Das Problem an Hermeneutik, als wissenschaftliche Methode betrachtet, ist nicht das Verstehen, sondern das Verstandenhaben. Zur wissenschaftlichen Analyse eines Textes und seiner Bedeutung bedarf es einer genauen Beschreibung seiner syntagmatischen Gestalt und einer theoriegeleiteten Rekonstruktion seiner paradigmatischen Dimension – Verfahrensanalyse und Kulturpoetik. Für die Rezeption kommen noch weitere Dimensionen hinzu, die man über Ästhetik, Literatursoziologie und andere Disziplinen erfassen kann, doch im Kern einer Literatur- als Textwissenschaft geht es um begrifflich objektivierbare Verhältnisse zwischen Zeichen.

Hermeneutik aber hat immer schon verstanden. »Wer einen Text verstehen will«, sagt Gadamer, »wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs […] besteht das Verstehen dessen, was dasteht.«Footnote 1 Das ist dankenswert deutlich: Die Erwartungen, mit denen man die hermeneutische Lektüre angeht, bestimmen dieselbe durch und durch. Die hermeneutische Lektüre ist im Kern eine selbstbestätigende Lektüre; sie bestätigt, was man bereits meint oder zu wissen meint, und man empfindet sie in dem Maße als gelungene, wie sie das tut.

Gadamer hätte das natürlich bestritten, und in der Tat habe ich im Zitat oben eine wesentliche Passage ausgelassen: Vom auszuarbeitenden Vorentwurf heißt es dort, dass er »freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt«.Footnote 2 Im mehrfachen Vollzug des hermeneutischen Zirkels soll sich das Vorverständnis, provoziert durch Widerstände des Textes gegen das Immer-schon-Verstandene, zu einem echten Verständnis läutern. Das ist die Idee, textethisch setzt sie einen »guten Willen« voraus, sich durch das zu Verstehende in seinem eigenen mentalen Bestand auch tatsächlich erschüttern, korrigieren oder doch wenigstens ergänzen zu lassen. Aber ein Zwang besteht hier nicht, und so verhält es sich damit ein wenig wie mit der Selbstverpflichtung der Industrie (zur Quote, zu umweltschützenden Maßnahmen, zur Selbstkontrolle etc.) – es klappt mal mehr und mal weniger gut, und insgesamt bleibt man meist doch lieber beim Altbewährten. Besser wären demnach verpflichtende Regeln (also Verfahrensanalyse und Kultursemiotik, siehe oben).

Dass ein Großteil kommunikativen und naiven Textverstehens in seinem Ablauf mit diesem selbstbestätigenden Zirkel richtig beschrieben ist, lässt sich kaum leugnen. Das spricht aber nicht für eine Wiederaufwertung von Hermeneutik als literaturwissenschaftlicher Methode. Der Ruf danach fügt sich, fürchte ich, nur allzu gut in einige Tendenzen im Literaturverständnis der Gegenwart, Tendenzen, die eine Literaturwissenschaft als Wissenschaft meines Erachtens eher konterkarieren als verstärken sollte.

Da ist vor allem das Marktdispositiv von Angebot und Nachfrage, unter das längst auch die Literatur geraten ist. Literarische Angebote stoßen auf Stilgemeinschaften, die sich von ihnen angesprochen fühlen. In der Folge justiert und optimiert sich das Angebot auf die spezifischen Erwartungen dieser Leserschaften hin. Die Krimi-Leserin, der Fantasy- oder Rupi-Kaur-Fan, durchaus auch Leser:innen, die von Literatur ernste Themen verhandelt sehen oder an Hochkultur teilhaben wollen, werden zuverlässig bedient. ›Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch …‹, ›You may also like …‹ – der hermeneutische Selbstbestätigungszirkel funktioniert hier sozusagen perfekt.

»Wann immer populäre Kulturen einen Aufmerksamkeitserfolg erzielen, kristallisiert an diesem Erfolg sofort ein Konvolut ähnlicher Produkte. Jedes Faszinosum geht unmittelbar in Serie, strahlt aus, metastasiert und bezieht immer mehr Rezipienten in die spezifische Form spektakulärer Selbstreferenz ein. Auf diese Weise emergieren Stilgemeinschaften normalisierten Spektakels.«Footnote 3

Die Mitglieder dieser Stilgemeinschaften dürfen, wie Kunden von Markenware, ihre Normen vom Angebot erwarten, und dieses wird auf ihre Erwartungen zugeschnitten – eine Schließungsfigur, die tendenziell zu voneinander abgegrenzten literarischen Stilgemeinschaften (Sparten, Bubbles) führt. Der Fan hat und ist in dieser Struktur immer schon verstanden.

Gatekeeper-Instanzen wie die der Literaturwissenschaft und einer literaturwissenschaftlich informierten Literaturkritik waren früher unter anderem die Aufgabe zugekommen, jenseits solcher Bubbles diejenigen Texte herauszufinden und entsprechend zu valorisieren, die es wert schienen, in einem allgemeineren Zusammenhang als relevante Literatur diskutiert und letztlich womöglich in den Kanon der Literatur aufgenommen zu werden. Im Zeitalter des Webs und der sozialen Medien jedoch können sich die jeweiligen Stilgemeinschaften inzwischen sehr gut direkt untereinander über ihre Präferenzen und Wertungen verständigen. Professionelle Urteile werden dafür nicht mehr benötigt, und wo sich Feuilleton und Akademie gegenüber dem identifikatorischen Angebot-Nachfrage-Verhältnis als störend erweisen, werden sie oft rundweg abgelehnt. Kritiker und Wissenschaftlerinnen gelten dann selbst rasch nur mehr als Angehörige einer eigenen Bubble, die nur das Immergleiche (etwa Ansprüche nach komplexer Form) reproduziert. Eine solche Gleichordnung wissenschaftlich informierter Urteile neben weniger qualifizierte, aber durchaus wirkmächtige Überzeugungen ist ja auch jenseits der Literatur ein Signum der Zeit. Sie wird noch verstärkt von einer berechtigten Kanon-Skepsis (zu weiß, zu männlich etc.), die aus einer diversifizierten Gesellschaft mit einem allgemeinen Zugang zur Kultur erwächst.

Hermeneutik ist hier eher Teil des Problems als Teil der Lösung. Eine Option, auf die beschriebene Lage zu reagieren, besteht ja darin, auch als Wissenschaftlerin die eigenen Vorerwartungen an Literatur ausdrücklich zu machen – und als Bedingungen einer lohnenden Lektüre auszuflaggen. Man schließt sich damit einer Stilgemeinschaft an, wobei solche Gemeinschaften in intellektuellen Kreisen derzeit insbesondere durch ethisch-weltanschauliche Positionen normiert sind. Diesen Weg geht beispielsweise die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Amy Hungerford. Von einer Lektüre der Romane David Foster Wallace’ erwartet sie sich keine produktiven Einsichten »about women, or gender, or sex, or misogyny«Footnote 4 und schlägt daher vor, ihn nicht mehr zu lesen, und zwar ausdrücklich als »scholar«, also im akademischen Zusammenhang: »What if we just stop talking about such a work before it matters that much to the culture at large? Stop reading it, stop teaching it, stop studying it? What if we suggest to read something else, instead?«Footnote 5 Der hermeneutische Vorentwurf führt hier also, verblüffend, aber folgerichtig, zur Entscheidung eines »critical not-reading«.Footnote 6 Hungerford beruft sich dabei auch auf Rita Felskis neophänomenologischen Ansatz eines »post-critical reading«. Felski will immerhin noch lesen, aber mit einer »insistence on the radical differences between interpretative communities«. Sie macht also ebenfalls die hermeneutischen Vorentwürfe zum Maßstab der Lektüre, die Vor-Urteile bestimmter Gruppen, die gemäß den Normen der Stilgemeinschaften die Erwartungen an das jeweilige (oder eigentlich an jedes) Werk prägen. Entsprechend wertet sie eine »Hermeneutik des Misstrauens« als legitim auf, eine Lektüre also, die nicht auf die Rekonstruktion des Sinnangebotes zielt, das der Text machen will, sondern ihn im Sinne der eigenen Maßstäbe potentiell gegen den Strich ›versteht‹.Footnote 7 Gadamer hatte sich ausdrücklich gegen eine solche »Hermeneutik des Misstrauens« gewandt (der Begriff stammt von ihm); sie impliziert textethisch ja sozusagen das Gegenteil seines »guten Willens«, aber wie gesagt, der lässt sich auch nicht erzwingen.Footnote 8

Hier haben wir es mit literaturwissenschaftlichen Ansätzen zu tun, die sich ausdrücklich selbst bestimmten ethisch-weltanschaulich geprägten Stilgemeinschaften zurechnen oder zumindest deren Lektüren gegenüber klassischer literaturwissenschaftlicher Analyse und Kritik aufwerten. Dabei verschärft sich das hermeneutische Grundproblem, dass die Bewertung (etwa von David Foster Wallace) allein aufgrund des Bereits-Verstandenhabens erfolgt, also aufgrund der Normen, die innerhalb der Stilgemeinschaft ohnehin gelten. Eine solche Wissenschaft trägt zur selbstbestätigenden Schließung bei, und wenn wir mal ehrlich sind, begegnen wir dem ja im Wissenschaftsbetrieb auch immer wieder: Wenn bestimmte Stichworte nicht oder nicht im erwarteten Sinne fallen, oder im Gegenteil: wenn bestimmte eher abgelehnte Konzepte vorkommen, lässt der gute Wille zu verstehen rasch nach, und eine produktive Auseinandersetzung mit dem Anderen findet nicht mehr statt.

Literatur kann in einem solchen neo-hermeneutischen Rahmen letztlich nur noch nach Maßstäben beurteilt werden, die immer schon gegeben sind; und das sind im Regelfall unsere ethischen und anderweitigen idées reçues. Es wird dem Kunstwerk nicht mehr zugestanden, seine eigenen Regeln zu setzen, nach denen es zu beurteilen wäre. Dieser Bruch mit der autonomieästhetischen Tradition mag durchaus auch Argumente für sich haben, doch wollen wir den Anspruch, dass Literatur und andere ästhetische Gebilde uns um Neues, nicht immer schon Verstandenes bereichern oder uns damit irritieren können, wirklich preisgeben?

Eine Disziplin, die so verführe, bekäme überdies Legitimationsprobleme in Konkurrenz mit paradigmatischeren Wissenschaften. Ethisch informierte Aneignungsreferate sind vielleicht sozial, aber kaum wissenschaftlich anschlussfähig. Will eine Literaturwissenschaft etwa Schnittstellen zu neurowissenschaftlichen Ansätzen herstellen, muss sie in der Lage sein, ihre Gegenstände, die Texte, sehr präzise zu beschreiben – womit sonst sollte man das vergleichen, was beispielsweise bei einer Lektüre im Hirn abläuft? Das Gleiche gilt für jede Art von quantifizierender Analyse – was genau lässt sich denn an Texten quantifizieren, woraufhin lohnt es sich, Korpora zu durchsuchen? Schon die syntagmatische Verfahrensanalyse ist dabei alles andere als trivial, denn es gibt kaum komplexere Texte als poetische. Und die methodisch-theoretische Herausforderung wächst, sobald es darum geht, auch die paradigmatische Textdimension objektiv beschreibbar zu machen, also mit der Forderung nach einer Text-Kontext-Theorie, über die allererst Bedeutungen und kulturelle Valenzen erfasst werden können. Nur auf diese Weisen aber kann eine Literaturwissenschaft Ergebnisse erzielen, die wissenschaftlichen Ansprüchen, nicht zuletzt dem der Falsifizierbarkeit, genügen. Die entsprechenden Werkzeugkästen sind vorhanden und gut bestückt, müssen aber ständig verbessert und ergänzt werden. Dass hermeneutisches und neo-hermeneutisches Besteck dabei ein besonderes Desiderat wären, sehe ich derzeit nicht.

Letztlich sollte es allerdings auch Anspruch jeder Wissenschaft sein, ihre Expertise auch in das Gemeinwesen zu tragen. Aus einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur heraus, die in einer Scientific Community diskutiert wird, lassen sich – so meine Hoffnung – kritische Textbeobachtungen formulieren und in die literarische Gegenwartslandschaft tragen, die zumindest dem Anspruch nach unabhängig sind vom Standpunkt der eigenen Geschmacksblase (die es selbstverständlich auch immer gibt, denn als Genussleser:innen verfahren wir alle hermeneutisch). Darin liegt zumindest die Chance, Argumente in die Literaturkritik einzubringen, die geeignet sind, gegeneinander isolierte Stilgemeinschaften im Namen eines gemeinsamen Maßstabs, des Literarischen, wieder gegeneinander zu öffnen, miteinander ins Gespräch zu bringen. Wozu leisten sich avancierte Gesellschaften schließlich Literaturwissenschaften? Und auch mit dieser Hoffnung verbindet sich eine textethische Dimension, die Bachtin, ein durchaus hermeneutisch denkender Literaturwissenschaftler, einmal emphatisch wie folgt formuliert hat:

»Nicht nur wechselseitige Verantwortung müssen Leben und Kunst füreinander tragen, sondern ein jedes auch des anderen Schuld. Der Dichter darf nicht vergessen, daß an der abgeschmacktesten Prosa des Lebens seine Dichtung schuld ist, und der Mensch« – und ich möchte hinzufügen: a fortiori der Mensch, dem der Luxus einer literaturwissenschaftlichen Ausbildung zuteilwurde – »muß wissen, daß an der Unfruchtbarkeit der Kunst seine eigene Anspruchslosigkeit sowie die mangelnde Ernsthaftigkeit seiner Lebensprobleme schuld sind.«Footnote 9

Verstandenhaben charakterisiert, so gesehen, nicht nur schlechte Wissenschaft, sondern ist auch der Kunst, ja dem Leben selbst nicht förderlich.