Zusammenfassung
Ausgehend von einer Interpretation des Beginns von Thomas Manns Roman Buddenbrooks, wirft dieser Beitrag die Frage nach der Ursache der spezifischen Affinität literarischer Texte zu einer hermeneutischen Bearbeitung auf. In kritischer Auseinandersetzung mit den Theorien Jurij M. Lotmans sowie einiger Vertreter der sog. Rezeptionsästhetik wird hier eine andere Begründung für das Erfordernis der Interpretation literarischer Texte gesucht. Sie rückt das allgemeine, für sprachliche Kommunikation generell geltende Prinzip der Unterstellung von Kohärenz und Sinnhaftigkeit jeglicher Äußerung ins Zentrum. Diese »regulative Idee« gewinnt eine zusätzliche Dimension in fiktionalen Texten, deren Gegenstände nicht unabhängig von dieser Kommunikation existieren, weshalb sich nach der Funktion ihrer Mitteilung und darum ebenfalls nach ihrer Bedeutung fragen läßt. Eine abschließende Interpretation des Beginns von Madame Bovary gilt der Überprüfung der in diesem Beitrag entwickelten Theorie.
Abstract
Starting off from a reading of the beginning of Thomas Mann’s novel Buddenbrooks, this article is dedicated to the question of why and to what purpose literary texts have a particular affinity with interpretations. A critical discussion of Jurij M. Lotman’s theory of literature and the so called aesthetics of reception leads to a different assumption why literary texts need a specific hermeneutic approach. It is based on a principle that underlies all linguistic communication and according to which utterances are generally considered to be coherent and meaningful. In the case of fictional discourse this principle is extended as, here, it applies also to the objects of the text, to the things, persons and events it is referring to. As these phenomena don’t exist independently form the text, but only within the act of communication established by the text, the question of their meaning is raised and they, therefore, become subject to interpretation. In a final reading of the beginning of Gustave Flaubert’s Madame Bovary the theoretical approach developed in this article is reviewed by a concrete example.
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Alfred Noyer-Weidner (1921–2001) zum Gedenken Footnote 1
1 Thomas Mann, Buddenbrooks: hermeneutische Erkundungen
» ›Was ist das. – Was – ist das …‹
›Je, den Düwel ook, c’est la question, ma très chère demoiselle!‹
Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knien hielt.
›Tony!‹ sagte sie, ›ich glaube, daß mich Gott –‹
Und die kleine Antonie, achtjährig und zartgebaut, in einem Kleidchen aus ganz leichter changierender Seide, den hübschen Blondkopf ein wenig vom Gesichte des Großvaters abgewandt, blickte aus ihren graublauen Augen angestrengt nachdenkend und ohne etwas zu sehen ins Zimmer hinein, wiederholte noch einmal: ›Was ist das‹, sprach darauf langsam: ›Ich glaube, daß mich Gott‹, fügte, während ihr Gesicht sich aufklärte, rasch hinzu: ›– geschaffen hat samt allen Kreaturen‹, war plötzlich auf glatte Bahn geraten und schnurrte nun, glückstrahlend und unaufhaltsam, den ganzen Artikel daher, getreu nach dem Katechismus, wie er soeben, anno 1835, unter Genehmigung eines hohen und wohlweisen Senates, neu revidiert herausgegeben war. Wenn man im Gange war, dachte sie, war es ein Gefühl, wie wenn man im Winter auf dem kleinen Handschlitten mit den Brüdern den ›Jerusalemsberg‹ hinunterfuhr: es vergingen einem geradezu die Gedanken dabei, und man konnte nicht einhalten, wenn man auch wollte.
›Dazu Kleider und Schuhe‹, sprach sie, ›Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker und Vieh …‹ Bei diesen Worten aber brach der alte M. Johann Buddenbrook einfach in Gelächter aus, in sein helles, verkniffenes Kichern, das er heimlich in Bereitschaft gehalten hatte. Er lachte vor Vergnügen, sich über den Katechismus moquieren zu können, und hatte wahrscheinlich nur zu diesem Zwecke das kleine Examen vorgenommen. Er erkundigte sich nach Tonys Acker und Vieh, fragte, wieviel sie für den Sack Weizen nähme und erbot sich, Geschäfte mit ihr zu machen. Sein rundes, rosig überhauchtes und wohlmeinendes Gesicht, dem er beim besten Willen keinen Ausdruck von Bosheit zu geben vermochte, wurde von schneeweiß gepudertem Haar eingerahmt, und etwas wie ein ganz leise angedeutetes Zöpflein fiel auf den breiten Kragen seines mausgrauen Rockes hinab. Er war, mit seinen siebenzig Jahren, der Mode seiner Jugend nicht untreu geworden; nur auf den Tressenbesatz zwischen den Knöpfen und den großen Taschen hatte er verzichtet, aber niemals im Leben hatte er lange Beinkleider getragen. Sein Kinn ruhte breit, doppelt und mit einem Ausdruck von Behaglichkeit auf dem weißen Spitzen-Jabot.«Footnote 2
So beginnt Thomas Manns vermutlich bis auf den heutigen Tag prominentester, jedenfalls meistgelesener Roman: Buddenbrooks.
Der Text fängt mit einer Leerstelle an. Denn der Zusammenhang der Frage, die Tony Buddenbrook eingangs gleich zweimal formuliert, bleibt undeutlich. Erst eine nachfolgende Information des Erzählers besagt, dass sie aus dem Lutherischen Katechismus stamme, und schafft damit – jedenfalls für die mit dem betreffenden Text vertrauten – Klarheit.Footnote 3 Der Text, den Tony im Folgenden mit einiger Unterstützung aufsagen wird, ist die dem Katechismus entnommene Erläuterung zum ersten Artikel des zweiten Hauptstückes (Vom christlichen Glauben): »Ich glaube an Gott den Vater, allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erden.«Footnote 4 Es handelt sich also um nichts Geringeres als um den zentralen Glaubensartikel des Christentums, ja, um die Basis des biblischen Monotheismus. Um so bemerkenswerter erscheint es, dass der Anfang der Buddenbrooks gleich in mehrfacher Weise vorführt, wie der Sinn dieser Worte unterlaufen wird.
Tonys Wiederholung der Frage aus dem Katechismus, vor allem aufgrund ihrer graphischen Dehnung durch einen Gedankenstrich beim zweiten Mal, deutet an, was die Hilfestellung der Konsulin für ihre Tochter offenkundig macht: Sie stockt, sie kann den Wortlaut nicht wiedergeben, ohne dass ihr jemand beispringt. Doch als die Mutter ihr zu Hilfe kommt, kennt sie kein Halten mehr, es ist »ein Gefühl, wie wenn man im Winter auf dem kleinen Handschlitten mit den Brüdern den ›Jerusalemsberg‹ hinunterfuhr: es vergingen einem geradezu die Gedanken dabei, und man konnte nicht einhalten, wenn man auch wollte.« Deutlicher kann man den Text in seiner Semantik kaum entwerten und ihn auf den Selbstläufer seines Wortlauts zu reduzieren – seines Wort-Lauts im Wortsinne dieses Begriffs.
In diesem Sinn wirkt auch der zur Illustration von Tonys Vortrag bemühte Vergleich mit einer Schlittenfahrt vom Jerusalemsberg. Der biblisch konnotierte Name dieser Anhöhe repräsentiert das Prestige des biblischen Textes im Leben der Stadt. Der Belang seiner zentralen Aussage schrumpft für den Augenblick allerdings auf die korrekte Wiedergabe des Wortlauts seiner katechetischen Auslegung – um nicht zu sagen: auf die Reproduktion von deren Signifikanten – zusammen. Die betreffende Entwertung fällt umso drastischer aus, als der Lübecker Jerusalemsberg eine Nachbildung des neutestamentlichen Kalvarienbergs darstellt, auf dessen Höhe die letzte Station eines Kreuzwegs errichtet ist – eine Darstellung von Jesus am Kreuz, unter dem Maria und Johannes stehen, und damit eines, wo nicht des zentralen Moments der Heilsgeschichte. Auch der Ort religiöser Verehrung sinkt im winterlichen Leben der Hansestadt zu einer Quelle kindlicher Vergnügungen herab; und so gerät die rasante Talfahrt durchaus schlüssig zu einem subversiven Sinnbild des gelingenden Aufsagens des frommen, aber zugleich semantisch entkernten Textes.
Diese Herabminderung der Bedeutung des Katechismus besitzt noch eine weitere Facette. Der Großvater nämlich nimmt die Wiederholung der Frage durch seine Enkelin zum Anlass, sie nicht als Ausdruck ihrer momentanen, durch das versagende Gedächtnis verursachte Textunsicherheit zu begreifen, sondern auf ihren Inhalt zu beziehen und den Sinn des Glaubensbekenntnisses spöttisch zu kommentieren – und dies gleich in doppelter Weise: Im heimischen Dialekt ruft er den Gegenspieler Gottes, den Teufel an, um damit die Absurdität des Glaubensbekenntnisses zu suggerieren; und auf französisch – in der Sprache der Aufklärer – wiederholt er die Frage nach dem Sinn des Credo, um dessen Plausibilität schon durch die neuerliche Wiederholung in diesem Idiom zu diskreditieren. (Übrigens markiert das Nebeneinander der lokalen Mundart und des weltmännischen Französisch den kulturellen Horizont, innerhalb dessen sich der alte Johann Buddenbrook sprachlich-kulturell bewegt, ohne deshalb für alles Fremde in seinem Sozialverkehr sonderlich aufgeschlossen zu sein.Footnote 5)
Der Lächerlichkeit vollends preisgegeben aber wird der Kommentar des Glaubensbekenntnisses durch den Katechismus aufgrund seiner unverkennbaren, an sozialen Machtverhältnissen der eigenen Lebenswelt orientierten Standardisierung der darin bezeichneten Verhältnisse. Sie nötigt das Kind etwas aufzusagen und damit auf sich selbst anzuwenden, das für es selbst kaum zutreffen kann – böte es sich doch sinnvollerweise nur für den männlichen Erwachsenen einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse an, für »Haus und Hof, Weib und Kind, Acker und Vieh« zu danken. Dass sich der aufgeklärte Großvater die Gelegenheit dieses unverkennbaren Missverhältnisses zwischen dem Gegenstand der Rede und der Person, für die das Gesagte nicht gilt und die es doch pflichtschuldigst aufsagt, kaum entgehen lassen kann, um sich über den allgemeinen Geltungsanspruch des christlichen Glaubensbekenntnisses lustig zu machen, liegt auf der Hand.Footnote 6
Indessen hat es mit dem Inhalt dieses Glaubenssatzes, den der alte Johann Buddenbrook dem Spott anheimgeben möchte, noch eine weitere Bewandtnis.
Vom Verfall einer Familie handelt der Roman der Buddenbrooks, wie sein Untertitel ankündigt (und damit bereits einen ersten Hinweis auf die dem Leser nahegebrachte Interpretation der Erzählung liefert, auf der er gründet. Aber dazu später). Was der lutherische Katechismus in der von Tony rezitierten Passage als Ausweis göttlicher Allmacht aufzuzählen weiß, ist in der Tat eine bemerkenswert bürgerlich, auf (wenn auch besonders auf bäuerlichen) Besitzstand ausgerichtete Sicherung der Lebensgrundlagen einer solchen Familie. Auf dessen Wahrung wie Darstellung scheint man im Hause Buddenbrook großen, ja allergrößten Wert zu legen.
So macht sich denn auch der Erzähler in der Art seiner Darstellung zum Verbündeten dieser Sorge um gepflegte Lebensverhältnisse, wenn er die Schilderung der Personen und ihres Verhaltens fast hinter diejenige ihrer stattlichen wohnlichen Umgebung zurücktreten lässt: »Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knien hielt.« Es wäre vermutlich aus metonymischen Gründen metaphorisch unpassend, wollte man sagen, die Personen versinken regelrecht in ihren Sitzgelegenheiten. Auch wird man nicht so weit gehen wollen zu sagen, dass sie ihren Rang von ihrem Mobiliar her beziehen, aber ein gewisser Vorrang der Beschreibung von dessen prächtigem Erscheinungsbild gegenüber der Charakteristik der Personen selbst scheint unverkennbar zu sein.
Offensichtlich befindet man sich im Hause einer wohlhabenden Familie, die einen gewissen, aber durchaus kontrollierten Hang zur Demonstration ihrer wirtschaftlichen Potenz an den Tag legt. So sind die einzelnen Möbelstücke edel, aber die Möblierung ist keineswegs überladen.Footnote 7 Auch das als erstes genannte, weiß lackierte Sofa verbindet Schlichtheit mit ein wenig Prunk: Es ist geradlinig, aber mit einem goldenen Löwenkopf verziert. In mehrfacher Hinsicht – und nicht nur in seiner Verbindung von Einfachheit und Luxus – nimmt es sich gleichsam emblematisch aus. Denn der auf ihm prangende Löwenkopf bändigt nicht nur ästhetisch das Haupt dieses Königs der Tiere zum Schmuck eines Interieurs, das insgesamt die Natur in den Innenraum des Hauses zum Zweck seiner Dekoration hineinholt.Footnote 8 Er bringt auf diese Weise auch die Nahtstelle von Kultur und Natur zum Vorschein, an deren Bestimmung und Steuerung sich das Schicksal einer Familie als sozialer Organisation einer auf biologischer Abstammung gegründeten Gemeinschaft entscheidet.
Haben die Buddenbrooks den Niedergang der Familie, die der Roman ins Zentrum rückt, zum allgemeinen Gegenstand (wobei sich schon in seinem Ersten Teil zumindest potentielle Risikofaktoren für den Erhalt oder gar die Mehrung ihres Wohlergehens andeuten)Footnote 9, dann betrifft das, was das Kind aufsagt, die für das Schicksal dieser Familie grundlegenden Existenzbedingungen. Und erklärt der rezitierte fromme Text all die irdischen Güter, die er nennt, zu einer Gabe Gottes, wie steht es dann um den Verfall dieser Familie? Wäre auch er gottgewollt? Passt der Satz, den die kleine Tony so reibungslos aufsagen zu können unverkennbar stolz ist, womöglich nicht nur für sie selbst nicht, sondern auch für die, auf die sein Inhalt gemünzt zu sein scheint, nur unter bestimmten Voraussetzungen – sofern sie eben teilhaben an jener Wohlstandsgemeinschaft, die hier zum Beleg von Gottes gütiger Allmacht herzuhalten hat? Und ändert sich die Passförmigkeit seiner Worte gegebenenfalls selbst für ihre primären Adressaten im Laufe der Zeit? Wäre deshalb auch der Verfall einer Familie Ausdruck des Willens eines allmächtigen und darum allzuständigen Gottes?Footnote 10 Oder zeigt sich in der Selektivität der Auslegung des Glaubensbekenntnisses das solchermaßen auf die Belange des Lebens zugerichtete Dogma insgesamt als wenig glaubwürdig?
Wie auch immer die Antwort ausfallen mag, die Buddenbrooks setzen ein mit dem Zitat einer Rede, das ein Deutungsangebot für die Welt insgesamt macht und zu dem sich dieser Roman damit unweigerlich ins Verhältnis setzt. Aber in welches Verhältnis?
Der Text des Romans selbst wird eine Antwort auf die Frage nach der Wahrheit des Dogmas schuldig bleiben, auch wenn er nicht sonderlich viel zu seiner Bestätigung beiträgt und amüsante Distanzierung zweifellos die Oberhand gegenüber der mitunter allzu bigotten Frömmelei einiger dramatis personae gewinnt.Footnote 11 Dass die an seinem Beginn aufgeworfenen Fragen gleichwohl von fortwährendem Belang für diesen Text bleiben, zeigt sich daran, dass sie ihn gleichsam umspannen. Denn am Ende, als der im Untertitel angekündigte Verfall einer Familie im konkreten Fall dieser Familie tatsächlich eingetreten ist, als sie sowohl in der männlichen Linie ausgestorben ist wie ihren einst beträchtlichen wirtschaftlichen Wohlstand weithin eingebüßt hat, kehren die mit ihm verbundenen Fragen zurück. Es wird nicht verwundern, dass es nun, am Schluss, um die letzten Dinge geht.
Noch einmal, ein letztes Mal, sitzt man beieinander. Es gilt, Abschied zu nehmen. Für den Leser, der ans Ende der Geschichte der Buddenbrooks gelangt ist, die es jenseits dieser Erzählung selbst in den verbliebenen Resten des Familienverbunds nicht mehr geben wird. Aber auch die Mitglieder der Familie, genauer gesagt, diejenigen, die von ihr übriggeblieben sind, halten Abschied. Denn Gerda, die Witwe des Senators Thomas Buddenbrooks, wird Lübeck nach dem Tod ihres Sohnes Hanno, der unlängst in jungen Jahren dem Typhus erlegen ist, verlassen, um nach Amsterdam zurückzukehren. Ihre Zeit bei den Buddenbrooks nimmt sich wie eine folgenlose Schleife ihres Lebens aus. Ob man sich dereinst wiedersieht? Für den Leser mag sich die Frage erübrigen. Er kann, wenn er will, stets aufs Neue nach dem Buch greifen, das die Geschichte dieser Familie erzählt. Für diese selbst bleibt die Antwort ungleich ungewisser:
» ›Hanno, kleiner Hanno‹, fuhr Frau Permaneder fort, und die Thränen flossen über die flaumige, matte Haut ihrer Wangen ... ›Tom, Vater, Großvater und die Anderen alle! Wo sind sie hin? Man sieht sie nicht mehr. Ach, es ist so hart und traurig!‹
›Es gibt ein Wiedersehen‹, sagte Friederike Buddenbrook, wobei sie die Hände fest im Schoße zusammenlegte, die Augen niederschlug und mit ihrer Nase in die Luft stach.
›Ja, so sagt man ... Ach, es gibt Stunden, Friederike, wo es kein Trost ist, Gott strafe mich, wo man irre wird an der Gerechtigkeit, an der Güte ... an Allem. Das Leben, wißt ihr, zerbricht so Manches in uns, es läßt so manchen Glauben zuschanden werden ... Ein Wiedersehen ... Wenn es so wäre ...‹
Da aber kam Sesemi Weichbrodt am Tische in die Höhe, so hoch sie nur irgend konnte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte den Hals, pochte auf die Platte, und die Haube zitterte auf ihrem Kopfe.
›Es ist so!‹ sagte sie mit ihrer ganzen Kraft und blickte Alle herausfordernd an.
Sie stand da, eine Siegerin in dem guten Streite, den sie während der Zeit ihres Lebens gegen die Anfechtungen vonseiten ihrer Lehrerinnenvernunft geführt hatte, bucklig, winzig und bebend vor Überzeugung, eine kleine, strafende, begeisterte Prophetin.«Footnote 12
Ob man der christlichen Auferstehungshoffnung mehr Kredit einräumen würde, wenn eine andere Person als ausgerechnet die unverkennbar abschätzig beschriebene, ein Stück weit der Lächerlichkeit überantwortete Sesemi Weichbrodt für ihre Wahrheit eingetreten wäre – für eine Wahrheit, die nicht erst den Aufklärern ein Ärgernis war, sondern schon den Griechen als eine Torheit galt? Oder bietet der Sieg ihrer Lehrerinnenvernunft über alle Anfechtungen ungläubigen Zweifelns schließlich doch ein Argument, das diesem Glauben ein wenig mehr Vertrauen entgegenbringen lässt? Wie immer die Antwort ausfallen mag, dass die Frage nach seiner Geltung aktuell und damit als solche bedeutungsträchtig bleibt, zeigt die Korrespondenz von Anfang und Ende der Buddenbrooks, die diese Frage nachgerade zum Rahmen macht, der diesen Roman umspannt und damit sein Geschehen an diesem Horizont messen lässt.
2 Kunst des Möglichen und regulative Idee
So – oder so ähnlich und vermutlich auch ganz anders – könnte eine Interpretation des Beginns von Thomas Manns Buddenbrooks aussehen. Nur scheut man sich seit geraumer Zeit, einen entsprechenden Umgang mit einem literarischen Text mit diesem Begriff zu belegen. Against Interpretation: Susan Sontags EssayFootnote 13 und sein Titel haben Epoche gemacht. Längst ist die Interpretation in der Literaturwissenschaft nicht mehr à la mode. Das letzte methodische Paradigma, das sich ausdrücklich auf die Hermeneutik berief, war vermutlich die (Konstanzer) Rezeptionsästhetik, die sich seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre formierte und etablierte.Footnote 14
Aber was eigentlich geschieht bei einer Interpretation wie der eingangs skizzierten Kommentierung des Beginns von Thomas Manns Buddenbrooks?
Ein wesentlicher Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen dem Text und seiner Interpretation, der die Relation zwischen diesen beiden Diskursen maßgeblich bestimmt, ist die Beziehung zwischen einem Einzelnen und einem Allgemeinen: Der Roman erzählt eine Geschichte, die von einzelnen Personen und einzelnen Dingen handelt; die ihn deutende Rede bezieht das Erzählte hingegen auf etwas Allgemeines, im vorliegenden Fall auf die Konstitutionsbedingungen der hier dargestellten Familie mit dem Namen ›Buddenbrooks‹ als einer spezifischen sozialen Gemeinschaft: auf ihre Formierung als Lebens- wie Kommunikationsgemeinschaft, auf ihre internen Machtstrukturen wie auf die Muster ihrer Repräsentation – sich selbst wie anderen gegenüber.
Zu dieser Transposition des Einzelnen in ein Allgemeines gehört wesentlich auch die Markierung des diskursiven Anknüpfungspunktes dazu, an den die Schilderung dieser Familie anschließt. Denn sie setzt ein mit der Bezugnahme auf einen der fundierenden Texte der westlichen Kultur, auf den Lutherischen Katechismus und damit auf die Fixierung der Grundlagen christlicher Weltdeutung. Auch insofern ist ein allgemeiner Bezugsrahmen hergestellt, vor dessen Hintergrund sich die Erzählung situiert. Der Roman der Buddenbrooks situiert ihre Familiengeschichte im Spannungsfeld zwischen der natürlichen Grundlage dieser Familie und den Möglichkeiten der Beherrschung dieser biologischen Voraussetzungen wie ihre Unbeherrschbarkeit, um die dabei zutage tretenden Ordnungen zugleich in Relation zu der wohl wirkungsmächtigsten Wirklichkeitsinterpretation der westlichen Kultur zu setzen: in Beziehung zur christlichen Weltdeutung.
Warum aber bedürfen im Besonderen literarische Texte einer solchen hermeneutischen Bearbeitung? Warum ist gerade für sie eine besondere Affinität zu derlei Interpretationen kennzeichnend? Mir scheint, dass nicht zuletzt in der unzulänglichen, wo nicht mangelnden Begründung der Praxis der Interpretation eine der Ursachen für die theoretische Diskreditierung der Hermeneutik in der jüngeren Forschungsgeschichte zu finden ist. Interpretationen erwecken mitunter den Eindruck einer weitgehend selbstlaufenden wie selbstgenügsamen Praxis zuzugehören, deren Funktion und deren Begründung dahinstehen. Ich möchte deshalb zunächst eine These formulieren, die mir die Ursache der besonderen Affinität literarischer Texte zu einer hermeneutischen Bearbeitung zu klären erlaubt. Meinen Ausgangspunkt bildet dabei die spezifische Informationsstruktur fiktionaler Rede.
Die Grundlage dessen, was wir gemeinhin als Fiktionalität bezeichnen, besteht in einer Separation von Prädikation und Referenz. Die Kombination beider Funktionen aber macht eines der grundlegenden Strukturprinzipien sprachlicher Sätze aus. Denn sie beruhen sehr wesentlich auf einer Verknüpfung der Zuordnung einer Eigenschaft zu einem Träger dieser Eigenschaft mit der Behauptung der Existenz des solchermaßen bezeichneten Sachverhaltes als einer Tatsache. Wenn ich sage: ›Rom ist die Hauptstadt Italiens‹, behaupte ich schon allein durch die Nennung dieser Stadt ihre Existenz; und daraus folgt ebenso der Tatsächlichkeitsanspruch für die dieser Stadt zugeordnete administrative Aufgabe.Footnote 15 Wenn für fiktionale Rede hingegen eine Trennung von Prädikation und Referenz charakteristisch ist, dann deshalb, weil durch eine konventionelle Regelung, die wir gemeinhin als Fiktionsvertrag zu bezeichnen pflegen, der Tatsächlichkeitsanspruch sprachlicher Prädikationen aufgehoben ist.
Ich habe an anderer Stelle zur Charakterisierung dieser Eigenheit der Fiktionalität von einer Vergleichgültigung gegenüber dem Wahrheitswert eines Textes gesprochen.Footnote 16 Gleichwohl gilt auch für fiktionale Rede, dass sie sprachstrukturell noch immer die Existenz – und dies bedeutet: die von diesem Akt der Rede unabhängige Existenz – dessen, was sie zum Gegenstand der Rede macht, voraussetzt: »Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knien hielt« – so lautet der erste Satz, den der Erzähler der Buddenbrooks im eigenen Namen spricht. Und dieser Satz erweckt den Anschein, dass alle hier genannten Personen wie die darin bezeichneten Gegenstände auch außerhalb dieser Rede vorkommen. Doch genau dies ist nicht der Fall.
Fiktionale Rede ist deshalb gekennzeichnet von einem latenten Widerspruch, der ihre Informationsstruktur bestimmt: Während die einzelnen Sätze fiktionaler Texte den Anschein erwecken, dass sie Aussagen über Sachverhalte treffen, die unabhängig von diesen Aussagen existieren, entkräftigt eine für diesen Typus von Rede etablierte Konvention diesen Anspruch auf das Faktische. Um dies deshalb schon an dieser Stelle anzudeuten: Man kann literarische Interpretationen womöglich als einen Versuch der Bereinigung dieses latenten Widerspruchs in der Informationsstruktur fiktionaler Texte beschreiben. Sie zielen darauf, dem Text eine Aussage über einen von ihm selbst unabhängigen Sachverhalt zurückzugewinnen. Warum aber bedient sich dieser Versuch der spezifischen Diskursform einer hermeneutischen Bearbeitung?
Ich möchte im Folgenden eine Antwort auf diese Frage zu geben versuchen, indem ich fiktionale Rede mit jenem Diskurstyp vergleiche, der ihr am nächsten kommt: mit nicht-fiktionalen – oder, wie zu sagen sich seit einiger Zeit eingebürgert hat – mit faktualen Erzählungen. Man pflegt beide Typen eines narrativen Diskurses gemeinhin nur im Hinblick auf ihren Wahrheitswert einander gegenüberzustellen. Indessen scheint mir ein solcher Vergleich zu kurz zu greifen – und dies deshalb, weil er ihren Unterschied allein von dem jeweils bezeichneten Sachverhalt in den Blick nimmt – dessen Existenz im Fall faktualer Rede unabhängig von dieser Rede selbst behauptet wird, während die fiktionale Rede seine Existenz dahinstellt. Indessen unterschlägt eine solche Sicht der Dinge die kommunikative Dimension dieses Unterschieds. Auch ein Satz einer faktualen Erzählung ist ja kein schlichter Spiegel eines Faktums, sondern beruht auf einer Prädikation – also einer Zuordnung einer Eigenschaft zu deren Träger, für die eine Geltung unabhängig von diesem Äußerungsakt von einem Sprecher behauptet wird. Eine Feststellung impliziert also jeweils den Akt, dem sie sich verdankt. Der Sprechakt ist insoweit der grammatischen Struktur eines sprachlichen Satzes inhärent.
Diese Unterscheidung mag belanglos erscheinen, solange es sich um weithin banale, sprich evidente Feststellungen handelt, die Offenkundiges oder weithin Unstrittiges zum Inhalt haben. ›Napoleon wurde 1804 zum Kaiser gekrönt‹ wäre ein Beispiel für einen solchen Typus von erzählenden Sätzen. Die Sache stellt sich hingegen anders dar, sofern komplexere erzählende Sätze zur Debatte stehen. Als ein prominentes Beispiel sei der vieldiskutierte Satz angeführt, mit dem Thomas Nipperdey seine deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts eröffnet hat: »Am Anfang war Napoleon.«Footnote 17 Hier sind Darstellung und Deutung im Grunde nicht voneinander zu unterscheiden. Und dies gilt a fortiori von Erzählungen insgesamt, die stets auf einer Selektion von einzelnen Elementen aus einem Wirklichkeitskontinuum und deren Verknüpfung beruhen. Erzählungen also bestehen aus einer Kombination von Feststellung und Deutung von Sachverhalten, wobei der Begriff der ›Feststellung‹ besagt, dass sie eine vom Äußerungsakt unabhängige Existenz des Festgestellten beansprucht – und genau dieser Anspruch begründet den Informationscharakter wie -gehalt von (faktualen) Erzählungen.
Eben dies verhält sich bei fiktionalen Erzählungen anders. In ihrem Fall kommt es nicht zu einer Deutung von etwas Gegebenem, vielmehr gestalten sie etwas, dessen Existenz sich allein diesem Akt der Gestaltung verdankt. Bei ihnen fällt es deshalb einer Deutung des solchermaßen Gestalteten zu, ihm eine Information über die Wirklichkeit abzugewinnen. Aber weil das Dargestellte im Fall fiktionaler Rede von der Verpflichtung auf das Faktische befreit und deshalb eine bloße Möglichkeit bedeutet, kommt dieser Umstand auch im Status des Informationsgehalts zum Tragen, den solche Deutungen dem Gestalteten abgewinnen: Die Deutung konzipiert unter diesen Umständen das Dargestellte eben als eine mögliche Sicht der Wirklichkeit. Und dieser Status der Deutung schließt auch einen Wechsel vom Einzelnen zum Allgemeinen ein: Die Deutung des Dargestellten als einer möglichen Sicht der Welt verwandelt die einzelnen Geschehnisse der Erzählung in potentielle allgemeine Prinzipien der Wirklichkeit. Die Buddenbrooks erzählen eine Geschichte, die eine mögliche Erklärung für den Verlauf einer Familiengeschichte entwickelt.
Diesen Status des Entwurfs einer potentiellen Weltsicht als Eigenheit literarischer Erzählungen hat Jurij M. Lotmans vor einiger Zeit recht prominentes Konzept der Literatur als »sekundäres modellbildendes System« sehr prägnant auf den Punkt gebracht. »Die Kunst ist ein sekundäres modellbildendes System«, heißt es bei ihm.Footnote 18 Und wenn dieses System als ›sekundär‹ bezeichnet wird, dann besagt dies Folgendes: »Daher sind die sekundären modellbildenden Systeme (wie überhaupt alle semiotischen Systeme) nach dem Typ der Sprache gebaut.«Footnote 19 An genau dieser Stelle aber werden auch die Probleme sichtbar, die in Lotmans Theorie der Literatur zu bemerken sind. Denn er weist letztlich der Strukturierung des Textes zu, was seiner hermeneutischen Bearbeitung zugehört.
Modellbildung gilt Lotman als eine Doppelung der Strukturmuster, die schon für die natürliche Sprache charakteristisch sind, die im »sekundären System« der Literatur hingegen eine Umkodierung erfahren.Footnote 20 Eine ›Schwachstelle‹ der lotmanschen Theorie scheint mir nun darin zu bestehen, dass aus der Umkodierung keine Modellbildung erfolgt. Die lässt sich letztlich bereits anhand der Metapher beobachten. Auch eine Metapher bringt ja die Umbesetzung einer Bedeutung in eine andere mit sich. Doch in ihrem Fall bleibt der logische Status des jeweils bezeichneten einzelnen Phänomens als eines solchen durchaus erhalten. Die Bezeichnung Achills als eines Löwen – um das vielleicht berühmteste aller Beispiele anzuführen – ändert nichts daran, dass es sich noch immer um dieselbe Person handelt, die auf diese Weise charakterisiert wird; und sie bietet auch keine Gewähr, den Löwen nun grundsätzlich als das Modell eines Helden zu begreifen. Der Modellcharakter des Kunstwerks wird deshalb schon bei Lotman selbst in anderer Weise als durch eine Umkodierung begründet, und zwar durch die Kategorie der Grenze:
»Der Rahmen eines Gemäldes, die Rampe der Bühne, die Grenze der Filmleinwand bilden die Grenzen der künstlerischen Welt, die in ihrer Universalität in sich abgeschlossen ist. Damit hängen bestimmte theoretische Aspekte der Kunst als eines modellbildenden Systems zusammen. Das Kunstwerk, das selbst begrenzt ist, stellt ein Modell der unbegrenzten Welt dar.«Footnote 21
Es kennzeichnet also den modellhaften Status des Kunstwerks, dass es immer ein Modell der ganzen Welt zu sein hat – auch die Buddenbrooks uns also über die ganze Welt zu informieren haben, der Verfall einer Familie mithin seinerseits allegorisch für den Verlauf der Welt schlechthin zu stehen hätte – ein zweifellos anspruchsvolles Postulat.
Nun fragt es sich allerdings, ob es die Grenze als solche ist, die einen symbolischen Charakter des Dargestellten zur Folge hat, oder ob der betreffende Effekt aus dem spezifischen Status der Grenzen resultiert, die Lotman für seine These im Auge hat. Dass Letzteres der Fall ist, geht im Grunde aus sprachlichen Phänomenen hervor. Denn jeder Text hat eine Grenze – ein historiographischer Bericht nicht anders als ein Roman. Warum aber ist die erwähnte Deutsche Geschichte 1800–1866 von Nipperdey zweifellos kein, ja gerade kein Modell der ganzen Welt – sondern die Darstellung eines spezifischen Wirklichkeitsausschnitts? Die Antwort besteht darin, dass die zeitliche Selektion, die dieser Darstellung zugrunde liegt, eben eine Begrenzung innerhalb einer Wirklichkeit bedeutet, die unabhängig von dieser Darstellung existiert. Genau dies verhält sich anders im Fall eines Romans. Die Buddenbrooks lassen sich nicht fortsetzen. Wollte man die Geschichte der am Schluss zurückbleibenden Personen über die Grenzen von Manns Roman hinaus erzählen, handelte es sich um einen neuen Roman. Von der Welt nach 1866 aber lässt sich erzählen.
Der Symbolcharakter, den Lotman einem Kunstwerk als Konsequenz seiner Grenze bescheinigt, resultiert nicht aus der Grenze selbst, sondern aus dem fiktionalen Charakter der Darstellung. Er ist es, der bewirkt, dass das Dargestellte nicht über seine Grenzen hinaus verlängerbar ist, dass sich ein Gemälde nicht erweitern und ein Roman nicht fortsetzen lässt – es sei denn in einem neuen Gemälde oder einem Roman. Manns Lotte in Weimar ist eben keine Fortsetzung von Goethes Werther, sondern ein anderer Roman. Die Beziehung zwischen beiden Texten beruht nicht auf einer temporalen Kontinuität, sondern auf einer intertextuellen Relation. Anders gesagt: Der zeitliche Abstand, den die von Mann erzählte Geschichte gegenüber derjenigen des goetheschen Romans suggeriert, ist ein Bestandteil ihrer semantischen Beziehung. Nicht die Grenze also produziert Zeichenhaftigkeit, sondern die spezifische Begrenzung einer Darstellung, die über ihre Grenzen hinaus aufgrund ihres Status’ nicht verlängerbar ist.
Damit aber steht für Lotmans Theorie die Eigenheit der Literatur als eines »sekundären modellbildenden Systems« gleich doppelt in Frage. Denn die Modellbildung lässt sich weder aus dem Faktum der Umkodierung noch aus der Tatsache der Begrenztheit eines Kunstwerks ableiten. Wie aber erklärt sich dann der Zusammenhang zwischen der symbolischen Dimension eines Kunstwerks und seinem wirklichkeitssemantischen Status einer Fiktion?
Der Ansatz dieses zeichenhaften Aspekts der Kunst im Allgemeinen und der Literatur im Besonderen resultiert – dies stellt die zentrale These des in diesem Artikel entwickelten Ansatzes dar – nicht aus einem dem künstlerischen Text inhärenten strukturellen Moment, sondern aus einer regulativen Idee, die alle Kommunikation bestimmt. Diese Idee gründet auf der Annahme der grundsätzlichen Sinnhaftigkeit sprachlicher Äußerungen, die zugleich deren Kohärenz voraussetzt. Aus diesem Grund sind wir in der Lage, Versprecher als solche zu identifizieren und als Fehlleistung zu korrigieren. Deshalb auch fühlt sich ein Notar ermächtigt, den ›letzten Willen‹ eines Verstorbenen aus einem Testament herauszulesen, obwohl dessen Wortlaut nicht eindeutig sein muss – oder sogar anderes zu besagen scheint. Das was wir gemeinhin als ›Autorintention‹ bezeichnen, besteht im Grunde in einer Kohärenzpräsupposition. Und weil es sich dabei um ein generelles Prinzip der Kommunikation handelt, reguliert die Annahme eines schlüssigen Zusammenhangs nicht allein unsere Rezeption sprachlicher Äußerungen. Auch der Urheber eines Textes unterliegt einer Erwartungserwartung. Die betreffende regulative Idee ist insofern gleichermaßen für die Produktionsseite relevant. Die Kohärenzhypothese des Rezipienten unterstellt die Befolgung dieses Prinzips durch den Urheber des Textes, den dieser Rezipient sich aneignet.
3 Kohärenz, Semantik und Allgemeinheit
Es macht nun ein wesentliches Merkmal fiktionaler Rede aus, dass diese Unterstellung von Sinnhaftigkeit und Kohärenz in ihrem Fall eine nicht unerhebliche Erweiterung gegenüber alltagssprachlicher, gegenüber faktualer Rede erfährt. Weil ihre Gegenstände fiktiv sein können, weil sie nicht einer gegebenen, vom Sprechakt unabhängigen Wirklichkeit entstammen, weil sie vielmehr vom Urheber dieser Rede zum Zweck ihrer Mitteilung gemacht sind (oder gemacht sein können), stellt sich die Frage nach der Funktion ihrer Erfindung. Und zumindest eine Antwort auf diese Frage hat in der Suche nach ihrer Bedeutung ihren Ursprung: Der Ausfall der Referenz wird in eine Produktion von Semantik umbesetzt. Dies ist der Ansatz der besonderen Affinität literarischer Texte zu ihrer hermeneutischen Bearbeitung: Wenn sie mehr als andere nach einer Interpretation verlangen, dann deshalb, weil die von ihren Sätzen bezeichneten Sachverhalten sich nicht aus einer von ihnen selbst unabhängigen Faktizität begründen lassen, sondern weil sie ihre Existenz der sprachlichen Kommunikation verdanken. Der Ausfall der Referenz auf eine vom Text unabhängige Welt mündet deshalb in die Frage nach der Funktion ihrer Mittelung – und dies bedeutet: nach ihrer Bedeutung.
Wie aber lässt sich diese über das signifié des signifiant hinausreichende Bedeutung ermitteln? Hier kommt nun das zweite Moment der Sinnhaftigkeitsunterstellung ins Spiel: die Kohärenzpräsupposition. Die Bestimmung der semantischen Funktion des Erzählten erfolgt in fiktionaler Rede wesentlich aufgrund von Beziehungen innerhalb des Dargestellten. Um dies anhand unseres Interpretationsbeispiels, des Romans Buddenbrooks zu erläutern: Die weithin skeptisch-ironische Bezugnahme auf den christlichen Offenbarungstext erfolgt im Zusammenhang einer Erzählung, die die soziale Einheit der Familie sowie die Entwicklung, die sie im Lauf der Handlung nimmt, im Spannungsfeld zwischen ihrer kulturellen Konstitution und natürlichen Determination wie Gefährdung situiert. Der Sonnenuntergang in der arkadischen Szenerie des Landschaftszimmers gewinnt seine Bedeutung vor dem Hintergrund der Verfallsthematik dieses Romans deshalb als eine latente Kritik an dem positiven Naturkonzept, das diese heiteren Bilder zu vermitteln trachten.
Was den skeptischen Blick auf die überkommene Religion in den Buddenbrooks betrifft, so ist es für Manns Roman übrigens von Belang, dass nicht der christliche Offenbarungstext selbst, also die Schrift, den Ausgangspunkt der Konfrontation beider Erklärungsmodelle bildet, sondern der Katechismus, also die auf bestimmte soziale Verhältnisse bereits ausgelegte Adaptation seiner Lehre. Dies ist nicht zuletzt anhand des Missverhältnisses zwischen der kindlichen Sprecherin und den auf einen männlichen Besitzbürger zugeschnittenen Glaubensartikeln des Katechismus zu bemerken. So tritt, von allem Anfang an, der Roman, der den Untertitel Verfall einer Familie trägt, als Gegenentwurf zu einer Wirklichkeitsdeutung in Erscheinung, deren Verheißungen am prägnantesten wohl in dem Spruch zutage treten, der über dem Haus der Familie Buddenbrook in der Lübecker Mengstraße steht: Dominus providebit.
Schon das Schicksal des Vorbesitzers hätte freilich hellhörig dafür machen können, dass der Segen göttlicher Fürsorge nicht unbedingt auf diesem Haus ruht. Auch auf diesen Eigentümer und sein Unternehmen trifft weit eher der Untertitel des Romans zu.Footnote 22 Der Hoffnung auf eine wohlmeinende transzendente Steuerung des Geschicks der Bewohner dieses Hauses stellt die Erzählung stattdessen die (doppelte) Wiederkehr eines Dekadenzmodells gegenüber.Footnote 23
Der Ansatz der ›Modellbildung‹ – um Lotmans Begriff noch einmal aufzunehmen –, d. h. der Wechsel von Einzelnen zum Allgemeinen, ergibt sich also daraus, dass die Interpretation nach den Kohärenzprinzipien fragt, auf die sich der Zusammenhang der einzelnen Elemente der Darstellung zurückführen lässt und die solchermaßen deren Bedeutung konstituieren. Er gründet mithin auf einer – um diesen kantischen Begriff hier zu benutzen – »regulativen Idee«: der Annahme einer grundsätzlichen Bedeutungshaltigkeit der Bestandteile der Rede, die im Falle eines fiktionalen Textes, wie diskutiert, auch die Gegenstände der Rede selbst erfasst, weil diese sich nicht mehr auf eine vom Sprechakt unabhängige Existenz zurückführen lassen, sondern diese Existenz einem Text und damit einer kommunikativen Botschaft verdanken. Der Gegenstand dieser Rede lässt sich hier nicht mehr durch sein Gegebensein begründen, sondern gerät – als ein erdachter – selbst unter die Frage nach seiner Funktion, die konsequenterweise nur innerhalb der Konstruktion des Textes selbst gesucht werden kann. Denn sie kann nun nicht mehr in einem Verweis auf eine dem Text externe Größe bestehen, sie muss vielmehr durch Relationen innerhalb des Textes selbst zustande kommen.
Die Prinzipien aber, die den Text insgesamt strukturieren, können als die Organisationsprinzipien seiner einzelnen Elemente nur etwas Allgemeines sein. Als allgemeine Prinzipien weisen sie zugleich über den jeweiligen Text selbst hinaus. Auch wenn sie also zunächst und vor allem als die Ordnungen der im Text gestalteten Wirklichkeit in Erscheinung treten, so bilden sie als allgemeine Prinzipien doch zugleich mögliche Ordnungen auch der Welt außerhalb des im Text dargestellten Geschehens. Im Wechsel vom Einzelnen des Dargestellten zum Allgemeinen seiner Ordnung gewinnt dieses Dargestellte mithin eine Qualität, die es zu einem potentiellen Ordnungsmuster der Welt auch außerhalb dieses Textes macht.Footnote 24
Die Literatur ist mithin kein »sekundäres modellbildendes System«, vielmehr löst der von der Verpflichtung auf die Tatsächlichkeit der einzelnen Bestandteile seiner Darstellung befreite – fiktionale – Text die Frage nach seinem Wirklichkeitsverhältnis aus, das sich nun nicht mehr auf der Ebene des Einzelnen, sondern nur noch auf der des Allgemeinen, also derjenigen der Organisationsprinzipien der von ihm dargestellten Welt ergibt. Im fiktionalen Text verschiebt sich mithin die Bezugnahme der Rede auf eine von ihr verschiedene Wirklichkeit vom einzelnen Satz auf die Konstruktion des Dargestellten insgesamt. Referenz und Bedeutung werden damit unter den Bedingungen dieser Rede letztlich identisch; aber weil das Allgemeine fiktionaler Rede aus den fiktiven einzelnen Elementen der Darstellung dieser Rede deduziert wird,Footnote 25 treten die Konsequenzen eines solchen Verfahrens auch im Status dieses Allgemeinen zutage: Es beschreibt mögliche Wirklichkeitsmuster. Der Verfall, den die Familie Buddenbrook erfährt, der Verlust von Lebensenergie bei steigender intellektueller Verfeinerung, beschreibt ein potentielles, unverkennbar an Schopenhauer und Nietzsche orientiertes Erklärungsmuster für die Entwicklung vorzugsweise bürgerlicher Familien.Footnote 26 Nur gelangt es über den Status einer – bloßen – Möglichkeit auch nicht hinaus.
Die hier vorgeschlagene Revision von Lotmans Definition der Literatur als eines »sekundären modellbildenden Systems« durch die Annahme der Affinität literarischer Texte zu einer hermeneutischen Bearbeitung, die den Verzicht auf die Verpflichtung ihrer Rede zur Wiedergabe von Tatsächlichem zum Anlass der Suche nach den Kohärenzprinzipien des Dargestellten nimmt, zeigt sich in ihren Konsequenzen nicht zuletzt anhand der Frage nach der Eindeutigkeit von derlei Interpretationen.
Lotman geht von einer kategorialen Differenz zwischen literarischer und wissenschaftlicher Modellbildung aus: Der Eindeutigkeit wissenschaftlicher Modellbildung stellt er die strukturelle Vieldeutigkeit literarischer Modelbildung gegenüber.Footnote 27 Doch auch diese Unterscheidung sieht über den Sachverhalt hinweg, dass die Deutung des literarischen Textes nicht dessen spezifischer, auf einer sekundären Kodierung jenseits der Sprache beruhender Textstruktur,Footnote 28 sondern einem hermeneutischen Impetus geschuldet ist.Footnote 29 Weil aber die Interpretation der Literatur auf einer regulativen Idee gründet, insofern sie der allgemein geltenden Annahme maximaler Bedeutungshaltigkeit wie Schlüssigkeit einer Äußerung folgt und diese Annahme im Fall fiktionaler Rede, wie gesehen, noch eine über faktuale Rede hinausgehende Relevanz gewinnt, ist es noch nicht einmal gewiss, dass die Unterstellung einer auf bestimmte Prinzipien zurückzuführenden Kohärenz sich in jedem Fall bestätigt – dass die interpretatorische Basishypothese sich also grundsätzlich bewahrheitet. Denn diese rezeptionsästhetische Prämisse gründet eben nicht auf einer von ihr selbst unabhängigen Werkstruktur »sekundärer Systembildung«, sondern auf einem Prinzip der Kommunikation.
Andererseits ist auch festzustellen, dass diese rezipientenspezifische Prämisse keineswegs allein der Position eines Lesers (oder Zuhörers oder Zuschauers) zugehört. Weil es sich dabei vielmehr um ein allgemeines, sprachliche Kommunikation schlechthin regulierendes Prinzip handelt, ist es für die Produktionsseite einer Textkodierung ebenso von Belang wie für den Rezipienten. Gleichwohl gibt es keinerlei Gewähr dafür, dass und in welchem Maß ein Autor sich in einem konkreten Text an diesem Prinzip orientiert hat. Die Geltung der regulativen Idee maximaler Sinnhaftigkeit und Kohärenz von sprachlichen Äußerungen bedarf also in jedem einzelnen Fall einer Prüfung, deren Ergebnis nicht vorhersehbar ist. (Freilich ist dabei auch in Rechnung zu stellen, dass konsequent verweigerte – respektive unauffindbare – Kohärenz, dass mithin strukturelle Inkohärenz ihrerseits ein semantisch relevantes Strukturmuster ausbildet. Becketts Œuvre wird als ein Paradebeispiel für eine entsprechende Wirklichkeitsstrukturierung gelten können.)
Aber kommen wir auf die Frage nach der Eindeutigkeit literarischer Wirklichkeitsstrukturierungen zurück: Lotman postuliert, wie gesehen, für den literarischen Text eine strukturelle Vieldeutigkeit, die ihn von einem wissenschaftlichen unterscheide. Geht man hingegen von der hermeneutischen Prämisse solcher ›Modellbildungen‹ aus, so stellt sich dieser Sachverhalt in anderer Weise dar. Die Koexistenz verschiedener Muster der Kohärenzbildung muss keineswegs einen Fall von Polysemie bedeuten. Sie ist vielmehr eine Folge von Komplexität. Dass sich in den Buddenbrooks die Muster einer protestantisch-besitzbürgerlichen Kultur beobachten lassen, bedeutet keinerlei Konkurrenz mit dem Faktum, dass in ihnen gleichfalls die Prinzipien eines an Nietzsche orientierten décadence-Modells den Verlauf der Romanhandlung strukturieren. Von Mehrdeutigkeit lässt sich vielmehr erst dann sprechen, wenn einander ausschließende Kohärenzmuster miteinander konkurrieren. Auch dieser Sachverhalt ist für die Buddenbrooks charakteristisch. Denn, wie angedeutet,Footnote 30 ist es keineswegs gewiss, dass die Logik der décadence, die Abnahme von Vitalität infolge von zunehmender Vergeistigung, das Schicksal dieser Familie hinreichend zu erklären vermag.
Das Nebeneinander verschiedener Deutungsmuster muss sich allerdings nicht in ihrer bloßen Koexistenz erschöpfen. Sie können durchaus hierarchisch aufeinander bezogen sein. Als das dominantere Modell erweist sich dann dasjenige, dem sich eine größere respektive für die Organisation des Textes bedeutungsvollere Menge von Textdaten subsumieren lässt. In diesem Sinn ist ein Modell, das den Ablauf des Romangeschehens zu erklären vermag, zweifellos belangvoller für den Text insgesamt als eine soziale Ordnung, die die Voraussetzungen des Agierens der Akteure mit Sinn auszustatten vermag.
Lotmans Konfrontation eines wissenschaftlichen und eines literarischen Textes, als deren Ergebnis er Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit als das jeweilige Charakteristikum gegenüberstellt, um diesen Sachverhalt mit der Existenz von einem oder mehreren Textkodes zu erklären, spielt übrigens in bemerkenswerter Weise über einen alles andere als nebensächlichen Sachverhalt hinweg. Während die Modellbildung im wissenschaftlichen Text den ausdrücklichen Gegenstand der Rede bildet, gilt es im literarischen Text, Ordnungsmuster des Dargestellten aus diesem selbst durch einen hermeneutischen Prozess herauszulesen. Das Einzelne wird also erst durch eine Interpretation auf ein Allgemeines hin transparent gemacht. Insofern ist der wissenschaftliche Text keineswegs der evidente ›Gegenspieler‹ des literarischen Textes, der wesentlich auf einer narrativen Grundlage beruht und dadurch strukturell sehr viel mehr der Geschichtsschreibung als einer wissenschaftlichen Abhandlung ähnelt. Im Wechselspiel seiner Textstruktur und seiner hermeneutischen Herausforderung steht dieser Text letztlich zwischen beiden Diskurstypen.
Mit der oben angesprochenen Frage nach der Menge der Textdaten, die sich unter eine bestimmte systematische Perspektive subsumieren lassen, hängt indessen noch ein weiteres, in diesem Zusammenhang zu diskutierendes Problem zusammen. Wie nämlich ist es um die Einschätzung der Angemessenheit von Interpretationen bestellt? Es gehört zu den – von der Theorie leider weithin und zum Schaden ihrer systematischen Begründbarkeit verkannten – Eigentümlichkeiten literarischen Interpretierens, dass ihre Funktion und die Möglichkeit ihrer Bewertung unmittelbar miteinander zusammenhängen.Footnote 31 Die Deutung eines literarischen Textes zielt darauf ab, Kohärenzmuster als Generatoren seiner Bedeutungskonstitution zu entdecken. Je erfolgreicher ihr dies gelingt, d. h. je mehr Textdaten sie dabei zu erfassen vermag, um so größer erscheint die Plausibilität der jeweiligen Interpretation. Ein postmodernes Postulat der letztendlichen Beliebigkeit individueller Lektüren, das deren raison d’être wie Legitimität im bloßen Tatbestand ihrer Existenz finden lässt, besitzt statt dessen weder in der zu diesem Zweck gern in Anspruch genommenen poststrukturalen Theorie der SpracheFootnote 32 noch in den – in diesem Beitrag diskutierten – hermeneutischen Bedingungen solcher LektürenFootnote 33 eine hinreichende oder auch nur plausible Begründung.
Im Folgenden seien einige – weitere – prominente literaturtheoretische Positionen in Beziehung zu der hier entwickelten These gesetzt, um anhand einer Auseinandersetzung mit ihnen das Erfordernis, die Aufgabe wie die daraus folgende Eigenart literarischer Interpretationen, die im Vorausgehenden thesenhaft skizziert wurden, weitergehend zu präzisieren. Abschließend sei diese These noch einmal mit Hilfe eines Beispiels, anhand des Beginns von Gustave Flauberts Madame Bovary, überprüft.
4 Konkretisation, Mimesis und Interpretation
Zu den wirkungsmächtigsten Theorien der Literatur und des Umgangs mit ihr zählt zweifellos die in Roman Ingardens Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks entwickelte Konzeption. Schon der Titel dieses Bandes ist insoweit sprechend, als hier eine erkenntnistheoretische Perspektive eingenommen ist, und in der Tat ist es eine solche, und keine primär an einem Kommunikationssystem orientierte Position, die die dominante Perspektive von Ingardens Auseinandersetzung mit der Wortkunst ausmacht; und diese Ausrichtung ist zweifellos dem wesentlich phänomenologisch basierten Ansatz Ingardens geschuldet, der sich denn auch für seinen Umgang mit dem literarischen Text als folgenreich erweist.
Ein zentraler Begriff für seine Theorie bildet das Konzept der Konkretisation. Solche Konkretisationen stellt er dem literarischen Werk selbst gegenüber: »Im Unterschied zu seinen Konkretisationen ist das literarische Werk selbst ein schematisches Gebilde. Das heißt: manche seiner Schichten, insbesondere die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten und die Schicht der Ansichten, enthält ›Unbestimmtheitsstellen‹ in sich. Diese werden in den Konkretisationen zum Teil beseitigt.«Footnote 34
Konkretisation meint insofern vor allem die imaginäre Ergänzung des Dargestellten mit Hilfe von Vorstellungen, die Lücken der Darstellung, eben »Unbestimmtheitsstellen«Footnote 35 ausfüllen, beschränkt sich indessen keineswegs auf Phänomene sinnlicher Wahrnehmung.Footnote 36 Entscheidend für unseren Zusammenhang ist nun, dass Ingarden Konkretisationen und Interpretationen einander gleichsetzt.Footnote 37 Indessen fragt es sich, warum just das literarische Kunstwerk in besonderer Weise solcher Konkretisationen bedarf. Denn keineswegs nur ein literarischer Text ist durch Unbestimmtheitsstellen gekennzeichnet. Dies gilt ebenso für anderweitige Erzählungen. Sprachliche Darstellungen verhalten sich grundsätzlich selektiv gegenüber den Objekten ihrer Darstellungen. Sie werden stets nur im Hinblick auf jeweils ausgewählte Eigenschaften zum Thema gemacht. Warum also stellt sich für Ingarden die Notwendigkeit einer Konkretisation vor allem beim literarischen Text als einer ihn auszeichnenden Qualität, wenn dasselbe Phänomen auch für andere Diskurstypen gilt?
Die Antwort kann im Grunde nur lauten: Es ist die Fiktionalität literarischer Rede, die dieses Bedürfnis erzeugt. Handelt es sich um eine faktuale Erzählung, ist das, was der Text unbestimmt lässt, außerhalb des Textes gegeben; nur im Fall fiktionaler Rede, nur im Fall der Darstellung von etwas, dessen Existenz von dieser Rede abhängig ist, bedarf es der Konkretisation, um das herzustellen, was ansonsten inexistent bliebe – während im Fall einer Darstellung von Tatsächlichem die eigene Konkretisation möglicherweise in Konkurrenz zum (wenn auch unbekannten, und unter Umständen auch gar nicht mehr rekonstruierbaren) Faktischen träte. Konkretisationen dienen also dazu, das Fiktive an die uns vertraute Realität anschließbar zu machen und damit dessen Wirklichkeit zu befestigen.
In diesem Sinn ist es nicht zuletzt von Interesse, dass auch Ingarden den wissenschaftlichen Text als den Gegenspieler literarischer Rede begreift:
»Im Gegensatz zu der überwiegenden Mehrheit der Sätze eines wissenschaftlichen Werkes, die echte Urteile sind, sind die im literarischen Kunstwerk auftretenden Aussagesätze keine echten Urteile, sondern nur Quasi-Urteile, deren Funktion darauf beruht, den im Werk dargestellten Gegenständen bloß einen Aspekt der Realität zu verleihen, ohne sie zu echten Realitäten zu stempeln.«Footnote 38
Der Schlusssatz dieser Zeilen verdient besondere Beachtung, ist er doch ausgesprochen aufschlussreich im Hinblick auf den zugrunde gelegten Realitätsbegriff. Realität hängt offensichtlich mit Vollständigkeit zusammen. Wo die Dinge sich unverkennbar selektiv gegenüber dem für sie zu erwartenden Erscheinungsbild präsentieren, können sie allenfalls einen »Aspekt der Realität« für sich beanspruchen. Es ist mithin nicht der Wahrheitswert der Rede, der bei Ingarden das distinktive Merkmal der Wirklichkeit ausmacht, sondern ihre Totalität. Doch unter der Hand gerät ihm ein texttypologisches Kriterium zum Unterscheidungsmerkmal für das literarische Kunstwerk. Denn, informationstechnisch betrachtet, verhält sich auch der historiographische Text kaum weniger selektiv gegenüber dem von ihm dargestellten Wirklichkeitsausschnitt als eine fiktionale Erzählung (nur handelt es sich in ihrem Fall um eine Scheinselektivität). Wenn Ingarden deshalb einzig für den literarischen Text eine Konkretisation als Erfordernis seiner Rezeption ansetzt, dann erklärt sich dieser Scherverhalt dadurch, dass für fiktionale Rede keine unabhängig von der jeweiligen Äußerung gegebene Realität des Dargestellten vorausgesetzt werden kann und ihre Realität deshalb schlechthin zur Disposition steht. Diesem Mangel gilt es abzuhelfen. Konkretisation bedeutet insofern letztlich die Konstitution von Realität für das Kunstwerk.
In der Konsequenz dieser Verhältnisse konkurriert bei Ingarden ein erkenntnistheoretisches Modell mit einem texttypologischen, das Ersteres unterläuft und die eigentliche, durch das ausdrückliche Begründungskriterium hingegen verstellte Basis seines Modells der Rezeption literarischer Werke offenlegt. Augenscheinich ist es der fiktive Charakter des Dargestellten, der Ingarden zur Bestimmung der für literarische Texte typischen Rezeptionshaltung motiviert. Wenn wir es in diesem Artikel als eine Aufgabe der Interpretation literarischer Texte beschrieben haben, ihnen einen Informationswert zu erschließen, dann erscheint diese Leistung bei Ingarden letztlich verborgen im erkenntnistheoretischen Gewand einer Ergänzung des eben nur vermeintlich Selektiven zur (jedenfalls tendenziellen) Totalität durch Konkretisation. Fast hat es den Anschein, als verleite das wirklichkeitssuggestive Potential fiktionaler Texte dazu, die Frage nach ihrer Bedeutung – und was wäre Interpretationen anderes als eine Suche nach ihr? – in das Bemühen um die Konstitution, d. h. die Sicherung ihrer prekären Wirklichkeit zu verwandeln.
Es sind jedoch nicht allein die von fiktionalen Texten selbst betriebenen Wirklichkeitsillusionen, die für eine solche theoretische Position verantwortlich zu machen sind. Hinzu kommen begriffliche Traditionen, in denen die Dichtung seit alters her verhandelt wird. Dies gilt im Besonderen für den Begriff der Mimesis, dessen Karriere sich dem Prestige der philosophischen Ontologie verdankt, die ihn zu diesem Zweck prominent gemacht hat. Seine Prominenz lässt allerdings darüber hinwegsehen, dass er in der Sache nicht sonderlich angemessen zur Charakteristik literarischer Artefakte und ihrer Besonderheiten ist. Denn die Werke der Wortkunst teilen mit aller Kunst ein Wirklichkeitsverhältnis, das durch die Vorstellung von einer Nachahmung eher verdunkelt wird, als dass es solchermaßen auf den Punkt gebracht wäre.
Dichtung ahmt Wirklichkeit nicht – jedenfalls nicht grundsätzlich – nach, sondern gestaltet sie. Dabei kann eine solche Gestaltung durchaus ein Maß an Ähnlichkeit mit der empirischen Wirklichkeit gewinnen, dass sich von einer Mimesis sprechen lässt. Nachahmung aber stellt insofern einen Sonderfall von künstlerischer Gestaltung von Welt dar. Dass der Wirklichkeitsbezug der Kunst in der Tat dominant von solcher Art ist, wird vielleicht nirgends deutlicher als anhand der Musik: Sie gestaltet Geräusche zu Tönen und Tonfolgen. Sie ahmt allerdings selten(st) nach.Footnote 39 Beethovens Klaviersonate op. 26, Les Adieux genannt, zitiert an ihrem Beginn gewiss ein Posthornsignal als musikalisches Zeichen des Abschieds. Doch eben dies ist eine Besonderheit dieser Sonate.
Die theoretische Verdrängung der Gestaltung durch die Konzeption der Kunst als einer Nachahmung hat nicht zuletzt den Ansatzpunkt für die Affinität der Kunst zu ihrer Deutung verdunkelt. Denn etwas Gemachtes wirft unweigerlich die Frage nach der Funktion seiner Produktion auf. Wo es hingegen um die Reproduktion des Gegebenen geht, drängen sich andere Fragen in den Vordergrund, die durch die Orientierung am Bekannten und Vertrauten befördert werden: So stellt sich ein Interesse an den künstlerischen Fertigkeiten ein, die einen Illusionismus der Darstellung ermöglichen. Auch die Wertschätzung einer genauen Erfassung des Wirklichen, die etwa in einer Charakterstudie rekurrente Beobachtungen im Verhalten der Menschen veranschaulichen kann, wird unter solchen Voraussetzungen den Blick auf die Kunst bestimmen. Ebenso bildet eine ästhetische Überbietung des Gegebenen hier einen relevanten Gesichtspunkt der Betrachtung, während die Frage nach der Bedeutung hingegen an Belang verliert.
Zudem steckt im Verständnis der Kunst als einer Nachahmung immer auch schon die Möglichkeit ihrer Abwertung und nicht zuletzt diese skeptische Haltung ihr gegenüber stand ja am Beginn der Theoretisierung der Kunst unter dem konzeptuellen Dach der Mimesis. Eine solche Kritik hat die Idee der Nachahmung denn auch stets begleitet. Noch Hegel wird sie in seinen Vorlesungen zur Ästhetik einer radikalen Kritik unterziehen und die entbehrliche Wiederholung des Gegebenen zu einer überflüssigen Übung erklären.
Fiktion ist deshalb nicht – wie in der literaturwissenschaftlichen Diskussion üblich geworden – vorrangig im Hinblick auf den Wahrheitswert fiktionaler Rede und damit als einen Mangel an Wirklichkeit zu betrachten, sondern – im durchaus etymologischen Sinne des Verbums fingere – als eine Gestaltung von Wirklichkeit zu begreifen. Die Frage des Wahrheitswertes dieses Diskurstyps bildet deshalb keineswegs dessen primäres Merkmal, sondern stellt einen Effekt, ein Epiphänomen seiner formativen Leistung dar.
Dieser Vorrang der Gestaltung gegenüber dem Verlust an Wirklichkeit zeigt sich schon allein daran, dass fiktionale Rede ja keineswegs Fiktives zum Gegenstand haben muss.Footnote 40 Der historische Roman bietet ein anschauliches Beispiel dafür, wie eine Gestaltung von Wirklichkeit in beträchtlichem Maße auf Faktischem als dem Gegenstand der Darstellung beruhen kann.Footnote 41 Insofern erscheint es angebracht, die gewohnte theoretische Perspektive umzudrehen: Literarische Fiktion ist nicht primär von der – keineswegs notwendigen – Leerstelle des Faktischen her zu betrachten, sondern als ein Potenzial der Gestaltung von Wirklichkeit zu begreifen. Dieses Potential kommt nicht zuletzt in einer Umbesetzung der Referenz sprachlicher Äußerungen in eine Produktion von (impliziter) Bedeutung zum Ausdruck. Sie ist es, die die Affinität der Literatur zu ihrer Interpretation zur Folge hat.
Dass auch die Einsicht in die Fiktionalität der Rede als Ursache der besonderen Interpretationsbedürftigkeit literarischer Texte nicht dessen spezifische Informationsstruktur zum Ausgangspunkt theoretischer Analyse nehmen muss, sondern noch immer das Verhältnis zur empirischen Wirklichkeit als den Ansatz dieser Affinität zu einer hermeneutischen Bearbeitung begreifen lässt, geht aus Wolfgang Isers Transformation von Ingardens Ansatz hervor. Überzeugend beschreibt er in seinem berühmt gewordenen Aufsatz »Die Appellstruktur der Texte«Footnote 42 Fiktionalität als die Abhängigkeit der Darstellung vom Akt der Äußerung.Footnote 43 Indessen bleibt er der empirischen Realität als primärem Bezugspunkt literarischer Fiktion weiterhin verhaftet, wenn er das Dargestellte fiktionaler Rede als »die Darstellung von Reaktionen auf Gegenstände« charakterisiert – und damit die rezeptionsästhetische Dimension des Umgangs mit dem Text kurzerhand zu dessen Inhalt erklärt.Footnote 44 Aber dadurch tritt auch bei ihm das formative Potential literarischer Gestaltung von Welt aus dem Horizont der Literaturtheorie; denn solche Reaktionen wären konsequenterweise nur wieder Haltungen gegenüber Gegenständen der empirischen Welt, die als solche unberührt bleibt. Insofern erscheint es nur konsequent, wenn auch Iser den Nachvollzug mit den vom Text angebotenen Reaktionen zur Konstitution der Wirklichkeit des Textes erklärt. Sie, diese Wirklichkeit, ist es, die nach wie vor den Fluchtpunkt der Textrezeption darstellt; und um sich ihrer zu vergewissern, greift nun auch Iser auf Ingardens Konzept der Unbestimmtheit zurück:
»So läßt sich der literarische Text weder mit den realen Gegenständen der ›Lebenswelt‹ noch mit den Erfahrungen des Lesers vollkommen verrechnen. Die mangelnde Deckung erzeugt ein gewisses Maß an Unbestimmtheit. Dieses allerdings wird der Leser im Akt der Lektüre ›normalisieren‹.«Footnote 45
Es bleibt eine Defiziterfahrung, die die Interpretation des Textes durch einen Leser auch bei Iser zu motivieren hat. Das produktive Potential der Fiktion, die primär als ein Bilden, als ein Gestalten von Welt in Erscheinung tritt und die Frage nach der Bedeutung des solchermaßen Gestalteten hervorruft, gewinnt auch bei ihm kaum theoretischen Belang.
Die bisweilen etwas summarische Rede von der Konstanzer Rezeptionsästhetik täuscht darüber hinweg, dass die Ansätze ihrer beiden Hauptvertreter, Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser, sich sehr deutlich voneinander unterscheiden, ja von entgegengesetzten Basisannahmen ausgehen. Jauß’ wesentlich von der Gadamerschen Hermeneutik bestimmtes Konzept des literarischen Textes erklärt – anders als das wesentlich durch die Phänomenologie geprägte Literaturverständnis Isers – nicht das Wirklichkeitsverhältnis dieses Diskurstyps zum Ausgangspunkt der Rede, sondern macht den literarischen Text als solchen gänzlich abhängig von seiner Rezeption. Rezeption bedeutet insofern bei Jauß nicht mehr einen Modus der Aneignung, der auf einen bestimmten Stimulus des Textes, auf sein spezifisches Wirklichkeitsverhältnis reagiert, sondern der Text als solcher existiert nun gar nicht mehr anders als im Modus seiner wechselnden Aneignungen:
»Das ›Urteil der Jahrhunderte‹ über ein literarisches Werk ist mehr als nur ›das angesammelte Urteil anderer Leser, Kritiker, Zuschauer und sogar Professoren‹, nämlich die sukzessive Entfaltung eines im Werk angelegten, in seinen historischen Rezeptionsstufen aktualisierten Sinnpotentials, das sich dem verstehenden Urteil erschließt, sofern es die ›Verschmelzung der Horizonte‹ in der Begegnung mit der Überlieferung kontrolliert vollzieht.«Footnote 46
Man wird kaum umhinkommen, den wohlgemeinten Versuch am Ende dieser Zeilen, der auf eine Begrenzung der völligen Beliebigkeit von Aneignungen des literarischen Textes vermittels seiner allein den Lesern anheimgestellten Deutungen als eine Konsequenz der Sorge vor eben solcher Willkür zu verstehen. Doch um die systematische Begründbarkeit dieser Eindämmung ist es nicht sonderlich gut bestellt. Schließlich wäre ja auch die »Verschmelzung der Horizonte« bereits abhängig von der Wahrnehmung der Tradition durch den Interpreten – ganz abgesehen davon, dass die Auslegungsgeschichte eines Textes sich ja ihrerseits aus einer Serie von Deutungen zusammensetzt, deren Kontrolle sich diesem Interpreten entzieht. Streng und beim Wort – wie ihrem Sinn – genommen, kommt Jauß’ Rezeptionsmodell einem Ermächtigungsgesetz für den Interpreten gleich, das ihm und nur ihm den Sinn eines literarischen Textes zuspricht.
Wenn der Sachwalter seiner Bedeutung nun dominant, wo nicht ausschließlich der Leser ist, dann lassen sich zur Begründung für dessen bemerkenswerte Aufwertung ein historisches und ein systematisches Argument anführen. Um mit Ersterem zu beginnen: Die Auflösung der Semantik des literarischen Textes in die letztlich nicht mehr zu begrenzende Möglichkeit seiner Deutungen mag sich auf eine poetologische Tradition berufen, die der Dichtung – auf der Grundlage eines kunstmetaphysisch säkularisierten Theologumenons – in Analogie zum sakralen Text eine unendliche Auslegbarkeit bescheinigt. In diesem Sinn hat Novalis geäußert: »Ein Gedicht muß ganz unerschöpflich seyn, wie ein Mensch und ein guter Spruch.«Footnote 47
Das informationstechnische Argument aber lässt sich noch einmal von der Fiktionalität des literarischen Textes herleiten. Weil die Bedeutung seiner sprachlichen Äußerungen durch keine Bezeichnung von Tatsächlichem gesichert ist, wird er schlechthin zur Disposition gestellt – und erscheint nur noch als Anlass seiner wechselnden semantischen Besetzungen. Doch die Radikalität dieser Position sieht darüber hinweg, dass innerhalb der Fiktion auch fiktionale Rede eine Wirklichkeit gestaltet, die als eine solche Anlass zu ihrer Deutung gibt und damit zugleich den Maßstab ihrer Deutung(en) definiert. Sie übernimmt gleichsam eine doppelte Funktion: Sie ist – im logisch positiven Sinn – Gegenstand einer Interpretation, die nach ihren Ordnungen als den Generatoren ihrer über den (fiktiven) Einzelfall hinausreichenden Bedeutung fragt, und sie dient – via negationis – zugleich als ein Ausschließungsmechanismus, der die Angemessenheit von Bedeutungen zu bewerten erlaubt: Je mehr Textdaten sie zu integrieren vermag, je plausibler erscheint sie.
5 Auktoriale Präsenz und hermeneutische Auflösung
Wenn eine den verschiedenen Künsten gemeinsame Eigenheit darin besteht, dass sie Wirklichkeit gestalten, so ergibt sich eine Besonderheit der Wortkunst daraus, dass sie sich zu diesem Zweck eines anderen Mediums bedient. Die Musik oder die Malerei bilden ihr eigenes Medium aus, die Dichtung bedient sich hingegen des Mediums der Sprache. Dies bringt es mit sich, dass sich ihr Gestaltungspotential sowohl auf die mit Hilfe der Sprache betriebene Gestaltung von Welt beziehen kann wie auch auf das Medium der Sprache selbst.
Eine solche Gestaltung von Sprache kommt am deutlichsten wohl in der Lyrik zum Ausdruck, der die anderweitig allein durch die Bedeutung der Sprachzeichen bedingte Auswahl der signifiants einer Äußerung metrische Regelmäßigkeiten abverlangt, die also aufgrund von phonetischen Regelmäßigkeiten eine von der Bedeutungsbildung unabhängige Ebene der Strukturierung ausbildet. Ordnungen konstituiert die Literatur indessen auch an der Grenze zwischen dem Medium der Sprache und der von ihr gestalteten Wirklichkeit aus. Zu den geläufigsten Erscheinungsformen entsprechender Ordnungsmuster zählt die sogenannte Erzählperspektive, die das Verhältnis zwischen dem Äußerungssubjekt und der durch diese Sprecherinstanz vermittelten Wirklichkeit betrifft. Seit Franz Karl Stanzels StandardwerkFootnote 48 unterscheidet man drei solcher Perspektiven: die auktoriale, die personale und die Ich-Erzählung.
Die für diese Differenzierung entscheidende Frage besteht darin, ob das Äußerungssubjekt die Gestalt eines Wahrnehmungssubjektes ausbildet oder nicht. In dieser Hinsicht ist die personale Erzählsituation die am klarsten zu definierende. In ihrem Fall orientiert sich die Information der Darstellung an den Modalitäten eines Wahrnehmungssubjektes innerhalb der erzählten Situation selbst. Die Ich-Erzählsituation wird hingegen zusätzlich durch den Faktor Zeit bestimmt, der die Gestalt einer Erinnerung annimmt – und damit auch an die Möglichkeiten eines Erinnerungsvermögens gebunden ist. Die sogenannte auktoriale Erzählsituation ist hingegen durch das Fehlen einer Anbindung der Erzählerinformationen an einen personalisierten Wahrnehmungsvorgang gekennzeichnet. Dies ist ihr distinktives Merkmal. Denn anderweitig ließe sich auch die personale Erzählsituation als eine auktoriale – im Wortsinn dieses Begriffs – bezeichnen. Schließlich operiert sie mit Informationen, über die ein Verfasser eines Textes üblicherweise nicht verfügen könnte, beruht sie doch auf einer Introspektion in die Gedanken einer Figur. Personale und Ich-Erzählung bilden also textuelle Kohärenzmuster aus, die sich an den Modalitäten von Wahrnehmungen – unmittelbaren oder erinnerten – ausrichten.
Im Folgenden wird es mir hingegen um einen berühmten Fall der Störung solcher Kohärenzmuster der Darstellung gehen, um daran abschließend die Frage zu diskutieren, wie eine Interpretation eines literarischen Textes im Sinne unserer These für den Ansatz literarischer Hermeneutik mit solcher ›Unordnung‹ umzugehen vermag.
Es handelt sich dabei um Gustave Flauberts Madame Bovary. Dieser Roman gilt als ein Paradebeispiel für die Entwicklung personalen Erzählens im Roman des 19. Jahrhunderts: Das Romangeschehen wird zunächst aus der Perspektive von Charles Bovary, Emmas späterem Ehemann, erzählt, um sodann auf die Perspektive der Titelheldin zu wechseln.Footnote 49 Da nimmt es sich fast wie ein Ärgernis aus, dass just der Beginn des Romans sich einer solchen Typologie nicht fügen möchte.
Nous étions à l’étude, quand le Proviseur entra, suivi d’un nouveau habillé en bourgeois et d’un garçon de classe qui portait un grand pupitre. Ceux qui dormaient se réveillèrent, et chacun se leva comme surpris dans son travail.
Le Proviseur nous fit signe de nous rasseoir ; puis, se tournant vers le maître d’études:
— Monsieur Roger, lui dit-il à demi-voix, voici un élève que je vous recommande, il entre en cinquième. Si son travail et sa conduite sont méritoires, il passera dans les grands, où l’appelle son âge.
Resté dans l’angle, derrière la porte, si bien qu’on l’apercevait à peine, le nouveau était un gars de la campagne, d’une quinzaine d’années environ, et plus haut de taille qu’aucun de nous tous. Il avait les cheveux coupés droit sur le front, comme un chantre de village, l’air raisonnable et fort embarrassé. Quoiqu’il ne fût pas large des épaules, son habit-veste de drap vert à boutons noirs devait le gêner aux entournures et laissait voir, par la fente des parements, des poignets rouges habitués à être nus. Ses jambes, en bas bleus, sortaient d’un pantalon jaunâtre très tiré par les bretelles. Il était chaussé de souliers forts, mal cirés, garnis de clous.Footnote 50
Wir waren bei der Arbeit, als der Direktor eintrat, gefolgt von einem Neuen, der sehr bürgerlich gekleidet war, und einem Hausmeister, der ein großes Pult trug. Diejenigen, die schliefen, erwachten und alle erhoben sich, als wären sie bei ihrer Arbeit überrascht worden.
Der Direktor gab uns ein Zeichen, dass wir uns wieder hinsetzen sollten, und sagte dann, an den Klassenlehrer gewandt, mit halblauter Stimme:
»Monsieur Roger, dies ist ein Schüler, den ich Ihnen anempfehle. Er kommt in die fünfte Klasse. Wenn seine Leistungen und sein Verhalten es verdienen, wird er zu den Älteren wechseln, wohin er seinem Alter entsprechend gehört.«
In der Ecke hinter der Tür geblieben, so dass man ihn kaum wahrzunehmen vermochte, stand der Neue, ein Junge vom Land, etwa 15 Jahre alt und größer gewachsen als irgendjemand sonst von uns. Seine Haare waren gerade über der Stirn geschnitten, wie bei einem Dorfkantor, und hatte einen vernünftigen, aber äußerst irritierten Gesichtsausdruck. Obwohl seine Schultern nicht sehr breit waren, schien seine Jacke aus grünem Stoff ihn einzuengen und ließ durch einen Riß am Ärmelaufschlag rote Handgelenke erkennen, die daran gewohnt zu sein schienen, nackt zu sein. Seine Beine in blauen Strümpfen guckten aus einer gelblichen Hose hervor, deren Träger sich sehr spannten. Er trug feste, schlecht gewachste Schuhe, die mit Nägeln verziert waren.
Nous [›wir‹] lautet das erste Wort des Romans, und dieses Pronomen stört die Annahme eines grundsätzlich personalen Erzählens in Flauberts Madame Bovary; denn es setzt die Anwesenheit desjenigen, der da spricht, in der Situation, die er schildert, voraus. Es erweckt mithin den Anschein, als sei der Erzähler einer unter den Schülern, die die Ankunft des Neuen während ihres Unterrichts erleben, der niemand anderes als Charles Bovary ist. Die Verwendung des Personalpronomens der ersten Person Plural entspricht also in der Typologie der verschiedenen Erzählformen der Erzählsituation eines Ich-Romans. Nach wenigen Seiten verschwindet dieses der Anfangsszene vorbehaltene Personalpronomen allerdings, um im gesamten Roman nicht mehr vorzukommen.
Diese Auffälligkeit des Textbeginns ist in der Forschung zu Flauberts Roman viel diskutiert worden. Kein Geringerer als André Gide hat den Beginn der Bovary für schlecht geschrieben erklärt.Footnote 51 Enid Starkie glaubt sogar an einen erzähltechnischen Fehler.Footnote 52 Doch ist ein schlichtes Versehen des Autors höchst unwahrscheinlich, stellt man in Rechnung, wie sorgfältig Flaubert an diesem Romanbeginn mit immer neuen Umarbeitungen gefeilt hat.Footnote 53 So gibt es denn auch eine Reihe von Deutungen, die das irritierende Personalpronomen mit einer semantischen Funktion ausstatten.
Wohl eher zu den Kuriosa dieser Art gehört der gesellschaftskritisch-moralisierende Versuch, uns allesamt in Haft für Emma Bovarys trauriges Schicksal sowie das kaum weniger erstrebenswerte Geschick ihres Ehemanns Charles zu nehmen und das einleitende nous als eine Chiffre dieser Anklage zu verstehen.Footnote 54 Victor Brombert schlägt eine erzähltechnische Deutung vor: Stufenweise nähere sich Flaubert der zentralen Erzählerperspektive seines Romans, die durch seine Titelheldin konstituiert wird.Footnote 55 Doch erhält auf diese Weise kaum die im eröffnenden Personalpronomen steckende Irritation durch die Anwesenheit des Erzählers in der dargestellten Situation, in der er sich in die Reihe der Schüler gesellt, eine Erklärung, findet sie sich doch in einem Roman, der sich dominant einer personalen Erzählsituation bedienen wird und insofern durchaus auktoriale Züge trägt, die sich mit der Zugehörigkeit des Erzählers zur erzählten Welt kaum in Einklang bringen lassen.
Gäbe es deshalb eine andere Möglichkeit, um plausibel zu machen, warum der Beginn des Romans mit einer Erzählsituation aufwartet, die aus den Ordnungen dieses Romans so deutlich herausfällt?
Einen Hinweis in diese Richtung könnte der Sachverhalt bieten, dass das auffällige Pronomen nicht die einzige ›Ungereimtheit‹ darstellt, die sich am Beginn von Madame Bovary beobachten lässt. Sie springt zweifellos am sinnfälligsten ins Auge, aber es gibt eine weitere, etwas verstecktere Besonderheit, die mit der auf eine Ich-Erzählsituation deutende Verwendung des Personalpronomens nous – jedenfalls für einen ersten Eindruck – gerade in Widerspruch zu stehen scheint.
Eigens weist der Erzähler darauf hin, dass Charles Bovary sich in der Ecke des Raumes, hinter der Tür aufhält, ja geradezu versteckt und darum kaum wahrzunehmen ist (»si bien qu’on l’apercevait à peine«). Gleichwohl zeichnet der Text ein nachgerade klassisches Porträt seiner Person, den Konventionen folgend, von Kopf bis Fuß, das mit einer Fülle bemerkenswerter Details aufwartet. Wie aber lässt sich diese Genauigkeit der Information mit dem anderweitigen Hinweis vereinbaren, dass Charles Bovary an seinem Rückzugsort kaum zu erkennen ist? Augenscheinlich legt der Text es geradezu darauf an, diese Frage zu provozieren. Man kann sich deshalb des Eindrucks nicht recht erwehren, dass hier sehr bewusst ein Widerspruch gesucht wird.
Während das Pronomen nous, das den Text eröffnet, die Anbindung der Erzählung an einen in der dargestellten Situation möglichen und plausiblen Wahrnehmungsvorgang impliziert, durchkreuzt der Wortlaut des Textes diese Voraussetzung nachgerade systematisch. Denn er wartet mit einer Fülle von Details über das Erscheinungsbild Charles Bovarys auf, deren Wahrnehmbarkeit jedoch erheblich an Wahrscheinlichkeit einbüßt, wenn der Erzähler selbst feststellt, dass seine Person kaum wahrzunehmen ist. Es kommt hinzu, dass die suggerierte Anwesenheit des Erzählers in der dargestellten Situation impliziert, dass hier aus der Erinnerung erzählt wird. Zwischen den geschilderten Vorkommnissen und dem Sprechzeitpunkt der Erzählung müssen also mehrere Jahrzehnte liegen. Ist es überzeugend, dass man sich nach einem so langen Zeitraum noch an diese Detailfülle von Charles’ Aufmachung erinnert?Footnote 56
Die Beschreibung seines Äußeren stößt insofern gleich auf einen doppelten Vorbehalt ihrer Möglichkeit: Weder scheinen die räumlichen Verhältnisse der dargestellten Situation eine so detailreiche Beschreibung wahrscheinlich, ja überhaupt möglich zu machen, noch erscheint es sonderlich plausibel, dass selbst nach mehreren Jahrzehnten diese Anhäufung von Einzelheiten im Gedächtnis geblieben ist. Doch die mit dem einleitenden nous angezeigte Erzählsituation verlangt genau dieses. Wie also lässt sich mit dem betreffenden Widerspruch umgehen?
Es hat indessen den Anschein, als hielte die andere Grenze des Romans, sein Ende, einen Hinweis auf eine mögliche Lösung dieser Aporie bereit.
Längst ist Emma Bovary nach ihrem Suizid – bei strahlendem SonnenscheinFootnote 57 – zu Grabe getragen worden. Auch Charles Bovarys Leben hat ein Ende gefunden. Doch einem der Protagonisten der Romanhandlung gelingt am Schluss noch einmal ein bemerkenswerter Coup; denn dem Apotheker Homais, dem man eine solche Auszeichnung vielleicht am wenigsten gegönnt hätte,Footnote 58 widerfährt am Schluss von Madame Bovary eine große Ehrung.
Depuis la mort de Bovary, trois médecins se sont succédé à Yonville sans pouvoir y réussir, tant M. Homais les a tout de suite battus en brèche. Il fait une clientèle d’enfer; l’autorité le ménage et l’opinion publique le protège.
Il vient de recevoir la croix d’honneur.Footnote 59
Seit dem Tode Bovarys sind drei Ärzte in Yonville aufeinandergefolgt, ohne dort Fuß fassen zu können, so sehr hat Monsieur Homais sie alle in kurzer Zeit ruiniert. Er hat sich eine Riesenkundschaft geschaffen. Die Staatsmacht schont ihn, die öffentliche Meinung schützt ihn.
Er hat soeben das Kreuz der Ehrenlegion erhalten.
Unlängst hat Homais das Kreuz der Ehrenlegion erhalten. Es ist ungewöhnlich, dass in einem fiktionalen Text eine Bestimmung der zeitlichen Beziehung zwischen dem Präteritum der Darstellung und dem Moment der Sprechsituation vorgenommen wird. Denn eine solche chronologische Fixierung holt das Romangeschehen aus dem Irgendwann einer Vergangenheit, deren Unbestimmtheit Teil ihres fiktiven Satus ist, in die Messbarkeit einer zeitlichen Progression, die sie an die Zeit der historischen Wirklichkeit annähert. Dass es bei einer solchen Bestimmung des Zeitverhältnisses nicht bei einer Bezugnahme auf die relative Chronologie der dargestellten Welt bleibt, zeigt sich schon allein daran, dass mit wachsendem Abstand zwischen dem historischen Zeitpunkt der Entstehung des Romans und seiner Lektüre die Markierung der zeitlichen Nähe von Homais’ Ehrung in einer dialektischen Umkehrung der Zeitangabe am Romanende gerade die zeitliche Distanz des Erzählten hervorhebt.
Bereits Gérard Genette hat auf den Zusammenhang zwischen dem Romananfang und seinem Ende hingewiesen und das Personalpronomen des Beginns wie die zeitliche Situierung von Homais’ Auszeichnung am Schluss als Hinweis auf eine homodiegetische Stellung des Erzählers gedeutetFootnote 60 – als seine Zugehörigkeit zur erzählten Welt. Doch geht jedenfalls das Romanende – um zunächst bei ihm zu bleiben – so einfach mit einer Verrechnung für ein homodiegetisches Erzählen nicht auf. Denn, wie soeben gesehen, bleibt der Hinweis auf das nur kurze Zeit zurückliegende Ereignis nicht auf eine Markierung der zeitlichen Beziehung zwischen dem Akt des Erzählens und seinem – letzten – Gegenstand beschränkt. Unweigerlich gewinnt dabei auch die zeitliche Beziehung zwischen dem Romangeschehen und dem Zeitpunkt der Lektüre des Textes an Belang. In der Konsequenz der Zeitangabe am Schluss von Madame Bovary kommt deshalb der Autor des Romans, der ›empirische Autor‹, wie man so gern zur Unterscheidung vom Erzähler sagt, und der Moment seiner Rede ins Spiel. Am Ende von Flauberts Madame Bovary setzt dieser Autor mithin ein Zeichen, das ihn selbst – ebenso diskret wie unüberhörbar – als die Instanz, der der Diskurs dieses Romans geschuldet ist, hervortreten lässt. Welche Bedeutung aber hat dieses Finale für die diskutierten Besonderheiten, die am Beginn des Textes auftreten? Zugespitzt gefragt: Käme auch hier der Autor ins Spiel?
Genau dies scheint nun der Fall zu sein, wenn man die Widersprüche in Rechnung stellt, die wir für den Romanbeginn festgestellt haben. Einerseits reiht sich der Sprecher in die Reihe der Schüler ein, die den Eintritt des Neuen in den Klassenraum erleben; und zum anderen lässt er diesem Hinzukömmling eine Beschreibung seines Erscheinungsbildes angedeihen, deren Unwahrscheinlichkeit der Text selbst suggeriert, weil ihre Detailgenauigkeit kaum mit dem Hinweis vereinbar ist, dass man seine Person hinter der Tür kaum wahrzunehmen vermöchte. Einen solchen, von allen realistischen Behinderungen der Wahrnehmung enthobenen Einblick könnte einzig ein auktorialer Erzähler für sich in Anspruch nehmen. Doch eben diese Möglichkeit versperrt der Text selbst, indem er vom ersten Augenblick an den Erzähler dem erzählten Geschehen selbst einverleibt.
Als Resultante dieser Konstellation lässt sich im Grunde nur eine einzige Sprecherinstanz identifizieren, in der diese Widersprüche aufgehoben sind: in der Instanz des Autors. Als der Erfinder der Figuren, die die Romanhandlung konstituieren, die mithin seine, von ihm in jedem Detail abhängige Kreaturen darstellen, ist er in der Tat in jeder von ihnen anwesend. Kaum zufällig auch, dass er sich in das Kollektiv dieser Schüler einreiht, für die allesamt das Gleiche gilt. Im Personalpronomen nous des Eingangs verschwimmt gleichsam die Gemeinsamkeit der Schüler untereinander mit ihrer Teilhabe an dem Autor, dessen Erfindungen sie in jedem Detail ihres Verhaltens sind und der darum unschwer ihre Position einzunehmen vermag. Und selbstredend ist ein solcher Autor qua Amt ebenso in der Lage, Informationen abzugeben über das, was sich für jeden normalen Sterblichen nicht sehen ließe. Denn schließlich ist auch dies seine Erfindung.
Am Anfang von Madame Bovary stellt sich der Autor, der ›empirische Autor‹ wohlgemerkt, wenn auch unausdrücklich, als der Urheber all dessen vor, was er in diesem Text erzählen wird. Dies ist die implizite Botschaft jener Widersprüche, mit denen der Beginn dieses Textes jede Subsumtion unter ein schlüssiges Konzept geläufiger Erzählsituationen verweigert. Nicht die Demonstration der Sprecherlosigkeit des Textes, die Jonathan Culler aus den Auffälligkeiten der Romaneröffnung herauslesen wollte, bietet eine plausible Erklärung für ihre ›Ungereimtheiten‹. Im Gegenteil gibt sich am Anfang wie am Ende von Madame Bovary der Schöpfer der Titelheldin wie aller anderen Personen und Dinge dieses Romans ebenso diskret wie subtil als ein solcher zu erkennen.
Diese Deutung des Textbeginns als einer Markierung der Präsenz des Autors Flaubert kann sich auf ein Zeugnis berufen, das er selbst an anderer Stelle hinterlassen hat. Die Eröffnung von Madame Bovary erscheint im Grunde als eine subtile Form der Einlösung jenes poetologischen Programms, das Flaubert in einer berühmten Briefstelle auf die vielzitierte Formulierung gebracht hat: »L’auteur, dans son œuvre, doit être comme Dieu dans l’univers, présent partout, et nulle part visible«.Footnote 61 Ganz im Sinne dieses Diktums wird die erzählte Welt des Romans gleichsam aus der Hand seines Autors entlassen, bis sie sozusagen auf eigenen Füßen steht. Erst im Horizont des impliziten Hinweises auf den wahren Urheber des Textes, zieht dieser sich in die Rolle eines deus absconditus zurück, um nur am Ende noch einmal nicht weniger subtil seine Anwesenheit momenthaft aufblitzen zu lassen.
Es ist kaum ein Zufall, dass gerade an den beiden Grenzen des Textes, an der jeweiligen Schwelle zwischen der historischen Welt und der Welt des Romangeschehens, der Autor, der zwischen beiden Sphären vermittelt, seine Präsenz in der erzählten Welt zu erkennen gibt. Denn ihm, und nur ihm, verdankt alles, wovon der Text berichtet, seine Existenz. In diesem poetologischen Programm finden die vordergründigen narrativen Inkohärenzen des Wortlauts des Textes ihre hermeneutische Auflösung.
Gustave Flauberts Madame Bovary bietet ein plastisches Beispiel dafür, wie die Produktion von Bedeutung in einem literarischen Text durch eine Herstellung von Kohärenz funktioniert, wobei seine Botschaft gerade in vordergründiger Inkohärenz angelegt ist. Die Interpretation des Romans verwandelt im gleichen Zug den einen Fall in ein allgemeines poetologisches Postulat, macht das Einzelne für ein Allgemeines transparent. Denn nicht nur für diesen einen Fall hat der Autor als Urheber von allem zu gelten, was ein Roman erzählt – und in genau diesem Grund steckt die Affinität des fiktionalen Textes zu seiner Interpretation. Denn das in und mit ihm Gesagte ist einzig für die Kommunikation mit einem Leser gemacht. Wenn das dort Gesagte jedoch nichts mitteilt, das etwas Tatsächlichem entspricht (wenn es ihm jedenfalls nicht entsprechen muss) und insofern eine Information letztlich schuldig bleibt, dann löst diese Leerstelle die Frage aus, worin denn der Belang des Gesagten bestehen kann. Eine – prominent genutzte – Möglichkeit besteht deshalb darin, ihn nach einer Bedeutung zu befragen, die er über den propositionalen Gehalt seiner Sätze hinaus besitzen kann, um ihm solchermaßen einen Informationswert abzugewinnen.Footnote 62
Auch in diesem Fall gilt die für jegliche Kommunikation verbindliche regulative Idee, dass alles, was jemand sagt, sinnvoll ist.Footnote 63
Die Ablösung des fiktionalen Textes vom Postulat der Übereinstimmung seiner Aussagen mit einer außerhalb seiner selbst liegenden Realität hat allerdings keineswegs die Irreduzibilität seiner Polysemie zur Folge. Nicht sie bildet – einer zweifellos geläufig gewordenen theoretischen Prämisse der Literaturwissenschaft der Gegenwart zum Trotz – das Grundmuster literarischer Rede, sondern die (potentielle) Polysemie dieser Rede wirft die – in jedem Fall stets aufs Neue zu stellende und durch eine mediale Logik nicht zu entscheidende – Frage nach ihrer jeweiligen Bedeutung auf. Dabei kann es sich durchaus ergeben, dass ein Text eine Koexistenz von Alternativen vorführt, die sich nicht mehr miteinander vermitteln lassen, um solchermaßen dem Dargestellten die Möglichkeit einer schlüssigen Erklärung zu entziehen. Aber man sollte dabei nicht übersehen, dass auch die solchermaßen festgestellte, unaufhebbare Vieldeutigkeit eines Textes ihn durchaus vereinheitlicht. Denn dadurch wird er eben auf diese Bedeutung, auf seine Polysemie semantisch festgelegt. Aus logischer Sicht ist es deshalb ebenso möglich, dass auch eine vordergründige Inkohärenz oder eine Koexistenz von alternativen Mustern eine Botschaft enthält, die sich vom Testat radikaler Unordnung der Welt unterscheidet. Aber nur der einzelne Fall kann darüber Auskunft geben.
Notes
Alfred Noyer-Weidner, dessen Geburtsdatum sich in diesem Jahr zum hundertsten Mal jährt, aus welchem Anlass ihm diese Studie in dankbarer Erinnerung gewidmet sei, war für mich derjenige, den man in ironisch-genealogischer Diktion unserer Zunft gern als einen ›akademischen Großvater‹ bezeichnet. Er war der Lehrer meines eigenen Lehrers. 1990 wurde ich nach seiner Emeritierung auf seinen Münchner Lehrstuhl berufen. Er hat der ›Schule‹, die er gebildet hat – soweit ein solcher Begriff hier überhaupt angemessen sein kann – keine Theorie auf den Weg ihres akademischen Lebens mitgegeben, deren Anwendung er für das – womöglich sogar alleinseligmachende – Heil seines Faches gehalten hätte. Er hat seinen Schülern vielmehr einen Umgang mit Texten vorgeführt und zu vermitteln versucht, der beispielhaft für dasjenige steht, was den zentralen Gegenstand der folgenden Überlegungen ausmachen wird: für die Interpretation literarischer Texte, die er meisterlich beherrschte. (Umgang mit Texten lautet übrigens der Titel der zweibändigen Aufsatzsammlung, die Klaus W. Hempfer und Gerhard Regn aus Anlass des 65. Geburtstags ihres akademischen Lehrers herausgegeben haben und die etliche seiner bestechend subtilen Arbeiten versammelt, vgl. Hempfer, Klaus W./Regn, Gerhard (Hg.): Umgang mit Texten. 2 Bde. Stuttgart: Steiner, 1986). Die in diesem Artikel skizzierte Theorie kommt ein Stück weit auch dem Versuch gleich, die unausdrücklichen Prämissen der hermeneutischen Praxis von Alfred Noyer-Weidner auf einen Begriff zu bringen.
Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman. Bd. 1.1. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Eckhard Heftrich unter Mitarbeit von Stefan Stachorski und Herbert Lehnert. Frankfurt a. M.: Fischer, 2. Aufl. 2002, S. 9 f.
»Mit dieser 22mal wiederholten Formel werden die Erläuterungen der von Luther im Kleinen Katechismus zusammengefassten Glaubensinhalte eingeleitet bzw. abgefragt.« (Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman Bd. 1.2. Kommentar, von Eckhard Heftrich und Stephan Stachorski unter Mitarbeit von Herbert Lehnert. Frankfurt a. M.: Fischer, 2. Aufl. 2002, S. 229).
»Zugrunde liegt die folgende Ausgabe: Erklärung des kleinen Katechismus Luthers mit Eines Hochedlen und Hochweisen Rathes Genehmigung zum öffentlichen Gebrauche herausgegeben von Einem Ehrwürdigen Ministerio der freien Stadt Lübeck. Lübeck 1837. Thomas Mann passt das Erscheinungsjahr der Chronologie des Romans an, datiert es also um zwei Jahre zuvor.« (ebd., S. 230).
Dass er sich im persönlichen Umgang Fremden gegenüber eher ablehnend verhält, bekommt vor allem das Kindermädchen, die »Preußin« Ida Jungmann zu spüren, die er um ihrer Herkunft willen rundherum ablehnt: »Die Sache war die, daß der alte Herr auf Ida Jungmann nicht zum besten zu sprechen war. Er war kein beschränkter Kopf. Er hatte ein Stück von der Welt gesehen, war anno 13 vierspännig nach Süddeutschland gefahren, um als Heereslieferant für Preußen Getreide aufzukaufen, war in Amsterdam und Paris gewesen und hielt, ein aufgeklärter Mann, bei Gott nicht alles für verurteilenswürdig, was außerhalb der Thore seiner giebeligen Vaterstadt lag. Abgesehen vom geschäftlichen Verkehr aber, in gesellschaftlicher Beziehung, war er mehr als sein Sohn, der Konsul, geneigt, strenge Grenzen zu ziehen und Fremden ablehnend zu begegnen. Als daher eines Tages seine Kinder von einer Reise nach Westpreußen dies junge Mädchen – sie war erst jetzt zwanzig Jahre alt – als eine Art Jesuskind mit sich ins Haus gebracht hatten, eine Waise, die Tochter eines unmittelbar vor Ankunft der Buddenbrooks in Marienwerder verstorbenen Gasthofsbesitzers, da hatte der Konsul für diesen frommen Streich einen Auftritt mit seinem Vater zu bestehen gehabt, bei dem der alte Herr fast nur französisch und plattdeutsch sprach« (Mann [s. Anm. 2], S. 14 f.). Es ist eine bemerkenswerte Trennlinie, die zwischen der kulturell-sprachlichen Bildung des aufgeklärten Geschäftsmanns und der Provinzialität seines Sozialverkehrs verläuft. Und dies ist umso bemerkenswerter, als just seine Ehefrau, »Mme. Antoinette Buddenbrook, geborene Duchamps« die Durchlässigkeit solcher regionalen Prägungen zu erkennen gibt: »Ihre Gesichtszüge waren im Laufe der Jahre auf wunderliche Weise denjenigen ihres Gatten ähnlich geworden. Nur der Schnitt und die lebhafte Dunkelheit ihrer Augen redeten ein wenig von ihrer halb romanischen Herkunft; sie stammte großväterlicherseits aus einer französisch-schweizerischen Familie und war eine geborene Hamburgerin.« (Ebd., S. 10). Bemerkenswert an diesem Porträt ist die Überkreuzung von biologischen und sozialen Faktoren im Erscheinungsbild dieser Frau. Sie zeigt einerseits deutliche Merkmale ihr familiären Herkunft. Ihre Augen geben Auskunft über ihre romanischen Vorfahren. Doch körperliche Merkmale entstehen offensichtlich keineswegs allein durch Abstammung. Die Angleichung der Gesichtszüge zwischen den Eheleuten zeigt an, dass auch dauerhafter Sozialverkehr physiognomische Prägungen mit sich bringen kann, wobei bezeichnenderweise die zwischen ihnen »im Laufe der Jahre« entstandene Ähnlichkeit die Machtverhältnisse innerhalb dieses Ehepaares widerspiegelt. Denn sie ist ihm ähnlich geworden. An dieser Überkreuzung von körperlichen Merkmalen und sozialer Interaktion lässt sich noch etwas Weiteres beobachten. In der Ähnlichkeit von Madame Buddenbrooks Gesichtszügen mit denjenigen ihres Mannes sind die Folgen ihres langjährigen, vertrauten Umgangs zu bemerken. Doch »der Schnitt und die lebhafte Dunkelheit ihrer Augen« holen umgekehrt charakterliche Merkmale in die genetische Prägung hinein. Denn die Augen der alten Dame sind nicht nur dunkel, sondern sie sind ebenso – trotz ihres fortgeschrittenen Alters – noch immer lebhaft und geben damit auch die Lebendigkeit als eine Folge biologischer Prägung zu erkennen. Um jedoch noch einmal auf die Skepsis des alten Johann Buddenbrook gegenüber allem Fremden zurückzukommen: Man gewinnt den Eindruck, dass keineswegs nur regionale Unterschiede für die Ablehnung der »Preußin« Ida Jungmann verantwortlich zu machen sind, sondern ebenso die Ursache ihrer Anwesenheit im Hause Buddenbrook, ist es doch eine romantisierende Frömmelei, die Konsul Jean dazu bewogen zu haben scheint, das verwaiste Mädchen bei sich aufzunehmen. So spiegelt sich in der Haltung des Familienoberhaupts auch eine Entwicklung der Geistesgeschichte zwischen Aufklärung und Romantik, die das Verhalten der Akteure der Handlung plausibel zu machen hat.
Dass er ganz unstrittig das Oberhaupt der Familie ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass seine Autorität anderweitige ideologische Überzeugungen durchaus zu überspielen vermag. In den Reaktionen auf Tony Buddenbrooks liebevoll-ironische Examinierung ihrer Gedächtnisleistung durch den ihr ersichtlich zugetanen Großvater zeigt sich dies in aller Deutlichkeit, denn selbst die dem Christentum ungleich positiver Gegenüberstehenden stimmen in sein Lachen ein: »Alle hatten in sein Lachen eingestimmt, hauptsächlich aus Ehrerbietung gegen das Familienoberhaupt.« (Ebd., S. 10).
»Im Verhältnis zu der Größe des Zimmers waren die Möbel nicht zahlreich.« (Ebd., S. 12).
»Man saß im ›Landschaftszimmer‹, im ersten Stockwerk des weitläufigen alten Hauses in der Mengstraße, das die Firma Johann Buddenbrook vor einiger Zeit käuflich erworben hatte und das die Familie noch nicht lange bewohnte. Die starken und elastischen Tapeten, die von den Mauern durch einen leeren Raum getrennt waren, zeigten umfangreiche Landschaften, zartfarbig wie der dünne Teppich, der den Fußboden bedeckte, Idylle im Geschmack des 18. Jahrhunderts, mit fröhlichen Winzern, emsigen Ackersleuten, nett bebänderten Schäferinnen, die reinliche Lämmer am Rande spiegelnden Wassers im Schoße hielten oder sich mit zärtlichen Schäfern küßten … Ein gelblicher Sonnenuntergang herrschte meistens auf diesen Bildern, mit dem der gelbe Überzug der weiß lackierten Möbel und die gelbseidenen Gardinen vor den beiden Fenstern übereinstimmten« (ebd., S. 12). Die »Idylle im Geschmack des 18. Jahrhunderts« trägt nicht nur einen historischen Index und gemahnt dabei an jene Epoche, der auch der alte Johann Buddenbrook chronologisch wie kulturell noch angehört, sie führt auch das Bild einer rundherum friedlichen, an den Glückserwartungen der Menschen orientierten Natur vor. Sollte einzig der Sonnenuntergang, der vorderhand nichts als eine wohlige Tönung des Bildes mit sich bringt, gleichwohl als ein erstes Menetekel des künftigen Niedergangs wirken? Vom Ende der Romanhandlung gelesen, fällt es schwer, von dieser Assoziation abzusehen, zumal von ihm später noch die Rede sein wird, vgl. unten Anm. 22.
Diese Anzeichen sind unterschiedlicher Art, sie sind allgemeiner Natur und ergeben sich zugleich aus der konkreten Situation der Familie Buddenbrook. So etwa sind die verschiedenen, dem Kinderreichtum geschuldeten Zweige der Familie eine beständige Gefahr für den Bestand des Firmenvermögens. Noch am Abend des festlichen Diners wird ein Brief mit finanziellen Forderungen von Jeans Halbbruder Gotthold die heitere Stimmung zeitweilig eintrüben.
Die Frage erscheint um so angebrachter, wenn man den gesamten Text der Erläuterung in Rechnung stellt, die der Beginn des christlichen Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus erfährt. Denn dort heißt es auch: »Ich glaube, daß Gott mich […]; wider alle Fährlichkeit beschirmet, und vor allem Uebel behütet und bewahret« (hier zitiert nach: Mann [s. Anm. 3], S. 230).
Den sinnfälligsten Ausdruck dieser Bigotterie bilden zweifellos die sogenannten Jerusalemsabende, die die verwitwete Konsulin bald nach dem Ableben ihres Gatten ins Leben ruft (und bei denen neben aller Frömmigkeit auch das gute Leben nicht zu kurz kommt): »Auch begründete sie den ›Jerusalemsabend‹, und an diesem mußte außer Clara und Klothilde auch Tony sich wohl oder übel beteiligen. Einmal wöchentlich saßen an der langausgezogenen Tafel im Eßsaale beim Scheine von Lampen und Kerzen etwa zwanzig Damen, die in dem Alter standen, wo es an der Zeit ist, sich nach einem guten Platze im Himmel umzusehen, tranken Thee oder Bischof, aßen fein belegtes Butterbrot und Pudding, lasen sich geistliche Lieder und Abhandlungen vor und fertigten Handarbeiten an, die am Ende des Jahres in einem Bazare verkauft wurden, und deren Erlös zu Missionszwecken nach Jerusalem geschickt ward.« (Mann [s. Anm. 2], S. 305).
Ebd., S. 837.
Sontag, Susan: Against Interpretation and Other Essays. New York: Farrar, Straus & Giroux, 1966.
Als ein Gründungsdokument kann die Konstanzer Antrittsvorlesung »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?« gelten (erschienenen unter dem Titel Jauß, Hans R.: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Konstanz: Konstanz Universitätsverlag, 1967). Der Untertitel meines Aufsatzes greift nicht zufällig die Formulierung des Titels von Jauß’ Antrittsvorlesung auf. Mein Anliegen ist es, eine Neubegründung der Funktion literarischer Interpretation nicht zuletzt im Lichte der Diskussion – und Kritik – überkommener theoretischer Ansätze zu versuchen.
Vordergründig könnte es den Anschein haben, als gelten solche Tatsächlichkeitsbehauptungen allein für Aussagesätze. Doch sie lassen sich gleichermaßen für Frage- wie Ausrufungssätze beobachten. Auch die Frage: ›Ist Rom die Hauptstadt Italiens?‹ setzt die Existenz dieser Stadt voraus und gleiches macht derjenige, der in humanistischem Geist sagen mag: ›Rom sei das Zentrum der Welt!‹ Sogenannte Existenzpräsuppositionen sind mithin keineswegs auf einen bestimmten Typus von Aussagen beschränkt, sie gelten vielmehr für alle Erscheinungsformen sprachlicher Sätze.
Vgl. Kablitz, Andreas: »Literatur, Fiktion und Erzähler nebst einem Nachruf auf den Erzähler«. In: Irina Rajewski/Ulrike Schneider (Hg.): Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2008, S. 13–44.
Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München: C. H. Beck, 3. Aufl. 1983, S. 11.
Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München: Fink, 1972, S. 22.
Ebd., S. 23.
»Aus dem Gesagten folgt, daß Bedeutung in jenen Fällen, entsteht, wo zumindest zwei verschiedene Ketten von Strukturen vorhanden sind. In vertrauter Terminologie kann man die eine als Ausdrucksebene, die andere als Inhaltsebene bezeichnen. Bei der Umkodierung stellen sich zwischen bestimmten Paaren von ihrer Natur nach verschiedenen Elementen Entsprechungen her, wobei jeweils ein Element in seinem System als Äquivalent eines anderen Elements in dessen System aufgefaßt wird.« (Ebd., S. 60).
Ebd., S. 301.
So wird denn auch schon bei der Einweihung des neuen Hauses in der Mengstraße über die Ursachen des Niedergangs des Vorbesitzers diskutiert. Ausgangspunkt ist die Frage nach dem Baujahr des Hauses, auf die Konsul Jean kundig zu antworten versteht: »1682, im Winter, ist es fertig geworden. Mit Ratenkamp & Komp. fing es damals an, aufs Glänzendste bergauf zu gehen … Traurig, dieses Sinken der Firma in den letzten zwanzig Jahren …« (Mann [s. Anm. 2], S. 25; Hervorhebungen A. K.). Nun beginnt ein Rätseln um die Ursachen dieses Niedergangs, bei dem sich zwei Ansichten gegenüberstehen. Makler Grätjens vermutet in einer falschen Personalentscheidung und damit einhergehender Misswirtschaft das wesentliche Motiv für den Verfall, während der Konsul Jean Buddenbrook auf der geradezu schicksalhaften Notwendigkeit dieses Sinkens der Firma insistiert – und dabei, wie sein vom Erzähler eigens erwähnter, in Gedanken versunkener Blick nahelegt, auch an die Zukunft seines eigenen Hauses denken mag.
»Konsul Buddenbrook stand, die Hände in den Taschen seines hellen Beinkleides vergraben, in seinem Tuchrock ein wenig fröstelnd, ein paar Schritte vor der Hausthür und lauschte den Schritten, die in den menschenleeren, nassen und matt beleuchteten Straßen verhallten. Dann wandte er sich und blickte an der grauen Giebelfaçade des Hauses empor. Seine Augen verweilten auf dem Spruch, der überm Eingang in altertümlichen Lettern gemeißelt stand: ›Dominus providebit.‹ Während er den Kopf ein wenig senkte, trat er ein und verschloß sorgfältig die schwerfällig knarrende Hausthür. Dann ließ er die Windfangthüre ins Schloß schnappen und schritt langsam über die hallende Diele. Die Köchin, die mit einem Theebrett voll Gläser klirrend die Treppe herunterkam, fragte er: ›Wo ist der Herr, Trina?‹ ›Im Eßsaal, Herr Konsul ...‹ Ihr Gesicht wurde so rot wie ihre Arme, denn sie war vom Lande und geriet leicht in Verwirrung.« (Ebd., S. 47). Schon dieser ersten Erwähnung des Spruches über dem Haus der Buddenbrooks in der Mengstraße ist übrigens eine leise Ironisierung eingeschrieben. Sie steckt in der Frage, die der Konsul Jean an seine Köchin richtet. Denn er möchte von ihr wissen, wo »der Herr« ist, womit niemand anderes als sein Vater, der alte Johann Buddenbrook, gemeint ist. So übersetzt der Titel »Herr« nicht nur den lateinischen Ausdruck Dominus ins Deutsche, er überträgt die mit ihm bezeichneten Herrschaftsverhältnisse vielmehr im gleichen Zug auf die Hierarchien im Hause Buddenbrook. Und diese Rangordnung ist nicht zuletzt dadurch sehr prägnant zum Ausdruck gebracht, dass der Konsul über seinen Vater so spricht, wie die Köchin ihn wahrzunehmen und zu respektieren hat – eben als den »Herrn« –, während er sie selbst mit bloßem Vornamen anredet. Solche latenten Relativierungen des Segensspruches Dominus providebit setzen sich im Roman im Übrigen fort. Auch sie bilden so etwas wie ein Wiederholungs- und dies bedeutet auch: Kohärenzmustermuster aus. Zum zweiten Mal findet das fromme Motto Erwähnung, als der Titel eines Konsuls, der nach dem Tode Jean Buddenbrooks auf seinen Bruder Gotthold übergegangen war, nach dessen Ableben in das Haus in der Mengstraße zurückkehrt und nun den Sohn Jeans, den künftigen Senator Thomas Buddenbrook ziert: »Wie es in der Natur der Dinge lag, gingen Amt und Titel des königlich niederländischen Konsulats, das Thomas sofort nach dem Tode seines Vaters hätte für sich in Anspruch nehmen können, zu Tony Grünlichs maßlosem Stolze jetzt an ihn über, und das gewölbte Schild mit Löwen, Wappen und Krone war nunmehr wieder an der Giebelfront in der Mengstraße unter dem ›Dominus providebit‹ zu sehen« (ebd., S. 303). Wieder konkurriert hier der Herrscher des Himmels mit einem irdischen Herrn, den die Krone der Niederlande als einen solchen ausweist und dessen Macht auch ein wenig Glanz auf den fallen lässt, der ihn zu vertreten berechtigt ist. Doch nicht allein die Krone spielt unausdrücklich auf die Frage nach dem Besitz der Macht an, mit dem Schild des Konsuls hat es noch eine weitere Bewandtnis, und sie hängt mit den darauf abgebildeten Löwen zusammen. Auch sie sind zweifellos ein Symbol der Macht, gilt der Löwe doch als rex animalium, als König der Tiere. Aber eben der Tiere – und damit kommt eine Dimension ins Spiel, die in den zuletzt zitierten Zeilen noch an einer anderen Stelle eine Rolle spielt. Zu dem gleichsam erbrechtlichen Prinzip, dass nach dem Tode des Onkels der Titel des niederländischen Konsuls dem Neffen zufällt, heißt es nämlich: »wie es in der Natur der Dinge lag« – in der Natur wohlgemerkt, und damit ist auf jene Sphäre angespielt, der auch die Löwen angehören. Der Naturbegriff aber ist an dieser Stelle ein höchst ambivalenter; denn die »Natur der Dinge« meint eine juristisch-soziale Konvention, den Verbleib des Titels in derselben Familie, wenngleich er sich damit auch auf einen biologisch begründeten Personenverbund bezieht. Wenn die Löwen als Insignien der Macht fungieren, tritt die durch sie repräsentierte Macht hingegen als eine Instanz der Gewalt in Erscheinung, die die Grundlage dieser Macht in physischer Stärke und Überlegenheit erkennen lässt. Das ist augenscheinlich eine ganz andere Basis von Herrschaftsverhältnissen als diejenige, die der biblische Satz Dominus providebit suggeriert; und so macht der Doppelsinn des Naturbegriffs noch einmal auf jene semantische Schnittstelle aufmerksam, die den Roman der Buddenbrooks in beträchtlichem Maß strukturiert: auf die prekäre Beziehung zwischen der Natur und ihrer kulturell-sozialen Formung wie Domestizierung. Dass der Segensspruch durchaus derlei Machtfragen involviert, geht aus seiner dritten Erwähnung in den Buddenbrooks ausdrücklich hervor. Als Senator Thomas sich entschließt, ein neues Haus zu bauen, um darin seinem neu gewonnenen Sozialprestige, das nicht zuletzt dem Erfolg seiner Firma geschuldet ist, Ausdruck zu verleihen, gilt es, das alte Haus in der Mengstraße zu verkaufen. Rasch findet Makler Gosch einen Interessenten: den erfolgreichen Unternehmer Konsul Hagenström, den Erzkonkurrenten der Buddenbrooks, der vor allem Thomas’ Schwester Tony aufbringt, die wie keine zweite Romanfigur den Familienstolz (und wohl auch -dünkel) repräsentiert und ihn darum für einen unstandesgemäßen Parvenu hält. Vehement wehrt sie sich gegen diesen Verkauf, den ihr Bruder mit allerlei Argumenten schmackhaft zu machen versucht. Dazu gehört unter anderen auch der folgende Gesichtspunkt: »Paß auf, der Konsul wird hier Alles möglichst konservieren, er wird nichts umbauen, er wird auch das ›Dominus providebit‹ über der Haustür stehen lassen, obgleich man billig sein und ihm zugestehen muß, daß nicht der Herr, sondern er ganz allein der Firma Strunck & Hagenström zu einem so erfreulichen Aufschwung verholfen hat ...« (ebd., S. 661). Übrigens bietet der biblische Spruch auch ein plastisches Beispiel dafür, in welchem Maße interpretatorische Hypothesen sich in ihrem Plausibilitätsgrad unterscheiden. Unsere bisherige Deutung seiner semantischen Funktion begreift ihn im Wortsinn als ein im Text der Buddenbrooks präsentes Motto, das einen Kernpunkt christlicher Weltdeutung, den Glauben an einen fürsorglichen Gott, ins Spiel bringt. Der Grad an Evidenz ändert sich indessen, sofern man die Frage nach der Bedeutung des Dominus providebit auf eine intertextuelle Perspektive hin erweitert. Seine biblische Herkunft ist unschwer zu bestimmen. Er stammt aus dem 22. Kapitel des 1. Buch Mose und steht im Zusammenhang der Geschichte vom Opfer Isaaks durch Abraham. Zur Prüfung seiner Treue verlangt Jahwe von Abraham bekanntlich das Opfer seines Sohnes, und so schreitet der gottesfürchtige Mann zur Tat. Isaak weiß von seinem Schicksal nichts und fragt deshalb nichtsahnend den Vater, als sie den zum Opfer bestimmten Berg besteigen, nach dem Opfertier, das er für die anstehende rituelle Handlung nicht ohne Grund vermisst. Noch immer verschweigt der Vater ihm, was ihn erwartet, und beruhigt ihn mit eben dem Satz, der in der Version der Vulgata lautet: Dominus providebit – Der Herr wird schon für dieses ›Opfertier‹ sorgen. Im Kontext seines biblischen Vorkommens ist dieser Satz also von tiefer Abgründigkeit geprägt: Abraham benutzt ihn, um seinem Sohn zu versichern, dass der mächtige Gott dafür sorgen werde, das fehlende Opfertier bereitzustellen – eine Zusage, die im Augenblick ihrer Äußerung alles andere als eine Bezugnahme auf einen wohlmeinenden Gott darstellt. Denn sie dient zunächst zu nichts anderem als der Maske eines Tuns, das ein kaum fürsorglicher, sondern anspruchsvoller, um der Anerkennung seiner Suprematie willen schmerzliche Opfer verlangender Gott einfordert. Allerdings erweist sich dieser Gott schließlich als weniger grausam, als es sein Ansinnen zunächst hätte annehmen lassen. Denn schon die Bereitschaft, den eigenen Sohn zu töten, genügt Jahwe als Probe für Abrahams Ergebenheit. Aber genügt dieser finale Verzicht auf eine grausame Tat als Beweis für einen fürsorglichen Gott? Zitiert der Spruch Dominus providebit ein mithin schon in der Bibel selbst erschüttertes Vertrauen in einen vordringlich oder gar ausschließlich um das Wohl des Menschen bedachten Gott? Oder beschränkt sich das Bibel-Zitat in Manns Roman auf dessen Reduktion auf eine fromme Formel, die die – wesentlich vom neutestamentlichen Erlöser genährte – Zuversicht auf Gottes Fürsorge zum Ausdruck bringt, um durch die Geschehnisse der Handlung der Buddenbrooks in Zweifel gezogen zu werden? Das lässt sich kaum entscheiden. Die intertextuelle Dimension des biblischen Spruches bleibt insoweit eine bloße Potentialität. Denn es lassen sich kaum Textdaten anführen, die eine Bezugnahme auf den alttestamentlichen Text selbst zu bestätigen vermöchten. An einer Stelle wie dieser stößt das Plausibilisierungspotential einer Interpretation zweifellos an seine Grenzen.
Die Bedeutung des Allgemeinen für den literarischen Text als dem Modus seiner Bezugnahme auf die Wirklichkeit ist wohl erstmalig von Aristoteles in seiner Poetik reflektiert worden. Auf diese Weise begegnet er dem Platonischen Vorbehalt gegenüber der Mimesis des Dichters, der die poetische Nachahmung als eine doppelte Entfernung vom Allgemeinen der Idee bestimmte und damit zugleich – ontologisch – diskreditierte. Indessen wird bei Aristoteles das Allgemeine der Dichtung auf ein normatives Postulat verpflichtet. Denn es gründet auf einer bestimmten logischen Struktur des poetischen Plots, der grundsätzlich den Prinzipien der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit in der Abfolge seiner einzelnen Teilhandlungen zu genügen hat. Diese Festlegung auf ein logisches Ordnungsmuster stellt zweifelsohne eine notwendige Bedingung der Abwehr von Platons metaphysischer Verurteilung der Dichtung dar. Indessen ergibt sich das Allgemeine der Dichtung nicht aus einer normativen Vorgabe, sondern aus den medialen Bedingungen eines Textes, dessen Gestaltung von Wirklichkeit zu einer Umbesetzung seiner Referenz in die Frage nach den Prinzipien seiner Gestaltung mündet – wohlgemerkt in diese Frage, denn weder die Existenz noch die Gestalt dieser Ordnung lassen sich vorhersagen, sie bleiben in jedem einzelnen Fall stets aufs Neue zu bestimmen.
Ich unterscheide zwischen den Prädikaten ›fiktiv‹ und ›fiktional‹ wie folgt: Das Adjektiv ›fiktiv‹ charakterisiert den Status der Gegenstände einer Rede, deren Existenz nicht unabhängig von dieser Rede ist. ›Fiktiv‹ in diesem Sinn ist etwas Ausgedachtes ebenso wie etwas Erlogenes.
»Die Triebkraft des Verfallsprozesses bleibt verborgen hinter seinen vielfältigen äußeren Symptomen, so daß dieser Prozeß selbst weniger als historischer Verlauf denn als unentrinnbarer, unerklärbarer Schicksalsablauf erscheint.« lautet eine repräsentative Einschätzung des in den Buddenbrooks erzählten Geschehens (so Vogt, Jochen: Thomas Mann: »Buddenbrooks«. München: Fink, 2., rev. und erg. Aufl. 1995, S. 91, anknüpfend an Eberhart Lämmerts nachgerade kanonisch gewordene Studie »Thomas Mann – Buddenbrooks«. In: Benno von Wiese (Hg.): Der deutsche Roman vom Barock bis zur Gegenwart. Bd. 2. Düsseldorf: Bagel 1962, S. 190–233). Und schon der im Untertitel des Romans vorkommende Begriff ›Verfall‹ nimmt sich ja wie eine deutsche Übersetzung des einschlägigen terminus technicus aus Nietzsches Philosophie, décadence, aus. Indessen gibt es durchaus Indizien, die die Eindeutigkeit dieses Erklärungsmodells, auf das der Roman zweifellos Bezug nimmt und an dessen Verbindlichkeit für den Text in der Forschung wenig Zweifel existieren, in Frage stellen. Dies beginnt mit der schon erwähnten Diskussion über die Ursachen des Niedergangs des Vorbesitzers des Hauses der Buddenbrooks und setzt sich fort in den Überlegungen des Erzählers zu den Konsequenzen des Unwohlseins, das Christian Buddenbrook nach dem reichlichen Festmahl anläßlich der Einweihung des neuen Hauses überkommt und das der Hausarzt Dr. Grabow wie gewohnt herunterspielt: »Er, Friedrich Grabow, war nicht derjenige, welcher die Lebensgewohnheiten aller dieser braven, wohlhabenden und behaglichen Kaufmannsfamilien umstürzen würde. Er würde kommen, wenn er gerufen würde, und für einen oder zwei Tage strenge Diät empfehlen, – ein wenig Taube, ein Scheibchen Franzbrot … ja, ja – und mit guten Gewissen versichern, daß es für diesmal nichts zu bedeuten habe. Er hatte, so jung er war, die Hand manches wackeren Bürgers in der seinen gehalten, der seine letzte Keule Rauchfleisch, seinen letzten gefüllten Puter verzehrt hatte und, sei es plötzlich und überrascht in seinem Comptoirsessel oder nach einigem Leiden in seinem soliden alten Bett, sich Gott befahl. Ein Schlag, hieß es dann, eine Lähmung, ein plötzlicher und unvorhergesehener Tod … ja, ja, und er, Friedrich Grabow, hätte sie ihnen vorrechnen können, alle die vielen Male, wo es ›nichts auf sich gehabt hatte‹, wo er vielleicht nicht einmal gerufen war, wo nur vielleicht nach Tische, wenn man ins Comptoir zurückgekehrt war, ein kleiner, merkwürdiger Schwindel sich gemeldet hatte …« (Mann [s. Anm. 2], S. 39 f.). Sollte am Ende nicht ein metaphysisches Prinzip der décadence, sondern schlicht eine dem Wohlstand geschuldete, allzu üppige und deshalb der Gesundheit abträgliche Ernährung die Ursache biologischen Niedergangs sein? Und dass biologische Degeneration in der Tat durchaus nicht erst das Ergebnis und die Folge einer langen Familiengeschichte sein muss, geht aus der Person Herrmann Hagenströms, des homo novus und Parvenüs hervor, der insoweit alle Vitalität des Erfolgs auf seiner Seite hat. Doch beim 100jährigen Firmenjubiläum der Buddenbrooks wirkt bereits er merkwürdig kränklich: »Konsul Herrmann Hagenström hat für seinen schweren Körper eine Stütze am Treppengeländer gefunden und plaudert, während seine platt auf der Oberlippe liegende Nase ein wenig mühsam in den rötlichen Bart hineinatmet« (ebd., S. 538). Und wäre der letzte Spross der Familie, der musikbegabte Hanno, am Ende sehr viel vitaler, als es sein früher Tod suggerieren mag? Wäre er vielleicht einer eher kontingenten Ansteckung durch den Typhus erlegen und keineswegs von Anfang an zum zeitigen Sterben bestimmt gewesen? Eines Abends trifft Tony Buddenbrook Ida Jungmann an, als sie Hannos Strümpfe stopft, worüber sich Tony ein wenig zu wundern scheint: »›Du stopfst, Ida. Merkwürdig, ich kenne dich eigentlich gar nicht anders!‹ ›Ja, ja, Tonychen … Was das Jungchen Alles zerreißt, seit er zur Schule geht!‹ ›Aber er ist doch ein so stilles und sanftes Kind?‹ ›Ja, ja ... Aber doch‹« (ebd., S. 507). Der Roman setzt also in verschiedener Hinsicht Zeichen, dass ein an Nietzsche orientiertes Dekadenzmodell keineswegs eine zwingende Erklärung für den Verfall einer Familie bietet, den die Geschichte der Buddenbrooks darstellt, obwohl es eine keineswegs grundsätzlich in Frage gestellte Möglichkeit der Plausibilisierung des Handlungsverlaufs bereithält. Läge womöglich eine besonders ironische Pointe des Umgangs mit Nietzsches décadence-Konzept darin, dass das von ihm genannte ›Gegenmittel‹ gegen alle décadence, der Wille zur Macht, sich letztlich als eine Ursache der décadence erweist? Im Blick auf Thomas Buddenbrook ist eine solche Frage keineswegs unangebracht. Denn verschiedentlich stellt sich der Eindruck ein, dass er seine Kräfte überfordere und gerade dadurch seine Gesundheit ruiniere. Zweifellos will er, schon vor dem Aufstieg zum Senator, den Erfolg unbedingt erzwingen: »So arbeitete er und zwang den Erfolg, denn sein Ansehen wuchs in der Stadt, und trotz der Kapitalsentziehungen durch Christians Etablierung und Tonys zweite Heirat hatte die Firma vortreffliche Jahre. Bei alledem aber gab es manches, was für Stunden seinen Mut lähmte, die Elasticität seines Geistes beeinträchtigte, seine Stimmung trübte« (ebd., S. 399). Manches deutet darauf hin, dass es diese Unbedingtheit des Erfolgswillens ist, die Thomas seiner Vitalität beraubt: »Unsere Wünsche und Unternehmungen gehen aus gewissen Bedürfnissen unserer Nerven hervor, die mit Worten schwer zu bestimmen sind. Das, was man Thomas Buddenbrooks ›Eitelkeit‹ nannte, die Sorgfalt, die er seinem Äußeren zuwandte, der Luxus, den er mit seiner Toilette trieb, war in Wirklichkeit etwas gründlich Anderes. Es war ursprünglich um nichts mehr, als das Bestreben eines Menschen der Aktion, sich vom Kopf bis zur Zehe stets jener Korrektheit und Intaktheit bewußt zu sein, die Haltung gibt. Die Anforderungen aber wuchsen, die er selbst und die Leute an seine Begabung und seine Kräfte stellten. Er war mit privaten und öffentlichen Pflichten überhäuft. […] Wenn das Merkwürdige zu beobachten war, daß gleichzeitig seine ›Eitelkeit‹, das heißt dieses Bedürfnis, sich körperlich zu erquicken, zu erneuern, mehrere Male am Tag die Kleidung zu wechseln, sich wieder herzustellen und morgenfrisch zu machen, in auffälliger Weise zunahm, so bedeutete das, obgleich Thomas Buddenbrook kaum 37 Jahre zählte, ganz einfach ein Nachlassen seiner Spannkraft, eine raschere Abnützbarkeit …« (ebd., S. 460). Wäre der Wille zur Macht also am Ende die Ursache der décadence? Wie immer die Antwort auf diese Frage, die die Möglichkeit einer Umkehrung von Nietzsches metaphysischer Anthropologie in Erwägung zieht, ausfallen mag; es ist keineswegs so gewiss, wie ein inzwischen kanonischer Konsens der Germanistik es nahezulegen scheint, dass die Philosophie Nietzsches ein hinreichendes respektive erschöpfendes Modell der Erklärung für jenen Verfall einer Familie bietet, den die Buddenbrooks erzählen. Wenn dieser Roman mit der Koexistenz alternativer Erklärungsmodelle operiert, dann lässt sich dieser Sachverhalt allerdings ebenso wenig im Sinne Lotmans als die schlichte Manifestation der grundsätzlichen Polysemie literarischer Modellbildungen, d. h. als bloße Repräsentation der medialen Bedingungen der Literatur verstehen. Er hat vielmehr seinerseits eine Botschaft zum Inhalt. Er ist Ausdruck einer elementaren Skepsis, die die Möglichkeit einer eindeutigen Erklärbarkeit der Wirklichkeit als solche zur Disposition stellt.
»Wissenschaftliche Wahrheit existiert in jeweils einem semantischen Feld, künstlerische gleichzeitig in mehreren, in deren Korrelation zueinander.« (Lotman [s. Anm. 18], S. 353). Interessanterweise spricht Lotman hier in beiden Fällen unterschiedslos von »Wahrheit«, führt den Unterschied also allein auf die Opposition von Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit zurück.
»Aus den oben angestellten Überlegungen ergibt sich, daß man den künstlerischen Text als einen vielfach kodierten Text ansehen kann. Genau diese Eigenschaft ist gemeint, wenn man davon spricht, daß das künstlerische Wort vieldeutig sei, daß man Poesie nicht in Prosa, ein Kunstwerk nicht in nichtkünstlerischer Sprache reproduzieren könne.« (Ebd., S. 95).
Dieser Sachverhalt zeigt sich schon allein daran, dass die Suche nach wirklichkeitsstrukturierenden Mustern ja keineswegs auf poetische Texte beschränkt ist. Sie lässt sich gleichermaßen für eine historiographische Darstellung wie für ein Gesetzesbuch in Angriff nehmen. Auch für sie lässt sich danach fragen, welche allgemeinen Annahmen ihr Wirklichkeitskonzept determinieren: welche Sozialstrukturen für die im Gesetzestext formulierten juristischen Normen vorausgesetzt werden oder welche Implikationen über historische Evolution in einer Geschichtsdarstellung stecken. Der Unterschied besteht nur darin, dass die Bezugnahme betreffender Diskurstypen auf die Wirklichkeit nicht auf einen solchen – hermeneutischen – Zugriff beschränkt bleibt, sondern einer – gemessen an ihrem jeweiligen pragmatischen Anspruch – nachrangigen Betrachtungsweise geschuldet ist. Bei fiktionalen Texten bleibt die Annahme einer solchen Wirklichkeitsreferenz hingegen die dominante Form ihrer Bezugnahme auf die außersprachliche Welt.
Vgl. Anm. 26.
Ich greife hier einige Überlegungen auf, die ich andernorts bereits entwickelt habe. Siehe hierzu Kablitz, Andreas: Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur. Freiburg i. Br./Berlin/Wien: Rombach, 2. Aufl. 2016 (2013).
Kablitz, Andreas: »Vom Nutzen und Nachteil eines Neologismus: Derridas différance«. In: Sprache und Literatur 49 (2020), S. 295–330. Um hier nur die beiden zentralen Argumente der in diesem Artikel entwickelten Auseinandersetzung mit Derridas Sprachkonzeption zu resümieren: Es sind vor allem zwei Grundannahmen seiner Sprachtheorie, die sie m. E. um ihre Plausibilität bringen. Die erste der beiden betrifft den Referenten sprachlicher Zeichen: Derrida versteht das Zeichen als dessen Ersatz, begreift Repräsentation in diesem Sinn als Stellvertretung. Doch das sprachliche Zeichen ist – seiner Natur entsprechend – eine Bezugnahme; es setzt mitnichten die Absenz dessen, wofür es steht, voraus. Die zweite, für sein Sprachverständnis elementare Annahme Derridas betrifft das Verständnis der Beziehung der Zeichen innerhalb der Sprache selbst. Er geht aus von Saussures Begriff der Opposition, die im Cours de linguistique générale zum grundlegenden Organisationsprinzip der Sprache insgesamt erklärt wird: »dans la langue, il n’y a que des différences«. De Saussure, Ferdinand: Cours de linguistique générale. Paris: Payot, 1974, S. 166. (›In der Sprache gibt es nur Unterschiede.‹ [Sämtliche Übersetzungen fremdsprachlicher Zitate in diesem Artikel stammen, soweit nicht anders angegeben, aus der Feder des Verfassers.]) Oppositionsrelationen aber haben einen logischen Status, Derrida verwandelt sie hingegen in zeichenhafte Beziehungen. Doch ›Mann‹ verweist ebenso wenig auf ›Frau‹, wie das Umgekehrte gilt. Oppositive Terme implizieren einander, aber sie sind nicht durch semiotische Relationen aufeinander bezogen. Erst diese in der Sache nicht begründete Transformation der logischen Oppositionsrelation in ein semiotisches Verhältnis bietet allerdings die Grundlage für Derridas Umbesetzung der saussureschen différence in seine différance, die alle sprachliche Bedeutung zum Aufschub ihrer selbst macht, statt sie als einen Effekt von Unterscheidungen zu begreifen. Aber insofern diese Reinterpretation von Saussures Basiskonzept der Sprache ihrer konzeptuellen Grundlage entbehrt, gelingt es Derrida kaum, sie überzeugend zum Eckstein seiner Sprachtheorie zu erklären.
Auch Paul de Man hat das Faktum der Fiktion des literarischen Textes zum Ausgangspunkt seiner Theorie der Semantik des literarischen Textes gemacht, allerdings in gänzlich anderer Weise als in diesem Beitrag vorgeschlagen. Sein Ansatz ist letztlich kein informationstheoretischer, sondern ein ontologischer: Literatur dient ihm als Medium der Aufklärung – als ein Metadiskurs, der die Täuschungen der Sprache, ihren illusionären Anspruch auf die Repräsentation einer außersprachlichen Wirklichkeit bloßzulegen hat. ›Fiktion‹ gilt de Man deshalb nicht als eine spezifische Form der Sprachverwendung, sondern als eben ontologische Kategorie, die das Wirklichkeitsverhältnis der Sprache schlechthin charakterisiert: »Literature is fiction not because it somehow refuses to acknowledge ›reality‹, but because it is not a priori certain that language functions according to principles which are those, or which are like those, of the phenomenal world« (de Man, Paul: The Resistance to Theory. Manchester: Manchester Univ. Press 1986, S. 11). Und mag man in dieser Formulierung noch einen Rest an Zurückhaltung gegenüber dem Postulat verspüren, dass die Fiktion im Bund mit der tatsächlichen ontologischen Grundlosigkeit der Welt steht, so lässt de Man andernorts daran keinen Zweifel mehr aufkommen: »Here the human self has experienced the void within itself and the invented fiction, far from filling the void, asserts itself as pure nothingness, our nothingness stated and restated by a subject that is the agent of its own instability« (de Man, Paul: Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. Minneapolis: Univ. of Minnesota Press, 2. Aufl. 1983, S. 19). Zu den Konsequenzen dieser Theorie aber zählt es, dass de Man dem Umgang mit der Literatur ein Dekodierungsverfahren vorschreibt, das die Entlarvung der unhintergehbaren Rhetorizität aller Rede zum Ziel hat und zu diesem Zweck vorzüglich ihre irreduzible Vieldeutigkeit aufdeckt. Doch der Aufweis einer solchen nicht aufzuhebenden Polysemie hat bezeichnenderweise das Gegenteil ihrer selbst zur Folge. Denn im Sinne der aufklärerischen Leistung, die eine solche Interpretation zu erbringen hat, besitzen alle literarischen Texte letztlich die gleiche Bedeutung: Sie alle dienen dazu, die anderweitig wirksamen und nur in der Literatur zu durchschauenden Repräsentationsillusionen der Sprache offenbar zu machen. De Mans Erklärung der Literatur zum Metadiskurs, und das heißt: ihre Verwandlung in ein Instrument der Theorie, bedingt folglich eine extreme semantische Verknappung der Literatur, die dadurch schlechthin auf die immer gleiche Botschaft festgelegt wird: Sprache ist Repräsentationsillusion. Aber liest man eigentlich die Buddenbrooks, um sich darüber belehren zu lassen? (Übrigens gälte es, bereits bei den Prämissen dieser These anzusetzen. Denn es ist äußerst fraglich, dass sich Sprache als eine Repräsentation von Wirklichkeit überhaupt angemessen beschreiben lässt. Sie bietet keine Repräsentation von Wirklichkeit, sondern gründet auf einer Information über sie. Die logische Struktur von Informationen aber unterscheidet sich maßgeblich von derjenigen einer Repräsentation. Dies im Einzelnen zu erörtern, ist hier gewiss nicht der Ort; allerdings bedingt die Verwechslung zwischen beiden Kategorien eine zu weiten Teilen verfehlte Auffassung über das Funktionieren der Sprache sowie der sich dieses Mediums bedienenden Literatur.) De Mans Allegories of Reading – so der Titel seines Buches Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust. New Haven/London: Yale Univ. Press, 1979 – zielen auf eine Selbstvergewisserung über die stillschweigenden Annahmen unseres Umgangs mit Sprache, die es zu erschüttern gilt. Doch de Man übersieht, dass es bei dieser der Literatur verordneten Zugangsweise vor allem um eine Selbstbegründung seiner Theorie gilt, die es solchermaßen durchzusetzen und zu befestigen gilt. Doch Literatur ist kein guter Kandidat für ihre Ernennung zur Sachwalterin der Sprachtheorie. Natürlich kann ein literarischer Text ein solches theoretisches Anliegen betreiben. Moderne Lyrik liefert zweifellos etliche plastische Beispiele dafür. Aber Literatur lässt sich nicht grundsätzlich als ein Medium der Sprachkritik vereinnahmen. Ein solches Postulat verwechselt den Gegenstand der Literaturtheorie mit dieser Theorie selbst.
Ingarden, Roman: »Konkretisation und Rekonstruktion«. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: Fink, 1975, S. 42–70, hier S. 43.
»Eine solche Stelle zeigt sich überall dort, wo man auf Grund der im Werk auftretenden Sätze von einem bestimmten Gegenstand (oder von einer gegenständlichen Situation) nicht sagen kann, ob er eine bestimmte Eigenschaft besitzt oder auch nicht. Wenn etwa in den Buddenbrooks die Augenfarbe des Konsuls Buddenbrook nicht erwähnt wäre (was ich nicht nachgeprüft habe), dann wäre er in dieser Hinsicht ü b e r h a u p t n i c h t b e s t i m m t, obwohl zugleich auf Grund des Kontextes und der Tatsache, daß er ein Mensch war und der Augen nicht beraubt, implicite bekannt ist, daß er i r g e n d e i n e Augenfarbe haben mußte, nur welche wäre nicht entschieden« (ebd., S. 44). Was im Übrigen die Augen des Konsuls betrifft, so trifft Ingardens Vermutung nicht zu. Bei ihrer ersten Erwähnung wird ihre Ähnlichkeit mit den Augen seines Vaters hervorgehoben, deren Farbe durchaus bekannt ist: »Er hatte die ein wenig tief liegenden, blauen und aufmerksamen Augen seines Vaters, wenn ihr Ausdruck auch vielleicht träumerischer war« (Mann [s. Anm. 2], S. 11). Desgleichen heißt es etwas später, er »ließ dann und wann einen kurzen Blick seiner kleinen, runden, tiefliegenden Augen zum oberen Tischende hinaufschweifen« (ebd., S. 25), ein Merkmal, das auch später verschiedentlich hervorgehoben (s. S. 79, 208, 234) und ebenso für die Augen seines Sohnes Christian immer wieder, gleichsam leitmotivartig festgestellt wird, der es seinerseits als ein biologisches Erbteil seines Vaters an sich trägt (s. S. 39, 285, 299, 326, 352, 444, 486, 494, 629 f., 634, 731, 756). In der Tat wird in all diesen Textstellen die Farbe der Augen nicht ein einziges Mal erwähnt, doch kann es kaum einen Zweifel geben, dass der alte Johann Buddenbrooks seine blauen Augen seinem Sohn wie seinem Enkel vererbt hat.
»Besonders die Schicksale der Menschen und Dinge weisen sehr viele Unbestimmtheitsstellen auf« (Ingarden [s. Anm. 34], S. 44).
»Die Behandlung dieser ganzen Problematik erlaubt dem Forscher vorauszusehen, zu welchen und in welchem Grad ästhetisch wertvollen Konkretisationen das betreffende Werk (unter der Voraussetzung eines empfänglichen und ästhetisch aktiven Lesers) führen kann. Dies erzielt man aber noch immer, ohne die Entscheidung zu treffen, welche von den möglichen Konkretisationen die ›richtige‹ ›Interpretation‹ des betreffenden Werkes bildet« (ebd., S. 61).
Ebd., S. 42.
Vgl. zu den hier erörterten Fragen meinen im Druck befindlichen Artikel »Transformationen des Mimesis-Konzepts in der Neuzeit oder Warum wird die Theorie der Kunst die Nachahmung nicht los?« In: Internationale Zeitschrift für Kulturkomparatistik 5 (2021).
Vgl. Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Mœurs de province. Hier zitiert nach: Flaubert, Gustave: Œuvres. Hg. und kommentiert von Albert Thibaudet und René Dumesnil. Paris: Gallimard, 1951, S. 611.
In diesem Sinn ist es auch verfehlt, die Welt eines literarischen Textes als ein abgeschlossenes Ganzes zu verstehen, das gegenüber der empirischen Welt des Alltags disjunkt wäre. Auch in dieser Hinsicht kann der historische Roman belegen, dass es sich anders verhält: Tritt in einem fiktionalen Text eine bekannte historische Größe, sagen wir Napoleon, auf, dann gilt für sie noch immer das, was wir über sie aus historischen Darstellungen wissen – es sei denn, der Text nimmt an Bekanntem Veränderungen vor, oder er trifft Aussagen, die eines historischen Belegs entbehren. Aber selbst dann gilt ansonsten weiterhin alles, was wir über Napoleon wissen – wobei dieses Wissen, sofern es nicht ausdrücklich zum Gegenstand der Rede gemacht ist, für den Text nur dann von Belang ist, wenn es dort eine semantische Funktion gewinnt. (Dafür ein, wie mir scheint, besonders plastisches Beispiel aus einem Roman Italo Calvinos: Gegen Ende der Handlung des Barone rampante [dt. Der Baron auf den Bäumen] tritt nach dem Sieg der Verbündeten über Napoleon in Frankreich ein russischer Offizier auf, der sich als Fürst André [»Je suis le Prince André«] vorstellt [Calvino, Italo: Il barone rampante. Turin: Einaudi, 11. Aufl. 1984, S. 241]. Nun gibt es aus den literarischen Darstellungen der Napoleonischen Feldzüge in der Tat eine bekannte Figur, die diesen Namen trägt: Fürst Andrej Bolkonski aus Leo Tolstois Krieg und Frieden. Über ihn aber wird in diesem Roman erzählt, dass er während Napoleons Russlandfeldzug infolge einer schweren Verwundung in der Schlacht bei Borodino seinen Verletzungen erliegt. Er kann deshalb unmöglich an der Besetzung Frankreichs durch die siegreichen Truppen beteiligt sein. Von Belang aber ist das Wissen um diese Figur aus Tolstois Roman, insofern es ein facettenreiches Spiel um die Fiktion der Darstellung ermöglicht: Nicht nur spielt der Text damit, dass in einem historischen Roman eine fiktive Gestalt aus einem anderen historischen Roman auftritt, er spielt zugleich mit der Ungewissheit, ob es sich überhaupt um eine Bezugnahme auf Tolstois Andrej Bolkonski handeln kann. So nimmt sich Calvinos Prince André wie eine Allegorie, wie eine mise an abyme der Ungewissheiten aus, mit denen die Feststellung intertextueller Referenzen grundsätzlich behaftet ist.) Die hier vertretene Auffassung, der zufolge die Trennung zwischen der historischen Wirklichkeit und der Welt eines Romans keine kategoriale ist, könnte auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, als stehe dies im Widerspruch zu der zugleich vertretenen These von der Unaufhebbarkeit der Grenze fiktionaler Texte, der Unmöglichkeit sie fortzusetzen. Doch dieser Widerspruch erweist sich bei näherem Zusehen als ein nur scheinbarer. Denn unser Wissen über eine Romanfigur stellt nicht mehr als eine Voraussetzung der Deutung einer Figur dar, die zudem beständig unter dem Vorbehalt ihrer Revidierbarkeit steht. Dieses Wissen dient als eine Dekodierungshilfe für das ausdrücklich Gesagte, vermag explizite Äußerungen hingegen nicht zu ersetzen. Auch noch so intime Kenntnisse der Biographie Giuseppe Verdis ermöglichen es nicht, Franz Werfels Roman der Oper über dessen Ende hinaus fortzusetzen.
Hier zitiert nach: Iser, Wolfgang: »Die Appellstruktur der Texte«. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: Fink, 1975, S. 228–252.
»Zunächst wird man sagen müssen, daß er [der literarische Text, A. K.] sich von all jenen Textarten unterscheidet, die einen Gegenstand vorstellen oder mitteilbar machen, der eine vom Text unabhängige Bedeutung besitzt« (ebd., S. 231). Allerdings sollte man hier den Begriff der »Bedeutung« durch denjenigen der ›Existenz‹ ersetzen. (Sollte Isers Rede von Bedeutung an dieser Stelle womöglich verräterisch sein?)
»Ein literarischer Text bildet weder Gegenstände ab noch erschafft er solche in dem beschriebenen Sinne, bestenfalls wäre er als die Darstellung von Reaktionen auf Gegenstände zu beschreiben. […] Wenn er Reaktionen auf Gegenstände zu seinem Inhalt hat, dann offeriert er Einstellungen zu der von ihm konstituierten Welt. Seine Realität gründet nicht darin, vorhandene Wirklichkeit abzubilden, sondern darin, Einsichten in diese parat zu halten« (ebd., S. 232). Auch die Umdeutung von Reaktionen in Einsichten entbehrt allerdings letztlich einer Begründung. Sie überdehnt zugleich die Möglichkeiten literarischer Modellbildung. Denn alles, was ein literarischer Text bieten kann, sind Erklärungen für die von ihm gestaltete Wirklichkeit. Dass es sich dabei um triftige Erklärungen – denn eben dies setzt der Begriff der Einsicht voraus – für die unabhängig von ihnen existente Wirklichkeit handelt, bleibt eine bloße Potentialität. So kann es sich ja etwa auch um utopische Entwürfe handeln. Es kann also bestenfalls um Einstellungen gehen.
Ebd., S. 233.
Jauß, Hans R.: »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft«. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: Fink, 1975, S. 126–162, hier S. 138 f.
Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2: Das philosophische Werk I. Hg. von Richard Samuel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 3. Aufl. 1981, S. 826, Nr. 387.
Stanzel, Franz K.: Typische Formen des Romans. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1964.
Vgl. zum Folgenden auch bereits Kablitz, Andreas: »Realism as a Poetics of Observation. The Function of Narrative Perspective in the Classic French Novel: Flaubert–Stendhal–Balzac«. In: Tom Kindt/Hans-Harald Müller (Hg.): What is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory. Berlin/New York: de Gruyter, 2003, S. 99–135, sowie die Stellenauswahl bei Stein, Juana C.: Melancholie als poetologische Allegorie. Zu Baudelaire und Flaubert. Berlin/Boston: de Gruyter, 2018, bes. S. 192.
Flaubert (s. Anm. 40), S. 293.
So äußert Gide in seinem Tagebuch: »des choses que je me permets de penser, que je me permets un peu moins de dire, et que je ne permets aux autres de dire pas du tout. Par exemple: que le commencement de Madame Bovary est fort mal écrit« (Gide, André: Journal 1889–1939. Paris: Gallimard, 1948, S. 208, Eintrag vom 15. April 1906).
Bei ihr heißt es dazu: »the transition to the third person, without warning, is somewhat clumsy, and one cannot help feeling that there has been here an error in technique« (Starkie, Enid: Flaubert. Bd. 1: The Making of the Master. London: Weidenfeld & Nicolson, 1967, S. 292).
Diesen Nachweis hat überzeugend geführt Gothot-Mersch, Claudine: La Genèse de Madame Bovary. Paris: Corti, 1966, S. 234–239.
Siehe hierzu Raitt, Alain: »Nous étions à l’étude«. In: La Revue des Lettres Modernes. Gustave Flaubert 2. Mythes et Religions (1986), S. 161–192, hier S. 167: »Et le nous initial nous rend tous un peu responsables de sa défaite, comme nous le sommes de l’humiliation de Charles.«
Brombert, Victor: The Novels of Flaubert. A Study of Themes and Techniques. Princeton: Princeton Univ. Press, 1966, S. 42: »We are gradually led to the unique perspective of Emma. But this is achieved progressively: Charles serves as a transition. The mysterious nous can thus be considered part of those subtle modulations whereby Flaubert guides our vision to the very center of tragedy, while exploiting all the possibilities of an ironic distance.«
Jonathan Culler hat diesen Sachverhalt zum Ausgangspunkt seiner Deutung des gesamten Anfangs von Madame Bovary genommen: Culler, Jonathan: Flaubert. The Uses of Uncertainty. London, Elek 1974: »There may be a suggestion that most novels are unrealistic in the amount of detail the narrators are supposed to recall, but that is very much incidental to the main point: that the text is not narrated by anyone and that the attempt to read it as if it were can lead only to confusion« (S. 112). Ich lasse den zweiten Teil von Cullers Interpretation, seine These vom sprecherlosen Text, hier unkommentiert. Wir werden später sehen, dass Flauberts irritierende Verwendung des Personalpronomens nous letztlich auf genau das Gegenteil dieses dekonstruktiv angehauchten poetologischen Programms zielt. Aber schon die etwas vorsichtiger vorgetragene Behauptung, der Anfang von Madame Bovary suggeriere die Einsicht, dass die Detailfülle der meisten Romane unrealistisch sei, sieht über die spezifischen Umstände dieses Romans hinweg und bleibt insoweit die Begründung ihres Generalisierungspotentials schuldig.
Solche Muster der Darstellung, die die impassibilité der Natur gegenüber dem Unglück der Menschen, ihr radikales Desinteresse an ihrem Geschick, herausstellen, mag Thomas Mann bei Flaubert gelernt haben. Als Senator Thomas Buddenbrook nach seinem Zusammenbruch zu Tode gebettet liegt, heißt es in den Buddenbrooks, wie folgt: »Als Doktor Langhals zurückkehrte, der ein wenig nach Hause gegangen war, fand er Alles beim Alten. Er nahm nur eine kurze Rücksprache mit der Pflegerin und empfahl sich wieder. Auch Doktor Grabow sprach noch einmal vor, sah mit mildem Gesicht nach dem Rechten und ging. Thomas Buddenbrook fuhr fort, gebrochenen Auges die Lippen zu bewegen und gurgelnde Laute auszustoßen. Die Dämmerung fiel ein. Draußen gab es ein wenig winterliches Abendrot, und es beschien durchs Fenster sanft die besudelten Kleidungsstücke, die irgendwo über einem Stuhle hingen.« (Mann [s. Anm. 2], S. 754). Dieser Sonnenuntergang im Zeichen von Thomas’ Ableben aber, der mit seinem abendlichen Glanz den Schmutz der verunreinigten Kleidungsstücke nur um so sinnfälliger hervortreten lässt, zitiert seinerseits einen zweiten Sonnenuntergang, der durchaus in einem Zusammenhang mit dem Ende des Senators steht: Zusammengebrochen ist er vor dem Blumenladen seiner Jugendliebe Anna, mit der eine dauerhafte Verbindung aufgrund ihrer sozialen Unterschiede freilich von Anfang an ausgeschlossen war. Schon bei ihrem Abschied aber bestimmte ein Sonnenuntergang die Stimmung dieser Szene: »Hier drinnen war es warm. Ein feuchter Duft von Erde und Blumen lag in dem kleinen Laden. Draußen schickte schon die Wintersonne sich an, unterzugehen. Ein zartes, reines und wie auf Porzellan gemalt blasses Abendrot schmückte jenseits des Flusses den Himmel. Das Kinn in die aufgeschlagenen Kragen ihrer Überzieher versteckt, eilten die Leute am Schaufenster vorüber und sahen nichts von den Beiden, die in dem Winkel des kleinen Blumenladens voneinander Abschied nahmen« (ebd., S. 184). Dass der Text der Buddenbrooks eine Verbindung zwischen der unerfüllten Jugendliebe des jugendlichen Thomas und dem Tod des früh gealterten Senators herstellt, ist insoweit kaum zu übersehen. Selbst ein »feuchter Duft von Erde und Blumen« lässt schon an ein Grab denken. Aber ebenso offensichtlich wie diese Verbindung als solche ist die Zurückhaltung des Textes im Hinblick auf die Deutung dieses Zusammenhangs. Wäre er dem schieren Zufall geschuldet? Oder gäbe es eine sachliche Beziehung zwischen beidem? Wäre eine nie verwundene Entsagung, der sozialem Zwang folgende Verzicht auf die Erfüllung seiner Liebe ursächlich am frühen Tod des Thomas Buddenbrook beteiligt? Der Roman schweigt sich darüber aus. Doch selbst dieses Schweigen, das alternative Möglichkeiten der Interpretation eröffnet, ist bedeutungshaltig, gibt es doch die Abgründigkeit einer Welt zu erkennen, für die letztlich ungewiss bleibt, »was sie im Innersten zusammenhält«.
Eine der subtilsten Analysen dieser Romanfigur findet sich bei Schulz-Buschhaus, Ulrich: »Homais oder die Norm des fortschrittlichen Berufsbürgers. Zur Interpretation von Flauberts Madame Bovary«. In: Romanistisches Jahrbuch 28 (1977), S. 126–149. Schulz-Buschhaus gelingt es überzeugend zu zeigen, wie Flaubert den zeitgenössisch durchaus positiv bewerteten Sozialtypus des Apothekers Homais – antiklerikal, der Wissenschaft zugetan und fortschrittsgläubig –, dem die Zukunft zu gehören scheint, dennoch einer ironischen Zersetzung preisgibt, die ihn zu einer selbstgefällig-eitlen, letztlich lächerlichen Figur macht. Seine finale Ehrung mit der Auszeichnung durch das Kreuz der Ehrenlegion erscheint in Flauberts Roman deshalb als der Schlussstein einer ironischen Vernichtung jener Welt, die sich mit der Prämierung dieses kläglichen Apothekers selbst richtet.
Flaubert (s. Anm. 40), S. 611.
Genette, Gérard: Figures. III. Paris: Éditions du Seuil, 1972, S. 232.
So in Flauberts Brief an Louise Colet vom 9. Dezember 1852 (Flaubert, Gustave: Correspondance, Bd. 2: Juillet 1851 – décembre 1858. Hg. v. Jean Bruneau. Paris: Gallimard, 1980, S. 204). [›Der Autor muss in seinem Werk ebenso gegenwärtig sein wie Gott im Universum: überall anwesend, nirgends sichtbar.‹]
Eine Alternative besteht darin, den Text in einem wesentlich außersemantischen Sinne zu betrachten. Genau dieses Vorhaben ist die Grundlage des von Susan Sontag in Against Interpretation formuliertem Postulat einer erotics of art gewesen, das in der jüngeren Literaturwissenschaft vor allem in Hans Ulrich Gumbrecht einen Befürworter gefunden hat. Denn auch sein Plädoyer, in poetischen Texten nach Präsenzeffekten zu suchen, hat einen entschieden antihermeneutisch ausgerichteten Impetus. Schon der Titel seines programmatischen Textes gibt diese Tendenz zu erkennen: Production of Presence. What Meaning Cannot Convey, Palo Alto: Stanford Univ. Press, 2004. Gumbrechts Theorie des literarischen Textes präsentiert sich gleichsam wie eine Inversion derjenigen seines akademischen Lehrers Hans Robert Jauß, der den Text – wie gesehen – letztlich in die Vielfalt seiner durch Interpretation gewonnenen Bedeutungen auflöste. Streng logisch betrachtet, stellt sich allerdings die Frage, ob beide Positionen sich wirklich so radikal unterscheiden, wie es ein vordergründiger Eindruck nahelegen mag. Denn das Ausbleiben eines Kriteriums für die Bestimmung der Semantik des literarischen Textes, die einer Freisetzung seiner Bedeutung gleichkommt und ihn damit letztlich der Möglichkeit jedweder Interpretation überantwortet, und der Entzug einer Semantik stellen letztlich vergleichbare Programme für seine Semantik dar. Eine nicht zu arretierende Entgrenzung der Bedeutung eines Textes und die Betonung der Nachrangigkeit seiner Semantik sind darum im Grunde alternative Varianten eines Entzugs seiner Bedeutung. Es kommt hinzu, dass im Fall der Wortkunst die Zuschreibung von ästhetischen Wirkungen kaum um die Arbeit an der Textbedeutung herumkommt. Anders als Musik oder Malerei, die unmittelbar einen bestimmten Sinn, den Gehörsinn oder Gesichtssinn, ansprechen, wartet die Sprache auch in Gestalt eines sprachlichen Artefaktes – sehen wir einmal von der Besonderheit der Konstitution von Lautmustern in bestimmten Erscheinungsformen von Literatur ab – mit bedeutungshaltigen Worten auf. Und selbst im Falle der Lyrik hebt die metrische Strukturierung die Semantik ja nicht auf. (Deren Problematisierung tritt vielmehr als ein historischer Prozeß auf dem Weg in die Moderne, keineswegs jedoch als eine generische Bestimmtheit lyrischen Dichtens auf.) Statt zu einer Aufhebung der Semantik durch klangliche Ordnungsbildung kommt es im lyrischen Text zu einer Hinzufügung einer zusätzlichen Ebene der Strukturierung. Aber wie sollte man die ästhetische Wirkung der Buddenbrooks unabhängig von einer Charakteristik der Bedeutung der darin zum Einsatz kommenden Sprachzeichen zur Sprache bringen? Gumbrechts eigene Demonstrationen seiner Präsenz-Theorie sind womöglich der beste Beleg für die betreffende Unvermeidlichkeit; denn auch sie kommen ohne einen »Umgang mit Texten« im durchaus hermeneutischen Sinn dieses Begriffs nicht aus. (Vgl. etwa ders.: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München: Hanser, 2011.)
Die Anbindung der Motivation einer literarischen Hermeneutik an dieses allgemeine Regulativ sprachlicher Kommunikation begründet übrigens einen wesentlichen Unterschied gegenüber einer interpretatorischen Praxis, die man mit dem Namen der Allegorese verbindet. Sie hat in der westlichen Kultur ihren klassischen Ort in der Bibelexegese, findet indessen im Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein auch auf literarische Texte Anwendung. In systematischer Hinsicht besteht die Differenz in einer Unterscheidung von Wahrheit und Bedeutung. Allegorische Interpretationen bilden den Text auf eine unabhängig von ihm als wahr geltende Aussage ab. Literarische Hermeneutik versucht hingegen, wie in diesem Artikel zu beschreiben versucht, eine Bedeutung aus Kohärenzmustern abzuleiten, die innerhalb des Textes selbst zu rekonstruieren sind. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Differenz zwischen Wahrheit und Bedeutung erhebliche Unterschiede für die jeweilige exegetische Praxis zur Folge hat. Eine literarische Interpretation ist ungleich aufwendiger, insofern sie allererst die Muster eines Textes zu rekonstruieren hat, denen sie dann eine Bedeutung zuordnet. Und dieser Aufwand erklärt sich nicht zuletzt von daher, dass der Maßstab der Geltung eines Interpretaments allein von seiner Relation zu dem zu interpretierenden Text abhängt und aus der Beziehung zu ihm heraus seine Plausibilität zu begründen hat. Dies verhält sich anders im Fall der Abbildung des Textes auf eine Aussage, deren Geltung unabhängig von seiner Beziehung zu dem zu interpretierenden Text ist. Unter diesen Voraussetzungen scheint es zu genügen, einen Text an eine präexistente Wahrheit anzupassen. Dafür mögen häufig auch eher punktuelle Ähnlichkeiten genügen. Denn die Deutung ist durch den Status des Interpretaments als einer Wahrheit gleichsam abgesichert. Der Nachweis der Pertinenz dieser Wahrheit für den betreffenden Text besitzt darum eine erheblich geringere Beweislast als dort, wo die Geltung der Interpretation sich allein aus der Korrespondenz zwischen dem Text und seiner Auslegung ergibt. Nicht zuletzt hieran liegt es, dass vormoderne Deutungen häufig heute üblichen Standards hermeneutischer Bearbeitung nicht standhalten. Man könnte zunächst meinen, dass die hier getroffene Unterscheidung von Wahrheit und Bedeutung mit einer epochalen Differenzierung zwischen einer vormodernen und einer modernen hermeneutischen Praxis zusammenfällt. Indessen scheint die gegenwärtige Literaturwissenschaft eine solche Annahme in Grenzen zu unterlaufen. Denn worin unterscheidet sie sich von einer allegorischen Praxis im beschriebenen Sinne, wenn die Wahrheit – welcher Theorie auch immer – vorausgesetzt wird, um einen literarischen Text daran anzupassen? (In methodischer Hinsicht unterscheiden sich die vielen vermeintlichen »Methoden der Literaturwissenschaft« denn auch konzeptuell auffällig wenig.)
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Kablitz, A. Literarische Hermeneutik. Z Literaturwiss Linguistik 51, 589–628 (2021). https://doi.org/10.1007/s41244-021-00241-z
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