Die Diskussion um eine Krise der Hermeneutik ist den Geisteswissenschaften keineswegs neu,Footnote 1 wohl aber sind es die Umstände, unter denen die Debatte heute geführt wird: Die Herausgeber*innen dieser Zeitschrift machen in ihrem Call zur vorliegenden Ausgabe selbst auf die »wiederholt diagnostizierten Krisen zwischen kulturalistischer und digitaler Wende«Footnote 2 aufmerksam, die nicht zuletzt die Frage aufwerfen, ob es heute eine neue ›digitale Hermeneutik‹ braucht, um den umfangreichen gesellschaftlichen Veränderungen gerecht zu werden, die die Digitalisierung der letzten Jahrzehnte mit sich gebracht hat.Footnote 3 Im Fokus stehen dabei nicht nur neue Formen der Wissensproduktion und Kommunikation,Footnote 4 sondern auch Wechselwirkungen zwischen Technologien und menschlicher Aktivität, die das traditionelle Verhältnis zwischen Autor*innen, Werk und Rezipient*innen zu einem verzweigten Netzwerk aus Nutzer*innen, Plattformen und Inhalten aufgespalten haben:

»it would be a ›designer fallacy‹ to believe that as in the case of the author’s intentions with regard to the meaning of his text, it is the designer, as an isolated individual who has the control over the meaning of the object without taking into account the inter-relations with the materials being worked with, the uses and users, including their complex and multistable cultural contexts.«Footnote 5

Auch dort, wo wie in den digitalen LiteraturwissenschaftenFootnote 6 der Einfluss technischer Innovation primär auf den computergestützten Umgang von Interpret*innen mit literarischen Texten (»enhanced reading«Footnote 7) beschränkt ist, gibt es inzwischen den Wunsch nach einem »konzeptuelle[n] Entwurf einer quantitativen oder digitalen Hermeneutik«.Footnote 8 Über das Methodenverständnis, das mit einer solchen »Bindestrich-Hermeneutik«Footnote 9 einhergeht, ob computergestützte Textanalysen nun also eine Weiterentwicklung oder Einschränkung des Hermeneutikbegriffs fordern, scheint auch für Vertreter*innen der digitalen Literaturwissenschaft derzeit noch kein Konsens zu bestehen:

»Vielmehr verhält man sich gegenüber der Hermeneutik entweder (noch) gar nicht, da man sich – etwa an der Informatik oder Computerlinguistik ausrichtend – als Disziplin zwischen den Disziplinen versteht und eigene Praxisformen erst einmal als in der Entwicklung begreift, oder man definiert die eigenen Praktiken als eine der Hermeneutik sekundierenden Form des Textumgangs, deren Ziel Hermeneutik, Informatik und Computerlinguistik gleichermaßen verbindet: Textverstehen.«Footnote 10

Eine Abkehr von hermeneutischen Traditionen des Textverständnisses mit dem Ziel einer »prinzipiellen methodologischen und theoretischen Umorientierung der Literaturwissenschaft in Richtung auf die empirischen Sozialwissenschaften«,Footnote 11 wie sie in der Diskussion um eine empirische Literaturwissenschaft in den 1970er und 1980er JahrenFootnote 12 noch vehement gefordert wurde, ist hingegen nicht zu beobachten.Footnote 13 Stattdessen lassen methodologische Studien aus der digitalen Literaturwissenschaft ein auffälliges Interesse an der OperationalisierungFootnote 14 und Zergliederung von Verfahren erkennen. Dies lässt sich sicherlich zum einen auf einen höheren Grad formaler Explizitheit zurückführen, der kennzeichnend für computergestützte Verfahren der Textanalyse ist: »Arbeitsschritte wie das Preprocessing, das Identifizieren von Featuren und das Manipulieren von Parametern«Footnote 15 im Umgang mit literarischen Texten erfordern jenseits explorativer Probebohrungen begründete Entscheidungen, um nicht nur die Wiederholbarkeit, sondern zugleich auch eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit der getroffenen Vorentscheidungen und Einstellungen zu gewährleisten.Footnote 16

Zum anderen – und diese Einsicht scheint mir für eine Funktionsbestimmung der Hermeneutik in der digitalen Literaturwissenschaft zentral zu sein – ist einem nicht unbeträchtlichen Teil computergestützter Textanalysen methodisch ein wiederholter Wechsel des Untersuchungsobjekts eingeschrieben. Wenn etwa Franco Moretti im Anschluss an eine NetzwerkanalyseFootnote 17 von Shakespeares Hamlet betont, dass erst ein Netzwerk als visuelle Repräsentationsform ihm ermöglicht habe, die Bedeutung der Horatio-Figur für den Plot des Dramas ›sehen‹ zu können,Footnote 18 Friedrich Michael Dimpel ausgehend von einer statistischen Auswertung sprachlicher und nicht-sprachlicher Aktivitäten in ausgewählten deutschsprachigen Texten des Mittelalters Bedarf dafür sieht, »über Gegenspieler und Bösewichte neu nachzudenken«,Footnote 19 oder Gabriel Viehhauser im Kontext einer digitalen Narratologie des Raumes von »überraschende[n] Entdeckungen von Strukturmustern« spricht, »die nicht sofort ins Auge springen bzw. durch die Strukturanalyse deutlicher hervortreten«,Footnote 20 dann besteht das tertium comparationis dieser Studien in der Vorstellung, dass eine computergestützte Verarbeitung literarischer Texte informierte Relektüren anstoßen und dabei den Blick für Phänomene schärfen kann, die zuvor nicht erkannt wurden: »Solche Modelle eröffnen Einsichten, die man am Gegenstand selbst, also an den zugrunde liegenden Texten, nicht gewinnen kann. Und diese Einsichten sind für Literaturwissenschaftler interessant, wenn sie gleichzeitig Texte lesen.«Footnote 21

Die auffällige Verwendung von Metaphern des Visuellen ist im Kontext von Interpretationsverfahren, die systematisch auf die Visualisierung von Interpretationsprozessen setzen, sicher kein Zufall. Für eine Funktionsbestimmung der Hermeneutik in der digitalen Literaturwissenschaft ist nun aber vor allem der Status entscheidend, der Kurven, Netzwerken oder Dendrogrammen in Analysen literarischer Texte zukommt:

»At worst, visualizations are taken as quasi-objects that appear to exist on the same ontological level as the objects whose properties they claim to faithfully represent. But especially in digital literary studies, we are dealing with data that rather refer to an interpretation process. Polyvalence is a characteristic of this data generated by interpretation.«Footnote 22

Sieht man von Analysen ab, die wie z.B. Satzgliedanalysen, Konkordanzanalysen oder stilometrische Vergleiche auf Basis von relativen Worthäufigkeiten direkt an der Textoberfläche ansetzen, handelt es sich bei Visualisierungen in der digitalen Literaturwissenschaft um Objekte, die selbst das Zwischenergebnis hermeneutischer Interpretationsbemühungen sind und zugleich einer Auslegung bedürfen, um wiederum Aussagen über die eingangs untersuchten literarischen Texte zu ermöglichen.

Nun könnte man einwenden, dass die bloße Existenz von Verfahren der statistischen Untersuchung, Visualisierung oder Annotation literarischer noch keineswegs Bedarf für eine ›digitale Hermeneutik‹ schafft, da es sich dabei um Tätigkeiten handelt, die die Arbeit von Literaturwissenschaftler*innen grundsätzlich und auch ohne die Zuhilfenahme von Computern begleiten kann.Footnote 23 Ob man nun bei interpretativen Zwischenprodukten im Anschluss an Roland Barthes’ »strukturalistische Tätigkeit« von »Simulacren«Footnote 24 spricht,Footnote 25 wie Geoffrey Rockwell die »hybrid texts generated by computers« als »interpretative aids«Footnote 26 versteht oder Annotationen nach Peter Boot als »Mesotext« zum »scholarly equivalent of the measurement data of science«Footnote 27 erklärt, ändert nichts an der Interpretationsbedürftigkeit dieser Objekte. Diese Aktivitäten sind daher in erster Linie nicht durch die Frage gekennzeichnet, ob sie am Computer stattfinden oder händisch durchgeführt werden, sondern primär durch eine Pendelbewegung zwischen literarischem Text und interpretativem Zwischenprodukt, die immer auch zu einer gesteigerten Methodenreflexion führt. So kann beispielsweise mitunter erst die konkrete Annotation literarischer Texte mithilfe narratologischer Kategorien Ambivalenzen und Entscheidungsprobleme aufzeigen, die bestehenden erzähltheoretischen Begriffen eigen sind.Footnote 28 Charakteristisch für die digitale Literaturwissenschaft, deren Verfahren bekanntlich häufig ein höheres Maß an Explizitheit von Vorannahmen und Konzepten verlangen, ist also nicht der Computer als Medium, sondern das Freispielen von Wechselwirkungen zwischen Theorie, Methode und Gegenstand: »Damit sind sowohl konzeptions-, theorie- als auch textbezogene Erkenntnisse zu erwarten, die ursprünglich nicht Teil einer konkreten Fragestellung waren (Serendipitätseffekte).«Footnote 29

Wie geht man nun aber terminologisch mit diesen Erscheinungen um? Folgt man zunächst einmal der Differenzierung der hermeneutischen »Leitbegriffe«Footnote 30 des ›Verstehens‹ und ›Interpretierens‹ als »temporal unterscheidbare Akte«,Footnote 31 wobei die Interpretation den Vorgang beschreibt, durch den sich Verständnis als Ziel hermeneutischer Anstrengungen überhaupt erst realisieren kann,Footnote 32 ließe sich für die digitalen Literaturwissenschaften das ›Modellieren‹ als zusätzliche Kernaktivität bestimmen, die philologische, statistische, informatische und technische Überlegungen umfassen kann. Dieser Form hermeneutischer Auseinandersetzung mit literarischen Texten könnte man nun sicherlich das Label einer ›digitalen Hermeneutik‹ anheften. Damit träfe man allerdings gerade nicht den modellierenden und oftmals experimentellen Charakter aktueller Verfahren aus der digitalen Literaturwissenschaft, sondern würde vor allem auf die Nutzung des Computers sowie digitaler Ressourcen als Differenzmarker abstellen und so letztlich eine Unterscheidung von ›computergestützter‹ und ›händischer‹ Hermeneutik betonen. Anstelle der Etablierung einer weiteren ›Bindestrich-Hermeneutik‹ erscheint es mir daher sinnvoller, bei der in den digitalen Literaturwissenschaften ohnehin schon technisch notwendigen Zergliederung von Verfahren in einzelne Arbeitsschritte anzusetzen und auf diese Weise heuristisch zwischen Interpretation, Modellierung und Verstehen zu unterscheiden, ohne damit gleichsam produktive Wechselwirkungen zwischen der Lektüre und Formalisierung von Texten zu unterschlagen, die diese Form der Analyse literarischer Texte auszeichnet.