1 »Hermeneutik heute« und das Interesse an Methodendebatten

Unter den Konterfeis von Goethe und Schiller präsentiert sich die Trierer Germanistik auf ihrer Homepage als kulturwissenschaftliche Disziplin. Studierende nehmen dies mit Blick auf das Fach insgesamt und nicht nur diesen einen Standort zu Recht als selbstverständlich wahr. Vielen erschließt sich erst in Einführungen in methodische Entwicklungen, dass jahrzehntelang kontrovers über eine kulturwissenschaftliche Orientierung debattiert wurde. Und sie nehmen wahr, dass es in verschiedenen Öffentlichkeiten – fachintern, interdisziplinär und darüber hinaus – auch noch aktuell ein Interesse an Verhältnisbestimmungen zwischen kulturwissenschaftlichen und hermeneutischen Ansätzen gibt.Footnote 1

Die Frage nach Literaturwissenschaft ›und‹ bzw. ›als‹ Kulturwissenschaft ist weiterhin ein besonderes Thema im Durchgang durch den Methodenparcours und führt zu grundsätzlicheren Überlegungen: Braucht ein Fachteil eine gemeinsame oder zumindest dominante Methode? Welches Verständnis von ›Philologie‹ und ›Kulturwissenschaft‹ gibt es im Gesamtfach und in einzelnen Fachteilen? Lassen sich hermeneutische von kulturwissenschaftlichen Interpretationsansätzen überhaupt sinnvoll trennen? In welcher Weise betreffen Überlegungen zur Methodik nicht nur disziplinär spezifische Aufgaben und Kompetenzen, etwa die Praxis der Interpretation, sondern zugleich die Vorstellung vom Gegenstandsbereich, also den Begriff und Stellenwert von Literatur? Hat Methodenpluralismus in der Fachwissenschaft eine andere Bedeutung als in der Fachdidaktik?

Aushandlungsprozesse über Methoden konfrontieren Studierende mit unterschiedlichen Selbst- und Fremdbildern des eigenen Faches und regen damit zur Auseinandersetzung nicht nur mit der disziplinären Selbstpositionierung, sondern darüber hinaus mit dem eigenen Rollenverständnis an. Deshalb sind sie für mich als Forschende und Lehrende und für die Wissenschaftskommunikation in den Geisteswissenschaften gleichermaßen interessant.

»Wie hält es die Germanistik mit der Hermeneutik?« Diese Frage im Call for Papers (CfP) lässt sich u. a. als Einladung verstehen, Veränderungsnotwendigkeiten in der Germanistik zu bestimmen. Dafür ist ein Blick auf Langzeitdebatten wie die kulturwissenschaftliche Orientierung der Literaturwissenschaft hilfreich. Allerdings wurde die Frage nach der Hermeneutik unmittelbar mit einer »Krise des Textverstehens« verknüpft. Der Call gibt mir deshalb vordringlich einen Anlass zu fragen, wie und welche Fachdebatten wir führen (sollten).

2 »Hermeneutik heute?« im Kontext kultur- und digitalisierungskritischer Diagnosen

Auch im Themenbeitrag »Bindestrich-Hermeneutiken – Neue Verortungen der Lektüre?« wird Hermeneutik in Verbindung mit einem Krisennarrativ angepriesen:

»Hermeneutik tut not: Angesichts des alltäglichen Scheiterns der Aufklärung in der kulturellen Praxis müsste dies eine ziemlich konsensfähige Formel sein. Man mag ihr schon aufgrund des Eindrucks zustimmen, dass zentrale Kompetenzen im reflektierten Umgang mit Sprache und Text gegenwärtig zu verschwinden scheinen.«Footnote 2

Sowohl die funktionale Begründung als auch der defizitorientierte Fokus auf die Gegenwart, garniert mit einer doch recht offensiv formulierten Konsensvermutung, irritierten mich. Als ich im Sommersemester eine Vorlesungsstunde über das Thema Kanon hielt, präsentierte ich den Studierenden u. a. einen Spiegel-Titel aus dem Jahr 2001, der nach der Orientierungsleistung des literarischen Kanons im Rahmen eines allgemeinen Bildungsnotstandes fragte.Footnote 3 Es ist ein zufälliges Beispiel dafür, dass die Behauptung einer aktuellen Krisenhaftigkeit angesichts des Wiederholungscharakters kulturkritischer Verfallsdiagnosen einer Erklärung bedarf, die das Verständnis des eigenen Gegenstands mit in den Blick nimmt. Sie kann nicht einfach als plausibilisierende Referenz funktionieren. Und in welcher Weise lässt sich die Beobachtung, dass die »Aufklärung in der kulturellen Praxis« scheitere, stützen durch den ›Eindruck‹, »dass zentrale Kompetenzen im reflektierten Umgang mit Sprache und Text gegenwärtig zu verschwinden scheinen«? Was ist hier ›kulturelle Praxis‹, was ›Text‹?

Schauen wir kurz auf das Dauerkrisenthema ›Text‹, das neben Textverstehen in der Literaturwissenschaft vor allem Textkenntnis betrifft. Eine oft gehörte Klage lautet, dass Studierende kein grundlegendes Kanonwissen aus der Schule mitbringen – aus kulturkritischer Sicht: nicht mehr mitbringen. Das hat mehrere Gründe, u. a. einen veränderten Status des Literaturunterrichts innerhalb des Deutschunterrichts, den Literaturwissenschaftler:innen weiterhin ungern zur Kenntnis nehmen. Was bedeutet das für die universitäre Lehre? Einerseits nicht viel. Vor allem im Rahmen von Literaturgeschichte ist es eine Aufgabe, Einblicke in historisch geformte Kanonvorstellungen zu geben und ein Bewusstsein für (institutionelles) Wertungshandeln zu schaffen. Dass damit gleichzeitig Kanonwissen und Kanonkritiken (z. B. feministische, genderorientierte und postkoloniale Kanonkritiken) sowie Kanonpluralisierung zu vermitteln sind, ist keine paradoxe Anforderung, sondern ein Ausbalancieren verschiedener Orientierungsleistungen. Und damit kommt das Andererseits ins Spiel. Diese Vermittlung muss sich bewusst sein, dass gerade Studienanfänger:innen unterschiedlich umfangreiche und unterschiedlich intensive ästhetische Erfahrungen mit Texten haben. Darauf kann man produktiv reagieren, indem man Fragen der Mediensozialisation und -differenz in der Gegenwart mit in den Blick nimmt und das Thema Literaturgeschichte und Kanon(es) von der Grundsatzfrage aus führt, was literarische Bildung in der Gegenwart bedeuten kann und was eine nationalphilologische Perspektive der Literaturgeschichte in diesem Zusammenhang leistet (und was nicht) u. a. m. Dass Medialität und Gegenwartsorientierung wichtige Bezugspunkte der disziplinären Selbstpositionierung sind, darauf weist auch eine »Vermutung« im CfP, die zwei als krisenhaft erfahrene Entwicklungen in den Blick rückt:

»Im Hintergrund steht dabei die naheliegende Vermutung, dass die wiederholt diagnostizierten Krisen zwischen kulturalistischer und digitaler Wende im Punkt der Krise des Textverstehens zusammenlaufen.«Footnote 4

Während die Krisennarrative und der damit verbundene kulturkritische Spin der angebotenen Hermeneutik-Debatte ein Unbehagen bei mir auslösten, sehe ich im Wiederaufgreifen der älteren Auseinandersetzung um den Cultural Turn in Verbindung mit einer nicht mehr jungen, aber immerhin jüngeren Debatte um Digitalität eine Chance für die fachwissenschaftliche Selbstverständigung. »Hermeneutik heute?« lässt sich erneut beziehen auf Grundbegriffe wie ›Kultur‹ und ›Text‹, auf die Bedeutung von Medienwandel respektive Medienkonkurrenz in Bezug auf den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft, also Literatur und Lesen in der Digitalität, und last but not least auf digitale Methoden in literaturwissenschaftlicher und literaturdidaktischer Forschung und Lehre. Die Reflexion der eigenen Methoden und wissenschaftlichen Praxis kann für sich stehen, ist aber umgekehrt nicht (ganz) losgelöst von der Frage zu diskutieren, welche Art fachwissenschaftliche und bildungspolitische Orientierungsleistung das Fach erbringen will. Und das betrifft keineswegs ›nur‹ die Lehramtsausbildung, sondern alle Studiengänge. Wo verlaufen also die Fronten? Zwischen Universität und Schule? Zwischen Literaturwissenschaft und Fachdidaktik? Oder innerakademisch im Sinne doppelter Fachzuordnungen wie z. B. Einzelphilologie und Digital Humanities? Wenn wir diese Debatte sinnvoll führen wollen, können kulturkritische Annahmen nicht der Ausgangspunkt sein.

3 Veränderungsnotwendigkeit: Germanistik in der Digitalität

Dass man der Digitalisierung nun »die Lösung zu einem Problem zutraut, an dem sie zuvor schon beteiligt war«Footnote 5, klingt eher nach einer impliziten Schuldzuweisung als nach einer offenen Ursachensuche für die konstatierte Krise. Entsprechend wird der offene Brief »Zur Verteidigung der Präsenzlehre« in den CfP eingebunden:

»Dass die Argumente für die Präsenslehre (sic!) für hermeneutisch orientierte Geisteswissenschafter* innen mit einschlägiger Lern- und Lehrerfahrung evident erschienen, im Gegenzug aber auch von zahlreichen Kommentator*innen aus den digitalen, sog. neuen sozialen Medien aufgrund ihrer technischen Nutzungskalküle prompt in Abrede gestellt wurden, zeugte sofort von jenem Hiat, vor dem der Brief warnen wollte.«Footnote 6

Derzeit sprechen wir darüber, wie wir im vierten Pandemiesemester möglichst viel sichere Präsenz gestalten wollen, und ich beteilige mich daran. Den Brief hatte ich nicht unterschrieben, weil ich zwar Präsenz auch damals schon vermisste, aber sowohl den Zeitpunkt dieses Aufrufs im ersten Pandemiesemester als auch die Art und Weise, wie über Präsenz als zu verteidigendes Gut gegenüber digitaler Lehre gesprochen wurde, als mindestens ungeschickt bis unangemessen empfand. Welche »Nutzungskalküle« sollten mich dabei geleitet haben? Als Literaturwissenschaftlerin, die auf Twitter in der Wissenschaftskommunikation aktiv ist (@geierandrea2017) und sie mit der Lehre verbindet, empfinde ich die Gegenüberstellung der beiden Gruppen von Akteur:innen schlicht als kurios. Wären meine kritischen Anmerkungen in einem Zeitungsartikel publiziert worden, hätte ich ihn, falls digital verfügbar, wiederum in den Sozialen Medien geteilt. Der beklagte Hiat wird allererst in der vorliegenden Lesart der Debatte konstruiert.

Die Germanistik hat wie andere Philologien ein genuines Interesse daran, das Gespräch über Digitalisierungsstrategien von Hochschulen mitzugestalten, damit nicht nur allgemeine und übergreifende, sondern gerade auch fach- bzw. disziplinenspezifische Bedarfe in der Lehre berücksichtigt werden. Wir müssen absurden, aber nichtsdestotrotz existierenden Vorstellungen, dass digitale Lehre Sparpotenziale habe und Universitäten vor allem ökonomische Vorteile bringen könnte, selbstverständlich klar entgegentreten und sollten stattdessen auf Ausstattung, Ausbau und Unterstützung digitaler Lehre als Ergänzung von Präsenzlehre hinwirken, die didaktisch und organisatorisch-sozial – Stichwort: Inklusion – gut begründet ist und einen entsprechenden nachhaltigen Kompetenzaufbau auf Seiten von Lehrenden und Lernenden fördert. Dass die Diskussion um digitale Lehre durch die Pandemie unfreiwillig an Fahrt gewonnen hat, ist kein Argument, sie nun nicht zu führen. Lehrformate wie etwa die Vorlesung, an deren didaktischer Qualität schon lange Zweifel bestehen, können nun erneut gründlicher auf den Prüfstand gestellt werden. Dabei hilft es gerade nicht, wenn mit einem allgemeinen Verweis auf die Bedeutung der Hermeneutik für die akademische Gesprächskultur indirekt die Präsenzlehre idealisiert wird.

Wir sollten in einen Austausch darüber treten, wie wir unser Fach und unsere Lehre in der digitalen Gesellschaft positionieren wollen. Im Digitalisierungsdiskurs kumulieren fachpolitische, bildungswissenschaftliche, fachwissenschaftliche und didaktische Aspekte. Was im Moment gebraucht wird, sind adäquate Problembeschreibungen für alle diese Felder, aber mehr noch eine Verständigung darüber, dass innerhalb einzelner Felder immer mehrere dieser Dimensionen zusammentreffen. Die Beschäftigung mit Methodendebatten, die vor unterschiedlichen Publika geführt werden, kann den Blick für diese Verwobenheiten schärfen und dabei konfligierende, aber deshalb nicht weniger legitime Interessen offenlegen. Betrachtet man die jüngsten Verweise auf die Bedeutung von Hermeneutik, drängt sich allerdings der Eindruck auf, als müsste der Begriff für einen vermeintlich wahren Wert der Disziplin bürgen und eine bestimmte wissenschaftliche Praxis sowie Lehr- und Lernkultur absichern.

4 Cultural Turn und Digital Turn

Die teilweise Härte und Unversöhnlichkeit der Auseinandersetzung um den Cultural Turn war vor allem in der ersten Etappe mit handfesten fachpolitischen Fragen verbunden, da darum gerungen wurde, ob die Philologien überhaupt ihre institutionelle Eigenständigkeit und damit Sichtbarkeit behalten oder aber zusammen mit anderen kulturwissenschaftlich arbeitenden Disziplinen in einer neuen Superdisziplin Kulturwissenschaft aufgehen werden. Zwischenzeitlich etablierte sich ein Krisendiskurs, der sich ganz auf pro und contra Kulturwissenschaft konzentrierte. Daher lohnt es sich, daran zu erinnern, dass die Aussicht auf mehr Kulturwissenschaft zunächst auch als Ausweg aus einer Krise der Philologie gesehen werden konnte, u. a. mit dem Argument, dass ein entsprechendes Studium mehr auf berufsbezogene Kompetenzen abhebe. Genau an diesem Punkt stehen wir derzeit wieder, wenn es um das Fachverständnis der Germanistik in der digitalen Gesellschaft geht. Wenn die Frage »Wozu Hermeneutik?« mit dem Verweis auf die grundlegende Bedeutung des Textverstehens beantwortet wird, lautet eine einfache Antwort, dass sie sich innerhalb eines Verstehens von Kultur und kultureller Praktiken ansiedeln und von dort aus ihren Stellenwert und ihren Gegenstandsbereich bestimmen muss. Das mag eine allzu salomonische Beschreibung unterschiedlicher Akzentsetzungen sein. Sie dürfte auf die derzeitige pragmatische Praxis aber durchaus zutreffen, schließlich wird kulturwissenschaftliche Analyse eher als ein Sammelbegriff für unterschiedliche philologische Text-Kontext-Lösungen in einem methodischen Spektrum von den Cultural Studies und New Historicism bis zur Diskursanalyse verwendet. Das bedeutet umgekehrt nicht, dass der Cultural Turn zu Unrecht im Unterschied zu anderen Turns als echter Paradigmenwechsel wahrgenommen wurde. Denn es etablierte sich ein fachspezifisches Verständnis von Kulturwissenschaft, und in diesem Rahmen hat sich auch das Verständnis von Hermeneutik und hermeneutischer Textinterpretation verändert. Eine Methodendiskussion ›Philologie‹ vs. ›Kulturwissenschaft‹ greift ja vor allem deshalb notwendig zu kurz, weil die Veränderungsdynamik meist ganz der Kulturwissenschaft zugeordnet wird und einer hermeneutisch ausgerichteten Philologie dagegen der Part des ›Beharrens‹ und der Unveränderlichkeit zuzukommen scheint.

Wenn gefragt wird, ob eine »Rückkehr der Hermeneutik« ein »Gebot der Stunde« sein könnte (CfP), provoziert dies für mich ähnlich wie der proklamierten »Rückkehr des Autors« mehrere Rückfragen: War sie jemals weg? Aber auch: Will man wirklich genau das zurück, was verloren geglaubt ist? Und umgekehrt: Hat die kulturwissenschaftliche Wende die wissenschaftliche Praxis tatsächlich so tiefgreifend verändert wie es die in regelmäßigen Abständen wiederholte These von einer vermeintlich notwendigen Rephilologisierung suggeriert? Mein Eindruck ist, dass das nicht der Fall ist. Und das ist für mich weder mit einer Enttäuschung verbunden noch das Defizit, das bearbeitet werden müsste. Es ist vielmehr ein sinnvoller Ausgangspunkt, um zu verstehen, warum wir in Bezug auf die digitale Transformation mit denselben Problemen konfrontiert sind wie sie im Rahmen des Cultural Turns verhandelt wurden, nur dass wir diesmal statt Kultur digitale Kultur sagen. An einem Thema wie Netzliteraturwissenschaft,Footnote 7 das selbst schon eine Geschichte und Veränderungen durchlaufen hat, kann man das gut nachvollziehen: Es erfordert ein Nachdenken über Konzeptualisierungen von literaturwissenschaftlichen Grundbegriffen wie etwa Autor:in/Autorschaft und deren Funktionsbeschreibungen für die literarische Kommunikation, über Text, Literarizität, über Intermedialität und Multimedialität und disziplinär spezifische und interdisziplinäre Methodenkompetenz. Gerade der interdisziplinäre Zuschnitt nötigt zur Verständigung über die Frage, inwieweit der Zuschnitt eines Faches an eine gemeinsame Methodik gebunden ist. Braucht eine interdisziplinäre Netzliteraturwissenschaft Mixed Methods als Standard?

Versuchte Abgrenzungen einer ›eigentlichen‹ ›hermeneutischen‹ Literaturwissenschaft von der kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft kreisen immer wieder um Methodenpluralismus als Problem. Im Hintergrund steht vielfach die Vorstellung, dass eine Disziplin durch eine – zumindest dominante – Methodik geeint sein müsse, um sich ›verstehen‹ zu können. Fachinterne methodische Vielfalt in friedlicher Koexistenz oder gar mit gegenseitigem Gewinn sind aber einer ausdifferenzierten Fachwissenschaft mit unterschiedlichen Fachteilen und zugleich vielfältigen interdisziplinären Anbindungen angemessen, und es liegt in der Verantwortung der Wissenschaftler:innen, ihre fachwissenschaftlichen Relevanzkriterien zu erläutern und in der Fachcommunity zu legitimieren. Diese innerfachliche Verständigung kann zugleich in andere Öffentlichkeiten ausstrahlen – wenn man sie daran teilhaben lässt.

5 Fachdebatten zwischen Selbst- und Fremdbildern

Das Fach Germanistik steht öffentlich unter dem Verdacht geringer Relevanz. Zuschreibungen von Bedeutung in öffentlichen Debatten konzentrieren sich vorwiegend auf Anwendbarkeit und auf ökonomische Nützlichkeit nach dem Schema ›Was trägt eine Disziplin zur Lösung des Problems X oder zur gesellschaftlichen Transformation (ökologisch, digital etc.) bei?‹ Nur auf den ersten Blick ist die Lehramtsausbildung in unserem Fach eine Ausnahme. Ihre Bedeutung wird zwar grundsätzlich anerkannt, aber sowohl die pädagogische Qualität der Ausbildung als auch die Frage, welche fachteilbezogenen Inhalte welches Gewicht erhalten sollten, sind ebenfalls Debattendauerbrenner. Die Frage, wie viel Theorie und wie viel Praxis ein Lehramtsstudium beinhalten sollte, kann allerdings auch in eine sinnvolle Methodendiskussion führen, was als ›Theorie‹ und was als ›Praxis‹ gilt.

Die Fremdbilder des Fachs bilden seit Langem ein Klischee-Cluster, in dem die Germanistik wahlweise exemplarisch für ›die Geisteswissenschaften‹ verwendet oder innerhalb eines Rankings verschiedener Geisteswissenschaften weit unten angesiedelt wird. Unter den Top 10 im Bullshitbingo ist beispielsweise immer noch die Behauptung, Studierende der Geisteswissenschaften hätten schlechte Berufsaussichten. Dass man nach einer Stellenanzeige »Germanist (m/w/d) gesucht« vergeblich Ausschau halten wird, eignet sich aufgrund einer breiten Berufsfeldorientierung offensichtlich nicht als Beweis dafür, dass Absolvent:innen der akademischen Studiengänge der Germanistik vorwiegend in vollständig fachfremden Berufen arbeiten. Die Vorstellung germanistischer Taxifahrer:innen hält sich trotzdem – u. a., weil auch halbironische Verweise noch zur Tradierung beitragen. Und dass Studierende der Geisteswissenschaften ihr akademisches Fach aus Neigung und Neugier wählen und nicht vorwiegend mit Blick auf Karriereaussichten (die sie aber im Rahmen einer breiten Berufsfeldorientierung trotzdem haben), wird in diesem Zusammenhang als Vorwurf verstanden. Eine Denunziation hedonistischer Motive geht Hand in Hand mit dem Vorwurf an die Wissenschaftler:innen, sich im sogenannten Elfenbeinturm allzu wohlzufühlen. Nun ist keine Disziplin verpflichtet, sich ausdauernd mit Klischees und Falschbehauptungen auseinanderzusetzen. Offensichtlich ist aber auch, dass es nicht genügt, auf den in den Modulhandbüchern beschriebenen breiten Kompetenzerwerb hinzuweisen. Wenn wir Wissenschaft als Teil der Gesellschaft verstehen statt ihr gegenüberstehend, sollten wir den Aushandlungsprozess über die Relevanz des eigenen Tuns in den Universitäten und darüber hinaus mitgestalten.

Die Hermeneutik-Diskussion scheint eher der Elfenbeinturm-Fraktion zuzuarbeiten – klein, aber fein –, sie hätte aber, wenn sie nicht der Kulturkritik anheimfällt, ebenso produktive Potenziale, die einem überwiegend mit Ziel Lehramt nachgefragten Fach ein Anliegen sein müssen. Die Herausforderungen des Digital Turn bestehen u. a. darin, sich konstruktiv mit der Bedeutung von Literatur in der digitalen Gesellschaft zu befassen sowie Bedingungen und Möglichkeiten des Textverstehens, insbesondere ästhetischer Erfahrung mit literarischen Texten, und Wertungshandeln in historischen und gegenwärtigen Kontexten genauer zu beschreiben.

Was hat das allzu trübe öffentliche Bullshitbingo damit zu tun? Methodendiskussionen, die sich mit grundsätzlichen Überlegungen von Relevanz zwischen Erwartungen, Begründungen und Zumutungen verbinden, sind nicht nur für die fachinterne Verständigung über Germanistik in der Digitalität wichtig, sondern darüber hinaus eine Chance, auch die öffentliche Kommunikation mitzugestalten. Damit dies gelingt, sind Multiplikator:innen besonders wichtig. In diesem Sinne verstehe ich z. B. #RelevanteLiteraturwissenschaftFootnote 8 als einen Impuls, Relevanzfragen konsequent in Themen- und Methodendiskussionen mitzuführen und Formate zu entwickeln, um auch die Studierenden in eine (digitale) Wissenschaftskommunikation einzubeziehen. Mitmachen erwünscht!