Der Begriff des Stiles ist eine der undiskutierten Selbstverständlichkeiten, von denen das historische Bewußtsein lebt.Footnote 1(Hans-Georg Gadamer)

1 Nach den Debatten

Um es vorwegzuschicken: Dies ist keine Positionsbestimmung, sondern ein Sondierungsversuch, was im Windschatten solcher Positionierungen mitläuft, öfter stillschweigend als programmatisch, öfter selbstverständlich als kontrovers. Fragt man nach dem Status der Hermeneutik in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft, kann man zumindest aus dem Blickwinkel der germanistischen Mediävistik den Eindruck gewinnen, dass die Zeit theoretischer Debatten vorbei sei, in der eine Positionierung besser aufgehoben wäre – auch über Theorien des Lesens, Verstehens und Interpretierens mittelalterlicher Texte. Nach langen Sommern und heißen Herbsten der Theorie fallen meine Überlegungen eher ins posttheoretische Frühjahr der Altgermanistik. Längst nicht mehr wird um Verschmelzungswünsche oder Abhebungszwänge von Lektürehorizonten gestritten, wie sie im Kreis der Forschergruppe ›Poetik und Hermeneutik‹ auch von Mediävisten mit heiligem Ernst beschworen wurden, aber mittlerweile melancholisch verabschiedet, revidiert und theoriegeschichtlich abgelegt sind.Footnote 2 Das betrifft nicht allein Theorien der Lektüre. Ebenso scheint auch die jüngere Emphase verklungen, mit der sich die mediävistischen Literaturwissenschaften seit den 1990er-Jahren in ethnographische und xenologische Paradigmen hineinarbeiteten und daran abarbeiteten, Möglichkeiten und Grenzen historischen Fremdverstehens zu erörtern. ›Alterität des Mittelalters‹ liefert seitdem weder ein Programmwort, um die Interpretationsbedingungen vormoderner Textkulturen methodisch zu bündeln, noch eine Legitimationsvokabel, um mediävistischen Disziplinen normatives Gewicht zu verleihen.Footnote 3 Dass selbst anti-hermeneutische VerheißungenFootnote 4 eher theoriegeschichtliche Volten vollzogen, als die Unhintergehbarkeit textueller Auslegung oder die verbindliche Sinnorientierung mittelalterlicher Textkulturen infrage zu stellen,Footnote 5 machte programmatische Positionierungen zur Hermeneutik für viele Mediävist*innen entweder überflüssig oder suspekt.

Trotzdem ist die mediävistische Forschungspraxis mehr denn je hermeneutische Praxis, die auf Lektüre basiert und auf Lesbarkeit zielt. Und dies unabhängig davon, ob Studien sich heute der historischen Narratologie oder kultur- oder materialorientierter Philologie zurechnen. Während die Erkenntnisziele und Prämissen solcher Ausrichtungen öfter und offener diskutiert werden, läuft das Geschäft des historischen Textverstehens wesentlich geräuschloser – mit einer produktiven Selbstverständlichkeit, die man fast mit methodologischer Stille verwechseln könnte, würde der institutionelle Begründungsdruck lesender Disziplinen gegenüber neuen Methodologien des Rechnens in den Humanities nicht ausdrückliche Positionierung herausfordern.Footnote 6 Auch der Aufruf zum vorliegenden Themenheft bringt die Hermeneutik explizit ins Gespräch, um auf Herausforderungen zu antworten: als Krisenreaktion.

Ich gebe zu: So einzusetzen, klingt verhalten, jedenfalls kaum nach einer programmatischen Lagebeschreibung zur Hermeneutik. Ich meine aber auch, dass diese Lage kaum durch Programmatik zu ermessen ist – als Revokation oder Apologien großer Männer, intellektueller Habitus und Systeme wäre sie jedenfalls maßlos verzerrt und vereinfacht. Tatsächlich gehört nämlich zur gegenwärtigen Lage der historischen Literaturwissenschaften auch jene ungebrochen machtvolle, aber informelle Praxis, die ihre Ansprüche und Voraussetzungen seltener zum methodologischen Programm erhebt, obwohl sie viele methodische Vorentscheidungen in Anspruch nimmt und steuert. Weder werden dadurch stets Positionen markiert, noch werden Wege, Irrwege und Aporien der Interpretation heute stets auf jenem krisensensiblen »Grad des hermeneutischen Bewusstseins« reflektiert und explizit gemacht, nach dem Hartmut Bleumer, Stephan Habscheid, Constanze Spieß und Niels Werber prononciert fragten.Footnote 7 Wenn die Forschungspraxis der Textwissenschaften zutiefst hermeneutisch geprägt ist, artikuliert sich dies heute selten mit programmatischem Anspruch oder methodologischer Strenge, sondern weit öfter als unaufdringliche Verfahrens- und Schreibweise, die man als ›hermeneutischen Stil‹ charakterisieren könnte. Diesseits von Begründungs- und Legitimationsgefechten operierend, wird dieser Arbeitsmodus kaum als Theorieentscheidung wahrgenommen, weil er sich weniger als noch vor Jahrzehnten in Apologien und Aporien verstrickt.Footnote 8 Literaturtheoretische Einführungswerke, die deutlich die methodischen Festlegungen und Defizite der philosophischen Hermeneutik kritisieren, würdigen sie gleichwohl als Grundlage fast aller Zugänge, die in weitestem Sinne interpretieren. Konzepte und Positionen der Hermeneutik lösen sich dadurch zu hermeneutischen Schwebstoffen, die – in adjektivischer Formulierung – alle möglichen Verstehensakte unauffällig diffundieren. Was Gegenstand früherer Methodendiskussion war, begegnet heute als gepflegter Teil literaturwissenschaftlichen Arbeitens, der eher vorausgesetzt als begründet wird. Hermeneutik ähnelt in solchen Zusammenhängen fast einem geisteswissenschaftlichen »Denkstil« im Sinne Ludwik Flecks, der Verstehensprozesse als derart »selbstverständlich, als einzig möglich« betrachtet, dass der Lektüremodus selbst als etwas erscheint, »worüber nicht weiter nachgedacht werden kann«.Footnote 9

Diese ›neue Selbstverständlichkeit‹ geht auch in der mediävistischen Literaturwissenschaft darüber hinaus, wieder ausgiebig zu tun, was man im Grunde weiterhin tut und stets tat, nämlich Texte herzustellen, zu lesen und zu deuten. Diskussionswürdig scheint mir die hermeneutische Forschungspraxis noch mehr, weil sie Fragen der fachinternen Verständlichkeit, der zwischenfachlichen Verständigung und des außerakademischen Verständlichmachens austrägt, ohne sie auf das Podium großer Debatten hinaufzutragen – und trotzdem Verbindlichkeit beweist, auf die bereits Hans-Georg Gadamer hinwies. Während die Gewinne eines solchen Lektürestils leichter zu greifen sind, liegt der Preis solcher Selbstverständlichkeit nicht ohne Weiteres auf der Hand. Ihn unter vier Gesichtspunkten näher abzuschätzen, ist Ziel der folgenden Überlegungen. Auf diesem Wege lässt sich erkunden, so meine These, dass die Frage nach dem Bedarf einer neuen Hermeneutik gerade nicht selbstverständlich zu beantworten ist.

2 Selbstverständlich hermeneutisch

Was genau lässt sich als ›hermeneutischer Stil‹ fassen, wenn damit nicht Theoriediskussionen und Keynotes, Positionsbestimmungen oder Apologien geisteswissenschaftlicher Lektüre gemeint sind? Ich stelle diese Frage nicht von außen, nicht an ein umgrenztes Korpus von Forschungsarbeiten oder Beispiellektüren, die sich auf mannigfaltige Weise relativieren ließen. Grundsätzlicher geht es mir um Schreib- und Denkstile der Textinterpretation, die ihre Voraussetzungen weniger als theoretisch-methodische Einstellungen explizieren oder gar als Entscheidungen begründen, sondern vollziehen. Solche Vollzüge sind keineswegs anspruchslos: Wenn die Texte zu Wort kommen und die ›Sache selbst‹ in den Blick, kann es sehr wohl darum gehen, auf anspruchsvolle Weise Thesen zu bewähren und Lektüren mit vielfältigen gattungs-, diskurs- und mediengeschichtlichen, sozialen und kulturellen Kontexten zu verbinden. Trotzdem kann leichter als noch vor Jahrzehnten der Eindruck entstehen, solche Korrelation sei unkontrovers: Umstritten mag diese oder jene Lektüre und Lesart sein, innovativ die Fundstellen und Objekte, an denen sie sich festmachen, kaum aber der Modus, in dem Texte und Lektüre zusammenfinden.

Ebenso missverständlich wäre es vielleicht, hermeneutischen Stil als ›bloße‹ Stilfrage geringzuschätzen. Er betrifft keineswegs nur Oberflächenphänomene textwissenschaftlicher Fachsprache – und erst recht unglücklich wäre es, damit Kurzschlüsse zur empirischen Stilforschung zu provozieren, die oft genug gegen hermeneutische Lektüren in Stellung gebracht werden. Sprachliche Gesten bilden nur einen Teil der erkenntnisleitenden Operationen, die hermeneutischen Stil evident und attraktiv machen. Es kommt mir nicht darauf an, solche Operationen und Gesten im Einzelnen aufzufächern, die aus einem reichen Archiv von Argumentationsmustern schöpfen. Es geht um die Selbstverständlichkeit solcher Lektüregesten an sich, die an Grundzüge der Hermeneutik anknüpfen. Dazu gehört erstens die Unhintergehbarkeit des Verstehens, dessen Universalitätsanspruch nicht einmal in den historisch orientierten Textwissenschaften emphatisch vorgetragen werden muss, um Beobachtungen als Selbstverhältnis zu begründen. In der akademischen Lehre kann die Hermeneutik literarischer Texte daher tendenziell als Grundlagenreflexion eingeführt werden, weniger jedenfalls als Theorieoption oder praxeologische Entscheidung. Statt in Rekursionsproblemen oder Zirkeln heißzulaufen, lässt sich Hermeneutik heute im gepflegten Konsens textwissenschaftlicher Selbstvergewisserung vermitteln – als Selbstverständigung über die Arbeitsgrundlagen.

Zweitens prägt dies ebenso die Erwartungen an verständliche Forschungsstile. Hartmut Bleumer, Stephan Habscheid, Constanze Spieß und Niels Werber haben die Empörung aufgegriffen, die heute der »Unübersichtlichkeit ›postmoderner‹ Wirklichkeiten« entgegentritt: Warum »so heterogen, kompliziert und schwierig«?Footnote 10 Aber nicht (nur) aus digitaler »Unmündigkeit« nährt sich dieser Einwand. Er tritt – viel alltäglicher und diesseits des Digitalen – auch den Modi literaturwissenschaftlicher Argumentation entgegen, die über Zeigen und Beschreiben hinausgehen. Wo die Lektüre zwar notwendig und unverzichtbar bleibt, aber die Erkenntnisziele literaturwissenschaftlicher Untersuchungen nicht hinreichend bestimmt, kann dies im Zweifelsfall die Rückversicherung abfordern, dass auch solche Analysen ›selbstverständlich hermeneutisch‹ verfahren. Hermeneutik stellt in solchen Fällen weniger das epistemologische Programm als vielmehr eine performative Konsensplattform dar, auf die man sich vor drohender Entfernung und Unverständlichkeit retten kann. Wenn es stimmt, dass derzeit heterogene Leitkonzepte und Methodiken der Literaturwissenschaft kaum über Debatten konfrontierbar, geschweige denn integrierbar sind, ist dieser Konsens allerdings nicht zu unterschätzen.

Zu den stilistischen Zügen literaturwissenschaftlicher Hermeneutik gehört drittens, solche Verständlichkeit gerade nicht als weitere Theorieoption einzureihen oder als bloße Schreibweise zu konzedieren, sondern als selbstverständliche Praxis zu pflegen. Auch dies wurzelt, bei aller Unscheinbarkeit, in ausgewiesenen hermeneutischen Positionen zur zirkulären »Selbstbezogenheit« sprachlichen Verstehens, wie Günter Figal im Anschluss an Hans-Georg Gadamer umrissen hat. Wenn »man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmen Sinn hin« lese,Footnote 11 reguliere dies auch den Spielraum, in dem man Unvorhergesehenes entdecken könne:

»Wenn dieser ›hermeneutische Zirkel‹ die Grundfigur des Verstehens ist, muß man sich nicht darüber wundern, daß die ausführliche Beschäftigung mit einem Text im Großen und Ganzen die Erwartungen, die man zu Beginn einer Lektüre hatte, bestätigt. Gewiß hatte man sich das Eine oder Andere, auf das man beim Lesen stößt, so im Voraus nicht gedacht. Man kann sogar meinen, beim Lesen etwas gelernt zu haben, und nach gründlicher Lektüre einen Text anders sehen, als man erwartet hatte. Doch andererseits sieht man ihn, wenn Gadamers Beschreibung zutrifft, in einem Rahmen, der von vornherein bestimmt war und so auch das Neue in den Kontext des Alten integriert. Sofern das Verstehen im Sinne Gadamers zirkelförmig ist, kreist es um sich selbst.«Footnote 12

Solche Zirkel sind mit besonderer Vorsicht für Mediävisten zu genießen, deren Gegenstände von Epochenkonstruktionen, Gattungsreihen oder Textkonzepten normativ aus- und eingeschlossen werden. Dies erfordert oft verifikatorische und falsifikatorische Erkenntnisstile zugleich: Die mediävistische Literaturwissenschaft ›steht‹ nicht einfach in überlieferten Traditionen, mit Gadamer gesprochen, sondern argumentiert fortwährend »zwischen Fremdheit und Vertrautheit«, zwischen »Gegenständlichkeit« und »Zugehörigkeit« zu ihren Texten, zwischen fester und loser Relationierung zu ihren Gegenständen.Footnote 13 Umso erstaunlicher scheint mir, dass aus dieser spannungsvollen Komplexität kaum mehr Reibungswärme erzeugt wird. Alterität(en) mittelalterlicher Texte in Vorworten und Einleitungen zu traktieren, hat spürbar an Attraktivität verloren.

Damit will ich nur andeuten, dass man die Praxis unaufgeregter Lektüre sehr wohl als methodische Entscheidungen reformulieren könnte, die an der Unhintergehbarkeit, Verständlichkeit und Selbstbezüglichkeit von Verstehensprozessen orientiert sind. Doch mein Punkt ist: So wird darüber in der germanistischen Mediävistik nicht verhandelt. Hermeneutische Konzepte und Praktiken des Mittelalters werden zwar als Gegenstände der intellectual history hingebungsvoll beforscht und durchaus für Positionsbestimmungen der Geisteswissenschaften in Anschlag gebracht – doch als Theorien der Mediävistik wenig diskutiert. Das Handbuch der Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik (2015) von Christiane Ackermann und Michael Egerding widmet ihnen keinen separaten Eintrag, sondern streift hermeneutische Fragen im Rahmen anderer Ansätze, die sie theoriegeschichtlich in sich bergen – der Diskursanalyse, Kulturanthropologie oder Narratologie u. a. m. Welchen Abstand die Mediävistik dadurch von der expliziten Problematisierung von Lektüren genommen hat, mag im Rückblick auf Jan-Dirk Müllers epochale Nibelungenlied-Studien deutlich werden, die hoch reflexiv und explizit kontrovers einsetzten. Nichts schien 1998 selbstverständlich an dem Versuch, die Spielregeln eines heldenepischen Textes um 1200 zu lesen.

Wenn es zutrifft, dass sich die mediävistische Lektürepraxis zunehmend geräuschlos unterhalb von Diskussionsschwellen fortschreibt, verdient diese Verschiebung besondere Aufmerksamkeit. Denn tatsächlich lässt sich dadurch schwer angeben, ob die Frage nach der »Rückkehr« oder der Persistenz von Hermeneutik entweder unzeitgemäß oder trivial zu beantworten ist. Aus der Rundfrage der Herausgeber*innen kann man diese Unsicherheit heraushören: »Lässt sich die Hermeneutik [...] heute noch oder wieder zur Gretchenfrage von Literaturwissenschaft und Linguistik stilisieren?«Footnote 14 Ich meine, dass hermeneutische ›Stilisierung‹ »heute« tatsächlich als methodische Haltung ernster zu nehmen ist denn je. Doch nach ihr theoretisch zu fragen, fällt umso schwerer, je selbstverständlicher sie scheint. Dies möchte ich vor dem Hintergrund von vier aktuellen Szenarien kurz entwickeln, aus denen man explizitere Begründungszusammenhänge entwickeln könnte. In allen Zusammenhängen, so ist zu vermuten, leistet hermeneutischer Stil mehr und anderes als nur texterschließende Lektüre.

3 Aktuelle Begründungszusammenhänge

3.1 Jenseits der Provokation

Nicht nur die Leidenschaft für Theoriediskussionen scheint mittlerweile heruntergestimmt oder auf einzelne Forschungsparadigmen zurückgezogen. Auch Epistemologien der Provokation sind kaum noch impulsgebend. Dies betrifft zum einen die Kulturwissenschaften, deren Aufstieg in den letzten drei Jahrzehnten aus dem »Schwinden disziplinärer Selbstverständlichkeiten«Footnote 15 hervorging. Wenn postmoderne Spielarten der Kulturwissenschaften strategisch darauf setzten, »Irritationen« zu erkunden und auszubauen,Footnote 16 sind die Ermüdungserscheinungen von Irritationsstilen und vermeintlicher turns unübersehbar.Footnote 17 Weder vermag die Dialektik von Provokation und Krise übergreifende Fachdiskussionen in ihren Bann zu schlagen, noch stimulieren Tagungen nachhaltige Begeisterung, die nach papers and provocations von nicht mehr als 20 Minuten fragen. In diesem Zusammenhang kulturalistischer Ermüdung wäre die Frage nach dem Stellenwert von Hermeneutik an sich keine Krisenfrage. Sie wäre eher als Findling zu begreifen, der nach unzähligen turns und Debatten wieder freigespült wird: als Frage, die keineswegs neue Irritationen liefert, sondern mit eigentümlicher Beharrlichkeit wieder aufragt. Und wie bei einem Findling kann dadurch gleichzeitig der Eindruck entstehen, die literaturwissenschaftliche Hermeneutik habe ihren Ort verschoben.Footnote 18

Aber vielleicht ist selbst damit der Sichtkreis noch zu eng abgesteckt. Denn einiges spricht dafür, dass nicht nur der Irritationsstil der Kulturwissenschaften, sondern auch der Interessensstil klassischerer Geisteswissenschaften trockenliegt. In diese Richtung wies vor Kurzem Peter Strohschneider mit großem Nachdruck. Gegenwärtig griffen nicht nur populistische Verzerrung, moralistische Vereinnahmung und szientistische Vereindeutigung um sich, die derzeit auch viele Geistes- und Kulturwissenschaftler*innen beschäftigt. Noch grundlegender trete den Kontingenzzumutungen moderner Wissenschaften Indifferenz entgegen: Immer weniger relevant oder bloß zustimmungsfähig scheinen Strohschneider zufolge die »Zumutungshaftigkeit«, Vorbehaltlichkeit und Relativität, »mit welcher [...] das Differenzierungsniveau pluralistischer Gesellschaften, demokratisch-konstitutioneller Politik sowie moderner Wissenschaften einhergeht.«Footnote 19 Im »Schwinden[…] von gesellschaftlichen Mittelbarkeiten« zeichne sich »womöglich eine[…] Krise von Unterscheidungen« ab,Footnote 20 die auch die Möglichkeiten der Geistes- und Kulturwissenschaft fundamental in Frage stelle, für solche Differenzierungen einzutreten. Strohschneiders Analysen selbst werben eindringlich für solche Unterscheidungsleistungen, und zwar – ungeachtet ihres differenztheoretischen Gestus – durchaus aus hermeneutisch reflektiertem Abstand:Footnote 21 aus verfremdender Fernnähe des Mediävisten,Footnote 22 der populistische Gefolgschaftsphänomene der Gegenwart oder die Protestrhetorik um ökologische futures vor dem Hintergrund vormoderner Präsenzkulturen, ihren Zeichenlogiken und apokalyptischen Semantiken liest. Aber auch diese hermeneutischen Operationen münden in »Vorbehalten«, die Strohschneiders Essay gegen die Kontingenzfreude der Kulturwissenschaften einwendet. Könnte nicht die Präferenz für mögliche, aber stets vorläufige und daher verhandlungsoffene Bestimmungen selbst zur Disposition stehen, wenn diese immer öfter als Zumutung empfunden werde?

»Vor diesem Hintergrund könnte immerhin gefragt werden, was eigentlich dafür spreche, dass ausgerechnet die differenzierungstheoretischen Annahmen nicht historisch kontingent sind, [...] von denen aus populistische Metonymien, szientifische Gewissheit und moralisierender Universalismus kritisiert werden.«Footnote 23

Wie könnte dann gegen Differenzierungsfeindlichkeit »mit Aussicht auf Erfolg gestritten werden«, ohne lediglich verblasste Normen der Kontingenzfreude zu reaktivieren?Footnote 24 Was eröffnet und sichert den Raum, um über unsichere Unterscheidungen zu streiten?

Damit will ich den Kreis der Frage nicht noch grundsätzlicher ausweiten, als er ohnehin schon ist. Aber Strohschneiders Kritik betrifft auch die hermeneutische Praxis geisteswissenschaftlicher Lektüren, die in ihrem Licht weit weniger selbstverständlich erscheinen. Statt sich selbstreflexiv einzuschnüren oder in Aporien heißzulaufen, besteht der Reiz von hermeneutischen Lektüren darin, operativ anschlussfähig und attraktiv zu bleiben. Mehr denn je bemisst sich »Wert und Gewicht von Forschung« an der Kunst, zu beschreiben und zu besprechen, zu rekonstruieren und zu erzählen. Schon für Gadamer war Evidenz nicht zuletzt eine Sache der Darstellung: »Vielmehr erscheint uns die Sache erst im Licht dessen wahrhaft bedeutsam, der sie uns recht zu schildern weiß.«Footnote 25 Auch die Forschungsgeschichte der germanistischen Mediävistik kennt die Verlockung, ihre Theoriearbeit in »die Sache« selbst hineinzulegen: Noch einmal Literaturtheorie so erzählen wie Walter Haug, für den jede schriftliche Arbeit dem Stilideal des Gesprächs folgte. Selbstverständlichkeit kann in dieser Perspektive heißen, zu lesen und lesbar zu bleiben, wo Epistemologien der Provokation weder Antworten noch Einsprüche hervorlocken.

3.2 Resonanzwünsche

Selbstverständlich sind die Zeiten vorbei, in denen Literaturwissenschaftler*innen in besonderer Weise zur Deutung gesellschaftlicher Fragen in publizistischer Öffentlichkeit privilegiert schienen. Trotzdem sind außerakademische Resonanzwünsche nicht gänzlich abgerissen: Nach wie vor melden sich Literaturwissenschaftler*innen in überregionalen Zeitungen über das Silicon Valley zu Wort oder lesen, wie seit sechseinhalb Jahrhunderten, Dante. Was hat nicht auch die Mediävistik zu Trump oder diversity zu sagen? Und was könnte sie nicht über alte und neue Traditionalismen sagen, die weit über Europa hinaus um sich greifen?

Hermeneutisch ebenso einschlägig wie der Wunsch nach öffentlicher Rede scheinen mir aber auch innerdisziplinäre Resonanzwünsche, die auf Selbstverständigung zielen. Auch sie sind tief mit der Stilgeschichte der Hermeneutik verbunden, die das Gespräch als Urmodell des Verstehens betrachtet und in ihrem eigenen Rededuktus pflegt. Auch im Lektürealltag der germanistischen Mediävistik leben diese Gesprächsgesten fort, selbst wenn diese als innerdisziplinäre Selbstgespräche oder manchmal gar nur im Tête-à-Tête ganz spezifischer Deutungstraditionen geführt werden. Die Mediävistik pflegt dabei ganz eigentümliche Resonanzbeziehungen, mit Altvätern des 19. Jahrhunderts ebenso wie mit Positionen der jüngeren Fachgeschichte, selbst wenn man deren literarästhetische Prämissen einklammert. Trotz beträchtlichem forschungsgeschichtlichem Aufwand ermöglicht dies, Selbstgespräche im Widerhall von Fachtradition führen zu können. Möglich bleibt so für ein Kleinstfach wie die germanistische Mediävistik, Wissen, Argumente und intellektuelle Ressourcen im Kontinuitätszusammenhang zu halten. Und weil solche Kontinuität nicht nur vom Echo der Fachtradition zurückgeworfen wird, sondern auch in die Zukunft des Faches vorausläuft, könnte mit der Verteidigung oder Wiederkehr hermeneutischer Stile vielleicht keine zeitlose Gretchenfrage, sondern durchaus eine Generationenfrage zur Debatte stehen: nicht nur von Personen, sondern auch darüber hinaus, wie geisteswissenschaftliche Fächer im Gespräch mit sich selbst bleiben können, die im institutionellen Umfeld mit neuen, nicht zuletzt auch anti-disziplinären Forschungsverbünden konfrontiert oder verlockt werden.

3.3 Explikationsbedarf

Eine dritte Perspektive, in der die Selbstverständlichkeit hermeneutischer Lektüre diskussionswürdig erscheint, führt zu Latenzwahrnehmungen. Nicht nur zielen die Ambitionen wahrheitsorientierter Hermeneutik traditionell darauf, Sinn auf- oder zu entdecken. Auch in unauffälligerer Lektürepraxis basieren hermeneutische Stile in hohem Maße auf stillschweigenden Schlüssen, wie Dirk Westerkamp unterstreicht: »Verstehen ereignet sich in dem impliziten Gebrauch solcher ›materialen Inferenzen‹ – als ein Gebrauchswissen, das sich auf Nachfrage oder Rechtfertigungsdruck explizit machen läßt.«Footnote 26 Eben gegen jene impliziten Schlüsse richten sich umgekehrt aber auch die Vorbehalte gegenüber hermeneutischen Lektüren. Wolfgang Iser eskamotierte sie als »Versteckspiele« von Literaturinterpretationen, die viel mehr aufzudecken vorgäben, als sie von ihren eigenen Unterstellungen, Investitionen und Konstruktionen preisgäben.Footnote 27

Mir kommt es nicht darauf an, selbst in diesen Zirkel von Implikation und Explikation, von Hineinlegen und Auslegen einzutreten, der die Hermeneutik seit jeher produktiv antreibt, ihre Übersetzungsleistungen steigert und Begründungen abnötigt. Vielmehr möchte ich auf einen gewandelten Kontext hinweisen, in dem dieser Zirkel aufzubrechen droht. Dies zeigt sich weniger innerhalb literaturwissenschaftlicher Fachtraditionen oder in Bezug auf konkrete Forschungsziele als in ihrem gesellschaftlichen Außenverhältnis. Damit geht es mir um Strukturwahrnehmungen, die derzeit unter einem weiten Verständnis von Digitalisierung diskutiert werden. Nicht nur deren technische Seiten oder ihre zeitlogischen Verschiebungen scheinen mir bedenkenswert,Footnote 28 sondern mehr noch deren epistemologische Konsequenzen. Keineswegs haben digitale Methoden die Forschungsagenda der Altgermanistik von hermeneutischen Gleisen gelenkt: Ob literarische Texte des Mittelalters weiterhin zu lesen und zu interpretieren seien oder digital zu analysieren und aufzubereiten, steht nicht ernsthaft zur Debatte.

Anders als noch vor wenigen Jahren sind digitale Literaturwissenschaften mittlerweile etabliert und haben methodische Kontaktzonen zu den Einzelfeldern philologischer Forschung differenziert ausgebaut. Freilich sind ebenso die Abstände gewachsen, die heute die stärker informatisch orientierte Entwicklercommunity der Digital Humanities von der Lektüreorientierung philologischer Einzelforschung trennen. Darüber hinaus – und gerade deshalb wegweisend – entstanden aber auch anspruchsvolle Pilotprojekte, die ältere Frontstellungen zwischen computergestützter Empirie und hermeneutischem Lesen erfolgreich überbrückten.Footnote 29 Auch in der germanistischen Mediävistik finden disziplinäre Grundfragen neue Anstöße dank computerphilologischer Methoden, die auf klar umrissene Corpora spezifisch abgestimmt sind – von der digitalen Editionsphilologie bis zur digitalen Narratologie. Ohne Frage: Je komplexer die methodischen Übertragungs- und Syntheseleistungen dieser Projekte sind, desto aufwändiger sind sie zu reflektieren und zu dokumentieren, um Nachvollziehbarkeit und Nachnutzbarkeit zu gewährleisten. Gerade dadurch zeichnen sich derzeit die avanciertesten Forschungen aus, die Lektüreoperationen mit digitalen Analyse- und Auswertungsschritten verzahnen. Statt sie im Einzelnen zu würdigen, will ich damit lediglich andeuten: Angesichts der differenzierten Entwicklungen und Innovationen aktueller Ansätze wäre es ungerecht und unzutreffend, den Bedarf einer ›neuen Hermeneutik‹ aus pauschaler Konfrontation mit digital gestützten Methoden einzufordern. Keineswegs sind die Frontstellungen zwischen Lesen und Rechnen, Statistik und Interpretation unüberwindlich, die sich informieren und fördern können.

Trotzdem treffen Einwände gegen die Invisibilisierungs- und Vereinfachungseffekte digitaler Methoden einen problematischen Kern. Vorbehalte kann man nicht nur gegenüber der »diskreten Vorauswahl« textstatistischer Algorithmen hegen,Footnote 30 die oft undurchschaute Analyseversprechen anbieten und hohe Expertise abfordern, um ihre Wirkungsweise zu verstehen. Selbst geläufige Rechenverfahren wie etwa stilometrische Delta-Analysen lassen sich leichter empirisch auf den Prüfstand stellen als in ihrer Leistungsfähigkeit aufklären.Footnote 31 Der springende Punkt liegt meines Erachtens jedoch weniger in der Bereitschaft, ungewohnte Expertisen aufzubauen. Noch grundsätzlicher hat Armin Nassehi vor Kurzem das Unbehagen gegenüber einer digitalen Gesellschaft umrissen: Krisenhaft wirke nicht schon technische Rationalität an sich, sondern weil immer weiter ausgreifende Lebenszusammenhänge an Datenmustern orientiert sind, deren Rekonstruktion und Reflexion kaum mehr Schritt hält. Dadurch wachse die Wahrnehmung von Latenz, von chronischer Unverfügbarkeit: »Dass die Digitalisierung als eine disruptive Technologie erlebt wird, hat vor allem damit zu tun, dass sie eine unsichtbare Technik ist.«Footnote 32 Allenfalls partiell, vermittelt und verspätet lässt sich Einblick in den Aufbau von Mustern gewinnen, die unsere Bewegungen, Aufmerksamkeit oder Konsumwünsche allenthalben präformieren. Ihre Rekonstruktion läuft den Wirkungen digitaler Muster stets hinterher.

Vor diesem Hintergrund verändert sich auch der Stellenwert von Hermeneutik. Hermeneutischer Stil pflegt Explikationsgesten und ordnet sinnhaft, wo verdeckte, undurchschaute und schwerverständliche Ordnungen um sich zu greifen scheinen. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei betont: Hermeneutischer Stil ist keine direkte Antwort auf Latenzen digitaler Gesellschaft. Aber er führt in der Eigensphäre der Wissenschaften fort, Sinn herzustellen oder aufzudecken, der alltäglich immer ungreifbarer empfunden wird.

3.4 Epistemologie auf Sicht

Noch unter einem weiteren Gesichtspunkt kann die Frage nach Hermeneutik auf wachsende Abstände aufmerksam machen. Sie wurden vom Credo überbrückt, die »Bekanntschaft mit dem Gegenstande« nie aus dem Blick zu verlieren:Footnote 33 »Das hermeneutische Bewußtsein [...] hat seine eigentliche Wirksamkeit immer darin, daß man das Fragwürdige zu sehen vermag.«Footnote 34 Just um diesen Gegenstandsbezug entspann sich ausgehend von Stichworten Franco Morettis die Kontroverse, welchen Abstand literaturwissenschaftliche Forschung zu ihren Texten einnehmen solle.Footnote 35 Auch diese Debatte ist längst abgerüstet: Ihre polemische Schärfe wurde in Vermittlungsmodelle aufgelöst, die statistische Empirie und Lektüre kombinieren und skalieren.Footnote 36 Statistischer Abstraktion zu unterstellen, die »hermeneutische Fragestellung« zu verschleiern und einzuschränken, kommt in den Literaturwissenschaften daher eher einem »Propagandaeffekt« gleich als einem Einwand auf Höhe dieser Diskussion.Footnote 37 Weniger polemisch lässt sich beobachten: Unter dem buntscheckigen Mantel von mixed methods verschärfen sich durchaus die epistemologischen Anforderungen, unter denen die oben beschriebenen Brückenschläge überhaupt nur erfolgreich gelingen. Ihre methodischen Arrangements werden atemberaubend anspruchsvoll: Sobald digitale Methoden nicht nur als Tools punktuell angewendet werden, sondern in ihren arithmetischen Voraussetzungen begriffen, in ihren algorithmischen Prozessen gezielt gestaltet und in ihrer statistischen Aussagekraft in interpretative Fragestellungen eingebettet werden sollen, erfordern und exponieren sie vielfältigste Expertise. Sie fordern Grundlagenarbeit, die ganz eigene Tunnel gräbt. Keineswegs bildet, vertieft und überprüft sich diese Expertise dabei stets in Sichtweite von Textkorpora und Erkenntniszielen der Literaturwissenschaft. Wer die konsequente Ausrichtung digitaler Methoden auf Ausgangs- oder Zielpunkte der Textlektüre einfordert, könnte dazu verführen, diese Distanz zu überspringen. Solche Unterbrechungen wären wissenschaftstheoretisch nicht weiter zu beklagen, sondern gehören unvermeidlich zu methodologischen Innovationssprüngen, die ihre Affordanzen erst erkunden müssen. Für die Lektürepraxis geht dies mit der Herausforderung einher, Methoden in sich aufzunehmen, die nicht ohne Weiteres verständlich sind. Aber als dauerhaft opak und problematisch werden Entwicklungszonen allenfalls für Aufklärungsvorhaben, oder noch kürzer: für Entdeckungsstile, weniger für Überraschungsstile. Wo sie als krisenhaft erlebt werden kann, erhellt dies womöglich nicht nur unterschiedliche Rationalitäten, die bei wissenschaftlichem Lesen ineinandergreifen, sondern auf enttäuschte Bindungswünsche. Für Hermeneutik einzutreten, hieß schon für Gadamer, »Entfremdungserfahrungen« entgegenzutreten.Footnote 38

Hermeneutische Selbstverständlichkeit lebt so gesehen vom Versprechen, die Bindung zu den Gegenständen nie derart aus dem Blick zu verlieren, dass ihre Epistemologie der Sicht unterbräche. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus erhellend, wann die Frage nach einer ›neuen Hermeneutik‹ als brisant oder eher aber als selbstverständlich erfahren wird. Ob man sie als Krisenfrage stellt oder als diagnostisch für neue Blindheitsübergänge, hinge demnach wesentlich vom Durchsichtigkeitsanspruch ab, den man an methodische Züge stellt.

4 Hermeneutischer Stil und sein Preis

Was also macht hermeneutischen Stil derzeit so attraktiv? Ich habe nur vier Kontexte zu skizzieren versucht, in denen die Selbstverständlichkeit der Lektüre als Gewinn zu verbuchen ist: als unaufgeregte Beschreibungspraxis im Kontext von Forschungslogiken der Irritation; als Kontinuierungspraxis im Kontext disziplinärer Erosionen oder Tektonik; als Explikationspraxis im Kontext forcierter Latenzerfahrungen; als Praxis der Gegenstandsbindung im Kontext methodologischer Heterogenität. Wie ich ebenfalls anzudeuten versuchte, wirken alle diese Züge selbstverständlich, weil sie Kernanliegen klassischer Hermeneutik entspringen. Die Frage nach dem Stellenwert von Hermeneutik reflektiert somit den gravierenden Wandel solcher Kontexte.

Als Konfrontationen werden sie im Forschungs- und Lehralltag selten zugespitzt, sondern häufiger schwebend mitgeführt. Erst dadurch kann Hermeneutik statt als theoretische Entscheidung gleichsam als Stil erscheinen. Je universaler sich die Praxis des Verstehens betrachtet, desto verdeckter läuft sie auch in literaturwissenschaftlichen Interpretationen mit.

Vielleicht verschiebt dies die Fronten, die Anlass zur Rundfrage des vorliegenden Heftes gaben. Statt die Reihen gegenüber digitaler Rationalität zu schließen, wäre nach der Bereitschaft von Textinterpretationen zu fragen, ihre Bedürfnisse nach Anschluss, Resonanz, Verfügbarkeit und Gegenständlichkeit zu diskutieren. Diese Anliegen als Selbstverständlichkeiten der Hermeneutik zu betrachten, liefert dazu weniger Antworten als Symptome jener Krise, über die sich das vorliegende Heft vergewissert. Diese Diskussion nicht zu scheuen, scheint mir richtig und wichtig. Andernfalls fordert hermeneutische Selbstverständlichkeit den Preis, in allen genannten Hinsichten die Möglichkeiten der Lektüre spürbar einzuschränken. Im Vergleich zu irritationsorientierten Forschungsstilen bestünde dieser Preis etwa in epistemischer Entschärfung der Interpretation, wer unter welchen Prämissen, in welchen Kontexten und aus welchen Perspektiven liest. Resonanzbedürfnisse kaschieren dagegen erfolgreich die Zugangs- und Ausschlussbedingungen, unter denen Forschungsgespräche zustande kommen – doch läge es im Interesse an der Fortsetzung disziplinärer Gesprächszusammenhänge, diese Bedingungen nicht als selbstverständlich zu behandeln. Bringt man Explikationsgesten sinnorientierten Verstehens gegen die Latenzen digitaler Gesellschaft in Stellung, verpflichtet dies auf einen Kompensationsauftrag, der etwa die Geisteswissenschaften massiv beschränkt, die sich eben nicht in Beschreibungskünsten erschöpfen. Die Sicht zu den Gegenständen auch in Zeiten digitaler Literaturwissenschaft nie zu unterbrechen (»Know thy corpus!«), mag zwar davor bewahren, neue Methoden zu falschen Fragen zu entwickeln, behindert aber umgekehrt auch die Innovationskraft, mit bewährten Methoden zu neuen Fragen durchzustoßen. Dass gerade dieser Preis für geisteswissenschaftliche Methodologie besonders hoch ist, spiegelt die Suche nach Forschungsdesigns, die etwa verstehende Zugänge und empirische Analyse nicht bloß parallel oder sequentiell trennen, sondern iterativ und konkurrentiell aufeinander ansetzen.

Also: Brauchen die Literaturwissenschaften eine neue Hermeneutik? Aus germanistisch-mediävistischer Sicht kann die Antwort zwiespältig ausfallen. Einerseits müsste man sie entschieden verneinen, wenn man ernst nimmt, wie produktiv sich die altgermanistische Lektürepraxis behauptet – nach den Kulturwissenschaften, inmitten des Umbaus fachgeschichtlicher Archive und unter den Bedingungen digitaler Wissenschaft, ungeachtet sprunghafter Heterogenität zwischen gepflegten Methoden und der Goldgräberstimmung um neue Analysetools.

Solche Erfolge sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, welches Schwanken allein die Frage nach unzeitgemäßen oder erneuerungswürdigen Zügen der Hermeneutik auslösen kann: Sie treibt Extremreaktionen hervor, die entweder Krisen des Verstehens diagnostizieren oder deren Normalität unterstreichen. Selbstverständlichkeit peilt eine dritte Option an, die sich weniger markant positioniert, indem sie zwischen den emphatischen Extremen vermittelt. Sie scheint mir jedoch umso bedenkenswerter im Kontext der germanistischen Mediävistik, die ihre Erwartungen an Methodendiskussionen merklich heruntergestimmt hat. Mittelalterliche Texte zu lesen, ist weiterhin selbstverständlich, aber umso weniger diplomatisch, je weiter die Kosten solcher Selbstverständlichkeit steigen. Sie wird, indem sie kritische wie konservative Antworten gleichermaßen aufweicht, selbst zur Provokation. Diese Provokation hervorzulocken, könnte den reflexiven Wert der Frage nach Hermeneutik ausmachen, selbst um den Preis neuer Positionierungen.