Bei der Frage, wie es die Germanistik mit der Hermeneutik hält, wird man vielleicht nicht zuallererst an den Kurstyp ›Einführung in das Mittelhochdeutsche‹ denken, in dem neben der Vermittlung von Grundlinien der Sprachgeschichte nicht selten grammatikalische Grundlagen bewusst gemacht werden müssen (was waren noch einmal Wortarten?). Doch lassen sich diese Kurse durchaus als Hort hermeneutischer Praxis verstehen, denn zumeist wird dort aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche übersetzt.Footnote 1

Die Besonderheit, dass es sich bei der Ausgangssprache um eine ältere Sprachstufe des heutigen Deutsch als Zielsprache handelt, die die Studierenden als Erstsprache erworben haben oder auf entsprechendem Niveau beherrschen, lässt die Begegnung mit dem Ausgangstext zwischen einem Wiedererkennen vertrauter sprachlicher Strukturen und einer Fremdheitserfahrung changieren. Dieser Fremdheitsaspekt ist in dem 2011 erschienenen Lehrwerk Mittelhochdeutsch als fremde Sprache in den Vordergrund gerückt worden, das auf Methoden der Fremdsprachendidaktik zurückgreift.Footnote 2 Aus übersetzungstheoretischer Sicht erscheint eine Festlegung darauf, wie fremd die Sprache ist, nicht unbedingt notwendig, hatte doch schon Friedrich Schleiermacher festgestellt, dass »die verschiedenen Entwicklungen derselben Sprache oder Mundart in verschiedenen Jahrhunderten schon in einem engeren Sinne verschiedene Sprachen sind, und nicht selten einer vollständigen Dolmetschung unter einander bedürfen«.Footnote 3 Bereits Schleiermacher geht noch einen Schritt weiter, indem er zum Übersetzen auch den synchronen innersprachlichen Transfer rechnet.Footnote 4 Ein enger Zusammenhang von Übersetzen und Verstehen wird im 20. Jahrhundert mit je anderer Rahmung sowohl in der philosophischen Hermeneutik durch Hans-Georg Gadamer als auch in der Linguistik von Roman Jakobson betont.Footnote 5

Für die Übersetzungswissenschaft ist der Konnex von Verstehen und Übersetzen zwar eine Selbstverständlichkeit; das Verhältnis der philosophischen Hermeneutik als Theorie und der Übersetzungswissenschaft als eher methodologisch ausgerichteter Disziplin ist aber durchaus nicht spannungsfrei.Footnote 6 Für den Bereich der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik, der eher der ›Methodenseite‹ zugerechnet werden kann, ist zu beachten, dass

»Lektüre und Übersetzung sich in unterschiedlichen diskursiven Formen äußern. Die niedergeschriebene Lektüre versteht sich als durch und durch zeitlich geprägten Moment in einem potentiell unendlichen Prozess des Sinnverstehens, der sich immer wieder am Text zu bewähren hat. Die Übersetzung hingegen kommt zustande als eine Reihe von Sinn-Entscheidungen und versteht sich als eine zumindest vorläufig abgeschlossene Repräsentation […] des Originals in der Zielsprache.«Footnote 7

Von der Anforderung der Abgeschlossenheit einer Übersetzung sind die mediävistischen Übersetzungsübungen relativ frei; denn es ist gerade ein Ziel dieser Kurse, ein Bewusstsein davon zu schaffen, dass es – insbesondere, aber nicht nur bei Texten mit einem hohen Grad an Literarizität – jenseits der Ebene der grammatikalischen (und ›klausurrelevanten‹) Korrektheit vielfältige Übersetzungsmöglichkeiten gibt und dass diese jeweils eine Interpretation darstellen. Im gemeinschaftlichen Ausloten der Übersetzungsmöglichkeiten werden Sinnschichten des Ausgangstextes zur Diskussion gestellt. Dabei wird nicht ein fester Textsinn postuliert, aber beim Übersetzen wird doch mit der Annahme einer gewissen Kohärenz der zu übersetzenden Äußerung gearbeitet, und auf einer textuellen Mikroebene werden zirkuläre Verstehensbewegungen vom Teil (z. B. dem Einzelwort) zum Ganzen (z. B. dem Satz) und wieder zurück vollzogen. Insofern ist das Verfahren hermeneutisch zu nennen.

Der Anteil des Subjekts bei den Verstehensprozessen ist in der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik bekanntlich intensiv erörtert worden, nicht zuletzt im Hinblick auf ›alte Texte‹, die nicht nur auf sprachlicher, sondern auch ästhetischer und auf der Vorstellungsebene aus heutiger Perspektive eine Mischung von ›Fremdem‹ und ›Vertrautem‹ bieten. Dass die reflektierte Auseinandersetzung mit Alterität(en) einen Erkenntnisgewinn bietet, der auch fachpolitische Dimensionen hat, ist von Christian Kiening bereits 2005 herausgestellt worden, indem er unter anderem betont hat, »[w]ie die Auseinandersetzung mit vormodernen Sinngefügen auch die Kategorien modifizieren kann, die wir zur Beschreibung gegenwärtiger Sinnstrukturen verwenden«.Footnote 8 Was Alteritätserfahrungen bei der traditionell geübten Praxis des Übersetzens aus älteren Sprachstufen des Deutschen betrifft, so haben sich die fach-, aber auch gesellschaftspolitischen Implikationen im Lichte der aktuellen identitätspolitischen Debatten um die Bedeutung des Subjekts beim Übersetzen noch einmal verändert: Schnell wird deutlich, dass Anforderungen wie sie für die Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht »The Hill We Climb« erhoben worden sind, dass nämlich die historische Autorperson und die übersetzende Person in biologischen Merkmalen und kultureller Prägung möglichst übereinstimmen sollten, die Konsequenz hätten, dass historische Texte nicht mehr übersetzt werden könnten, womit auch ihre Verstehbarkeit in Frage gestellt wäre.Footnote 9 Für mehrere Jahrhunderte alte Texte lässt sich ein kultureller Hintergrund zwar in der Regel rekonstruieren, aber eben nicht selbst erfahren; auch würde sich das Problem stellen, dass von den historischen Autorpersonen meist wenig bis gar nichts bekannt ist, zumal bei anonym überlieferten Texten. Der hermeneutische Zugang zum Übersetzen bietet vor diesem Hintergrund die Chance, sich von der Fixierung auf die Autorperson zu lösen – eine Pointe, die im Hinblick auf die poststrukturalistische Kritik an der Hermeneutik als Ironie der Geschichte erscheint. Vor allem zwingt ein hermeneutischer Ansatz zum Übersetzen zur Reflexion der eigenen Standortgebundenheit, die selbst bei großer Übereinstimmung biologischer Merkmale und kultureller Prägung vorhanden wäre, wie bereits Schleiermacher konstatiert hat: »Ja sind wir nicht häufig genöthiget, uns die Rede eines andern, der ganz unseres gleichen ist aber von anderer Sinnes- und Gemüthsart, erst zu übersetzen?«Footnote 10 Dass auch bei scheinbarer Vertrautheit ein temporäres Nicht-Verstehen für die übersetzende Auslotung möglicher Sinnpotenziale konstitutiv ist, lässt sich sprachtheoretisch begründen.Footnote 11

Beim Übersetzen aus dem Mittelhochdeutschen wird auf dieser Basis ein Verstehen gesucht, bei dem es gerade nicht um eine Identifikation mit dem Gesagten geht, sondern um die Rekonstruktion der Implikationen, auch wenn sie teils massiv von heutigen ethischen und ästhetischen Normen abweichen. Bei dieser Art übersetzenden Verstehens wird das ›Fremde‹ nicht getilgt,Footnote 12 und es erfolgt eine Sensibilisierung dafür, dass sich hinter scheinbar Vertrautem (wie etwa dem Lexem herze) ›Fremdes‹ verbergen kann (hier der Zusammenfall von Affekten und Verstand). Solche Beobachtungen können Ansatzpunkte für weitere linguistische Herangehensweisen (etwa zur Semantik) und literaturwissenschaftliche Textinterpretationen bieten, die nicht explizit als hermeneutisch ausgewiesen sein müssen, für die die hermeneutischen Grundoperationen aber die Basis bilden. Insofern stellt sich aus der Perspektive der Mittelhochdeutsch-Kurse weniger die Frage nach einer ›Rückkehr der Hermeneutik‹ als vielmehr die nach einer Reflexion der dort geübten hermeneutischen Praxis, bietet sie doch auch die Grundlage für kontrollierte Auseinandersetzungen mit Denkmustern, die nicht die eigenen sind, und das Infragestellen bestimmter Sinnfestlegungen. Das kann weit über die Germanistik hinaus als ›Schlüsselkompetenz‹ gelten.