Der Titel »Hermeneutik heute. Zur Krise des Textverstehens«, den diese Ausgabe der Zeitschrift für Linguistik und Literaturwissenschaft trägt, geht von einer Prämisse aus, die zu überprüfen ist: Es gebe derzeit eine Krise des Textverstehens. Angesichts einer solchen, tendenziell einen Verlust diagnostizierenden These ist grundsätzlich die Nachfrage zu stellen: Wer stellt bei wem eigentlich ein nicht mehr gelingendes Textverstehen fest?

Die Lamenti aus dem Bildungsbereich, die mangelndes Textverstehen – ich beschränke mich hier zunächst auf literarische Texte – bei ganzen Lerngruppen sehen, sind bekannt: Lernende verstünden Texte immer weniger. Doch was heißt Textverstehen und woran lässt es sich erkennen? Die klassische Hermeneutik hat hier bekanntlich versucht, Modelle mit Phasen vorzustellen, deren Differenzierung heute recht nebulös erscheint, weil sie nicht handlungsorientiert ist und die Phasen in der Auseinandersetzung mit Texten nicht beobachtbar sind (Begriffe wie ›Horizontverschmelzung‹, ›Erweiterung des Verständnisses‹ etc. belegen, dass es sich dabei um Ereignisse handelt, die erfahren werden, nicht aber um beobachtbare Prozeduren). Das Umschalten der Didaktik Anfang der 2000er Jahre auf Kompetenzorientierung hat ihren Sinn in der Erkenntnis, dass Verstehen sich nur ereignen, aber nicht angeleitet werden kann. Angeleitet werden können dagegen Methoden, mit Hilfe derer sich durch intensives Üben eine beobachtbare Fähigkeit entwickeln kann, auf höherer Abstraktionsebene und schließlich über den Text hinaus neue Zusammenhänge zu erkennen und darzustellen – das ist eine nüchterne Umschreibung dessen, was die Hermeneutik als »tieferen Sinn« beschrieben hat, wenn sie ihn auch im Text verortet und nicht im relationalen Geschehen zwischen Lesenden und den Texten oder aber in den Konstruktionen der Lesenden.

Wenn Hermeneutik heute mehr umfasst als die Phasen des Verstehens und auch Tätigkeiten, Fertigkeiten, Handlungsanweisungen und Wissensbestände einschließt,Footnote 1 so sind mit den Tätigkeiten, Fertigkeiten und Handlungsanweisungen diejenigen Bereiche benannt, die auch vermittelbar, d. h. anleitbar sind. Tatsächlich erfährt aber das Methodentraining in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft – das Training des basalen textanalytischen Handwerkszeugs – derzeit eine Vernachlässigung, was sich nicht nur an vielen Prüfungen der Studierenden ablesen lässt, sondern auch an deren selbstempfundenem und fremddiagnostizierten Bedarf an Methodenanleitung. Obwohl das Methodentraining nach wie vor curricular deutlich ausgewiesen ist, hat es seinen Stellenwert als reine Anfängerübung nicht verloren. Ob sich darin die Restbestände einer klassischen Hermeneutik feststellen lassen, die Methoden nur in subsidiärer Funktion, nämlich als Ausgangspunkt für ein höheres (geistreiches) Ereignis sehen, oder ob sich darin didaktische Ignoranz zeigt, die nicht um die Relevanz des ›Constructive Alignment‹ weiß, wonach die Lernaktivitäten mit Lernzielen und Prüfungsformen abgestimmt sein müssen, damit Lernerfolg erzielt werden kann, sei dahingestellt. Methoden als handwerkliche Techniken einer Erstaufschlüsselung des Objekts sichern die Fähigkeit, in und durch die Textlektüre einen zumindest schlanken Sinn konstruieren zu können, wenn er auch nur durch Beschreibung der eigenen Wahrnehmung des anderen Textes, seiner Textsorte, seiner sprachlichen Andersheit, seiner Rhetorik, seines Tons, seiner Figurenkonstellationen, seines Zeitmanagements etc. gewonnen wird.

Die Bedeutung dieser Tools auf dem Weg zu abstrakteren Sinnkonstruktionen ist nicht zu unterschätzen: Die Etablierung der Literaturtheorien seit den 1960er Jahren in den USA (z. B. New Criticism) geht auf akademische Anfängerübungen zurück, deren Stärke gerade darin lag, zu einem kulturellen Archiv versammelter Bedeutungstraditionen noch keinen Zugang zu haben.Footnote 2 Plakativ formuliert: Diejenigen, die noch nichts oder nur scheinbar Unwesentliches können, können zugleich ganz viel. Daran lässt sich erkennen: Defizienz- und Deszendenznarrative, die vorwiegend die Anciens des Bildungsbereichs lancieren, haben den Zugewinn, den eine Einrichtung oder Entwicklung hat, nicht im Blick, weil die Fokussierung auf den einen Sinn andere Entwicklungswege invisibilisiert. Aus wissenschaftlichen Gründen müssen aber Verluste und Gewinne gesellschaftlicher Strukturveränderungen bilanziert werden.

Welche Funktion hat das Umstellen von einem aus intensiver Textarbeit resultierenden umfassenden Textverstehen auf oberflächlichere Lektüre? Welchen Sinn hat es, dass das Abstellen auf einen Sinn fehlt? Auf der Hand liegt die Zeitdiagnose der beschleunigten oder verdichteten Gegenwart, die die Digitalisierung noch befördert hat. Wo es mehr Ereignisse oder Informationen zu synchronisieren gilt, braucht es ein kluges Informationsmanagement, eine Infrastruktur, die die Zugänglichkeit zu Informationen sichert, aber nicht deren Sinnangebote. Inhalte und ihre Bedeutung abzuspeichern ist immer daten- und damit energieintensiver, als sich den Zugang zu ihrer Ablage zu merken, wie schon antike Memorialtechniken wissen. Natürlich wird aus Intellektualität, die auf geistreiche Erkenntnisse aufgrund eines vertieften Verständnisses unterschiedlichster Objektbereiche setzt, dann technische Intelligenz, deren Leistung im Entbergen verborgener Strukturmuster aufgrund einer souveränen Kopplung unterschiedlichster Objektbereiche besteht. Die Geistlosigkeit digitaler Intelligenzen kann kritisiert werden, oft auch zu Recht, aber sie fördert zugleich auch neue Erkenntnisse zu Tage, die einem mit bestimmten Sinnannahmen befrachteten Beobachtungsansatz verborgen bleiben.Footnote 3

Wenn die hermeneutische Perspektive das Verstehen vom Wissensmanagement abgegrenzt sehen will, das aus rein ökonomischem Kalkül Wege und Verbindungen statt Inhalte und Bedeutungen priorisiert, dann wäre hier daran zu erinnern, dass auch die Interpretation, Haupttätigkeit der Hermeneutik, ein ökonomisierender Textumgang ist. Der Blick in die Geschichte der Hermeneutik belegt diese These: Hermeneutik – nicht in ihrer schon seit der biblischen Schriftauslegung praktizierten Form, sondern als begrifflich so bezeichnete Verstehenskunst – trat historisch dann auf den Plan, als Sinnangebote sich zunehmend vervielfältigt hatten: Als im Zuge der Aufklärung die traditionellen Autoritäten als Garanten von Sinn obsolet geworden waren, bedurfte es alternativer Ordnungsinstanzen, um Sinnkonkurrenzen zu regulieren.Footnote 4 Die Regulierungsinstanz, die mit der Hermeneutik auf den Plan tritt, ist tendenziell depersonalisiert und verlagert sich in das Verfahren: Hermeneutik als regulierende Methode bündelt und kanalisiert Verstehensmöglichkeiten und reduziert diese auf solche, die durch Verfahren legitimiert sind. Damit trägt die Hermeneutik der Tatsache Rechnung, dass Bedeutung individuell, aber nicht an personale Autoritäten gebunden ist, stattdessen konventionalisierbar sein muss. Sie hat diesen Spagat seit ihrem Einsatz Mitte des 18. Jahrhunderts im Blick, wenn sie sich zwischen Individualisierung (Chladenius’ »Sehe-Punckt«) und Universalisierung (der alles umschließende Zeichenzusammenhang) aufspannt.

Hermeneutik als Verfahren garantiert das Sinnangebot der Texte durch Reduzierung auf bestimmte Sinnformen. Als eine solche Verfahrenstechnik betrachtet, ist sie genauso intelligent wie ein oberflächliches, vernetzendes Lesen, das sie kritisiert. Offensichtlich ist es notwendig, Sinn nicht oder nur in reduzierter Form anzueignen und abzuspeichern. Albrecht Koschorke hat im Rahmen seiner allgemeinen Erzähltheorie bemerkt, dass Erzählen seine Funktion darin hat, ein »›bequem[es]‹« Sinnangebot zu liefern, eine »mittlere Ebene der Ordnungsstiftung«. Es reiche »im Allgemeinen aus, wenn eine Sache ›nur einigermaßen‹ verständlich« sei, das sei ein »Grunderfordernis der psychischen Ökonomie«.Footnote 5 Was hier als anthropologische Grundannahme zur Funktion des Erzählens entwickelt wird, mag analog für das Lesen und die hermeneutische Tätigkeit gelten: Der tatsächliche Bedarf an komplexen Sinnkonstruktionen, die sich aus der intensiven Beschäftigung mit einem Text ergeben, ist mäßig.

Natürlich frustriert das diejenigen Lehrenden und auch Studierenden, zu deren wissenschaftlichem Ethos es gehört, nach neuen Zusammenhängen auf fortschreitender Abstraktionsebene zu suchen. Es frustriert vor allem, weil die obige Zeitdiagnose natürlich auch für den Bildungsbereich gilt: Zeit für eine intensive Auseinandersetzung mit Texten fehlt, gerade auch seit den Bologna-Reformen. Und wenn man schaut, was in den Literaturwissenschaften bildungspolitisch unterstützt und durch finanzielle Förderung belohnt wird, dann sind es häufig Forschungsanträge, die thematisch einen großen Bogen schlagen. Man kann in der eigenen Lehrpraxis versuchen, Lernende zu einer intensiven und immer wieder neu ansetzenden Arbeit mit einem Text zu bewegen und d. h. mit neuen Relevanzzumutungen zu konfrontieren, aber das wird nicht ohne eine ressourcenintensive Hinwendung zu jedem einzelnen Lernenden und dessen Ressourcenausbau gehen. Wenn Verstehen ein individuelles Ereignis ist, wie die klassische Hermeneutik es lehrt, dann muss die Begleitung ebenso individuell sein. Das ist in Zeiten der Massenuniversität schlichtweg nicht leistbar. Aber gerade die Tatsache, dass das Ereignis des Textverstehens nur angebahnt, aber nicht ausgelöst werden kann, sollte Bildungsbeunruhigte kalmieren, wenn sie genug Analysemethoden trainiert haben, wenn sie Studierende selbstständig Probleme und Fragen, die sich aus der Textlektüre ergeben, haben entwickeln lassen und wenn sie verdeutlichen konnten, dass deren Lösung notwendig ist (für Prüfungen, für das wissenschaftliche Selbstverständnis, für berufliche Karrieren oder für die eigene kognitive Übung). Wird diese Relevanzzumutung von Lernenden angenommen, können sie heute wie in der Vergangenheit Texte verstehen. Denn natürlich gibt es zu allen Zeiten oberflächlich wie intensiv Lesende, halbwegs wie auf hohem Abstraktionsniveau Verstehende. Die in Lektüre und Verstehen Genügsamen sind angesichts der heutigen Studierendenzahlen nur sichtbarer.

Für die Hermeneutik ergibt sich also bei näherer Betrachtung nicht wirklich ein krisenhafter Zustand, sondern sie ist angesichts der veränderten Bedingungen der Gesellschaft insgesamt und der Literatur im Besonderen vor neue Herausforderungen gestellt. Sie wird als Verstehenskunst nicht obsolet werden, denn eine grundsätzliche Notwendigkeit zum Erklären und eine ebenso grundsätzliche Fähigkeit zu hermeneutischen Verfahren ist natürlich immer vorhanden. Jede soziale Interaktion zielt auf Verstehen, und jede Störung der Kommunikation muss durch Interpretation geordnet werden. Hier ist der genuine Platz für eine literaturwissenschaftliche Hermeneutik, die als Expertin für Sinnkonstruktionen in Anspruch genommen werden kann, um das allgemeine Interpretationsgeschäft zu ordnen oder auch um die Interpretationsleistungen anderer Akteure zu kommentieren: Denn mit der Zunahme an Kommunikationsdichte in digitalen Zeiten übernehmen auch technische Programme ›Interpretations‹-aufgaben,Footnote 6 deren Lösungen oft unmissverständlich davon zeugen, dass eine Maschine ›gedeutet‹ hat. Gerade angesichts einer algorithmengesteuerten Selektion von Information und Bündelung zu neuen Sinneinheiten kann sich eine offen bleibende Hermeneutik profilieren.

Zu den Herausforderungen, der sich die Hermeneutik heute stellen muss, gehört nicht nur die oben beschriebene, wissenschaftlich notwendige Relevanzzumutung angesichts von ökonomischem Lesen, sondern auch eine Umstellung auf einen erweiterten Gegenstand: Wenn die Literaturwissenschaften nicht nur klassische Textsorten beobachten, sondern Kommunikation insgesamt, wenn der Begriff von Literatur sich auf Netzkommunikation ausgeweitet hat, sollte eine klassische Hermeneutik sich darauf einstellen. Wenn sie zuvor auf das Entbergen eines Sinnes im kodifizierten Text gesetzt hat, hat sie es nun auch mit sehr viel flüchtigeren Untersuchungsgegenständen (z. B. Twitter-Feeds) zu tun. Wenn sie zwar nicht von einem naiven Intentionalismus ausgeht, wohl aber von einer »transparente[n] Textintention, an der unhaltbare Interpretationen scheitern«Footnote 7, dann muss man dies angesichts von kollaborativen Schreibprojekten oder generativer Codeliteratur befragen. Wenn Netzkommunikation, weil sie unter Abwesenden stattfindet, in den sozialen Medien auf wenige Zeichen reduziert ist und darum Emojis und andere bedeutungsverdichtende Symbole eingesetzt werden, um Sinn zu stabilisieren, dann konzentriert Hermeneutik sich nicht mehr nur auf Semantik, sondern auch auf semiotische Phänomene. Dieser Umbau hat in vorangegangen Zeiten des Medienwandels (Radio, Fernsehen) schon begonnen und steht in einer digitalen Gesellschaft erneut an. Doch eine Krise zu diagnostizieren würde insinuieren, dass Hermeneutik nicht in der Lage ist, auf den Strukturumbau der Gesellschaft zu reagieren. Doch gerade weil sie sich als eine Kunst versteht, deren Kennzeichen es ja ist, mit Formenvarianz und unterschiedlichen Sinnangeboten umzugehen, kann Hermeneutik beweisen, dass sie nach wie vor aufschlussreich für das Verstehen von Texten – Texturen sämtlicher Art – ist.