Zusammenfassung
Der Beitrag schlägt mit dem ›Dispositiv der Andacht‹ ein Modell für ein Netz von Subjektivierungsstrategien vor, in dem sich geistliche Spiele vor der Zeit des Theaters verorten lassen. Er stellt die Prämisse der Alterität des mittelalterlichen Theaters zurück, um einen Zugriff zu gewinnen, der nicht leitend am Theater der Neuzeit orientiert ist. Die theater- und literaturgeschichtliche Perspektive, die dadurch in den Hintergrund gerät, lässt sich in den geistlichen Dramentraditionen der Frühen Neuzeit wieder einholen. Für eine Erfindung des frühneuzeitlichen Theaters aus der Perspektive des Spätmittelalters.
Abstract
With the notion of the ›dispositif of devotion‹ the article proposes a model for a network of subjectivation strategies in which religious plays can be placed in the period before the invention of theatre as an institution. By abandoning the assumed alterity of medieval ›theatre‹, which maintains an orientation towards modern theatre, this piece pursues an approach leading away from questions of theatrical and literary history. Taking the religious drama traditions of the early modern period into account, however, these questions can then be addressed in a novel way: this article is therefore a call for discovering the invention of early modern theatre from the perspective of the late Middle Ages.
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1 Theater als Dispositiv oder die Dispositive des Theaters
Die Theatergeschichte der Neuzeit ist oftmals als Geschichte einer Disziplinierung erzählt worden.Footnote 1 Insbesondere das Theater der Wanderbühnen dient in dieser Geschichte als negativer Bezugspunkt eines sich im 18. und 19. Jahrhundert herausbildenden ›bürgerlichen Theaters‹, dessen Telos in der Disziplinierung der theatralen Aktion durch einen autoritativen Dramentext ebenso liegt, wie in einer Disziplinierung der Zuschauer, die ihre Körper still- und ihre spontanen Reaktionen zurückzustellen haben, um sich, wie auch die Schauspieler, dem Regime eines Werkes und seiner Poetik unterzuordnen.Footnote 2 Ist es eine Geschichte der Verfeinerung oder eine Verlustgeschichte? Die Verlustgeschichte könnte lauten: Was das Theater einmal war, ein Ort der Exaltiertheit und der improvisierten Geste, frei, ist zu einem Ort der Domestizierung geworden.Footnote 3 Doch die aufgeräumte Stube des bürgerlichen Theaters provoziert in den antibürgerlichen Avantgarden des 20. Jahrhunderts eine Gegenbewegung, eine Re-Theatralisierung, die als De-Dramatisierung des Theaters, als Rebellion gegen seine Disziplinierungsgeschichte zu verstehen ist.Footnote 4
Es lassen sich sicherlich Zweifel an dieser Geschichte anmelden. Sie wirkt, so schnell und unbesorgt erzählt wie hier, ja selbst verdächtig aufgeräumt. Weniger zweifelhaft scheint es zu sein, dass es sich um Literatur- und Theatergeschichte handelt, um die Geschichte von Dramentexten und ihrer Poetik und um die Geschichte theatraler Institutionen und ihrer Aufführungspraktiken. Deshalb leuchtet es ein, die äußerst verwickelten und ungleichzeitigen Strategien der Disziplinierung, aber auch die ihrer Kritik und Subversion, in einem ›Theater als Dispositiv‹ zu rekonstruieren.Footnote 5 Nikolaus Müller-Schöll sieht in diesem Vorgehen die Möglichkeit, über Leerstellen einer Theatergeschichtsschreibung hinauszukommen, die zu einseitig als eine Geschichte der Literatur und der Ästhetik geschrieben worden ist. Eine »Betrachtung von Theater als Dispositiv« erlaube es, »die bloß ästhetische oder von der Literatur her kommende Theatergeschichtsschreibung von in sie hineinwirkenden, sie bedingenden und formierenden wie regulierenden Kontexten her zu korrigieren und sukzessive zu revidieren.«Footnote 6 Eine Dispositivgeschichte des Theaters dürfte demnach keine ›bloße‹ Theatergeschichte mehr sein, wenn eine solche durch die Grenzen literarhistorischer und ästhetischer Fragestellungen bestimmt ist.
Die Perspektive, die sich in dieser Überlegung abzeichnet, berührt sich mit einem Grundproblem der Geschichte des mittelalterlichen und weiter Teile des frühneuzeitlichen Theaters, das Anfang der 1990er Jahre von Hans Ulrich Gumbrecht formuliert worden ist und seitdem intensiv bearbeitet wurde: Theatrale Phänomene dieser Zeit sind offenkundig nicht über den institutionellen Rahmen des neuzeitlichen Theaters identifizierbar,Footnote 7 der so etwas wie eine theatral-mimetische Zeichenhaftigkeit erst verfestigt.Footnote 8 Sie lassen sich auch nicht über einen modernen Literaturbegriff oder über die Kategorien einer ästhetischen Theorie fassbar machen. Ein hermeneutisches Paradigma, das die Beschreibung mittelalterlicher Theatralität stark geprägt hat, ist folgerichtig das ihrer Alterität.Footnote 9 Weil Alterität eine Differenzkategorie ist, bleiben die in Frage stehenden Formen mittelalterlichen ›Theaters‹ in diesem Paradigma zumindest latent auf ein Idealmodell des neuzeitlichen Theaters bezogen. Es entstehen Kataloge von Differenzen,Footnote 10 die dann als Alteritätskriterien Verwendung finden können, etwa als Frageraster für Untersuchungen zum geistlichen Theater des 16. Jahrhunderts, die an theatergeschichtlichen Brüchen und Kontinuitäten interessiert sind.Footnote 11
Das Paradigma der Alterität berührt auch die Frage nach der Bestimmung einer Gattung Spiel im Mittelalter. Die durch Werner Williams-Krapp angestoßene Gattungsdiskussion,Footnote 12 die in jüngerer Zeit gewinnbringend auf die Frage nach der Medialität geistlicher Spiele hin geöffnet wurde,Footnote 13 beruht nicht zuletzt auf dem Umstand, dass sich eine Gattung Spiel nicht über den ›Theater-Rahmen‹,Footnote 14 über Selbstbezeichnungen oder über Kriterien wie einen dialogischen Aufbau oder einen Aufführungsbezug trennscharf abgrenzen lässt.Footnote 15 Sowohl die Gattungstypologie als auch die mediologisch ausgerichtete Spielforschung sind an der Rekonstruktion von Differenzen interessiert – Gattungsdifferenzen bzw. mediale Differenzen –,Footnote 16 die historisch wirksam waren, ohne sich in Kategorien übersetzen zu lassen, die eine Literatur- und Theatergeschichtsschreibung ihrem Begriff nach voraussetzt.
Alterität – der Titel ›Theater als Dispositiv‹ ergibt offenbar keinen unproblematischen Ausgangspunkt für Mediävistik und Frühneuzeitforschung. Die These des vorliegenden Beitrags ist, dass es hingegen gewinnbringend sein könnte, nach den ›Dispositiven des Theaters‹ zu fragen. Diese Fragerichtung stellt nicht das Theater, sondern das Dispositiv als Leitbegriff voran. Sie erlaubt es, den Begriff des Theaters in der Schwebe zu halten, ohne ihn als Suchbegriff auszustreichen, generische und mediale Differenzen anzuerkennen, ohne selbst die Programme der Gattungsgeschichte oder der Mediologie zu verfolgen. Anders als das Paradigma der Alterität, könnte die Frage nach dem Dispositiv ein möglicher Weg sein, das geistliche ›Theater‹ vor der Moderne nicht von seiner ›doppelten Diskontinuität‹ her zu denken – von Antike und Neuzeit gleichermaßen abgeschnitten –,Footnote 17 sondern seine positiven Bezugsrahmen und seine synchronen und diachronen Bedingungsgefüge zu rekonstruieren. Dies schließlich eröffnet den Blick auf eine ganz andere Disziplinierungsgeschichte.
2 Vom ›Theater‹ als Dispositiv zum Dispositiv der Andacht
Michel Foucaults Dispositivkonzept zielt, anders als etwa der Begriff der Gattung, weniger auf die Abgrenzung heterogener Phänomene ab, als auf ihre Vernetzung. In einem oft zitierten Gespräch, das kurz nach dem Erscheinen von Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1) geführt wurde,Footnote 18 beschreibt Foucault das Dispositiv abstrakt als
ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.Footnote 19
Ein solches Netz ist als Dispositiv, also insofern es sich im weiteren Sinne einer Vorrichtung oder Apparatur beschreiben lässt,Footnote 20 nicht beliebig, sondern auf strategische Zielsetzungen ausgerichtet.Footnote 21 Im Fall des von Foucault analysierten Dispositivs der Sexualität, das im Hintergrund der zitierten Aufzählung steht, sind dies, verkürzt gesagt, die Durchsetzung und Regulierung bestimmter Formen von Subjektivität und Begehren.Footnote 22 Pädagogische Diskurse können daran ebenso beteiligt sein wie die Architektur von Schlafsälen in Internaten, Gesetze zur Eindämmung von Perversionen, eheliche Praktiken oder medizinische Diagnosen.Footnote 23 Eine auf Foucaults Machttheorie beruhende Pointe besteht darin, dass die in einem Dispositiv greifbaren Strategien ohne einen Strategen auskommen, der sie steuert.Footnote 24 Wie Andrea Bührmann und Werner Schneider zusammenfassen, reagiert das Dispositivkonzept damit auf den Umstand,
dass allein aus den (Herrschafts‑)Interessen von individuellen oder kollektiven Akteuren und ihrer möglichen Durchsetzung heraus sich das, was als Erfahrungs-Zusammenhang die Selbst-Verhältnisse von Subjekten und ihre Beziehungen untereinander als je historisch spezifische konstituiert und formiert, nicht hinreichend erklären lässt [...].Footnote 25
So können durchaus widersprüchliche Intentionen einzelner Akteure oder gesellschaftlicher Einrichtungen auf die Dynamik eines Dispositivs einwirken, ohne die erzielten Wirkungen sicher kontrollieren oder steuern zu können. Dispositive lassen sich »nicht restlos und widerspruchsfrei totalisieren; so existieren in der sozialen Praxis immer ›Risse‹ und damit unterschiedliche Aneignungs- wie Umdeutungsmöglichkeiten.«Footnote 26 Festzuhalten ist, dass das Foucaultsche Dispositivkonzept im Anschluss an Sexualität und Wahrheit überaus eng auf Subjektivierungsprozesse bezogen ist, auf die Formierung von Selbstverhältnissen und Erfahrungszusammenhängen. Ein solcher Bezug scheint auch im Hintergrund der Überlegungen von Hans Ulrich Gumbrecht zu stehen, der in der benannten ›doppelten Diskontinuität‹ des mittelalterlichen Theaters ein Hindernis für die Rekonstruktion seines ›Erfahrungsdispositivs‹ gesehen hat:
Wir können nicht – oder wenigstens nicht mehr – sicher sein, woher die Formen des ›mittelalterlichen Theaters‹ kamen, aber es ist uns auch zunehmend unklar, wie wir es als eine Vorstufe zum neuzeitlichen Theater setzen können. Diese doppelte Diskontinuität ist für die mediävistische Forschung selbst deshalb von Belang, weil sie ihr die Blickpunkte entzieht, von denen aus ein hermeneutischer Bezug zum ›mittelalterlichen Theater‹ als Erfahrungsdispositiv allererst entwickelt werden müßte.Footnote 27
Es ist vielleicht nicht trivial, dass hier vom ›mittelalterlichen Theater‹ als Erfahrungsdispositiv die Rede ist. Sofern die Vorstellung von der doppelten Diskontinuität zutrifft, sind der Forschung damit tatsächlich die Blickpunkte entzogen. Das Theater, das ›nicht mehr‹ und ›noch nicht‹ ist, steht nun in Anführungszeichen; es ist unbestimmt, dient aber weiterhin der Bestimmung des zu rekonstruierenden Dispositivs.Footnote 28 Gumbrecht geht offensiv mit diesem Dilemma um. Aus einer groß angelegten Aufarbeitung derjenigen Elemente, die eine neuzeitliche Auffassung von Theater und seine gesellschaftliche Institutionalisierung ermöglicht hatten, ist eine Kontrastfolie zu gewinnen, von der sich mittelalterliche ›Theatralität‹ abheben lässt. Hierin sieht Gumbrecht eine
Strategie, um den Begriff des ›mittelalterlichen Theaters‹ – wie wir es postuliert hatten: als ein historisch spezifisches Erfahrungsdispositiv – neu zu modellieren. Zwar kann man auf diesem Weg nicht zu einer positiven Beschreibung jener Situations- und Interaktionselemente gelangen, welche die verschiedenen Formen mittelalterlicher Aufführungspraxis konstituierten; doch ein prägnanteres Wissen um jene Voraussetzungen, die man bei ihrer Rekonstruktion nicht machen darf, wäre im Zusammenspiel mit der einschlägigen Textüberlieferung und anderen – positiven – Wissenselementen eine probate Methode, um das ›mittelalterliche Theater‹ aus der Perspektive der frühen Neuzeit historiographisch neu zu erfinden.Footnote 29
Eine solche Neuerfindung des ›mittelalterlichen Theaters‹ als Erfahrungsdispositiv ist konsequent an die Prämisse seiner Alterität gekoppelt, gerade das Dilemma der fehlenden Blickpunkte mündet so in eine ausgeklügelte Forschungsstrategie. Dass diese zu grundlegenden Ergebnissen führen kann, zeigen die Arbeiten, die an Gumbrechts Überlegungen anknüpfen und sie weiterentwickeln.Footnote 30 Doch welche Perspektiven ergeben sich, wenn mit der Alteritätsprämisse zugleich die Folie des neuzeitlichen Theaters als erkenntnisleitendes Modell zwar nicht zurückgewiesen, aber doch zurückgestellt wird? Wie gestaltet sich ein Programm, das nicht nach dem ›Theater‹ als Erfahrungsdispositiv, sondern nach den Erfahrungsdispositiven des ›Theaters‹ fragt? Anders als bei Gumbrecht, müsste hierfür nicht der Theaterbegriff, sondern das Dispositivkonzept geschärft und bestimmt werden.Footnote 31
Besonders für diejenigen Texte und Aufführungsformen, die die Forschung als geistliche Spiele diskutiert, liegen einige Beiträge vor, die am Ort der Spiele in einem frömmigkeitspraktischen Gefüge interessiert sind, das sich als ›Dispositiv der Andacht‹ bezeichnen ließe. Schematisch formuliert, zeichnen sich diese Ansätze dadurch aus, dass ihre Erkenntnisinteressen nicht am Modell der generischen, medialen oder epochalen Differenz ansetzen, sondern an den Bedingungen, die auf der Ebene des rezipierenden Subjekts liegen. Der enge Bezug geistlicher Spiele auf Formen von Liturgie und Frömmigkeitspraxis ist in der Forschung unumstritten und allgemein akzeptiert.Footnote 32 Es führt jedoch zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen, ob man etwa die Rezeption von Passionsspielen und die Lektüre von Passionstraktaten einander entgegensetzt, oder die Matrix in den Blick nimmt, die ihren Zusammenhang konstituiert.
2.1 Abgrenzung
Jan-Dirk Müller hat eine Reihe von Kriterien erarbeitet, über die sich die Lektüre von Passionstraktaten und die Rezeption von Passionsspielaufführungen voneinander abgrenzen lassen. Die Differenzen betreffen etwa die Sinnlichkeit der Erfahrung, die Emotionalisierungsstrategien, die Sinnbildungsmuster, die Involvierung des Körpers, die Art der zu erbringenden Imaginationsanstrengung und die Verfasstheit des Publikums.Footnote 33 Von Interesse ist hier, dass die Aufarbeitung dieser Differenzen mit einer literatur- und theatergeschichtlichen These verknüpft ist, die Müller mit aller Vorsicht, aber doch pointiert genug formuliert:
Man hat sich zu Recht daran gewöhnt, das Geistliche Spiel vom neuzeitlichen Drama abzusetzen. Dennoch ist es, vielleicht nur durch einen Haarriß, auch von jenen liturgischen und paraliturgischen Frömmigkeitsübungen getrennt, denen es Texte, Motive und Deutungen entnimmt. Es ist ›auf dem Weg zur Literatur‹, wenn man diesen metaphorischen Ausdruck gestatten will. Indem es den Gläubigen [...] in die Rolle des Zuschauers entläßt, entläßt es ihn aus der Kontrolle der meditativen Askese, die auch seine Imagination steuern sollte.Footnote 34
Wenn die Überlegungen des vorliegenden Beitrags zutreffen, dann beruht die These vom literarischen Telos des Geistlichen Spiels gerade auf der Prämisse seiner Alterität. Sie fasst das Geistliche Spiel ja immer schon in einen literatur- und theatergeschichtlichen ›Blickpunkt‹ und erzeugt damit bei der Betrachtung mittelalterlicher Phänomene ein verlockendes Echo der historiographischen Neuzeit. »Vielleicht«, »Haarriß«, »metaphorischer Ausdruck« – es wirkt, als traue auch der Mediävist Müller diesem Echo nicht ganz über den Weg.Footnote 35 Die zitierte These ist für die Frage nach dem Dispositiv des ›Theaters‹ von Belang, weil sie unmittelbar über den Status des rezipierenden Subjekts entscheidet: Das Spiel ›entlässt‹ den Gläubigen aus den Steuerungs- und Kontrollmechanismen seiner meditativen Askese – aus einem Disziplinierungszusammenhang, der unmittelbar die Form seines Selbstverhältnisses und seiner Erfahrungsmodi betrifft – und gibt seine Imaginationen frei.Footnote 36 Das andächtige Subjekt verschwindet, der Zuschauer ist geboren. Ein Dispositivwechsel hat stattgefunden.
Im Hintergrund von Müllers Ausführungen steht der Versuch, Rainer Warnings These von der Ambivalenz des Geistlichen SpielsFootnote 37 zwischen Mythos und Kerygma als »Ambivalenz von ›Kult‹ und ›Theater‹«Footnote 38 zu reformulieren und sie gewissermaßen mit dem Gesicht zur Zukunft zu drehen: Aus dem Rückfall des Spiels in den Mythos wird sein Weg zur Literatur.Footnote 39 Zentrale Voraussetzung dieser These ist, dass die lektürebasierte Meditation über die Passion Christi als Frömmigkeitsvollzug in einem wichtigen Punkt von der Rezeption einer Passionsspielaufführung zu unterscheiden ist: Meditation weist keine Ambivalenz mit vergleichbarer Sprengkraft auf, d. h. das ›andächtige Subjekt‹ unterliegt im Gegensatz zum ›Zuschauer-Subjekt‹ einer weitgehenden, offenbar erfolgreichen Kontrolle.
2.2 Einbettung
Glenn Ehrstine hat in mehreren Beiträgen dafür argumentiert, gerade die in der Frömmigkeitspraxis kultivierten Verhaltensmuster heranzuziehen, um die Rezeptionshaltungen eines spätmittelalterlichen Spielpublikums historisch greifbar zu machen.Footnote 40 Das Verhältnis von meditativer Passionsfrömmigkeit und Spielaufführung ist hier nicht mit Blick auf eine literatur- oder theatergeschichtlich relevante Bruchstelle von Interesse, sondern soll es ermöglichen, den synchronen Verständnisrahmen des Geistlichen Spiels genauer zu modellieren. Ausgehend von einer aktuellen Auseinandersetzung mit Warnings Thesen, die sein Ambivalenzkonzept und die teils anti-christliche Stoßrichtung seiner Interpretationen zurückweist,Footnote 41 formuliert Ehrstine das Desiderat, die Spiele deutlich stärker auf die Kontexte der zeitgenössischen Frömmigkeitstheologie und Andachtspraktiken zu beziehen als bislang geschehen. Sie seien
Ausdruck einer urbanen Laienfrömmigkeit, die ihr Heil jenseits von kirchlichen Institutionen und offizieller Theologie gesucht hat. Ich schließe mich hier also Walter Haug an, der in den ›subjektiven Seiten der Gotteserfahrung‹, die sich im Laufe des Spätmittelalters in ungewohntem Maße herausgebildet haben, den Schlüssel für das Verständnis des geistlichen Spiels sieht. Wir müssen uns also viel gründlicher mit Andachtspraktiken und populärer Theologie beschäftigen, um Antworten auf die Fragen zu liefern, was die Spielbesucher angezogen hat und wie sie sich die Aufführungen zu eigen gemacht haben.Footnote 42
Hierzu sei insbesondere auch das spätmittelalterliche Ablasswesen zu berücksichtigen, das noch wenig erforschte Phänomen des Spielablasses und die zugrundeliegenden Modelle der Vermittlung von Heil und Gnade.Footnote 43 Dieser Ansatz tritt mit einem konservativeren Gestus auf: Das Geistliche Spiel verliert in dieser Weise das Sprengpotenzial, das es in der an Warning geschulten Perspektive so attraktiv gemacht hatte. Es wird gewissermaßen herabgestuft zu einem Frömmigkeitsphänomen unter anderen, sodass die Aufgabe der historischen Verortung nun nicht länger darin besteht, seinen religiösen oder theatergeschichtlichen Sonderstatus herauszustellen, sondern es in die Kultur einzubetten, die seinen Hintergrund bildet. Entscheidend für die hier angestellten Überlegungen ist, dass dieser Ansatz es erlaubt, das Geistliche Spiel, Medien und Praktiken des Gebets und der Meditation, das Ablasswesen, die Liturgie, die Topologie spätmittelalterlicher Städte, die Beschaffenheit von Bühnen, die Körper der Gläubigen, theologische Diskurse und politische Entscheidungen urbaner Führungsgruppen daraufhin zu befragen, welche Strategien in diesem ›heterogenen Ensemble‹ je daran beteiligt sind, die ›subjektiven Seiten der Gotteserfahrung‹ zu formieren. Also zu fragen: Welche Orte besetzt das Geistliche Spiel im Dispositiv der Andacht?
2.3 Das Dispositiv der Andacht und die Risse im Netz
Dass Andachts- oder Frömmigkeitspraktiken im Spätmittelalter eng auf Subjektivierungsprozesse und Selbstverhältnisse von Gläubigen bezogen sind, ist eine unabhängig vom geistlichen Theater bestehende Annahme der Forschung.Footnote 44 Spezifische Disziplinierungen und Selbstdisziplinierungen des Subjekts bilden im Feld der frömmigkeitstheologischen Diskurse und der meditativen oder gebetspraktischen Schriften ein übergreifendes strategisches Ziel.Footnote 45 Sie sind von den oben genannten theatergeschichtlichen Modellen von Disziplinierung insofern unterschieden, als diese mit Blick auf das Publikum eine Bemühung um Stillstellung voraussetzen. Disziplinierungsstrategien im Dispositiv der Andacht zielen hingegen wesentlich auf Aktivität ab: auf eine Gegenproduktion zu dem, was die undisziplinierte, d. h. die ›natürliche‹, zur Sünde strebende Eigentätigkeit von Körper und Seele hervorbringt. Es ist dafür zu sorgen, dass die Seelenmühle, die von sich aus unterschiedslos alles sinnliche, auch schädliche Material zermahlt, auf solches Material konditioniert wird, das für ihr Heil zuträglich ist.Footnote 46 Zwar sind die Gedanken schlüpfrig, die Abschweifungen vorprogrammiert,Footnote 47 die Anfechtungen durch Fleisch, Welt und Teufel allgegenwärtig – aber auch die Gnade ist nah und sie rückt, wie Berndt Hamm gezeigt hat, inner- und außerhalb der kirchlichen Institutionen zunehmend näher.Footnote 48
Diese Spannung von Gefährdungslage und Heilsversprechen erzeugt im Dispositiv der Andacht das Motiv für eine habitualisierte Arbeit am Selbst: an der Selbstwahrnehmung, an der emotionalen Disposition, am Umgang mit Sinneseindrücken, an Bewertungsmustern für Erfahrung, an den Bahnen, in denen die Gedanken verlaufen, an den Bildern, die vor dem inneren Auge auftauchen.Footnote 49 Die konkreten Strategien dieser Arbeit am Selbst sind in einer Vielzahl von geistlichen Übungen fassbar, die durch eine Vielzahl von Medien in ihrem Vollzug strukturiert werden.Footnote 50 Geistliche Spiele sind als Frömmigkeitsmedien in dieses strategische Netz eingebunden. Das Verhältnis von Frömmigkeitsmedium und Frömmigkeitsvollzug allerdings ist grundsätzlich prekär.Footnote 51 Daher führt auch die Meditation, die etwa von der Lektüre eines Passionstraktats ausgeht, nicht umstandslos zur Kontrolle und Steuerung der Gedanken, Gefühle und Imaginationen, sondern bildet vielmehr eine Option im Umgang mit der Gefahr eines Kontroll- und Steuerungsverlustes, der zugleich ein Heilsverlust wäre. Das Potenzial, den Vollzug der Passionsbetrachtung zu sprengen, wie Müller es mit Blick auf die Aufführung von Passionsspielen angenommen hat, ist immer gegeben. Es ist nicht spezifisch für das Geistliche Spiel, sondern in jedem Verhältnis von Medium und Vollzug angelegt.Footnote 52 Die zutage tretenden Risse, Brüche oder Ambivalenzen wären nur nicht zuerst Zeichen einer ästhetischen Ausdifferenzierung oder einer verdrängten Mythosstruktur. Es wären Risse ganz unterschiedlicher Art, die im Dispositiv der Andacht notwendig entstehen, weil es sich nicht ›totalisieren‹ lässt. Die vollkommene Andacht bleibt ein Phantasma, das den Bemühungen um methodische Disziplinierungen der Seelenkräfte Antrieb verleiht.
3 Zum Ort des Spiels im Dispositiv der Andacht
Wenn die hier skizzierten Überlegungen brauchbar sind, dann ist mit dem Dispositiv der Andacht das Modell für ein ›Erfahrungsdispositiv‹ gefunden, das dem Theater als Dispositiv historisch vorausliegt und in dem sich das Geistliche Spiel verorten lässt. Leitend ist dann die Prämisse, dass es sich bei diesem Dispositiv um ein Netz von Diskursen, Medien, Praktiken, Räumen usw. handelt, das strategisch auf die Formierung eines ›andächtigen Subjekts‹ und auf eine methodische Disziplinierung der Seelenkräfte ausgerichtet ist. Es ist ein Netz, das durchaus anfällig für Störungen ist, dessen Strategien sich nicht auf eine einheitliche Intention zurückführen lassen und keine strenge Kohärenz aufweisen. Sie können sich gegeneinander verschieben, sind in Bewegung und öffnen immer auch Lücken für ›Unandächtiges‹.Footnote 53 Die Bestimmung von Orten des Geistlichen Spiels im Dispositiv der Andacht beantwortet also nicht die Frage nach dem Ort des Geistlichen Spiels schlechthin, sie harmonisiert auch nicht die in der Spieltradition angelegten Divergenzen oder Widersprüchlichkeiten. Sie gibt jedoch Richtungen für historische Kontextualisierungen vor, die weniger stark von der Alterität des Geistlichen Spiels zum Theater der Neuzeit abhängen und ermöglicht es, neue ›Blickpunkte‹ auf seinen Subjektivitätsbezug zu gewinnen. Dieser Ansatz ist nicht polemisch auf die Diskussionen der Spielforschung bezogen, die an generischen, medialen oder epochalen Differenzen interessiert sind. So erscheint es aus Sicht des mediologisch ausgerichteten Programms von Cornelia Herberichs konsequent,
von den zeitgenössischen Frömmigkeitsformen und -praktiken, von den Grenzen und Grenzüberschreitungen der heterogenen und gleichzeitigen Medien mittelalterlicher Frömmigkeit auf die historisch spezifischen medialen Eigenheiten geistlicher Spieltexte zu schließen. Um einerseits die Analogien zu und andererseits die Differenzen von anderen Gattungen geistlicher Literatur zu benennen, bedarf es der Annäherung von verschiedenen Rändern.Footnote 54
Das Dispositivkonzept nimmt die generischen Analogien und Differenzen oder die medialen Eigenheiten nicht ›aus dem Spiel‹. Es nähert sich ihnen aber aus einer anderen Perspektive, weil es im Dispositiv nicht in erster Linie um Fragen der Gattungskonstitution, sondern um Fragen der Subjektkonstitution geht. In dieser Weise werden etwa die imaginativen Aspekte geistlicher Spiele vor einem Hintergrund interpretierbar, für den die Gattungsdiskussion bislang wenig sensibilisiert ist.
4 Innere Bühnen
Eine Verortung des Spiels im Dispositiv der Andacht interessiert sich für ein Netz von Subjektivierungsstrategien und berührt damit das in der Forschung seit längerem variierte Bildfeld der ›inneren Bühne‹.Footnote 55 Nachdem Carla Dauven-van Knippenberg das Wienhäuser Osterspielfragment im Zusammenspiel mit der Ikonographie seiner räumlichen Umgebung tentativ als »Schauspiel für das innere Auge« beschrieben hatte,Footnote 56 waren es Bernd Neumann und Dieter Trauden, die den Bezug auf eine »imaginäre Aufführungssituation«Footnote 57 als Differenzkriterium einer Gattung Spiel im Mittelalter vorgeschlagen haben, um den oft nicht belegbaren Bezug auf eine tatsächliche Aufführung als Gattungskriterium zu umgehen und genuine Lesetexte integrieren zu können. Diesen Vorschlag hat etwa Regina Toepfer aufgenommen, um den medialen Status des Donaueschinger Passionsspiels zu analysieren.Footnote 58 Werner Williams-Krapp hat das Modell von Neumann und Trauden im Rahmen der Gattungsdiskussion jüngst wiederum mit dem Argument zurückgewiesen, auch die Imaginationen historischer Akteure seien nicht belegbar.Footnote 59
In der Tat sind Imaginationen nicht nur historisch nicht belegbar, sondern, wie alle Bewusstseinsinhalte, auch empirisch ganz grundsätzlich nicht kommunizierbar.Footnote 60 Was sich hingegen gut belegen lässt, sind die Appellstrukturen von Andachtsmedien, die auf eine Disziplinierung von Imaginationen, Gedanken und Gefühlen ausgerichtet sind – seien es Spiele in Aufführungen oder Lesemanuskripten, illustrierte Einblattdrucke, ikonographische Rauminszenierungen, Gebetstexte oder Passionstraktate. Ein Nebentext, der den Aufbau eines hölzernen Bühnenapparats beschreibt, mag ein Spezifikum der Gattung Spiel sein. Die Strategie, innere Szenen mit dialogisch interagierenden Figuren zu beleben, etwa um das Gedächtnis der Passion zu erneuern, compassio, Sündenbewusstsein oder Bußaffekte zu kultivieren, ist es nicht. Es handelt sich um eine Struktur von geistlichen Übungen, die in der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur gattungs- und medienübergreifend zu beobachten ist.Footnote 61 Das Geistliche Spiel steht im Dispositiv der Andacht nicht allein auf der ›inneren Bühne‹.Footnote 62 Es knüpft mit den ihm eigenen medialen Strukturen an Strategien im Dispositiv der Andacht an. Bei der imaginativen Aufführungssituation im Anschluss an Neumann und Trauden aber ist der Aufführungsbegriff zumindest unterschwellig nicht an einem solchen Dispositiv, sondern an der imaginären Institution des ›Theaters‹ ausgerichtet.Footnote 63 Er zielt nicht auf eine imaginative Performativität der Spielhandlung selbst, auf ihre Bild- und Heilswirkung ab, sondern auf eher technische Aspekte einer Inszenierung, die sich etwa in Bühnenanweisungen finden.Footnote 64 Die Verortung von Spielen in einem Dispositiv, das methodisch auf den Imaginationsfluss der Subjekte einzuwirken versucht, müsste an einem anderen Punkt ansetzen.
Die Tendenz, sich von einer imaginären Institution leiten zu lassen, gilt nun nicht weniger für die hier verwendete Metapher der inneren ›Bühne‹ oder für das ›Schauspiel‹ vor dem inneren Auge. Die Perspektive des Dispositivs kann diesen Effekt nicht einfach neutralisieren. Sie bietet aber die Möglichkeit, geläufige Unterscheidungen zu überdenken, weil sie die Medien und Gattungen der Frömmigkeitskultur in all ihren Differenzen auf das strategische Netz verweist, das sie verknüpft, und das den imaginären Institutionen von Theater, Kunst oder Literatur historisch vorausliegt.
Eine Praxis, über die sich die imaginativen Dimensionen des geistlichen Theaters im Dispositiv der Andacht greifbar machen lassen, ist die der ›Betrachtung‹, der Meditation.Footnote 65 Sie ist für eine Gattungsbestimmung völlig ungeeignet, weil sie nichts unterscheidet. Sie erlaubt es aber, einen Zugriff auf den Imaginationsbezug geistlicher Spiele und Dramen zu gewinnen, der vom ›Theater‹ im Sinne eines technischen Inszenierungsapparats wegführt.
Die an die Gattungsdiskussion anknüpfende Forschung hat die imaginative Dimension von Spieltexten weitgehend als Komplement zur tatsächlichen Aufführung aufgefasst und entsprechend auf die Lektüre von Texten bezogen.Footnote 66 Damit war ein wichtiger Schritt getan, um den Primat der Aufführung in Frage zu stellen. Vor dem Hintergrund historischer Meditationspraktiken erweist sich die Gegenüberstellung von ›imaginativer‹ Lektüre und ›tatsächlicher‹ Aufführung jedoch als falsche Alternative. Die Betrachtung, die zahlreiche Spiele ganz ausdrücklich einfordern und zu gestalten versuchen, umfasst methodisch geleitete imaginative Vollzüge, die darauf abzielen, das Gedächtnis und die inneren Sinne auf ein heilswirksames Bildinventar zu konditionieren, Anfechtungen zu begegnen, das Gewissen zu erforschen oder sich durch compassio dem leidenden Christus anzugleichen.Footnote 67 Betrachtung ist jedoch nicht medienspezifisch. Sie steht ebenso quer zum Gattungssystem wie zur Differenz von Aufführung und Schrift und lässt sich zeitlich von einem Aufführungsereignis ebenso entkoppeln wie von der Lektüre.Footnote 68 Im Dispositiv der Andacht wäre die Teilhabe an einer tatsächlichen Aufführung nicht weniger auf eine solche ›imaginative Performanz‹ zu beziehen als die Lektüre eines Spieltextes.Footnote 69
Historische Modelle für Betrachtung lassen sich gattungsintern und aus den intertextuellen und intermedialen Bezugsfeldern des geistlichen ›Theaters‹ rekonstruieren. Sie sind mit dem an der technischen Seite von Theater orientierten Begriff einer imaginativen ›Aufführungssituation‹ aber nur unzureichend erfasst, sofern damit nicht mehr als eine »visuelle Assoziation« Footnote 70gemeint ist, die den Spieltexten eingeschrieben ist. Der Gedanke an eine Bühnenkonstruktion aus Holz an einem Sommertag in München zum Beispiel.Footnote 71
Der Zugriff über das Dispositiv der Andacht kann den Unterschied zwischen dem Gedanken an eine Holzkonstruktion und einem Betrachtungsvollzug bewusst machen. Er kann die medialen Eigenheiten geistlicher Spiele und Dramen auf Strategien einer Arbeit am Selbst beziehen, die in einem kulturellen Netz verortet sind, das über die generischen und medialen Grenzen hinausgeht. Er entkräftet hingegen nicht den Einwand von Williams-Krapp, dass es keinen Zugriff auf die Empirie von Imaginationen gibt. Wie sich generische und mediale Differenzen historisch konkret auf Betrachtungsvollzüge ausgewirkt haben, bleibt ebenso unbeantwortbar, wie die Frage, ob jene klausurierte Nonne bei der Lektüre von Sündenfall und Erlösung an eine Bühnenkonstruktion aus Holz gedacht hat oder nicht.Footnote 72
5 Ausblick: Eine theatergeschichtliche Perspektive?
Es hat mindestens einen fragwürdigen Effekt, die Frage nach der Alterität des Geistlichen Spiels zum Theater der Neuzeit zurückzustellen und die Frage nach dem ›Theater‹ als Dispositiv auf die Frage nach den Dispositiven des ›Theaters‹ umzustellen: Eine theatergeschichtliche Perspektive folgt daraus nicht unmittelbar. Es handelt sich zunächst um eine Priorisierung der Frömmigkeitsgeschichte über die Geschichte von Literatur und Theater, die eigene Verzerrungstendenzen mit sich bringt, weil sie fast automatisch vom Eigenwert der jeweiligen Medien und Gattungen wegführt.Footnote 73 Theatergeschichtliche Perspektiven könnten im Dispositiv der Andacht dennoch angelegt sein. Sie betreffen etwa die Möglichkeit, das Verhältnis des mittelalterlichen Geistlichen Spiels zu den geistlichen Dramen- und Spieltraditionen der Frühen Neuzeit genauer zu modellieren als bisher. Dafür müssten die im 16. und 17. Jahrhundert durch Reformation und Gegenreformation entstehenden Verschiebungen und Bruchlinien im Dispositiv der Andacht umfassend in den Blick genommen werden. Geläufige theatergeschichtliche Dichotomisierungen, etwa die Dichotomie von Emotionalisierung und Rationalisierung in der Verhältnisbestimmung von Geistlichem Spiel und reformatorischem Drama, ließen sich vor dem Hintergrund einer genaueren Aufarbeitung frömmigkeitsgeschichtlicher Kontexte differenzieren.Footnote 74
In der humanistisch beeinflussten Tradition geistlicher Dramen zeichnet sich im 16. Jahrhundert eine Möglichkeit ab, geistliches Theater sowohl im Dispositiv der Andacht als auch auf einem ›Weg in die Literatur‹ anzusiedeln. Hier kommt es durch den versierten Umgang mit antiken Vorbildern und Intertexten zu neuen, teils auch ganz explizit verhandelten Spannungsverhältnissen zwischen frömmigkeitspraktischen und gelehrt-literarischen Ansprüchen.Footnote 75
Im 16. und 17. Jahrhundert ist gegenüber dem Spätmittelalter auch im meditativen Schrifttum eine aufschlussreiche Wendung zu beobachten: Es steht nicht mehr nur über gemeinsame Strategien der Subjektivierung, der Disziplinierung der Seelenkräfte oder der Steuerung von Imaginationen in einem Dispositiv mit dem geistlichen ›Theater‹, sondern beginnt zunehmend, sich ausdrücklich theatraler Semantiken zu bedienen. Jörg Jochen Berns hat dies am Modell eines »inneren Erbauungstheaters«Footnote 76 demonstriert, das an patristische Traditionen anknüpft, und sich etwa bei den Jesuiten Ignatius von Loyola und Friedrich Spee oder in Dominikanischen Rosenkranz-Lehrbüchern des 17. Jahrhunderts nachweisen lässt. Doch auch Lutheraner des 16. und 17. Jahrhunderts, etwa Cyriacus SpangenbergFootnote 77 oder Johann Gerhard,Footnote 78 rufen dramentheoretisches Vokabular auf, um zur Betrachtung der Passion Christi anzuleiten. Es scheint sich um eine konfessionsübergreifende Tendenz zu handeln. Abseits der geläufigen theatergeschichtlichen Erzählungen ließe sich ausgehend von diesen Beobachtungen untersuchen, welche Kreuzungen von Literatur- und Frömmigkeitsgeschichte in der Frühen Neuzeit nicht nur vom Spiel zum Drama führen, sondern auch dazu, dass das Theater erneut zu einem Dispositiv der Andacht wird.
Notes
Für eine quellennahe Übersicht am Beispiel der Theatergesetze vgl. Dewenter, Bastian/Jakob, Hans-Joachim: »Einleitung«. In: Dies. (Hg.): Theatergeschichte als Disziplinierungsgeschichte? Zur Theorie und Geschichte der Theatergesetze des 18. und 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2018, S. 7–14. Zum Disziplinierungsdiskurs vgl. einführend auch Korte, Hermann: »Historische Theaterpublikumsforschung. Eine Einführung am Paradigma des 18. Jahrhunderts«. In: Ders./Hans-Joachim Jakob (Hg.): »Das Theater glich einem Irrenhause«. Das Publikum im Theater des 18. und 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2012, S. 9–53, bes. S. 42–53. Vgl. aus der weiteren jüngeren Forschung z. B. den Abschnitt »Szenen einer Disziplinierungsgeschichte« bei Hetzel, Andreas: »Theater als Dispositiv der Demokratie. Foucault liest Euripides«. In: Lorenz Aggermann/Georg Döcker/Gerald Siegmund (Hg.): Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in Ordnung der Aufführung. Frankfurt a. M. u. a. 2017, S. 47–66, hier S. 50–55.
Vgl. etwa Korte (s. Anm. 1), S. 50 f. sowie den Abschnitt »Disziplinierung des Publikums« in einer aktuellen Handbuchdarstellung bei Wortmann, Thomas: »III.3.8 Rezeption und Publikum«. In: Andreas Englhart/Franziska Schößler (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Drama. Berlin/Boston 2019, S. 497–511, hier S. 507–509. Eine Aufarbeitung von Quellen bietet der Band »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Eine Dokumentation. Zusammengestellt, kommentiert und hg. von Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter. Heidelberg 2014.
Von ›Domestizierung‹ sprechen etwa Korte (s. Anm. 1), S. 50 und Wortmann (s. Anm. 2), S. 509. Eine ähnliche Richtung hat die theatergeschichtliche Wertung, die Reformbewegungen des 18. Jahrhunderts hätten nicht zu einer Anhebung des Niveaus, sondern zu einer »Verarmung aufgrund von Disziplinierung« geführt; s. Müller-Schöll, Nikolaus: »Das Dispositiv und das Unregierbare. Vom Anfang und Fluchtpunkt jeder Politik«. In: Aggermann/Döcker/Siegmund (s. Anm. 1), S. 67–88, hier S. 81.
Vgl. z. B. Wortmann (s. Anm. 2), S. 509 f.
Vgl. programmatisch Aggermann, Lorenz: »Die Ordnung der darstellenden Kunst und ihre Materialisationen. Eine methodische Skizze zum Forschungsprojekt Theater als Dispositiv«. In: Ders./Döcker/Siegmund (s. Anm. 1), S. 7–32. Das ›Dispositiv‹ dient auch als Leitkonzept bei Olivia Ebert u. a. (Hg.): Theater als Kritik. Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung. Bielefeld 2018, hier bes. die Beiträge in der Sektion »Kritik des Dispositivs des Theaters in Vergangenheit und Gegenwart«. Vgl. auch Eiermann, André: »Illusion. Episteme. Dispositiv«. In: Milena Cairo u. a. (Hg.): Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit. Bielefeld 2016, S. 151–161, bes. S. 157–159.
Müller-Schöll (s. Anm. 3), S. 72 f.
Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: »Für eine Erfindung des mittelalterlichen Theaters aus der Perspektive der frühen Neuzeit«. In: Johannes Janota u. a. (Hg.): Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Bd. 2. Tübingen 1992, S. 827–848, hier S. 827–829.
Vgl. zum Problem des theatralen Zeichenstatus und mit Bezug auf Gumbrecht vor allem Müller, Jan-Dirk: »Realpräsenz und Repräsentation. Theatrale Frömmigkeit und Geistliches Spiel«. In: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.): Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Tübingen 2004, S. 113–133, hier S. 116; Petersen, Christoph: Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter. Tübingen 2004, S. 6 f.
Eine entschieden alteritätsskeptische Position vertritt Braun, Manuel: »Alterität als germanistisch-mediävistische Kategorie: Kritik und Korrektiv«. In: Ders. (Hg.): Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität. Göttingen 2013, S. 7–38, zum Problem der Konstruktion von Differenzen zur Moderne vgl. S. 22–25; zum Theater im Besonderen S. 36 f. Für Positionen im Diskurs um die Alterität des mittelalterlichen Theaters vgl. exemplarisch Gumbrecht (s. Anm. 7), S. 838; Herberichs, Cornelia: »Lektüren des Performativen. Zur Medialität geistlicher Spiele des Mittelalters«. In: Ingrid Kasten/Erika Fischer-Lichte (Hg.): Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel. Berlin/New York 2007, S. 169–185, hier S. 169; Müller, Jan-Dirk: »Präsenz des Heils und Repräsentation. Zur Alterität des Geistlichen Spiels (mit einem Nachwort zu anderen Formen des mittelalterlichen ›Dramas‹). In: Anja Becker/Jan Mohr (Hg.): Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Berlin 2012, S. 263–284; Schmidt, Christian: Drama und Betrachtung. Meditative Theaterästhetiken im 16. Jahrhundert. Berlin/Boston 2018, S. 282–292.
Vgl. etwa Müller (s. Anm. 9), S. 263.
Vgl. z. B. Toepfer, Regina: »Frühneuzeitliche Wende auf der Frankfurter Bühne? Das Frankfurter Passionsspiel und Paul Rebhuns Susanna zwischen Theater und Kult«. In: Zeitsprünge 14 (2010), S. 137–161.
Vgl. den Initialbeitrag von Williams-Krapp, Werner: Überlieferung und Gattung. Zur Gattung ›Spiel‹ im Mittelalter. Mit einer Edition von Sündenfall und Erlösung aus der Berliner Handschrift mgq 496. Tübingen 1980; jüngst auch Williams-Krapp, Werner: »Überlieferung und Gattung. Zur Gattung ›Spiel‹ im Mittelalter – revisited«. In: Jörn Bockmann/Regina Toepfer (Hg.): Ambivalenzen des geistlichen Spiels. Revisionen von Texten und Methoden. Göttingen 2018, S. 177–193. Die dazwischen liegende Diskussion ist aufgearbeitet bei Toepfer, Regina: »Implizite Performativität. Zum medialen Status des Donaueschinger Passionsspiels«. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 131 (2009), S. 106–132, hier S. 107–109.
Vgl. im Anschluss an die Alteritätsdiskussion zuletzt Herberichs, Cornelia: »Die ›Zwieschlächtigkeit der Aufführung‹ und die ›double diffusion‹ von Arnoul Grébans Le Mystère de la Passion. Zu Rainer Warnings Thesen zur Ambivalenz des Passionsspiels aus überlieferungsgeschichtlicher Perspektive«. In: Jörn Bockmann/Regina Toepfer (s. Anm. 12), S. 195–219, bes. S. 198 mit weiterer Literatur.
Vgl. Gumbrecht (s. Anm. 7), S. 833–835.
Vgl. Neumann, Bernd/Trauden, Dieter: »Überlegungen zu einer Neubewertung des spätmittelalterlichen religiösen Schauspiels«. In: Hans-Joachim Ziegeler (s. Anm. 8), S. 31–48, bes. S. 32–35 mit dem Versuch, den konzeptuellen Aufführungsbezug von Spielen unabhängig von ihrer empirischen Aufführung als Gattungskriterium zu etablieren.
Herberichs begreift die mediale Differenz von Aufführung und Schrift als Konstituens einer Gattung Spiel und schlägt vor, »die Dichotomie von Aufführung und Schrift als dynamisch und nach beiden Seiten hin durchlässig zu begreifen«; Aufgabe einer mediologisch interessierten Spielforschung sei es dann, »die mediale Differenz zwischen Aufführung und Schrift für jeden Einzelfall möglichst adäquat zu kontextualisieren und zu historisieren« (Herberichs [s. Anm. 13], S. 216).
Vgl. Gumbrecht (s. Anm. 7), S. 831.
Vgl. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt a. M. 1983 [franz. Originalausgabe: Paris 1976].
Foucault, Michel: »Ein Spiel um die Psychoanalyse. Gespräch mit Angehörigen des Departement de Psychanalyse der Universität Paris/Vincennes«. In: Ders.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978, S. 118–175, hier S. 119 f.
Zur alltagssprachlichen Bedeutung von dispositif im Französischen vgl. Bührmann, Andrea D./Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse. Bielefeld 22012, S. 51 f.
Vgl. Foucault (s. Anm. 19), S. 121 f.
Vgl. Bührmann/Schneider (s. Anm. 20), S. 54.
Vgl. z. B. Foucault (s. Anm. 18), S. 33–37.
Vgl. Foucault (s. Anm. 19), S. 132 f.
Bührmann/Schneider (s. Anm. 20), S. 54.
Ebd., S. 53.
Gumbrecht (s. Anm. 7), S. 831.
Dieses Problem hat die Forschung zum neuzeitlichen Theater nicht. So kann Nikolaus Müller-Schöll, ohne in Verlegenheit zu geraten, knapp umreißen, wie sich Theater als Dispositiv verstehen ließe: Einerseits als »Zusammenspiel von Drama, Script, Theater beziehungsweise Inszenierung und Performance«, andererseits »in einem be- und eingrenzenden Apparat, der es einer Geschichte und einer Kultur ermöglicht hat, die Kriteriologie theatraler Praxis zu umschließen. Teil dieses Apparats sind architektonische Vorgaben, polizeiliche Regeln, Lichtverhältnisse, Probenprozesse und -zeiten, Hierarchien im Theater und administrative Einordnungen des Theaters in größere gesellschaftliche und politische Kontexte der Stadt und des Landes« (Müller-Schöll [s. Anm. 3], S. 73 f.).
Gumbrecht (s. Anm. 7), S. 833.
Vgl. etwa die in Anm. 8 zitierten Arbeiten von Jan-Dirk Müller und Christoph Petersen.
Der Dispositiv-Begriff findet bei Gumbrecht ohne ausdrückliche theoretische Anbindung Verwendung, vgl. Gumbrecht (s. Anm. 7), S. 829; 831; 833; 838.
Vgl. einführend Schulze, Ursula: Geistliche Spiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Von der liturgischen Feier zum Schauspiel. Eine Einführung. Berlin 2012, bes. S. 218–221.
Vgl. Müller, Jan-Dirk: »Mimesis und Ritual. Zum geistlichen Spiel des Mittelalters«. In: Andreas Kablitz/Gerhard Neumann (Hg.): Mimesis und Simulation. Freiburg im Breisgau 1998, S. 541–571, bes. S. 545; 554–558; 562; 570. Vgl. zum Folgenden auch Schmidt (s. Anm. 9), S. 249–256.
Müller (s. Anm. 33), S. 570.
In diese Richtung weisen auch die zurückhaltenden Formulierungen in späteren Beiträgen: »In der Realität spätmittelalterlicher Devotion mögen die skizzierten Unterscheidungen nur eine geringe Rolle gespielt haben. Vermutlich wurden sie von den Besuchern der Messe, den Teilnehmern einer Feier, den über ein imaginäres Passionstheater Meditierenden oder den Zuschauern der Spiele nicht einmal wahrgenommen. Trotzdem sind sie nötig, um den Ausdifferenzierungsprozeß des Geistlichen Spiels gegenüber dem religiösen Kult zu erfassen« (Müller [s. Anm. 8], S. 132).
»Die theatralische Mimesis des Passionsgeschehens droht den meditativen Vollzug christlicher Passionsfrömmigkeit zu sprengen, indem sie, statt die Imagination möglichst vollständig zu lenken, sie freigibt« (Müller [s. Anm. 33], S. 570; vgl. auch ebd., S. 543).
Einer neuen Evaluierung dieser These widmet sich der Sammelband von Jörn Bockmann/Regina Toepfer (Hg.): Ambivalenzen des geistlichen Spiels. Revisionen von Texten und Methoden. Göttingen 2018. Zum Forschungsstand vgl. Dies.: »Einleitung: Ein Paradigma auf dem Prüfstand. Forschungsbilanz, Begriffsreflexion und Analysepotential des Ambivalenzkonzepts«. In: Ebd., S. 11–33.
Müller (s. Anm. 33), S. 542.
Vgl. auch Schmidt (s. Anm. 9), S. 251, Anm. 813.
Vgl. Ehrstine, Glenn: »Passion Spectatorship Between Private and Public Devotion«. In: Elina Gertsman/Jill Stevenson (Hg.): Thresholds of Medieval Visual Culture: Liminal Spaces. Woodbridge 2012, S. 302–320; ders.: »Ubi multitudo, ibi confusio. Wie andächtig war das Spielpublikum des Mittelalters?«. In: Cora Dietl/Wernfried Hofmeister (Hg.): Das Geistliche Spiel des europäischen Spätmittelalters. Wiesbaden 2015, S. 113–131.
Vgl. Ehrstine, Glenn: »Eine meisterliche Fälschung? Zum Warning’schen Begriff der Pseudokommunikation«. In: Bockmann/Toepfer (s. Anm. 37), S. 65–77, bes. S. 68 f.; 71 f.
Ehrstine (s. Anm. 41), S. 73. Zitiert wird Haug, Walter: »Rainer Warning, Friedrich Ohly, und die Wiederkehr des Bösen im geistlichen Schauspiel des Mittelalters«. In: Hans-Joachim Ziegeler (s. Anm. 8), S. 361–374, hier S. 371.
Vgl. Ehrstine (s. Anm. 41), S. 73–75.
Vgl. etwa Angenendt, Arnold: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 42009, S. 487; Lentes, Thomas: Gebetbuch und Gebärde. Religiöses Ausdrucksverhalten in Gebetbüchern aus dem Dominikanerinnen-Kloster St. Nikolaus in undis zu Straßburg (1350–1550). Diss. masch. Münster 1996, S. 98; Schmidt, Christian: »Andacht und Identität. Selbstbilder in Gebetszyklen der Lüneburger Frauenklöster und des Hamburger Beginenkonvents«. In: Mirko Breitenstein u. a. (Hg.): Identität und Gemeinschaft: Vier Zugänge zu Eigengeschichten und Selbstbildern institutioneller Ordnungen. Berlin/Münster 2015, S. 125–148; Eck, Sebastian: »Die Apologien – Zur Prägekraft einer christlichen Gebetsform für die mittelalterliche Religiosität«. In: Das Mittelalter 24/2 (2019), S. 319–336, bes. S. 333–336.
Vgl. Lentes, Thomas/Scharff, Thomas: »Schriftlichkeit und Disziplinierung. Die Beispiele Inquisition und Frömmigkeit«. In: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), S. 233–251, bes. S. 247–249.
Die Metapher der Seelenmühle stammt aus Gerhard Zerbolts von Zutphen Schrift De spiritualibus ascensionibus. Vgl. dazu Schmidt (s. Anm. 9), S. 118.
Im gedanklichen Abschweifen liegt eine permanente Gefährdung der Andachtspraxis, die etwa in den bildlichen Darstellungen vom guten und schlechten Beter thematisiert ist. Vgl. Thali, Johanna: »Strategien der Heilsvermittlung in der spätmittelalterlichen Gebetskultur«. In: Carla Dauven-van Knippenberg/Cornelia Herberichs/Christian Kiening (Hg.): Medialität des Heils im späten Mittelalter. Zürich 2009, S. 241–278, hier S. 246–248; Lentes, Thomas: »Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters«. In: Klaus Schreiner (Hg.): Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen. München 2002, S. 179–220, hier S. 185 f. Wie beim guten und schlechten Beter ist das Ersetzen geistlicher durch weltliche Gehalte auch ein Prinzip zahlreicher Gebetsparodien. Vgl. Matter, Stefan: »Gebetsparodien des hohen und späten Mittelalters«. In: Das Mittelalter 24/2 (2019), S. 370–389. Mit der Schlüpfrigkeit, Unbeständigkeit und Flatterhaftigkeit der Gedanken begründet noch Luther die Notwendigkeit, sich beim Beten und Meditieren am ›eusserlichen Wort‹, also an sinnlichen Medialisierungen des Gotteswortes festzuhalten (vgl. Schmidt [s. Anm. 9], S. 214 f.).
Vgl. Hamm, Berndt: »Die ›nahe Gnade‹ – innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit«. In: Ders.: Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen. Hg. von Reinhold Friedrich und Wolfgang Simon. Tübingen 2011, S. 544–560. Zum Verhältnis von ›naher Gnade‹ und ›naher Ungnade‹ vgl. ebd., S. 547 f. Den systemsprengenden »Quantensprung« von einer Theologie der ›nahen Gnade‹ zur reformatorischen Theologie beschreibt Hamm, Berndt: Ablass und Reformation – erstaunliche Kohärenzen. Tübingen 2016, hier S. 159 f.
Zum Aspekt der Habitualisierung vgl. Thali, Johanna: »andacht und betrachtung. Zur Semantik zweier Leitvokabeln der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur«. In: Susanne Bernhardt/Imke Früh/Burkhard Hasebrink (Hg.): Semantik der Gelassenheit. Generierung, Etablierung, Transformation. Göttingen 2012, S. 226–267, hier S. 249 f.; Schmidt (s. Anm. 9), S. 15 f. Die Vorstellung eines inneren Bildaustauschs, in dem ›böse‹ leibliche durch ›gute‹ geistige Bilder zu ersetzen sind, beschreibt Lentes (s. Anm. 47), S. 185 f.
Zu den medialen und pragmatischen Bedingungen der mittelalterlichen Gebetskultur vgl. zuletzt Breitenstein, Mirko/Schmidt, Christian: »Einleitung: Medialität und Praxis des Gebets«. In: Das Mittelalter 24/2 (2019), S. 275–282, bes. S. 275–277 mit weiterer Literatur.
Vgl. Schmidt (s. Anm. 9), S. 254.
So bleibt es selbstverständlich legitim, nach Mechanismen zu suchen, die die andächtige Rezeption einer Spielaufführung gefährden könnten. Ebenso wäre es legitim, nach Mechanismen zu suchen, die die andächtige Lektüre eines Passionstraktats – oder eines Passionsspieltextes – gefährden könnten.
Etwa beim Phänomen des Abschweifens (vgl. Anm. 47). Ambivalenzen im Dispositiv der Andacht lassen sich auch auf dem Feld der ›gezählten Frömmigkeit‹ im Spätmittelalter beobachten, wenn die Tendenz zur Quantifizierung von Gebetsleistungen mit intentionalen Kriterien als Maßstab konfligiert. Vgl. Angenendt, Arnold u. a.: »Gezählte Frömmigkeit«. In: Frühmittelalterliche Studien 29 (1995), S. 1–71, hier S. 57–62.
Herberichs (s. Anm. 9), S. 173 f.
In der Mediävistik bislang wenig beachtet ist die wichtige Aufarbeitung von Modellen eines ›inneren Theaters‹ in Patristik und Früher Neuzeit durch Jörg Jochen Berns, vgl. ders.: »Nachwort«. In: Gedächtnislehren und Gedächtniskünste in Antike und Frühmittelalter (5. Jahrhundert v. Chr. bis 9. Jahrhundert n. Chr.). Dokumentsammlung mit Übersetzung, Kommentar und Nachwort. Hg. von Jörg Jochen Berns unter Mitarbeit von Ralf Georg Czapla und Stefanie Arend. Tübingen 2003, S. 523–597, bes. S. 548–555; ders.: »Inneres Theater und Mnemonik in Antike und Früher Neuzeit«. In: Christina Lechtermann/Carsten Morsch (Hg.): Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten. Bern 2004, S. 23–43. Berns betont, dass auch die patristischen und frühneuzeitlichen Seelentheaterkonzepte »ein auf Selbstpolicierung, auf Selbstdisziplinierung gerichtetes Vorgehen« anempfehlen (ebd., S. 30, vgl. auch ebd., S. 33; 38 f.).
Dauven-van Knippenberg, Carla: »Ein Schauspiel für das innere Auge? Notiz zur Benutzerfunktion des Wienhäuser Osterspielfragments«. In: Ulrike Hirhager/Karin Lichtblau/Christa Tuczay (Hg.): Ir sult sprechen willekomen. Grenzenlose Mediävistik. Festschrift für Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag. Bern u. a. 1998, S. 778–787.
Neumann/Trauden (s. Anm. 15), S. 37.
Vgl. Toepfer (s. Anm. 12), S. 108; 111; 115; 119; 123; 126; 130.
Williams-Krapp: »Zur Gattung ›Spiel‹ im Mittelalter – revisited« (s. Anm. 12), S. 180: »Ich war und bin nach wie vor der Auffassung, es handele sich bei Sündenfall und Erlösung nicht um einen Text, der bei den wahrscheinlich klausurierten Nonnen bei der Lektüre eine ›imaginäre Aufführungssituation‹ evozierte, wie dies Bernd Neumann und Dieter Trauden für eine Gattung ›Lesedrama‹ vorschlagen. Beweisen kann ich das freilich genauso wenig wie diejenigen, die das evtl. anders sehen. Übrigens habe ich nie die Möglichkeit von ›imaginären Aufführungen‹ bei der Lektüre von ›Lesetexten‹ grundsätzlich in Frage gestellt. Was sich Menschen bei einer Lektüre imaginieren, möchte ich aber ungern als Gattungskriterium verwerten, zumal man dabei voraussetzen müsste, dass die Lesenden irgendwann eine tatsächliche Aufführung erlebt haben müssten, um eine solche während der Lektüre ›imaginieren‹ zu können.«.
Vgl. Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1992, S. 20; ders.: »Was ist Kommunikation?« In: Ders.: Short Cuts. Hg. von Peter Gente, Heidi Paris und Martin Weinmann. Frankfurt a. M. 2000, S. 41–63.
Auf die Verbindung der Spiele »mit anderen Dialogisierungen und Dramatisierungen von Heilsgeschehen und Heilswissen, die sich in der (lauten oder leisen) Lektüre oder der (meditativen oder reflexiven) Betrachtung vollziehen« weist bereits Christian Kiening hin. Ders.: »Präsenz – Memoria – Performativität. Überlegungen im Blick auf das Innsbrucker Fronleichnamsspiel«. In: Ingrid Kasten/Erika Fischer-Lichte (s. Anm. 9), S. 139–168, hier S. 143. Für weitere Beispiele vgl. Buschbeck, Björn Klaus: »Sprechen mit dem Heiligen und Eintauchen in den Text: Zur Wirkungsästhetik eines Passionsgebets aus dem Engelberger Gebetbuch«. In: Das Mittelalter 24/2 (2019), S. 390–408, bes. S. 405–408; Schmidt (s. Anm. 9), S. 122–127; Schmidt (s. Anm. 44), S. 137–145.
Dass Spieltexte »beim Leser eine imaginäre Aufführungssituation evozieren«, ist bei Neumann/Trauden jedoch das Kriterium, durch das sie sich »grundlegend von anderer Literatur mit dialogischem Aufbau unterscheiden« (Neumann/Trauden [s. Anm. 15], S. 37). Ich verwende hier und im Folgenden ›imaginativ‹, wenn es um den konkreten Vollzug von Imaginationen geht und ›imaginär‹, wenn es um das gesellschaftlich Imaginäre geht.
Zur imaginären Institution vgl. den einleitenden Beitrag zu diesem Heft von Bleumer, Hartmut: »Dramatische Dispositive. Zum Ort des Spiels vor der Zeit des Theaters«, https://doi.org/10.1007/s41244-020-00173-0.
Vgl. Neumann/Trauden (s. Anm. 15), S. 35. Vgl. in diesem Sinne auch Toepfer (s. Anm. 12), S. 119–125. Eine andere Perspektive eröffnet Christian Kiening mit der Überlegung, Spielhandschriften böten »nicht die Stillstellung der Aufführungen, die ihrer Niederschrift vorangehen und nachfolgen, nicht das Sediment dessen, was sich ereignet hat und wieder ereignen kann. Sie böten etwas, was der Unterscheidung von Text und Aufführung ebenso vorausläge wie der von Nachvollziehen und Spielen. Sie wären selbst in ihrer materiellen Realisierung nicht zu trennen von der imaginativen Dimension, in der sie sich ›abspielen‹« (Kiening [s. Anm. 61], S. 149).
Vgl. mit Blick auf das Passionsspiel und die meditative Passionsfrömmigkeit die in Anm. 40 genannten Beiträge von Glenn Ehrstine. Dieses Thema habe ich in meiner Dissertation am Beispiel unterschiedlicher Dramentraditionen des 16. Jahrhunderts bearbeitet, ohne systematisch auf das Dispositivkonzept Bezug zu nehmen (vgl. Schmidt [s. Anm. 9]).
Darüber hinaus weist die dynamische Interpretation der medialen Differenz bei Herberichs (s. Anm. 13).
Vgl. Schmidt (s. Anm. 9), S. 20–23.
Vgl. Schmidt (s. Anm. 9), S. 9–15; 261.
Der Begriff der imaginativen Performanz stammt von Kiening, Christian: »Medialität«. In: Christiane Ackermann/Michael Egerding (Hg.): Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Berlin/Boston 2015, S. 349–381, hier S. 367. Er wird von Kiening mit Blick auf das Medium Schrift verwendet, das die Spieltexte überliefert, also auch hier tendenziell der Lektüre zugeordnet.
So Herberichs (s. Anm. 9), S. 170 mit Bezug auf Neumann/Trauden (s. Anm. 15).
Die meditativen Aspekte des Münchner Eigengerichtsspiels betont hingegen zuletzt Benz, Maximilian: »München 1510: Ein Schauspiel vom Tode«. In: Christian Kiening/Martina Stercken (Hg.): Medialität. Historische Konstellationen. Zürich 2019, S. 247–256, bes. S. 249.
Vgl. Anm. 59.
Wie angedeutet, können über das Dispositiv der Andacht beispielsweise historische Imaginationsmodelle rekonstruiert werden, die auf einer anderen Ebene liegen als die der Gattungsdiskussion. In diese Perspektive fügen sich bestimmte mediale und textuelle Eigenheiten von Spieltexten ein, andere hingegen, etwa Regieanweisungen zu Kostümen, nicht ohne weiteres.
Vgl. die Ansätze bei Schmidt (s. Anm. 9), S. 18 f.; 148 f.; 216 f.; 286–288.
Vgl. etwa Tilg, Stefan: »Comedy«. In: Sarah Knight/Stefan Tilg (Hg.): The Oxford Handbook of Neo-Latin. Oxford 2015, S. 87–101, bes. S. 94 f.; Bloemendal, Jan: »Neo-Latin Drama in the Low Countries«. In: Ders./Howard Norland (Hg.): Neo-Latin Drama and Theatre in Early Modern Europe. Leiden/Boston 2013, S. 293–364, bes. S. 302–325.
Berns: »Inneres Theater« (s. Anm. 55), S. 39.
Vgl. Schmidt (s. Anm. 9), S. 244 f.
Vgl. Steiger, Johann Anselm: »Nachwort«. In: Johann Gerhard: Erklährung der Historien des Leidens vnnd Sterbens vnsers Herrn Christi Jesu nach den vier Evangelisten (1611). Kritisch hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 479–505, hier S. 492–494 mit weiteren Beispielen.
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Schmidt, C. Das Dispositiv der Andacht. Z Literaturwiss Linguistik 50, 417–434 (2020). https://doi.org/10.1007/s41244-020-00175-y
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