Lektüren des Ästhetischen, d. h. Lektüren ästhetisch modellierter Texte,Footnote 1 bieten in der Regel einen ›Paradefall‹ für den hermeneutischen Zugriff, insbesondere in der Perspektive der ›älteren‹ Hermeneutik von Wilhelm Dilthey über Hans-Georg Gadamer bis hin zu Hans Robert Jauß.Footnote 2 Die enge Korrelation von Hermeneutik und Ästhetik erscheint dabei naheliegend. So setzen Lektüren des Ästhetischen in hohem Maß die souveräne Kenntnis der jeweiligen Sprache und das Wissen um textkonstituierende Komponenten als Grundbedingungen eines gelingenden Leseprozesses voraus, d. h. die Regeln eines grammatischen, philologiebasierten Verstehens gemäß Schleiermacher.Footnote 3 Ebenso entziehen sie sich einem oberflächlichen, rein konsumierenden Lesen, sondern drängen auf Reflexion und Interpretation, wollen sie in Prozessen der Sinnkonstitution über das Ideal des delectare hinauskommen. Und sie verweigern sich dezidiert einem Urteil nach den Oppositionskriterien von richtig oder falsch: Der Anspruch des Verstehens zielt auf komplexere Relationen.Footnote 4 Hermeneutische Bedeutungserschließung gehört daher seit den Anfängen der Literaturwissenschaft zu den notwendigen methodischen Praktiken ästhetischer Lektüren.

Zugleich jedoch wird die hermeneutische Bedeutungserschließung im Feld des Ästhetischen an ihre Grenze geführt, werden Lektüren des Ästhetischen zum ›Härtefall‹ und zur Provokation hermeneutischen Verstehens. Der Grund hierfür lässt sich als Kehrseite dessen verstehen, was in den Lektüren des Ästhetischen die hermeneutische Erschließung an und für sich gerade einfordert – und dies in dreierlei Hinsicht: Erstens führt der ästhetische Anspruch des Textes selbst an jene Grenze, insofern er eben das als ›ästhetisch‹ auszeichnet, was in keiner propositionalen Aussage aufgeht, ja, was sich dem Begriff grundsätzlich entzieht. Indem der ästhetische Anspruch auf das Unbestimmbare als das Ungreifbare abzielt, lässt er auch das Unsagbare, das gleichwohl in der Sprache aufgehoben ist, ja, lässt er Sprache überhaupt hinter sich. Ein hermeneutisches Verstehen, das sich auf das Erschließen primär sprachlich konstituierter Bedeutung ebenso wie sprachlich vermittelter Wahrheit von Texten ausrichtet, verfängt sich damit in Widersprüchen.Footnote 5 Schwierigkeit bietet – zweitens – der ästhetische Gegenstand auch deshalb, als er in prononcierter Weise seine jeweilige Materialität und Medialität nicht nur in den Blick rückt, sondern ihm besonderes Gewicht zuspricht (hierzu zählen Rhythmus, Reim, Klang, Lautung, rhetorische Figuren, insbes. Strategien der Bildlichkeit, der synästhetischen Erfahrung; Fragen der Mündlichkeit, der Schriftlichkeit, der materialen Textkultur etc.).Footnote 6 Ästhetisches Wahrnehmen, das auf dieses Angebot reagiert, ist daher von sinnlicher Affizienz nicht zu trennen.Footnote 7 Ob und wie von hier aus ein rationales Verstehen möglich ist oder – noch intrikater – wie sinnliche Erfahrung in Erkennen umschlagen kann, gehört zu den wohl meist reflektierten Irritationen philosophischer Ästhetik. Wenn Hermeneutik jedoch Wahrnehmen mit Verstehen und Erkennen verbindet,Footnote 8 wird sie gerade hier auf eine besondere Probe gestellt. Und schließlich – drittens – bringen ästhetische Präsentationen in der Regel multiple Sinnebenen ins Spiel (von Phänomenen der Ambiguität über Angebote mehrfachen Schriftsinns bis hin zu nicht abschließbaren Lektürebewegungen der Dekonstruktion; in der Spannung von histoire und discours; im Integral von Sinnlichkeit und Sinn; in intermedialen Phänomenen etc.). Die Multiplikation der Sinnebenen droht den hermeneutischen Zugriff, sofern dieser sich in klassischer Weise Fragen »nach dem Autor, der Intention, der Tradition und der ontologischen Grundlage«Footnote 9 widmet, zu überfordern.

Die Spannung zwischen Parade- und Härtefall ästhetischen Fragens im Rahmen der Hermeneutik prägt sich wissenschaftsgeschichtlich analog zur Spannung zwischen der Hermeneutik als methodischem Primat in den Geisteswissenschaften und einer grundlegenden Skepsis ihr gegenüber aus. So sind einerseits im Zuge der hermeneutischen Skepsis, andererseits durch die Überforderung des hermeneutischen Zugangs über mehrere Jahrzehnte genuin ästhetische Fragen im Wissenschaftsdiskurs vielfach in den Hintergrund getreten, verbunden mit der kulturwissenschaftlichen Wende der Geisteswissenschaften, die vom schwierigen Geschäft der Bedeutungs- und Sinnsuche aus dem Text heraus den Blick grundsätzlich auf Kontexte umlenken oder von posthermeneutischen Standpunkten aus die Bedeutungs- und Sinnsuche ganz in Frage stellen wollte:Footnote 10 »Die neuere Hermeneutik gibt [...] die Vorstellung eines ursprünglichen, mit sich selbst identischen Textsinns auf, den es durch die Interpretation freizulegen gelte.«Footnote 11 Verzichtet die Literaturwissenschaft aber auf die hermeneutische Bedeutungs- und Sinnsuche, so verlieren nicht nur ästhetische Lektüren insgesamt an Glaubwürdigkeit und Geltung; die Literaturwissenschaft selbst droht, wie Klaus-Michael Bogdal zu Recht anmahnt, »belanglos«, weil beliebig zu werden.Footnote 12 Von hier aus stellt sich die Frage, wie das hermeneutische Angebot der ›Deutung‹ als literaturwissenschaftliche Kernaufgabe aufrecht erhalten bleiben kann, ohne dass die »›Wahrheit‹ eines Textes«Footnote 13 jenseits der ihm eigenen Geschichtlichkeit oder ein »mit sich selbst identische[r] Textsinn«Footnote 14 jenseits ebenso dynamischer wie irritierender Fremdreferenzen gesucht werden müsste.

Es erscheint vor diesem Hintergrund plausibel, dass die ›Rückkehr der Ästhetik‹Footnote 15 in die geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen in zentraler Weise mit einer Neujustierung hermeneutischen Vorgehens in Verbindung steht. Denn die ›Rückkehr der Ästhetik‹ profitiert von einem entscheidenden methodischer Perspektivwechsel. Dessen Impuls verdankt sich über weite Strecken dem insbesondere in den Gesellschafts- und Naturwissenschaften in den letzten Jahren ausgerufenen aesthetic turn,Footnote 16 ebenso aber auch den historisch arbeitenden Geisteswissenschaften, die sich dezidiert auf die Kulturwissenschaften hin geöffnet haben. Das vermeintliche ›Defizit‹ gerade vormoderner Artefakte, ihre fehlende Autonomie aufgrund ihrer lebensweltlichen Eingebundenheit, gewinnt in dieser Perspektive neue Attraktivität. In beiden Ansätzen tritt eine funktionale Ausrichtung von ästhetischen Gegenständen in konkreten lebensweltlichen, soziokulturellen Kontexten in den Vordergrund. Fremdreferenzen erhalten vor diesem Hintergrund eine veritable Geltung. Und statt die ›Wahrheit‹ von Artefakten in einer der Zeit entzogenen Tiefendimensionen zu suchen, wird hier von den Auswirkungen oder der ›sozialen Energie‹ im Rahmen konkreter gesellschaftlicher bzw. politischer Praktiken gesprochen; Artefakte werden in neuer Weise von heterologen Kontexten her begriffen.Footnote 17 Im Gegensatz zu den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts kommt dabei aber nun gerade den historisch arbeitenden Kulturwissenschaften die Aufgabe zu, einsinnig sozialhistorisch-kausale Programmatiken als Verkürzung, die auch in den derzeitigen Natur- und Gesellschaftswissenschaften droht, aufzudecken im Rekurs auf die Widerständigkeiten des ästhetischen Materials, seiner formalen Eigenlogik oder seiner pluralen Traditionsimplemente, wie umgekehrt die jeweils gestaltenden Elemente auf der autologischen Seite des Artefakts an die heterologischen Impulse gebunden bleiben, deren Diskursabhängigkeiten, Geschichtlichkeit und Unzuverlässigkeit mittransportieren, sich je neu im epistemischen Transfer anpassen müssen.

Damit greift eine doppelte Dynamisierung:Footnote 18 ein ›unstillbarer‹ Austausch an Wechselbeziehungen zwischen der autologischen Dimension der Texte einerseits, ihrer heterologischen Dimension andererseits – und dies nicht, indem ein Text ›in‹ einem geistesgeschichtlichen ›Um‹-feld situiert würde, sondern indem sich dieser Austausch bis in kleinste Details der ästhetischen Faktur selbst hineinzieht, ebenso wie der Austausch von den sublimen Irritationen auf der Form‑, Motiv- oder Gestaltebene immer erneut angetrieben wird. Dieser Dynamik kann jedoch nur eine ›neue‹ und ›andere‹ Hermeneutik nachkommen, die die »produktive Offenheit« der Sinnsuche als performativen Prozess auffasst, mixed methods anwendet und nicht auf das fixierende Begreifen, sondern auf »Relationen des Erkennens« abhebt,Footnote 19 eine Hermeneutik, die jene ästhetische Wende unterstützt, ebenso wie jene auf diese verweist.

Beiden Ansätzen ist die Auffassung gemeinsam, dass Sinnsuche keineswegs den »Bändigungsversuch des Sinns«Footnote 20 für das Verstehen impliziert,Footnote 21 sondern umgekehrt die Forderung erhebt, eine »Bändigung« gerade nicht vorzunehmen. Darüber hinaus stellen beide ihren axiologischen Anspruch in neuer Weise aus: Eine Lektüre, die als gewinnbringend erachtet wird, und eine positive ästhetische Wertung spielen Hand in Hand. Und wie es nicht um eine »philosophische Hermeneutik post rem« geht, sondern um eine »literarische Hermeneutik in re«,Footnote 22 so haben sich die Lektüren des Ästhetischen in ästhetische Lektüren zu verwandeln, nicht um in anachronistischer Weise sich ›psychologisch‹ fundierten LesartenFootnote 23 wieder zuzuwenden, sondern um »Texte als Ereignisse ›anzunehmen‹«, indem mit Hilfe genauer literaturwissenschaftlicher Verfahrensweisen diese »in ihrer Bewirktheit und Einzigartigkeit zugleich rekonstruiert« werden können.Footnote 24

»Hermeneutik heute« heißt somit zu realisieren, dass Verstehen dort einsetzt, wo in grundsätzlicher Weise der Einsicht Raum gegeben wird, dass jedes Verstehen im performativen Prozess des Lesens und Interpretierens nicht an eine Ende kommen kann – und dies aufgrund der nicht still zu stellenden Austauschverhältnisse und der Fülle an möglichen Austauschebenen gerade im historischen ›Ereignis‹ des Textes selbst.Footnote 25 Jedes Verstehen impliziert so das Eingeständnis eines Nicht-Verstehens, beruht auf einer Krise des Verstehens,Footnote 26 ohne jedoch in einer »antihermeneutischen« grundsätzlichen Unlesbarkeit (Paul de Man) bzw. in einer »antihermeneutischen« grundsätzlichen Differenz, die kein Verstehen mehr erlaubt (Derrida), aufgehen zu müssen.Footnote 27 Das Angebot von handhabbaren Lösungen, eindeutigen Intentionen oder fragloser Gewissheit – ein Angebot also, dem das Krisenmoment nicht eingeschrieben ist – macht heute im postfaktischen Zeitalter eher misstrauisch, nicht weil Lösungen nicht erwünscht wären, sondern weil gewusst wird, dass ein Verstehen, das kein Krisenmoment kennt, nicht ausreicht. Die Antwort hierauf kann jedoch weder sein, das Bemühen um ein Verstehen ganz aufzugeben, noch Konfusion zum Normalzustand zu erklären. Als Antwort bietet sich vielmehr an, die Krise des Verstehens als Integral des Verstehens selbst aufzufassen.Footnote 28

Genau dies aber gehört zum Kerngeschäft ästhetischen Verstehens. Im ästhetischen Verstehen ist die Krise des Verstehens gleichsam auf Dauer gestellt, nicht aber als Versagen, sondern als Konzept, um mehr verstehen zu können als das rational Handhabbare, das explizit Beabsichtigte, das begrifflich Fixierte. Dieses ›mehr‹ zielt heute nicht länger auf den exklusiven Raum derjenigen Kunst, die sich die Freiheit einer eigenen Gesetzlichkeit oder eines mit sich selbst identischen Textsinns nimmt. Es zielt vielmehr auf die Ambiguitäten, die entstehen, weil Semantiken nicht außerhalb der Pragmatik zu denken sind, weil ästhetische Lektüren nicht aus Lebenswelten hinaus-, sondern in sie hineinführen, weil Artefakte nicht allein autologisch, sondern mindestens ebenso heterologisch bestimmt sind. Eine ›andere‹ Hermeneutik, eine Hermeneutik, die ihre Krise mitdenkt,Footnote 29 kann so mit einer ›anderen‹ Ästhetik korrelieren, deren Verstehen nicht im Anspruch ›interesselosen Wohlgefallens‹ oder reiner Präsenz aufgeht,Footnote 30 sondern die das ästhetische Agieren und Verstehen als zentralen Erschließungsmodus im Rahmen komplexer historischer und sozialer PraktikenFootnote 31 auffasst.Footnote 32 Hermeneutische Lektüren des Ästhetischen werden so, im gelungenen Fall, zu ästhetischen Lektüren,Footnote 33 die ästhetische Lektüren zu einer ästhetischen Praxis.Footnote 34 Eine ›andere‹ Hermeneutik hätte sich damit nicht nur den Status der Auslegungs-Kunst neu erobert, sondern hätte als Praxis einen gesellschaftlichen Ort allererst gefunden.