1 Theater als Dispositiv oder die Dispositive des Theaters

Die Theatergeschichte der Neuzeit ist oftmals als Geschichte einer Disziplinierung erzählt worden.Footnote 1 Insbesondere das Theater der Wanderbühnen dient in dieser Geschichte als negativer Bezugspunkt eines sich im 18. und 19. Jahrhundert herausbildenden ›bürgerlichen Theaters‹, dessen Telos in der Disziplinierung der theatralen Aktion durch einen autoritativen Dramentext ebenso liegt, wie in einer Disziplinierung der Zuschauer, die ihre Körper still- und ihre spontanen Reaktionen zurückzustellen haben, um sich, wie auch die Schauspieler, dem Regime eines Werkes und seiner Poetik unterzuordnen.Footnote 2 Ist es eine Geschichte der Verfeinerung oder eine Verlustgeschichte? Die Verlustgeschichte könnte lauten: Was das Theater einmal war, ein Ort der Exaltiertheit und der improvisierten Geste, frei, ist zu einem Ort der Domestizierung geworden.Footnote 3 Doch die aufgeräumte Stube des bürgerlichen Theaters provoziert in den antibürgerlichen Avantgarden des 20. Jahrhunderts eine Gegenbewegung, eine Re-Theatralisierung, die als De-Dramatisierung des Theaters, als Rebellion gegen seine Disziplinierungsgeschichte zu verstehen ist.Footnote 4

Es lassen sich sicherlich Zweifel an dieser Geschichte anmelden. Sie wirkt, so schnell und unbesorgt erzählt wie hier, ja selbst verdächtig aufgeräumt. Weniger zweifelhaft scheint es zu sein, dass es sich um Literatur- und Theatergeschichte handelt, um die Geschichte von Dramentexten und ihrer Poetik und um die Geschichte theatraler Institutionen und ihrer Aufführungspraktiken. Deshalb leuchtet es ein, die äußerst verwickelten und ungleichzeitigen Strategien der Disziplinierung, aber auch die ihrer Kritik und Subversion, in einem ›Theater als Dispositiv‹ zu rekonstruieren.Footnote 5 Nikolaus Müller-Schöll sieht in diesem Vorgehen die Möglichkeit, über Leerstellen einer Theatergeschichtsschreibung hinauszukommen, die zu einseitig als eine Geschichte der Literatur und der Ästhetik geschrieben worden ist. Eine »Betrachtung von Theater als Dispositiv« erlaube es, »die bloß ästhetische oder von der Literatur her kommende Theatergeschichtsschreibung von in sie hineinwirkenden, sie bedingenden und formierenden wie regulierenden Kontexten her zu korrigieren und sukzessive zu revidieren.«Footnote 6 Eine Dispositivgeschichte des Theaters dürfte demnach keine ›bloße‹ Theatergeschichte mehr sein, wenn eine solche durch die Grenzen literarhistorischer und ästhetischer Fragestellungen bestimmt ist.

Die Perspektive, die sich in dieser Überlegung abzeichnet, berührt sich mit einem Grundproblem der Geschichte des mittelalterlichen und weiter Teile des frühneuzeitlichen Theaters, das Anfang der 1990er Jahre von Hans Ulrich Gumbrecht formuliert worden ist und seitdem intensiv bearbeitet wurde: Theatrale Phänomene dieser Zeit sind offenkundig nicht über den institutionellen Rahmen des neuzeitlichen Theaters identifizierbar,Footnote 7 der so etwas wie eine theatral-mimetische Zeichenhaftigkeit erst verfestigt.Footnote 8 Sie lassen sich auch nicht über einen modernen Literaturbegriff oder über die Kategorien einer ästhetischen Theorie fassbar machen. Ein hermeneutisches Paradigma, das die Beschreibung mittelalterlicher Theatralität stark geprägt hat, ist folgerichtig das ihrer Alterität.Footnote 9 Weil Alterität eine Differenzkategorie ist, bleiben die in Frage stehenden Formen mittelalterlichen ›Theaters‹ in diesem Paradigma zumindest latent auf ein Idealmodell des neuzeitlichen Theaters bezogen. Es entstehen Kataloge von Differenzen,Footnote 10 die dann als Alteritätskriterien Verwendung finden können, etwa als Frageraster für Untersuchungen zum geistlichen Theater des 16. Jahrhunderts, die an theatergeschichtlichen Brüchen und Kontinuitäten interessiert sind.Footnote 11

Das Paradigma der Alterität berührt auch die Frage nach der Bestimmung einer Gattung Spiel im Mittelalter. Die durch Werner Williams-Krapp angestoßene Gattungsdiskussion,Footnote 12 die in jüngerer Zeit gewinnbringend auf die Frage nach der Medialität geistlicher Spiele hin geöffnet wurde,Footnote 13 beruht nicht zuletzt auf dem Umstand, dass sich eine Gattung Spiel nicht über den ›Theater-Rahmen‹,Footnote 14 über Selbstbezeichnungen oder über Kriterien wie einen dialogischen Aufbau oder einen Aufführungsbezug trennscharf abgrenzen lässt.Footnote 15 Sowohl die Gattungstypologie als auch die mediologisch ausgerichtete Spielforschung sind an der Rekonstruktion von Differenzen interessiert – Gattungsdifferenzen bzw. mediale Differenzen –,Footnote 16 die historisch wirksam waren, ohne sich in Kategorien übersetzen zu lassen, die eine Literatur- und Theatergeschichtsschreibung ihrem Begriff nach voraussetzt.

Alterität – der Titel ›Theater als Dispositiv‹ ergibt offenbar keinen unproblematischen Ausgangspunkt für Mediävistik und Frühneuzeitforschung. Die These des vorliegenden Beitrags ist, dass es hingegen gewinnbringend sein könnte, nach den ›Dispositiven des Theaters‹ zu fragen. Diese Fragerichtung stellt nicht das Theater, sondern das Dispositiv als Leitbegriff voran. Sie erlaubt es, den Begriff des Theaters in der Schwebe zu halten, ohne ihn als Suchbegriff auszustreichen, generische und mediale Differenzen anzuerkennen, ohne selbst die Programme der Gattungsgeschichte oder der Mediologie zu verfolgen. Anders als das Paradigma der Alterität, könnte die Frage nach dem Dispositiv ein möglicher Weg sein, das geistliche ›Theater‹ vor der Moderne nicht von seiner ›doppelten Diskontinuität‹ her zu denken – von Antike und Neuzeit gleichermaßen abgeschnitten –,Footnote 17 sondern seine positiven Bezugsrahmen und seine synchronen und diachronen Bedingungsgefüge zu rekonstruieren. Dies schließlich eröffnet den Blick auf eine ganz andere Disziplinierungsgeschichte.

2 Vom ›Theater‹ als Dispositiv zum Dispositiv der Andacht

Michel Foucaults Dispositivkonzept zielt, anders als etwa der Begriff der Gattung, weniger auf die Abgrenzung heterogener Phänomene ab, als auf ihre Vernetzung. In einem oft zitierten Gespräch, das kurz nach dem Erscheinen von Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1) geführt wurde,Footnote 18 beschreibt Foucault das Dispositiv abstrakt als

ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.Footnote 19

Ein solches Netz ist als Dispositiv, also insofern es sich im weiteren Sinne einer Vorrichtung oder Apparatur beschreiben lässt,Footnote 20 nicht beliebig, sondern auf strategische Zielsetzungen ausgerichtet.Footnote 21 Im Fall des von Foucault analysierten Dispositivs der Sexualität, das im Hintergrund der zitierten Aufzählung steht, sind dies, verkürzt gesagt, die Durchsetzung und Regulierung bestimmter Formen von Subjektivität und Begehren.Footnote 22 Pädagogische Diskurse können daran ebenso beteiligt sein wie die Architektur von Schlafsälen in Internaten, Gesetze zur Eindämmung von Perversionen, eheliche Praktiken oder medizinische Diagnosen.Footnote 23 Eine auf Foucaults Machttheorie beruhende Pointe besteht darin, dass die in einem Dispositiv greifbaren Strategien ohne einen Strategen auskommen, der sie steuert.Footnote 24 Wie Andrea Bührmann und Werner Schneider zusammenfassen, reagiert das Dispositivkonzept damit auf den Umstand,

dass allein aus den (Herrschafts‑)Interessen von individuellen oder kollektiven Akteuren und ihrer möglichen Durchsetzung heraus sich das, was als Erfahrungs-Zusammenhang die Selbst-Verhältnisse von Subjekten und ihre Beziehungen untereinander als je historisch spezifische konstituiert und formiert, nicht hinreichend erklären lässt [...].Footnote 25

So können durchaus widersprüchliche Intentionen einzelner Akteure oder gesellschaftlicher Einrichtungen auf die Dynamik eines Dispositivs einwirken, ohne die erzielten Wirkungen sicher kontrollieren oder steuern zu können. Dispositive lassen sich »nicht restlos und widerspruchsfrei totalisieren; so existieren in der sozialen Praxis immer ›Risse‹ und damit unterschiedliche Aneignungs- wie Umdeutungsmöglichkeiten.«Footnote 26 Festzuhalten ist, dass das Foucaultsche Dispositivkonzept im Anschluss an Sexualität und Wahrheit überaus eng auf Subjektivierungsprozesse bezogen ist, auf die Formierung von Selbstverhältnissen und Erfahrungszusammenhängen. Ein solcher Bezug scheint auch im Hintergrund der Überlegungen von Hans Ulrich Gumbrecht zu stehen, der in der benannten ›doppelten Diskontinuität‹ des mittelalterlichen Theaters ein Hindernis für die Rekonstruktion seines ›Erfahrungsdispositivs‹ gesehen hat:

Wir können nicht – oder wenigstens nicht mehr – sicher sein, woher die Formen des ›mittelalterlichen Theaters‹ kamen, aber es ist uns auch zunehmend unklar, wie wir es als eine Vorstufe zum neuzeitlichen Theater setzen können. Diese doppelte Diskontinuität ist für die mediävistische Forschung selbst deshalb von Belang, weil sie ihr die Blickpunkte entzieht, von denen aus ein hermeneutischer Bezug zum ›mittelalterlichen Theater‹ als Erfahrungsdispositiv allererst entwickelt werden müßte.Footnote 27

Es ist vielleicht nicht trivial, dass hier vom ›mittelalterlichen Theater‹ als Erfahrungsdispositiv die Rede ist. Sofern die Vorstellung von der doppelten Diskontinuität zutrifft, sind der Forschung damit tatsächlich die Blickpunkte entzogen. Das Theater, das ›nicht mehr‹ und ›noch nicht‹ ist, steht nun in Anführungszeichen; es ist unbestimmt, dient aber weiterhin der Bestimmung des zu rekonstruierenden Dispositivs.Footnote 28 Gumbrecht geht offensiv mit diesem Dilemma um. Aus einer groß angelegten Aufarbeitung derjenigen Elemente, die eine neuzeitliche Auffassung von Theater und seine gesellschaftliche Institutionalisierung ermöglicht hatten, ist eine Kontrastfolie zu gewinnen, von der sich mittelalterliche ›Theatralität‹ abheben lässt. Hierin sieht Gumbrecht eine

Strategie, um den Begriff des ›mittelalterlichen Theaters‹ – wie wir es postuliert hatten: als ein historisch spezifisches Erfahrungsdispositiv – neu zu modellieren. Zwar kann man auf diesem Weg nicht zu einer positiven Beschreibung jener Situations- und Interaktionselemente gelangen, welche die verschiedenen Formen mittelalterlicher Aufführungspraxis konstituierten; doch ein prägnanteres Wissen um jene Voraussetzungen, die man bei ihrer Rekonstruktion nicht machen darf, wäre im Zusammenspiel mit der einschlägigen Textüberlieferung und anderen – positiven – Wissenselementen eine probate Methode, um das ›mittelalterliche Theater‹ aus der Perspektive der frühen Neuzeit historiographisch neu zu erfinden.Footnote 29

Eine solche Neuerfindung des ›mittelalterlichen Theaters‹ als Erfahrungsdispositiv ist konsequent an die Prämisse seiner Alterität gekoppelt, gerade das Dilemma der fehlenden Blickpunkte mündet so in eine ausgeklügelte Forschungsstrategie. Dass diese zu grundlegenden Ergebnissen führen kann, zeigen die Arbeiten, die an Gumbrechts Überlegungen anknüpfen und sie weiterentwickeln.Footnote 30 Doch welche Perspektiven ergeben sich, wenn mit der Alteritätsprämisse zugleich die Folie des neuzeitlichen Theaters als erkenntnisleitendes Modell zwar nicht zurückgewiesen, aber doch zurückgestellt wird? Wie gestaltet sich ein Programm, das nicht nach dem ›Theater‹ als Erfahrungsdispositiv, sondern nach den Erfahrungsdispositiven des ›Theaters‹ fragt? Anders als bei Gumbrecht, müsste hierfür nicht der Theaterbegriff, sondern das Dispositivkonzept geschärft und bestimmt werden.Footnote 31

Besonders für diejenigen Texte und Aufführungsformen, die die Forschung als geistliche Spiele diskutiert, liegen einige Beiträge vor, die am Ort der Spiele in einem frömmigkeitspraktischen Gefüge interessiert sind, das sich als ›Dispositiv der Andacht‹ bezeichnen ließe. Schematisch formuliert, zeichnen sich diese Ansätze dadurch aus, dass ihre Erkenntnisinteressen nicht am Modell der generischen, medialen oder epochalen Differenz ansetzen, sondern an den Bedingungen, die auf der Ebene des rezipierenden Subjekts liegen. Der enge Bezug geistlicher Spiele auf Formen von Liturgie und Frömmigkeitspraxis ist in der Forschung unumstritten und allgemein akzeptiert.Footnote 32 Es führt jedoch zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen, ob man etwa die Rezeption von Passionsspielen und die Lektüre von Passionstraktaten einander entgegensetzt, oder die Matrix in den Blick nimmt, die ihren Zusammenhang konstituiert.

2.1 Abgrenzung

Jan-Dirk Müller hat eine Reihe von Kriterien erarbeitet, über die sich die Lektüre von Passionstraktaten und die Rezeption von Passionsspielaufführungen voneinander abgrenzen lassen. Die Differenzen betreffen etwa die Sinnlichkeit der Erfahrung, die Emotionalisierungsstrategien, die Sinnbildungsmuster, die Involvierung des Körpers, die Art der zu erbringenden Imaginationsanstrengung und die Verfasstheit des Publikums.Footnote 33 Von Interesse ist hier, dass die Aufarbeitung dieser Differenzen mit einer literatur- und theatergeschichtlichen These verknüpft ist, die Müller mit aller Vorsicht, aber doch pointiert genug formuliert:

Man hat sich zu Recht daran gewöhnt, das Geistliche Spiel vom neuzeitlichen Drama abzusetzen. Dennoch ist es, vielleicht nur durch einen Haarriß, auch von jenen liturgischen und paraliturgischen Frömmigkeitsübungen getrennt, denen es Texte, Motive und Deutungen entnimmt. Es ist ›auf dem Weg zur Literatur‹, wenn man diesen metaphorischen Ausdruck gestatten will. Indem es den Gläubigen [...] in die Rolle des Zuschauers entläßt, entläßt es ihn aus der Kontrolle der meditativen Askese, die auch seine Imagination steuern sollte.Footnote 34

Wenn die Überlegungen des vorliegenden Beitrags zutreffen, dann beruht die These vom literarischen Telos des Geistlichen Spiels gerade auf der Prämisse seiner Alterität. Sie fasst das Geistliche Spiel ja immer schon in einen literatur- und theatergeschichtlichen ›Blickpunkt‹ und erzeugt damit bei der Betrachtung mittelalterlicher Phänomene ein verlockendes Echo der historiographischen Neuzeit. »Vielleicht«, »Haarriß«, »metaphorischer Ausdruck« – es wirkt, als traue auch der Mediävist Müller diesem Echo nicht ganz über den Weg.Footnote 35 Die zitierte These ist für die Frage nach dem Dispositiv des ›Theaters‹ von Belang, weil sie unmittelbar über den Status des rezipierenden Subjekts entscheidet: Das Spiel ›entlässt‹ den Gläubigen aus den Steuerungs- und Kontrollmechanismen seiner meditativen Askese – aus einem Disziplinierungszusammenhang, der unmittelbar die Form seines Selbstverhältnisses und seiner Erfahrungsmodi betrifft – und gibt seine Imaginationen frei.Footnote 36 Das andächtige Subjekt verschwindet, der Zuschauer ist geboren. Ein Dispositivwechsel hat stattgefunden.

Im Hintergrund von Müllers Ausführungen steht der Versuch, Rainer Warnings These von der Ambivalenz des Geistlichen SpielsFootnote 37 zwischen Mythos und Kerygma als »Ambivalenz von ›Kult‹ und ›Theater‹«Footnote 38 zu reformulieren und sie gewissermaßen mit dem Gesicht zur Zukunft zu drehen: Aus dem Rückfall des Spiels in den Mythos wird sein Weg zur Literatur.Footnote 39 Zentrale Voraussetzung dieser These ist, dass die lektürebasierte Meditation über die Passion Christi als Frömmigkeitsvollzug in einem wichtigen Punkt von der Rezeption einer Passionsspielaufführung zu unterscheiden ist: Meditation weist keine Ambivalenz mit vergleichbarer Sprengkraft auf, d. h. das ›andächtige Subjekt‹ unterliegt im Gegensatz zum ›Zuschauer-Subjekt‹ einer weitgehenden, offenbar erfolgreichen Kontrolle.

2.2 Einbettung

Glenn Ehrstine hat in mehreren Beiträgen dafür argumentiert, gerade die in der Frömmigkeitspraxis kultivierten Verhaltensmuster heranzuziehen, um die Rezeptionshaltungen eines spätmittelalterlichen Spielpublikums historisch greifbar zu machen.Footnote 40 Das Verhältnis von meditativer Passionsfrömmigkeit und Spielaufführung ist hier nicht mit Blick auf eine literatur- oder theatergeschichtlich relevante Bruchstelle von Interesse, sondern soll es ermöglichen, den synchronen Verständnisrahmen des Geistlichen Spiels genauer zu modellieren. Ausgehend von einer aktuellen Auseinandersetzung mit Warnings Thesen, die sein Ambivalenzkonzept und die teils anti-christliche Stoßrichtung seiner Interpretationen zurückweist,Footnote 41 formuliert Ehrstine das Desiderat, die Spiele deutlich stärker auf die Kontexte der zeitgenössischen Frömmigkeitstheologie und Andachtspraktiken zu beziehen als bislang geschehen. Sie seien

Ausdruck einer urbanen Laienfrömmigkeit, die ihr Heil jenseits von kirchlichen Institutionen und offizieller Theologie gesucht hat. Ich schließe mich hier also Walter Haug an, der in den ›subjektiven Seiten der Gotteserfahrung‹, die sich im Laufe des Spätmittelalters in ungewohntem Maße herausgebildet haben, den Schlüssel für das Verständnis des geistlichen Spiels sieht. Wir müssen uns also viel gründlicher mit Andachtspraktiken und populärer Theologie beschäftigen, um Antworten auf die Fragen zu liefern, was die Spielbesucher angezogen hat und wie sie sich die Aufführungen zu eigen gemacht haben.Footnote 42

Hierzu sei insbesondere auch das spätmittelalterliche Ablasswesen zu berücksichtigen, das noch wenig erforschte Phänomen des Spielablasses und die zugrundeliegenden Modelle der Vermittlung von Heil und Gnade.Footnote 43 Dieser Ansatz tritt mit einem konservativeren Gestus auf: Das Geistliche Spiel verliert in dieser Weise das Sprengpotenzial, das es in der an Warning geschulten Perspektive so attraktiv gemacht hatte. Es wird gewissermaßen herabgestuft zu einem Frömmigkeitsphänomen unter anderen, sodass die Aufgabe der historischen Verortung nun nicht länger darin besteht, seinen religiösen oder theatergeschichtlichen Sonderstatus herauszustellen, sondern es in die Kultur einzubetten, die seinen Hintergrund bildet. Entscheidend für die hier angestellten Überlegungen ist, dass dieser Ansatz es erlaubt, das Geistliche Spiel, Medien und Praktiken des Gebets und der Meditation, das Ablasswesen, die Liturgie, die Topologie spätmittelalterlicher Städte, die Beschaffenheit von Bühnen, die Körper der Gläubigen, theologische Diskurse und politische Entscheidungen urbaner Führungsgruppen daraufhin zu befragen, welche Strategien in diesem ›heterogenen Ensemble‹ je daran beteiligt sind, die ›subjektiven Seiten der Gotteserfahrung‹ zu formieren. Also zu fragen: Welche Orte besetzt das Geistliche Spiel im Dispositiv der Andacht?

2.3 Das Dispositiv der Andacht und die Risse im Netz

Dass Andachts- oder Frömmigkeitspraktiken im Spätmittelalter eng auf Subjektivierungsprozesse und Selbstverhältnisse von Gläubigen bezogen sind, ist eine unabhängig vom geistlichen Theater bestehende Annahme der Forschung.Footnote 44 Spezifische Disziplinierungen und Selbstdisziplinierungen des Subjekts bilden im Feld der frömmigkeitstheologischen Diskurse und der meditativen oder gebetspraktischen Schriften ein übergreifendes strategisches Ziel.Footnote 45 Sie sind von den oben genannten theatergeschichtlichen Modellen von Disziplinierung insofern unterschieden, als diese mit Blick auf das Publikum eine Bemühung um Stillstellung voraussetzen. Disziplinierungsstrategien im Dispositiv der Andacht zielen hingegen wesentlich auf Aktivität ab: auf eine Gegenproduktion zu dem, was die undisziplinierte, d. h. die ›natürliche‹, zur Sünde strebende Eigentätigkeit von Körper und Seele hervorbringt. Es ist dafür zu sorgen, dass die Seelenmühle, die von sich aus unterschiedslos alles sinnliche, auch schädliche Material zermahlt, auf solches Material konditioniert wird, das für ihr Heil zuträglich ist.Footnote 46 Zwar sind die Gedanken schlüpfrig, die Abschweifungen vorprogrammiert,Footnote 47 die Anfechtungen durch Fleisch, Welt und Teufel allgegenwärtig – aber auch die Gnade ist nah und sie rückt, wie Berndt Hamm gezeigt hat, inner- und außerhalb der kirchlichen Institutionen zunehmend näher.Footnote 48

Diese Spannung von Gefährdungslage und Heilsversprechen erzeugt im Dispositiv der Andacht das Motiv für eine habitualisierte Arbeit am Selbst: an der Selbstwahrnehmung, an der emotionalen Disposition, am Umgang mit Sinneseindrücken, an Bewertungsmustern für Erfahrung, an den Bahnen, in denen die Gedanken verlaufen, an den Bildern, die vor dem inneren Auge auftauchen.Footnote 49 Die konkreten Strategien dieser Arbeit am Selbst sind in einer Vielzahl von geistlichen Übungen fassbar, die durch eine Vielzahl von Medien in ihrem Vollzug strukturiert werden.Footnote 50 Geistliche Spiele sind als Frömmigkeitsmedien in dieses strategische Netz eingebunden. Das Verhältnis von Frömmigkeitsmedium und Frömmigkeitsvollzug allerdings ist grundsätzlich prekär.Footnote 51 Daher führt auch die Meditation, die etwa von der Lektüre eines Passionstraktats ausgeht, nicht umstandslos zur Kontrolle und Steuerung der Gedanken, Gefühle und Imaginationen, sondern bildet vielmehr eine Option im Umgang mit der Gefahr eines Kontroll- und Steuerungsverlustes, der zugleich ein Heilsverlust wäre. Das Potenzial, den Vollzug der Passionsbetrachtung zu sprengen, wie Müller es mit Blick auf die Aufführung von Passionsspielen angenommen hat, ist immer gegeben. Es ist nicht spezifisch für das Geistliche Spiel, sondern in jedem Verhältnis von Medium und Vollzug angelegt.Footnote 52 Die zutage tretenden Risse, Brüche oder Ambivalenzen wären nur nicht zuerst Zeichen einer ästhetischen Ausdifferenzierung oder einer verdrängten Mythosstruktur. Es wären Risse ganz unterschiedlicher Art, die im Dispositiv der Andacht notwendig entstehen, weil es sich nicht ›totalisieren‹ lässt. Die vollkommene Andacht bleibt ein Phantasma, das den Bemühungen um methodische Disziplinierungen der Seelenkräfte Antrieb verleiht.

3 Zum Ort des Spiels im Dispositiv der Andacht

Wenn die hier skizzierten Überlegungen brauchbar sind, dann ist mit dem Dispositiv der Andacht das Modell für ein ›Erfahrungsdispositiv‹ gefunden, das dem Theater als Dispositiv historisch vorausliegt und in dem sich das Geistliche Spiel verorten lässt. Leitend ist dann die Prämisse, dass es sich bei diesem Dispositiv um ein Netz von Diskursen, Medien, Praktiken, Räumen usw. handelt, das strategisch auf die Formierung eines ›andächtigen Subjekts‹ und auf eine methodische Disziplinierung der Seelenkräfte ausgerichtet ist. Es ist ein Netz, das durchaus anfällig für Störungen ist, dessen Strategien sich nicht auf eine einheitliche Intention zurückführen lassen und keine strenge Kohärenz aufweisen. Sie können sich gegeneinander verschieben, sind in Bewegung und öffnen immer auch Lücken für ›Unandächtiges‹.Footnote 53 Die Bestimmung von Orten des Geistlichen Spiels im Dispositiv der Andacht beantwortet also nicht die Frage nach dem Ort des Geistlichen Spiels schlechthin, sie harmonisiert auch nicht die in der Spieltradition angelegten Divergenzen oder Widersprüchlichkeiten. Sie gibt jedoch Richtungen für historische Kontextualisierungen vor, die weniger stark von der Alterität des Geistlichen Spiels zum Theater der Neuzeit abhängen und ermöglicht es, neue ›Blickpunkte‹ auf seinen Subjektivitätsbezug zu gewinnen. Dieser Ansatz ist nicht polemisch auf die Diskussionen der Spielforschung bezogen, die an generischen, medialen oder epochalen Differenzen interessiert sind. So erscheint es aus Sicht des mediologisch ausgerichteten Programms von Cornelia Herberichs konsequent,

von den zeitgenössischen Frömmigkeitsformen und -praktiken, von den Grenzen und Grenzüberschreitungen der heterogenen und gleichzeitigen Medien mittelalterlicher Frömmigkeit auf die historisch spezifischen medialen Eigenheiten geistlicher Spieltexte zu schließen. Um einerseits die Analogien zu und andererseits die Differenzen von anderen Gattungen geistlicher Literatur zu benennen, bedarf es der Annäherung von verschiedenen Rändern.Footnote 54

Das Dispositivkonzept nimmt die generischen Analogien und Differenzen oder die medialen Eigenheiten nicht ›aus dem Spiel‹. Es nähert sich ihnen aber aus einer anderen Perspektive, weil es im Dispositiv nicht in erster Linie um Fragen der Gattungskonstitution, sondern um Fragen der Subjektkonstitution geht. In dieser Weise werden etwa die imaginativen Aspekte geistlicher Spiele vor einem Hintergrund interpretierbar, für den die Gattungsdiskussion bislang wenig sensibilisiert ist.

4 Innere Bühnen

Eine Verortung des Spiels im Dispositiv der Andacht interessiert sich für ein Netz von Subjektivierungsstrategien und berührt damit das in der Forschung seit längerem variierte Bildfeld der ›inneren Bühne‹.Footnote 55 Nachdem Carla Dauven-van Knippenberg das Wienhäuser Osterspielfragment im Zusammenspiel mit der Ikonographie seiner räumlichen Umgebung tentativ als »Schauspiel für das innere Auge« beschrieben hatte,Footnote 56 waren es Bernd Neumann und Dieter Trauden, die den Bezug auf eine »imaginäre Aufführungssituation«Footnote 57 als Differenzkriterium einer Gattung Spiel im Mittelalter vorgeschlagen haben, um den oft nicht belegbaren Bezug auf eine tatsächliche Aufführung als Gattungskriterium zu umgehen und genuine Lesetexte integrieren zu können. Diesen Vorschlag hat etwa Regina Toepfer aufgenommen, um den medialen Status des Donaueschinger Passionsspiels zu analysieren.Footnote 58 Werner Williams-Krapp hat das Modell von Neumann und Trauden im Rahmen der Gattungsdiskussion jüngst wiederum mit dem Argument zurückgewiesen, auch die Imaginationen historischer Akteure seien nicht belegbar.Footnote 59

In der Tat sind Imaginationen nicht nur historisch nicht belegbar, sondern, wie alle Bewusstseinsinhalte, auch empirisch ganz grundsätzlich nicht kommunizierbar.Footnote 60 Was sich hingegen gut belegen lässt, sind die Appellstrukturen von Andachtsmedien, die auf eine Disziplinierung von Imaginationen, Gedanken und Gefühlen ausgerichtet sind – seien es Spiele in Aufführungen oder Lesemanuskripten, illustrierte Einblattdrucke, ikonographische Rauminszenierungen, Gebetstexte oder Passionstraktate. Ein Nebentext, der den Aufbau eines hölzernen Bühnenapparats beschreibt, mag ein Spezifikum der Gattung Spiel sein. Die Strategie, innere Szenen mit dialogisch interagierenden Figuren zu beleben, etwa um das Gedächtnis der Passion zu erneuern, compassio, Sündenbewusstsein oder Bußaffekte zu kultivieren, ist es nicht. Es handelt sich um eine Struktur von geistlichen Übungen, die in der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur gattungs- und medienübergreifend zu beobachten ist.Footnote 61 Das Geistliche Spiel steht im Dispositiv der Andacht nicht allein auf der ›inneren Bühne‹.Footnote 62 Es knüpft mit den ihm eigenen medialen Strukturen an Strategien im Dispositiv der Andacht an. Bei der imaginativen Aufführungssituation im Anschluss an Neumann und Trauden aber ist der Aufführungsbegriff zumindest unterschwellig nicht an einem solchen Dispositiv, sondern an der imaginären Institution des ›Theaters‹ ausgerichtet.Footnote 63 Er zielt nicht auf eine imaginative Performativität der Spielhandlung selbst, auf ihre Bild- und Heilswirkung ab, sondern auf eher technische Aspekte einer Inszenierung, die sich etwa in Bühnenanweisungen finden.Footnote 64 Die Verortung von Spielen in einem Dispositiv, das methodisch auf den Imaginationsfluss der Subjekte einzuwirken versucht, müsste an einem anderen Punkt ansetzen.

Die Tendenz, sich von einer imaginären Institution leiten zu lassen, gilt nun nicht weniger für die hier verwendete Metapher der inneren ›Bühne‹ oder für das ›Schauspiel‹ vor dem inneren Auge. Die Perspektive des Dispositivs kann diesen Effekt nicht einfach neutralisieren. Sie bietet aber die Möglichkeit, geläufige Unterscheidungen zu überdenken, weil sie die Medien und Gattungen der Frömmigkeitskultur in all ihren Differenzen auf das strategische Netz verweist, das sie verknüpft, und das den imaginären Institutionen von Theater, Kunst oder Literatur historisch vorausliegt.

Eine Praxis, über die sich die imaginativen Dimensionen des geistlichen Theaters im Dispositiv der Andacht greifbar machen lassen, ist die der ›Betrachtung‹, der Meditation.Footnote 65 Sie ist für eine Gattungsbestimmung völlig ungeeignet, weil sie nichts unterscheidet. Sie erlaubt es aber, einen Zugriff auf den Imaginationsbezug geistlicher Spiele und Dramen zu gewinnen, der vom ›Theater‹ im Sinne eines technischen Inszenierungsapparats wegführt.

Die an die Gattungsdiskussion anknüpfende Forschung hat die imaginative Dimension von Spieltexten weitgehend als Komplement zur tatsächlichen Aufführung aufgefasst und entsprechend auf die Lektüre von Texten bezogen.Footnote 66 Damit war ein wichtiger Schritt getan, um den Primat der Aufführung in Frage zu stellen. Vor dem Hintergrund historischer Meditationspraktiken erweist sich die Gegenüberstellung von ›imaginativer‹ Lektüre und ›tatsächlicher‹ Aufführung jedoch als falsche Alternative. Die Betrachtung, die zahlreiche Spiele ganz ausdrücklich einfordern und zu gestalten versuchen, umfasst methodisch geleitete imaginative Vollzüge, die darauf abzielen, das Gedächtnis und die inneren Sinne auf ein heilswirksames Bildinventar zu konditionieren, Anfechtungen zu begegnen, das Gewissen zu erforschen oder sich durch compassio dem leidenden Christus anzugleichen.Footnote 67 Betrachtung ist jedoch nicht medienspezifisch. Sie steht ebenso quer zum Gattungssystem wie zur Differenz von Aufführung und Schrift und lässt sich zeitlich von einem Aufführungsereignis ebenso entkoppeln wie von der Lektüre.Footnote 68 Im Dispositiv der Andacht wäre die Teilhabe an einer tatsächlichen Aufführung nicht weniger auf eine solche ›imaginative Performanz‹ zu beziehen als die Lektüre eines Spieltextes.Footnote 69

Historische Modelle für Betrachtung lassen sich gattungsintern und aus den intertextuellen und intermedialen Bezugsfeldern des geistlichen ›Theaters‹ rekonstruieren. Sie sind mit dem an der technischen Seite von Theater orientierten Begriff einer imaginativen ›Aufführungssituation‹ aber nur unzureichend erfasst, sofern damit nicht mehr als eine »visuelle Assoziation« Footnote 70gemeint ist, die den Spieltexten eingeschrieben ist. Der Gedanke an eine Bühnenkonstruktion aus Holz an einem Sommertag in München zum Beispiel.Footnote 71

Der Zugriff über das Dispositiv der Andacht kann den Unterschied zwischen dem Gedanken an eine Holzkonstruktion und einem Betrachtungsvollzug bewusst machen. Er kann die medialen Eigenheiten geistlicher Spiele und Dramen auf Strategien einer Arbeit am Selbst beziehen, die in einem kulturellen Netz verortet sind, das über die generischen und medialen Grenzen hinausgeht. Er entkräftet hingegen nicht den Einwand von Williams-Krapp, dass es keinen Zugriff auf die Empirie von Imaginationen gibt. Wie sich generische und mediale Differenzen historisch konkret auf Betrachtungsvollzüge ausgewirkt haben, bleibt ebenso unbeantwortbar, wie die Frage, ob jene klausurierte Nonne bei der Lektüre von Sündenfall und Erlösung an eine Bühnenkonstruktion aus Holz gedacht hat oder nicht.Footnote 72

5 Ausblick: Eine theatergeschichtliche Perspektive?

Es hat mindestens einen fragwürdigen Effekt, die Frage nach der Alterität des Geistlichen Spiels zum Theater der Neuzeit zurückzustellen und die Frage nach dem ›Theater‹ als Dispositiv auf die Frage nach den Dispositiven des ›Theaters‹ umzustellen: Eine theatergeschichtliche Perspektive folgt daraus nicht unmittelbar. Es handelt sich zunächst um eine Priorisierung der Frömmigkeitsgeschichte über die Geschichte von Literatur und Theater, die eigene Verzerrungstendenzen mit sich bringt, weil sie fast automatisch vom Eigenwert der jeweiligen Medien und Gattungen wegführt.Footnote 73 Theatergeschichtliche Perspektiven könnten im Dispositiv der Andacht dennoch angelegt sein. Sie betreffen etwa die Möglichkeit, das Verhältnis des mittelalterlichen Geistlichen Spiels zu den geistlichen Dramen- und Spieltraditionen der Frühen Neuzeit genauer zu modellieren als bisher. Dafür müssten die im 16. und 17. Jahrhundert durch Reformation und Gegenreformation entstehenden Verschiebungen und Bruchlinien im Dispositiv der Andacht umfassend in den Blick genommen werden. Geläufige theatergeschichtliche Dichotomisierungen, etwa die Dichotomie von Emotionalisierung und Rationalisierung in der Verhältnisbestimmung von Geistlichem Spiel und reformatorischem Drama, ließen sich vor dem Hintergrund einer genaueren Aufarbeitung frömmigkeitsgeschichtlicher Kontexte differenzieren.Footnote 74

In der humanistisch beeinflussten Tradition geistlicher Dramen zeichnet sich im 16. Jahrhundert eine Möglichkeit ab, geistliches Theater sowohl im Dispositiv der Andacht als auch auf einem ›Weg in die Literatur‹ anzusiedeln. Hier kommt es durch den versierten Umgang mit antiken Vorbildern und Intertexten zu neuen, teils auch ganz explizit verhandelten Spannungsverhältnissen zwischen frömmigkeitspraktischen und gelehrt-literarischen Ansprüchen.Footnote 75

Im 16. und 17. Jahrhundert ist gegenüber dem Spätmittelalter auch im meditativen Schrifttum eine aufschlussreiche Wendung zu beobachten: Es steht nicht mehr nur über gemeinsame Strategien der Subjektivierung, der Disziplinierung der Seelenkräfte oder der Steuerung von Imaginationen in einem Dispositiv mit dem geistlichen ›Theater‹, sondern beginnt zunehmend, sich ausdrücklich theatraler Semantiken zu bedienen. Jörg Jochen Berns hat dies am Modell eines »inneren Erbauungstheaters«Footnote 76 demonstriert, das an patristische Traditionen anknüpft, und sich etwa bei den Jesuiten Ignatius von Loyola und Friedrich Spee oder in Dominikanischen Rosenkranz-Lehrbüchern des 17. Jahrhunderts nachweisen lässt. Doch auch Lutheraner des 16. und 17. Jahrhunderts, etwa Cyriacus SpangenbergFootnote 77 oder Johann Gerhard,Footnote 78 rufen dramentheoretisches Vokabular auf, um zur Betrachtung der Passion Christi anzuleiten. Es scheint sich um eine konfessionsübergreifende Tendenz zu handeln. Abseits der geläufigen theatergeschichtlichen Erzählungen ließe sich ausgehend von diesen Beobachtungen untersuchen, welche Kreuzungen von Literatur- und Frömmigkeitsgeschichte in der Frühen Neuzeit nicht nur vom Spiel zum Drama führen, sondern auch dazu, dass das Theater erneut zu einem Dispositiv der Andacht wird.