Hec dices fratri tuo, et quod iterum interrogaverit, dicito mihi (›Dies wirst du deinem Bruder sagen; und sage mir, was er wiederum fragt!‹). Vgl. zur Verschiebung der »visionäre[n] Wahrheit auf eine hermeneutische Ebene« in LV I, 40 Küsters (s. Anm. 52), S. 260.
Foucault, Michel: »Andere Räume«. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam, 4. Aufl. 1992, S. 34–46, hier S. 39. Foucault geht es dabei auch um die abendländische Geschichte des Raumes und sein Verhältnis zur Zeit. Im Mittelalter sei er »ein hierarchisiertes Ensemble von Orten« gewesen, die zudem einander entgegengesetzt sind: »heilige Orte und profane Orte, geschützte Orte und offene, wehrlose Orte [...]. Für die kosmologische Theorie gab es die überhimmlischen Orte, die dem himmlischen Ort entgegengesetzt waren; und der himmlische Ort setzte sich seinerseits dem irdischen Ort entgegen.« (S. 34–36). Dieser »Ortungsraum« scheint mir auch für Elisabeths Texte konstitutiv.
Ebd. S. 43. Vgl. Niederkorn-Bruck, Meta: »Zeit in der Liturgie, Zeit für die Liturgie: Heilsgeschichte und ›Zeit‹ in der Geschichte«. In: Wolfgang Hameter/Meta Niederkorn-Bruck/Martin Scheutz (Hg.): Ideologisierte Zeit. Kalender und Zeitvorstellungen im Abendland von der Antike bis zur Neuzeit. Innsbruck u. a.: StudienVerlag, 2005, S. 66–93, hier S. 71.
Der Liber Visionum lädt die Liturgie auf verschiedenen Ebenen mit Sinn auf, weil sie die Möglichkeit zu dieser Form der Gottesnähe erst schafft, weil sie die Inhalte der Liturgie wie die memoria des Lebens Jesu und der Märtyrer in besonderer Weise erfahrbar macht, weil sie damit der Bekämpfung von Glaubenszweifeln dient (von denen Elisabeth vor allem zu Beginn berichtet) und weil sie damit das prophetische Sprechen ermöglicht. Zur darin zum Ausdruck kommenden Macht der Stimme vgl. auch LV I, 8: das bösartige ›Gespenst‹ verschwindet, als sie es im Namen Gottes anspricht.
Vgl. auch Heinzer (s. Anm. 31), S. 466: »Gerade in der Tradition von Cluny und Hirsau ist klösterliches Leben praktisch gleichbedeutend mit liturgischem Dienst. Das bedeutet grundsätzlich, dass der spirituelle und ästhetische Resonanz- und Assoziationsraum von Frauen wie Elisabeth von Schönau oder Hildegard von Bingen ganz wesentlich durch die Erfahrung eines langen und kontinuierlichen Vollzugs von Liturgie, insbesondere im Modus liturgischen Singens, bestimmt ist.«
Gerhoch von Reichersberg spricht vom »glückseligen Kerker«, in dem Christus gerne zu Besuch komme, vgl. Roitner (s. Anm. 19), S. 121.
Vgl. Schreiner (s. Anm. 65), S. 169 f.
Vgl. Largier (s. Anm. 76), S. 53 f.
Nach jetzigem Kenntnisstand hat Ekbert die Erweiterungen und das Arrangement der Offenbarungen zu diesem Konzept nach Elisabeths Tod vorgenommen, das muss jedoch keineswegs heißen, dass sie nicht gemeinsam bereits vor ihrem Tod nach Möglichkeiten der Veröffentlichung und Verbreitung ihrer Offenbarungen und nach neuen Themenfeldern für diese Ausschau gehalten haben.
Köster (s. Anm. 37), Sp. 492.
Funding
Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de.
About this article
Cite this article
Mattern, T. Zwischen Iterativität und Exzeptionalität, Deskription und Performanz. Z Literaturwiss Linguistik 52, 275–310 (2022). https://doi.org/10.1007/s41244-022-00253-3
Received:
Accepted:
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s41244-022-00253-3