1 Vorbemerkung

Knigge ist aktuell. Zu allen möglichen Gelegenheiten, bei denen eine berufliche oder private Interaktion gelingen soll, gibt es einen passenden ›Knigge‹ auf dem Markt. So etwa, um nur einige Titel zu nennen, den Knigge für moderne Frauen und den Knigge der Weltreligionen, den Schul- und den Auto-Knigge, den Business-Knigge ebenso wie den Knigge für das Bankgeschäft oder den Knigge für den Personenschutz. Aus der Feder eines langjährigen Dozenten für ›Knigge-Seminare‹ stammen unter anderem Bücher wie der inzwischen in der achten Auflage erschienene Knigge für Beruf und Karriere oder, in der fünften Auflage, der Kanzlei-Knigge,Footnote 1 außerdem ein Soft-Skills-, ein Smalltalk- und ein Quassel-Knigge, Knigges für die Jugend und für Senioren, für Hochschule, Bewerbung und Berufseinstieg, für Büro und Kollegen, für Feste und Gäste, zu Tischkultur und Trinksitten ebenso wie zu Hochzeit, Trauer und Tod. Zu passenden Gelegenheiten geben seriöse Medien ›Knigge-Experten‹ das Wort. Unter dem Link knigge.deManieren per Mausklick werden aktuelle ›Benimm-Seminare‹ angepriesen, Vertreter der Knigge-Gesellschaft e. V. empfehlen sich als moderne ›Benimm-Trainer‹. Ein Blick in dieses bunte Knigge-Angebot offenbart, worum es dabei vor allem geht: um karriereförderliche Imagepflege, Selbstvermarktung, beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg.

Angesichts solch einer Konjunktur an Ratgebern für gutes Benehmen, die dem deutschen Sprachgebrauch entsprechend den Namen Knigge metonymisch für »Verhaltensregeln in einem bestimmten Bereich« verwenden,Footnote 2 lohnt es sich, den Text noch einmal genauer zu betrachten, auf den diese Verwendung zurückgeht: Adolph Freiherrn von Knigges Buch Vom Umgang mit Menschen, das der Duden als »Sammlung von Verhaltensregeln für den täglichen Gebrauch«Footnote 3 bezeichnet. Dass er jedoch weit mehr und anderes bieten wollte als »bloß Vorschriften einer conventionellen Höflichkeit«, hat Knigge selbst in der Vorrede zur dritten, stark überarbeiteten Auflage seines Buches aus dem Jahr 1790 denjenigen Kritikern entgegengehalten, die den Titel »Vom Umgang mit Menschen« als irreführend empfanden.Footnote 4 Knigge präzisiert, dass die Überschrift eigentlich hätte lauten müssen: »Vorschriften, wie der Mensch sich zu verhalten hat, um in dieser Welt und in Gesellschaft mit andern Menschen glücklich und vergnügt zu leben und seine Nebenmenschen glücklich und froh zu machen.«Footnote 5 Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es sich beim ›Original-Knigge‹ eben nicht um ein situativ beschränktes Regelwerk handelt, sondern um ein umfassendes Konzept. Das Buch soll nicht etwa Techniken vermitteln, sondern in eine ›Kunst‹ einführen. Persönlichkeit und Menschenkenntnis, Kompetenz und Intuition gehören dabei wesentlich zum »Umgang mit Menschen« als der »Kunst, sich bemerken, geltend, geachtet zu machen, ohne beneidet zu werden; sich nach den Temperamenten, Einsichten und Neigungen der Menschen zu richten, ohne falsch zu seyn; sich ungezwungen in den Ton jeder Gesellschaft stimmen zu können, ohne weder Eigenthümlichkeit des Characters zu verliehren, noch sich zu niedriger Schmeicheley herabzulassen«.Footnote 6 Das ist, aus der Feder des Aufklärers Knigge, durchaus gegen höfische Etikette geschrieben und auch so verstanden worden – und steht doch in einer Tradition, die auf die kultivierte, höfisch geprägte, aber nicht auf den Hof beschränkte Elite Frankreichs verweist, die seit dem 17. Jahrhundert europaweit als tonangebend galt in Fragen kultivierter Lebensführung und damit des sogenannten ›savoir-vivre‹. Da Knigge sein Verständnis von »Kunst des Umgangs mit Menschen« demonstrativ gleichsetzt mit dem, »[w]as die Franzosen den esprit de conduite nennen«,Footnote 7 ist ein Blick auf diese französische Tradition unverzichtbar, um in einer kultur- und literaturgeschichtlichen Perspektive den Ansprüchen an das gesellige Gespräch auf die Spur zu kommen, in dem sich (nicht erst) für Knigge der gesellschaftliche Umgang im wesentlichen realisiert. Höflichkeit spielt dabei eine wichtige Rolle, aber eben nicht als veräußerlichte, konventionelle Förmlichkeit, sondern als »gesellschaftsethische[r] Maßstab für eine Verhaltensdisposition und die Modalität interaktiver Handlungen«.Footnote 8 Dabei kann es im Rahmen dieses Beitrags nicht darum gehen, das für die gesellige Unterhaltung relevante Höflichkeitskonzept der Frühen Neuzeit – das selbst wiederum antike Vorläufer hat – umfassend zu rekonstruieren; das ist von Forschern wie Manfred Beetz oder Alain Montandon längst geleistet worden.Footnote 9 Die folgenden Überlegungen wollen vielmehr schlaglichtartig an einige wichtige Stationen einer wirkmächtigen Kommunikationsethik erinnern, für die sich eine Unterscheidung von ›Konversation‹ und ›Small Talk‹ in unserem heutigen Verständnis als wenig hilfreich erweist. Bewusst zu halten ist dabei, dass es sich bei den in der untersuchten Literatur – sei es in fiktionalen Texten oder in Anleitungsbüchern – vermittelten Vorstellungen von gelingender Kommunikation in geselligem Umgang eher um die Modellierung eines Ideals als um die Widerspiegelung einer realen Praxis handelt.

2 Konversation und Höflichkeit bei Madeleine de Scudéry

In die umfangreichen Romanzyklen der Madeleine de Scudéry aus den 1650er Jahren sind zahlreiche gesellige Gespräche eingebettet, die die Autorin, losgelöst vom ursprünglichen Handlungszusammenhang, zum Teil überarbeitet und ergänzt, ab 1680 in mehreren Bänden unter dem Titel Conversations sur divers sujets herausbringt. Gleichsam programmatisch eröffnet sie den ersten Band mit dem Text De la conversation, der in räumlich und zeitlich fremdem GewandFootnote 10 eine Art Salongesellschaft präsentiert – angeführt von einer Dame, sprechen Männer und Frauen gleichen Standes gleichberechtigt und ungezwungen über Themen von gemeinsamem Interesse –, die Regeln für gesellige Unterhaltungen aufstellt. Zunächst erfolgt eine Bestimmung ex negativo. Denn die Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer erzählen von eigenen unangenehmen Erfahrungen, von Gelegenheiten, bei denen sie ein Gespräch über Wissenschaft, Politik oder Geschichte, über das Geschäftsleben, über Familienangelegenheiten, Liebesabenteuer oder Kleidung als unerquicklich und langweilig empfunden haben; als störend bewerten sie auch einen zu großen Ernst in der Gesprächsführung oder lautes, unbändiges Lachen.Footnote 11 So stellt sich ihnen die Frage nach dem geeigneten Thema und nach der passenden Darbietungsform für eine gelungene Unterhaltung: Worüber soll man denn überhaupt in Gesellschaft sprechen, und wie muss eine gute Konversation gestaltet sein, um als schön und vernünftig zu gelten?Footnote 12 Im Gespräch über diese Frage präzisiert die Dame Sapho bzw. ValerieFootnote 13 – und mit ihr die Autorin Scudéry –, dass es bei einer guten Unterhaltung weniger um das Was als vielmehr um das Wie der Gesprächsführung gehe, vorausgesetzt, man beachte die Grundregel: »ne dire jamais rien qui choque le jugement«, das heißt, »niemals etwas zu sagen, was das kluge Urteil beleidigt«.Footnote 14 Zu bevorzugen seien alltägliche Themen, doch auch die genannten seien nicht weniger geeignet als andere, sofern sie zu den jeweiligen Umständen passten und auf eine unterhaltsame, annehmliche Weise besprochen würden. Mit »esprit« und »jugement«Footnote 15 – also geistreich und mit gutem Urteilsvermögen – darf man offensichtlich über alles sprechen, sofern man nur die – seit Cicero und Quintilian in der Rhetorik verbindliche – Regel der Angemessenheit (aptum) berücksichtigt und beachtet, wo, wann und mit wem man spricht.Footnote 16 Unter der Voraussetzung, dass man die »Hauptregel« befolgt, niemals gegen das »kluge Urteil« zu verstoßen, gilt nach Scudéry, »daß es grundsätzlich nichts gibt, was nicht in die Konversation Eingang finden könnte. Sie soll frei sein, und verschieden je nach Zeit, Ort und Personen, mit denen man zusammen ist. Das große Geheimnis besteht darin, von niederen Dingen stets vornehm zu sprechen; von gehobenen Dingen recht einfach, und ziemlich galant von galanten Dingen, ohne Geschäftigkeit und ohne Gezwungenheit.«Footnote 17

›Freiheit‹ meint Geschmeidigkeit, Spontaneität und Improvisationskunst in Wahl und Wechsel der Themen, der Ausdruck ›galant‹ hat eine für Scudéry und die mondäne Salongeselligkeit im Frankreich des 17. Jahrhunderts charakteristische Bedeutung. Nach zeitgenössischem Verständnis ist damit ein gewisses Etwas gemeint (»je-ne-sais-quoi«), gemischt mit Anmut (»bonne grâce«), höfischer Manier (»air de la Cour«), Geist (»esprit«), Urteilsvermögen (»jugement«), gesittetem Benehmen (»civilité«), Höflichkeit (»courtoisie«), Fröhlichkeit (»gaieté«), jedoch ohne jeden Zwang (»sans contrainte«), ohne Affektiertheit (»sans affectation«) und frei von Laster (»sans vice«). Genau so werden »galant« und »galamment« in Vaugelas’ Remarques sur la langue française 1647 bestimmt.Footnote 18 Es ist bezeichnend für das Konzept der Galanterie, dass es sich nicht prägnant definieren und auf einen einfachen Nenner bringen lässt – das wäre pedantisch und somit ungalant –, vielmehr ein Bündel an Merkmalen umfasst, das auf das Selbstverständnis einer gesellschaftlichen Elite verweist, die den ›bon usage‹, den guten Gebrauch, immer schon kennt, weil sie ihn in Theorie und Praxis entscheidend prägt.

Jene Charakteristika des galanten Verhaltensideals finden sich in Scudérys Vorstellungen von einer guten Konversation wieder.Footnote 19 Diese soll von gutem Urteilsvermögen geprägt sein, geistreich, heiter und angenehm, ungezwungen – und vor allem höflich:

Wessen es allerdings bedarf [um eine Konversation sanft – »douce« und unterhaltsam – »divertissante« – zu machen], ist ein gewisser Geist der Höflichkeit, der sämtliche beißenden Spottreden völlig aus ihr [...] verbannt, ebenso jene, die, wenn auch nur in geringem Maße, das Schamgefühl verletzen können. Und schließlich möchte ich, daß man die Kunst, den Dingen eine andere Wendung zu geben [»l’art de détourner les choses«], so gut beherrscht, daß man selbst zu der strengsten Frau der Welt eine Galanterie sagen kann; daß man eine Bagatelle auf angenehme Weise erzählen kann, und zwar bedeutenden Menschen und ernsthaften; daß man sich mit Laien über Wissenschaft unterhalten kann, wenn man dazu angehalten wird; und daß man seinen Witz [»esprit«] anpassen kann, gemäß den Dingen, von denen man spricht, und gemäß den Leuten, die man unterhält; aber nebst all dem [...] möchte ich auch, daß eine gewisse Fröhlichkeit herrschen soll, die, ohne der Torheit jener ewigen Lacherinnen nahezukommen, die viel Lärm um ein Nichts machen, im Herzen aller Beteiligten eine gewisse Stimmung hervorruft, sich an allem zu ergötzen und über nichts zu langweilen.Footnote 20

In diesem Sinne sind Konversationen keinem fremden Zweck unterworfen,Footnote 21 sondern Kommunikation um der Kommunikation willen, und das in einer ›ästhetischen Überformung‹Footnote 22 – man könnte es auch natürliche Eleganz nennen –, die allen Beteiligten Vergnügen bereiten soll. Es ist eine in der Gruppe der Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer auf Ausgleich, Konsens und Harmonie bedachte, betont friedfertige Kommunikation, die Muße voraussetzt und durch das gefällige, von Störungen freie Sich-Einlassen auf das je wechselnde Gegenüber und die konstante Vermeidung von Extremen jegliche Aggression fernzuhalten sucht. Derart wird die (implizite) Beteuerung wechselseitigen Wohlwollens ständig wiederholt. Der Effekt ist die Kohäsion einer sozialen Elite durch Selbstbestätigung nach innen und Abgrenzung gegenüber denjenigen, die an dieser ›guten Praxis‹ nicht partizipieren (sollen).

Wenn Scudéry ihre Konversation über die Konversation in der Ausgabe von 1680 mit dem – gegenüber der Erstausgabe neu hinzugefügten – Satz beginnen lässt, dass die Konversation das verbindende Glied in der Gesellschaft aller Menschen sei und das gängigste Mittel, um nicht nur Höflichkeit, sondern Moral zu verbreiten,Footnote 23 wird der ethische Anspruch deutlich, der dem Ideal einer galanten Konversation zugrunde liegt. Später geht Scudéry noch einen Schritt weiter. In ihrem 1684 in den Conversations nouvelles sur divers sujets erstmals publizierten Text De la politesse setzt einer der Gesprächspartner Höflichkeit sogar mit moralisch richtigem Verhalten gleich:

»Wirkliche Höflichkeit bedeutet, richtig zu leben und immer auf angebrachte Weise zu sprechen wissen. Es heißt, seine Vernunft sinnvollerweise dem ›bel usage du monde‹ unterzuordnen [...]; es heißt auch, nie jemandem eine Grobheit oder eine Unhöflichkeit zuzufügen; es bedeutet, niemals zu anderen zu sagen, wovon man nicht wollte, daß es jemand zu einem selbst sagte; es heißt, nicht den Tyrannen der Konversation geben zu wollen, indem man immer spricht, ohne diejenigen, zu denen man spricht, sprechen zu lassen; es heißt, niemals ein gewisses Verhalten Damen gegenüber an den Tag zu legen, von dem wir täglich so viele Beispiele sehen.« »So weit ich sehe«, sagte Clarinte lächelnd, »muss man die Moral kennen, um die Höflichkeit gut zu kennen.«Footnote 24

Zumindest, antwortet Théanor, mache die Höflichkeit alle Tugenden in der Praxis viel angenehmer.Footnote 25

3 Höflichkeit im Kulturtransfer: Thomasius’ Erziehung zum ›Weltmann‹

Es ist eben dieses Verständnis von Höflichkeit, das Christian Thomasius, als Philosoph und Jurist Verfechter des Naturrechts in Deutschland, seinen Leipziger Studenten im Jahr 1687 in seinem Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? als vorbildlich empfiehlt.Footnote 26 In Fragen der »Lebens-Art«Footnote 27 besäßen die Franzosen einen Zivilisationsvorsprung: »[S]ie sind doch heut zu tage die geschicktesten Leute / und wissen allen Sachen ein recht Leben zugeben«.Footnote 28 Abgesehen von Speisen, Kleidung und Möbeln gelte das für ihre Sprache, die Thomasius als »anmuthig und liebreitzend« bezeichnet, und für ihre Umgangsformen, deren ungezwungene »ehrerbietige Freyheit« deutlich »geschickter« sei, »sich in die Gemüther der Menschen einzuschleichen«, also beim Gegenüber Wohlwollen und Gefallen auszulösen, »als eine affectirte bauernstoltze gravität« – womit er dem Beharren auf ›altdeutschen‹ Sitten eine klare Absage erteilt.Footnote 29 So rät dieser prominente Vertreter der deutschen Frühaufklärung den angehenden Akademikern, die sich etwa auf ein künftiges Amt in der Verwaltung bei Hofe vorbereiten, sich am Vorbild Frankreich zu schulen, indem sie ihre – auf rechten Vernunftgebrauch gegründete – Gelehrsamkeit um das Ideal des »honnête homme« ergänzen, also des »ehrlichen und gerechten Mann[es]«, der niemanden vorsätzlich beleidigt oder übervorteilt, der zu seinem Wort steht und den Bedürftigen hilft, ohne Aufhebens davon zu machen.Footnote 30 Auf diese Weise könne jeder von ihnen das erstrebenswerte Ziel erreichen, »ein vollkommener weiser Mann« zu werden, »den man in der Welt zu klugen und wichtigen Dingen brauchen kan«,Footnote 31 d. h. der dem Gemeinwesen nützlich ist. Zur Vervollkommnung dieses vernünftigen Weltmanns, zu dem Thomasius den akademischen Nachwuchs erziehen will, gehören zudem wesentlich der »bon gout«, worunter man in Frankreich – im übertragenen Sinn – die Fähigkeit verstehe, »wohl und vernünfftig das Gute von den Bösen oder das artige von dem unartigen [zu] unterscheiden«,Footnote 32 ein »bel esprit«Footnote 33 sowie Galanterie. Zur Beantwortung der Frage »Aber ad propos was ist galant und ein galanter Mensch?« führt Thomasius einschlägige französische Autoren des 17. Jahrhunderts an, unter ihnen auch ScudéryFootnote 34 und ihre Definition des »Air galant« als »eine verborgne natürliche Eigenschafft [...], durch welche man gleichsam wider Willen gezwungen würde einem Menschen günstig und gewogen zu seyn«,Footnote 35 und er zitiert Scudérys (oben bereits angeführte) Bestimmung der Höflichkeit in der Annahme, »daß bey denen Frantzosen die Galanterie und la Politesse eines sey«: »[W]ahre Politesse« aber »beruhe« darauf,

daß man wohl und anständig zu leben / auch geschickt und zu rechter Zeit zu reden wisse / daß man seine Lebens-Art nach dem guten Gebrauch der vernünfftigen Welt richte / daß man niemands einige Grob- und Unhöfflichkeit erweise / daß man denen Leuten niemals das jenige unter Augen sage / was man sich selbst nicht wolte gesagt haben / daß man in Gesellschafft das grosse Maul nicht allein habe / und andere kein Wort auffbringen lasse / daß man bey dem Frauenzimmer nicht gar ohne Rede sitze / als wenn man die Sprache verlohren hätte / oder das Frauenzimmer nicht eines Worts würdig achte; hingegen auch nicht allzu kühne sey / und sich mit selbigen / wie gar vielfältig geschiehet / zu gemein mache; dieses alles sage ich, sind solche Eigenschafften, die zu einen galanten Menschen erfordert werden.Footnote 36

Aufschlussreich ist der Vergleich mit der Formulierung bei Scudéry. Während in ihrer Konversation De la politesse die zitierte Passage den Kommentar provoziert, dass man wohl »die Moral kennen« müsse, »um die Höflichkeit gut zu kennen«,Footnote 37 folgert Thomasius, dass die genannten Aspekte der Höflichkeit den »galanten Menschen« ausmachen. Auf den ausdrücklichen Hinweis auf Moral kann er verzichten, da die ausführliche Bestimmung des Weltmannes als eines »honnête-homme« dieses Vorzeichen ohnehin schon gesetzt hat, auch die Behauptung, der »bon goût« diene der vernünftigen Unterscheidung von Gut und Böse, weist in diese Richtung. Dass im übrigen Thomasius’ Hinweise zum Umgang mit Frauen im Gespräch anschaulicher gefasst sind als bei Scudéry, liegt an seiner ausschließlich männlichen Studentenschaft, während Scudérys Texte an einen gemischtgeschlechtlichen Rezipientenkreis adressiert sind.

Während Thomasius sich in Fragen der Gelehrsamkeit und der »honnêteté« als kompetent erachtet,Footnote 38 ist er zur Vermittlung der »grundgesetze« von »bon gout«, »bel esprit« und »galand homme« auf die Übersetzung ausländischer Regelwerke angewiesen – und so mündet der Discours schließlich in die Ankündigung seiner Vorlesung über Baltasar Graciáns Schrift Handorakel und Kunst der Weltklugheit, die »aus lauter Regeln geschickt und artig zu leben bestehet«.Footnote 39 Im Druck ist Thomasius’ wirkmächtiger kleiner Text übrigens gerahmt von zwei Maximen Graciáns: einer Empfehlung, höflich und flüssig zu reden, um den allgemeinen Geschmack zu treffen, und dem Rat, in den Grenzen von Klugheit und Anstand Scherz ins Gespräch zu mischen, um allgemeines Wohlwollen zu wecken.Footnote 40 Festzuhalten bleibt, dass der Leipziger Hochschullehrer unter Bezug auf die aphoristisch gehaltenen Regeln in Graciáns Oráculo manual und auf Scudérys Konversationen, die in der fiktionalisierten Form geselliger Gespräche eben das vorführen, wovon sie handeln, in seinem Discours die Überwindung ›deutscher‹ Plumpheit und Gezwungenheit in akademischen Kreisen durch eine Nachahmung französischer Höflichkeit zu befördern versucht. Wie Scudéry, aber für ein ganz anderes Publikum, propagiert er einen freien, natürlich wirkenden Umgang, der einerseits Selbstbeherrschung voraussetzt, andererseits Aufmerksamkeit und ein sensibles Gespür für das Gegenüber sowie die Fähigkeit und Bereitschaft, rücksichtsvoll auf Interessen, Bedürfnisse und Abneigungen des Gesprächspartners bzw. der Gesprächspartnerin einzugehen. Das Ziel solcher Modellierung des eigenen Verhaltens ist es, das Gegenüber freundlich und gewogen zu stimmen. Sofern jeder Gesprächsteilnehmer diese Regeln befolgt, ist er in der Lage, ›weltmännisch‹ zu agieren und die Kommunikation aktiv positiv und produktiv zu beeinflussen.Footnote 41

Thomasius hat später für ein studentisches Publikum eine Kurtze Anleitung zu einer guten Conduite herausgebracht und auch als Professor in Halle über das Decorum gelehrt,Footnote 42 also über Anstand im Umgang bzw. das sogenannte ›Schickliche‹.Footnote 43 Dass er damit dann »unter Kollegen und Zeitgenossen [...] Anstoß« ›erregt‹ hat, lässt sich, wie Manfred Beetz überzeugend gezeigt hat, darauf zurückführen, dass er das Decorum auf eine »ethisch fundierte[...] Naturrechtslehre« gegründet hat sowie, »gesellschaftspolitisch[...]« gesehen, auf ein »innerweltlich verankerte[s] Konzept vom Wesen und Zweck menschlichen Gemeinschaftslebens«.Footnote 44 So gibt Thomasius altbekannten Regeln ein neues Fundament, beispielsweise, wenn er die »Höflichkeitsmaxime der offenen Freundlichkeit gegenüber jedermann« nun »mit dem decorum juris naturae« begründet und sich auf die »ursprüngliche, naturgegebene Gleichheit aller Menschen« beruft.Footnote 45 Für die ›inhaltliche‹ Ausgestaltung dieses Decorum orientiert sich Thomasius an der »Tradition der Salonkultur der Mademoiselle de Scudéry«, indem er deren literarisierte »Kultur der Affektivität und Freundschaftsliebe, auf deren Grundlage die gesellige Konversation stattfinden soll, [...] als ethisches Prinzip in seine philosophischen Konzeptionen« übernimmt.Footnote 46

4 Höflichkeitsmaximen bei Courtin und Hunold

Aus der Feder eines Zeitgenossen von Madeleine de Scudéry stammt ein Buch, das über die Grenzen Frankreichs hinaus bis weit ins 18. Jahrhundert hinein Maßstäbe für höfliches Benehmen gesetzt hat: Antoine de Courtins Nouveau traité de la civilité qui se pratique en France parmi les honnêtes gens, das in den Jahren 1671 bis 1702 in immer wieder überarbeiteten und ergänzten Auflagen erschien. Anders als bei Scudéry, deren Conversations sich als eine Selbstreflexion der ›guten Gesellschaft‹ lesen, ist Courtins Schrift ein Anleitungsbuch zum gesellschaftlichen Erfolg. Als ein Lehrwerk für junge Männer mit Ambitionen auf sozialen Aufstieg verzichtet es auf Fiktionalisierung, bietet stattdessen Regeln für ein angemessenes Verhalten in ›besseren Kreisen‹, insbesondere im Umgang mit höhergestellten Personen. Dabei wird ausführlich erläutert, was zu sagen oder zu tun vermieden werden muss, um nicht lächerlich zu erscheinen. Denn in der auf persönliche Abhängigkeitsverhältnisse gegründeten Ständegesellschaft würde Lächerlichkeit bedeuten, ins soziale Abseits zu geraten. Bemerkenswert aber ist, dass sich Courtin keineswegs auf praktische Hinweise beschränkt, sondern seinen Anweisungen zu höflichem Verhalten ein ethisches Fundament gibt, wie es auch bei Scudéry und Thomasius auszumachen ist, allerdings wird es, anders als bei jenen, bei Courtin explizit christlich formuliert.

Der Nouveau traité de la civilité nimmt in neunundzwanzig Kapiteln besondere Kommunikationssituationen in den Blick – wie beispielsweise den Eintritt in das Haus einer hochgestellten Person, das Gespräch mit dieser und ihre Begleitung oder, in größerer Gesellschaft, richtiges Verhalten bei Tisch, beim Spiel, beim Tanz und auf der Reise, zudem den Umgang mit Geschenken und Briefen – und für eine gelingende Kommunikation ebenso relevante wie disparate Aspekte, entweder die Person des Sprechers betreffend – etwa gute Laune, Gefälligkeit, Sauberkeit, Selbstbeherrschung – oder die Art ihrer Redeweise – hierzu zählen scherzhafter Spott und Komplimente, aber auch, negativ besetzt, Schmeichelei oder falsche Entschuldigungen. Vor diesen nützlichen Anweisungen stehen zu Beginn des Buches vier Kapitel, in denen Courtin präzisiert, was er unter »civilité« versteht. »Unter der Höfflichkeit / von welcher wir allhier einige Regeln zu geben belieben / wird nichts anders als die Bescheidenheit [»la modestie«] und tugendhaffte Manier [»l’honnêteté«] verstanden / welche ein jeder in seinen Worten und in seinem Thun beobachten soll«.Footnote 47 So beginnt Courtins erstes Kapitel in der Übersetzung von Christian Friedrich Hunold, der den Text 1708 unter dem Pseudonym Menantes zweisprachig französisch-deutsch herausgebracht hat mit dem Titel La Civilité moderne, Oder die Höflichkeit Der Heutigen Welt,Footnote 48 wobei ›Welt‹ oder »polite[...] Welt«Footnote 49 dem französischen Wort ›le monde‹ in dem Verständnis von ›guter Gesellschaft‹ entspricht. Während Hunolds Titel das deutsche Publikum für ein französisch geprägtes Verhaltensmodell mit (anscheinend) universalem Geltungsanspruch zu interessieren sucht, verrät der Titel des französischen Originals, Nouveau traité de la civilité qui se pratique en France parmi les honnêtes gens, dass Courtin sich ausdrücklich auf einen räumlich und sozial eingeschränkten Bereich bezieht, nämlich auf die Praxis der gesellschaftlich tonangebenden Schicht in Frankreich. Ausgehend von der klassischen Angemessenheitsforderung – der Forderung danach, »[n]ach seinem Alter und Stande sich auffzuführen«, »[s]ich allezeit nach der Beschaffenheit der Person zu richten / mit welcher man zu thun hat«, außerdem »[d]ie Zeit wohl in Acht zu nehmen« und »[d]en Ort anzusehen / wo man einander antrifft«Footnote 50 – räumt Courtin ebenso weitblickend wie bescheiden ein, dass Höflichkeitsregeln insofern nicht allgemeingültig aufgestellt werden können, als sie kulturspezifisch und historisch veränderlich sind.Footnote 51 Daher konzentriere er sich in seinen Ausführungen auf die Art des Anstands – französisch »bienséance«, Hunold übersetzt das Wort zeitgemäß mit »Wohlstand«Footnote 52 –, der »unter den Christen / besonders aber in Franckreich / kan gebräuchlich seyn«.Footnote 53 In einer Kausalkette führt Courtin die Höflichkeit (»civilité«) auf den Anstand (»bienséance«) zurück, der seinerseits aus Bescheidenheit (»modestie«) hervorgehe; Bescheidenheit wiederum entspringe aus (christlicher) Demut (»humilité«).Footnote 54 Zur natürlichen Bescheidenheit gehörten wesentlich die Selbsterniedrigung und die Erhöhung des Gegenübers, darin liege die »wahrhaffte[...] Höfflichkeit«; wer darüber verfügt, muss gar nicht jede Förmlichkeit en détail kennen.Footnote 55 Das erfordert Empathie und bedeutet, das Wohl des anderen höher zu bewerten als das eigene und »Abscheu vor allen zu haben / wodurch man sich bey jemanden übel verdienet und einen Verdruß machen kan«.Footnote 56 In einem später eingefügten Kapitel, das dem Respekt als Grundlage der Höflichkeit gewidmet ist und sich bei Hunold nicht findet,Footnote 57 präzisiert Courtin, dass dieser Respekt in gesellschaftlichen Pflichten bestehe, die sich in Sprache und Handeln zeigten. Die Regeln, die den Anstand (»bienséance«) ausmachten und deren Anwendung man Höflichkeit (»civilité«) nenne, seien das Produkt der Vernunft (»raison«), die den Prinzipien der Ehrbarkeit (»honnêteté«) folge, die zur menschlichen Natur gehöre, und der Verhältnisse, die sich aus dem – grundsätzlich veränderlichen – Gebrauch (»usage«) ergäben.Footnote 58

Auf dieser theoretischen Grundlage formuliert der anschließende, umfangreichste Teil des Buches die Regeln für besondere Fälle, die jeweils als typisch behandelt werden. Unter anderem geht es dabei auch um das Gespräch. Im Unterschied zu Scudéry thematisiert Courtin jedoch nicht das Wesen einer Konversation unter gleichberechtigten Gesprächspartnern, sondern setzt sie als eine wesentliche Interaktionsform in hierarchischen Beziehungen voraus. Vor allem zwei Kapitel sind in diesem Zusammenhang relevant: Das Kapitel über Konversation in Gesellschaft und das über die Audienz bei einer hochstehenden Persönlichkeit.Footnote 59 Beide trennen die Körpersprache – etwa die Art, wie man den Raum betreten oder verlassen soll oder das Verhalten gegenüber Damen – nicht von der Rede. Für diese gilt grundsätzlich, dass man nie schlecht über jemanden sprechen dürfe, weil üble Nachrede nicht nur unehrenhaft sei, sondern darüber hinaus eine »âme basse« (eine ›niedrige Seele‹) verrate,Footnote 60 also moralisch fragwürdig sei. Die unumstößliche Regel für jede Rede laute daher, dass man nie Gutes über sich selbst und nie Schlechtes über andere sagen dürfe.Footnote 61 In jedem Fall sind Zurückhaltung, Behutsamkeit und Rücksichtnahme als Ausdruck des Respekts gefordert, immer in Anbetracht dessen, »was man selber ist; und alsdenn / was die andern sind«.Footnote 62

Als allgemeinen Maßstab führt Courtin den Kolosserbrief des Apostels Paulus an: »Eure Rede sei allezeit wohlklingend und mit Salz gewürzt, dass ihr wisst, wie ihr einem jeden antworten sollt.«Footnote 63 Den Satz bezieht der Erzieher, dem es ja nicht um Verkündigung geht, auf das Gespräch (»l’entretien«); zudem fügt er eine wesentliche Ergänzung ein: Wenn er nicht bloß von Salz spricht, sondern vom »sel de la discrétion«, also dem ›Salz der Diskretion‹, münzt er das Bibelwort auf die Geselligkeit der ›guten Gesellschaft‹ um.Footnote 64 Taktvolles Verhalten äußert sich für ihn beispielsweise darin, sich in ein Gespräch, das bereits im Gange ist, zu fügen, ohne neugierig nachzufragen, wovon die Rede sei, sich keiner Sprache zu bedienen, die für andere unverständlich ist, in Anwesenheit Dritter nicht jemandem ins Ohr zu flüstern, nicht sich selbst oder seine eigene Familie zu loben, nicht über einen Gesprächsteilnehmer in der dritten Person zu sprechen, dem Gesprächspartner bei Formulierungsschwierigkeiten nicht ins Wort zu fallen oder dessen Irrtümer zu korrigieren, unliebsame Wahrheiten nicht unverblümt auszusprechen, keine unangenehmen Erinnerungen oder Gefühle zu wecken, seine Neugier zu zügeln und sich nicht über eigene Missgeschicke oder Krankheiten zu verbreiten – weil dies egozentrisch und einfallslos wirke.Footnote 65 Ergänzt werden solche allgemeineren Regeln zur geselligen Konversation durch spezifische Hinweise auf Respektsbezeugungen im Umgang mit Höhergestellten, die derjenige beherrschen muss, der nicht dadurch negativ auffallen will, dass er Artikulationsformen der Ständehierarchie ignoriert oder missachtet. Einige Anweisungen führen den jugendlichen Leser in die Kunst der Umschreibung ein und lehren ihn, Imperative zu vermeiden und durch indirekte Wendungen zu ersetzen oder das Handeln von Autoritätspersonen als Gunstbezeugung erscheinen zu lassen.Footnote 66

Courtins Ausführungen zur Audienz bei Höhergestellten bestimmen dann bis in Einzelheiten, wie Gestik und Mimik im Zaum zu halten sind. Lautes Lachen, Flüche oder Anzüglichkeiten sind unbedingt zu vermeiden.Footnote 67 Nicht gesellschaftsfähig (»insociables«) seien all die, »welche lange plaudern / und nichts als Kleinigkeiten sagen«, ebenso wie die, »welche über alles / was man ihnen sagen kan / streiten / und wenns auch von gantz gleich gültigen Sachen wäre«, auch diejenigen, die sich ohne jeden Grund stets in Rage reden, die Stimme laut erheben oder ihren Standpunkt den andern aufzwingen wollen.Footnote 68 Angemessen sei es dagegen, stets schlicht und zurückhaltend zu sprechen und mit dem Respekt, mit dem man sein Gegenüber für sich gewinnen möchte.Footnote 69 In einer Gruppe sei denjenigen der Vortritt im Gespräch zu lassen, die geschickter sind als man selbst. Der Höfliche nehme sich zurück und stelle sich unter keinen Umständen in den Mittelpunkt, denn eine Konversation dürfe niemanden ausschließen, vielmehr solle sich jeder an ihr beteiligen können und zum Zuge kommen. An dieser Stelle bezieht Courtin sich ausdrücklich auf Cicero.Footnote 70

Doch auch darüber hinaus stimmen seine Regeln zum höflichen Gesprächsverhalten mit Ciceros Vorstellung von »Mäßigung und Selbstbeherrschung«Footnote 71 überein und lassen sich ebenso in dessen Tradition lesen wie Scudérys Ausführungen zu Höflichkeit in Konversationen und Thomasius’ Lehre von guter ›Lebens-Art‹. Denn in Ciceros Schrift De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln finden sich Bestimmungen, die die enge Verbindung von Schicklichkeit und Ethik mit begründen. Cicero, für den »das ›Schickliche‹ [...] von Ehrenhaftigkeit nicht abtrennbar ist«,Footnote 72 verweist darauf, dass uns »von Natur die Rolle der Charakterfestigkeit, Mäßigung, Beherrschtheit und der Zurückhaltung auferlegt ist« und uns »diese Natur auch lehrt, nicht als gleichgültig anzusehen, wie wir uns gegenüber unseren Mitmenschen zu benehmen haben«.Footnote 73 Daraus folgert er:

Wie [...] die Schönheit des Körpers [...] schon dadurch erfreut, daß alle Teile in einer gewissen Anmut zusammenstimmen, so ruft dieses Schickliche, das im Benehmen zutage tritt, die Zustimmung derjenigen hervor, mit denen man lebt, durch die Ordnung, Beständigkeit und Einhaltung des Maßes in allen Äußerungen und Taten. Es ist also unseren Mitmenschen gegenüber eine gewisse Rücksicht zu zeigen – besonders gegen die Besten, aber auch gegen die übrigen. Denn als gleichgültig anzusehen, was ein jeder über einen denkt, verrät nicht nur einen selbstherrlichen, sondern auch einen ganz und gar bedenkenlosen Menschen.Footnote 74

5 Tradition der Höflichkeit und bürgerliche Moral bei Knigge

Mehr als hundert Jahre nach Courtin, Scudéry und Thomasius, am Ende des Jahrhunderts der Aufklärung, veröffentlicht Adolph Freiherr von Knigge, der nach einem Jura-Studium in Göttingen unterschiedliche Hofämter innehatte, das Buch, das »im 19. Jahrhundert in jeder gebildeten Familie anzutreffen« war und »auch in den Schulen als vorbildliches Lesebuch benutzt« wurde, allerdings »mit fortschreitendem Jahrhundert in immer fragwürdiger werdenden Bearbeitungen«:Footnote 75Über den Umgang mit Menschen erscheint im Jahr 1788 in der ersten, 1796 in der fünften, inzwischen wesentlich überarbeiteten Auflage. Das Buch will seine Leser in die »Kunst des Umgangs mit Menschen« einführen, in eben das, »[w]as die Franzosen den esprit de conduite nennen« – diese »Kunst« setzt voraus, dass man sich das »Studium der Menschen« erwirbt, dazu »eine gewisse Geschmeidigkeit, Geselligkeit, Nachgiebigkeit, Duldung«, Affektkontrolle und Achtsamkeit, sowie »Heiterkeit des immer gleich gestimmten Gemüths«.Footnote 76 Seit der dritten Auflage ist Knigges Buch in drei Teile unterteilt. Während der erste Teil »Allgemeine[n] Bemerkungen und Vorschriften über den Umgang mit Menschen« und dem »Umgang mit sich selber« gewidmet ist und ein Kapitel über die unterschiedlichen »Gemüthsarten und Temperamente[...]« enthält,Footnote 77 handelt der zweite Teil vom häuslichen Bereich, bietet Regeln für den Umgang von Familienmitgliedern und überhaupt verschiedener Generationen untereinander, von Eheleuten und Freunden, aber auch für das Miteinander von Herrschaft und Dienerschaft, bevor der dritte Teil »Vorschriften für den Umgang mit Personen von verschiednen Ständen und Verhältnissen im bürgerlichen Leben« präsentiert.Footnote 78 In diesem letzten Teil formuliert Knigge, ausgehend von seiner persönlichen (zum Teil negativen) Erfahrung, auch zahlreiche Regeln zur Vorsicht im Umgang bei Hofe.

In eklektischer und zugleich eleganter Schreibart verbindet die umfangreiche Schrift, die dem Leser auf einer empirischen Basis Menschenkenntnis vermitteln und so zu Verhaltenssicherheit in den verschiedensten Bereichen des bürgerlichen Lebens verhelfen will, eigene Erfahrungen, anschauliche Beispiele und unterhaltsame Anekdoten mit Reflexionen und Lehrsätzen. Manche dieser Maximen sind im Inhaltsverzeichnis – das als unverzichtbare Orientierungshilfe in den rund dreihundert Abschnitten dient, die je unterschiedlichen Situationen, Umständen und Kommunikationspartnern gewidmet sind – als kurze Imperative formuliert. So heißt es dort beispielsweise: »Strebe nach Vollkommenheit, aber nicht nach dem Scheine der Vollkommenheit!«, »Sey nicht zu sehr ein Sclave der Meinung Andrer!«, »Verbirg Deinen Kummer!«, »Rühme nicht zu laut Dein Glück!«, »Gieb Andern Gelegenheit, zu glänzen!«, »Suche Gegenwart des Geistes zu haben!«, »Halte strenge Wort und sey wahrhaft!«, »Sey pünctlich, ordentlich, fleissig!«, »Interessire Dich für Andre, wenn Du willst, daß Andre sich für Dich interessiren sollen!«, »Habe stets ein gutes Gewissen!«Footnote 79

In Knigges bewusst unvollständigem ›System‹Footnote 80 gibt es kein eigenes Kapitel zu Gespräch oder Konversation. Doch grundlegende Überlegungen zu »Themen und Modi des geselligen Gesprächs«, zu »Mitteln wirksamer Selbstdarstellung« ebenso wie zu »Selbstbestätigung« und positivem Urteil des KommunikationspartnersFootnote 81 finden sich gleich im ersten Kapitel des Buchs, integriert in die »Allgemeine[n] Bemerkungen und Vorschriften über den Umgang mit Menschen«.Footnote 82 »Eine gewisse Leichtigkeit im Umgange«, erklärt Knigge, »die Gabe, sich gleich bey der ersten Bekanntschaft vortheilhaft darzustellen, mit Menschen aller Art zwanglos sich in Gespräche einzulassen und bald zu merken, wen man vor sich hat und was man mit Jedem reden könne und müsse; das sind Eigenschaften, die man zu erwerben und auszubauen trachten soll.«Footnote 83 Dabei sind einige Grundregeln zu beachten: »[N]icht gar zu offenherzig« solle man in Gesellschaft sein, »[a]llein eben so wenig [...] übertrieben verschlossen«,Footnote 84 man dürfe niemanden, »auch den Schwächsten nicht«, »lächerlich [...] machen«,Footnote 85 überhaupt nie jemanden in Verlegenheit bringen – vielmehr soll man aktiv dazu beitragen, dass jeder in Gesellschaft sein Gesicht wahren kann.Footnote 86 »Lästerungen, Spott, Medisance« sind ebenso zu vermeidenFootnote 87 wie Tadel,Footnote 88 die Wiedergabe von »Anecdoten«, »die irgend jemand in ein nachtheiliges Licht setzen«,Footnote 89 Themen, die den Gesprächspartner unangenehm berühren könnten,Footnote 90 Zweideutigkeiten,Footnote 91 SelbstwiderspruchFootnote 92 und WiederholungenFootnote 93. Mit »unnützen Fragen« blockiere man die Unterhaltung.Footnote 94 Auf »platte Gemeinsprüche« sei grundsätzlich zu verzichten, denn »Sprüchwörter« seien »sehr langweilig und nicht selten sinnlos und unwahr« – nichts als »leeres Geschwätze« also,Footnote 95 keine anregende, erbauliche und sinnvolle Unterhaltung.

Die »wahre Kunst der gesellschaftlichen Beredsamkeit« aber besteht nach Knigge darin, die »Aufmerksamkeit« des Gesprächspartners »wach zu erhalten« durch eine Redeweise, die sich, je nachdem, auf Wesentliches konzentriert oder Nebensächliches interessant darzustellen versteht.Footnote 96 Knigge mahnt nachdrücklich, nur nicht zu viel zu sprechen, damit der Gesprächsstoff nicht ausgeht oder ausgesprochen wird, was besser verschwiegen werden sollte, und um keinen Überdruss zu provozieren.Footnote 97 Im geselligen Gespräch solle man weder Wortführer sein noch stummer Beobachter, da dies »unangenehm [...] für die Gesellschaft« sei und Verdacht erregen müsse.Footnote 98 Den Anspruch, nur unterhalten werden zu wollen, ohne zum »Vergnügen der Uebrigen« beizutragen, verurteilt Knigge ebenso wie die Neigung, sich selbst in den Vordergrund zu drängen.Footnote 99 Auch ihm gilt also die ›goldene Mitte‹ als erstrebenswerter Maßstab. Wo genau diese Mitte aber liegt, hängt von der jeweiligen Situation und den beteiligten Akteuren ab, sie ist daher von jedem einzelnen stets aufs Neue spontan und flexibel zu bestimmen – Knigges Buch kann dazu nur allgemeine Grundsätze und lehrreiche Beispiele geben, mithin die Sensibilität des Lesers schulen.

Ebenso findet sich bei Knigge die Maxime, der Sprecher solle sich so verhalten, dass er seinem Gegenüber gefalle, wobei selbstverständlich, der Angemessenheitsforderung entsprechend, Adressat und Situation zu berücksichtigen sind:

Vor allen Dingen aber vergesse man nie, daß die Leute unterhalten, (amüsirt) seyn wollen; daß selbst der unterrichtendste Umgang ihnen in der Länge ermüdend vorkömmt, wenn er nicht zuweilen durch Witz und gute Laune gewürzt wird; [...] Willst Du witzige Einfälle anbringen; so überlege auch wohl, in welcher Gesellschaft Du Dich befindest! Was Personen von einer gewissen Erziehung sehr unterhaltend scheint, kann Andern sehr langweilig und unschicklich vorkommen [...].Footnote 100

Höfliche Worte werden ausdrücklich begrüßt, ja gefordert, sofern sie sich nicht in »leeren Complimenten« und »Schmeicheleyen« erschöpfen, denn »alles leere Geschwätz« sähe Knigge am liebsten »aus dem Umgange verbannt«; »Nutzen« und »wahres Vergnügen« auf Seiten des Gesprächspartners sind ihm der Maßstab dafür, dass Substanzielleres geboten wird als bloße »Höflichkeits-Waare«:Footnote 101 »Gehe von niemand und laß niemand von Dir, ohne ihm etwas Lehrreiches, oder etwas Verbindliches gesagt und mit auf den Weg gegeben zu haben; aber beydes auf eine Art, die ihm wohlthue, seine Bescheidenheit nicht empöhre und nicht studiert scheine, damit er die Stunde nicht verlohren zu haben glaube, die er bey Dir zugebracht hat, und daß er fühle, Du nehmest Interesse an seiner Person, es gehe Dir von Herzen«.Footnote 102

Auffällig ist die weitgehende Übereinstimmung von Höflichkeitsmaximen, die sich schon in den einschlägigen Texten des 17. Jahrhunderts formuliert finden, mit Knigges Verhaltensregeln, auch wenn Knigge diese nicht mehr ausdrücklich als höflich etikettiert. Zudem gibt es Unterschiede in der Begründung dieser Maximen. Neu ist beispielsweise die aufklärerische Forderung nach Nützlichkeit, die Knigges Schrift leitmotivisch durchzieht. Es genügt offensichtlich nicht, dem Gegenüber im Gespräch zu gefallen, sondern es soll ihm zugleich »etwas Lehrreiches [...] mit auf den Weg gegeben« werden, so dass er nicht fürchten muss, seine kostbare Zeit vertan zu haben. Nützlichkeit und Zeitökonomie sind Kategorien des bürgerlichen Erwerbslebens, stehen im Gegensatz zur gepflegten Muße adliger Salonkultur, wie sie Scudérys Konversationsideal voraussetzt. Zwar fordert auch Knigge ein bescheidenes Auftreten im Gespräch, doch ist seine Begründung an seiner konkreten Erfahrung orientiert anstatt, wie bei Courtin, an einem christlichen Ideal: »Rede also nicht zu viel von Dir selber, ausser in dem Kreise Deiner vertrautesten Freunde [...]; und auch da bewache Dich, daß Du nicht Egoismus zeigest! [...] Bescheidenheit ist eine der liebenswürdigsten Eigenschaften, und macht um so vortheilhaftre Eindrücke, je seltner diese Tugend in unsern Tagen wird.«Footnote 103 Bescheidenheit bekommt so auch eine zweckrationale Dimension, wird zu einem Schlüssel zum Erfolg:

Suche weniger selbst zu glänzen, als Andern Gelegenheit zu geben, sich von vortheilhaften Seiten zu zeigen, wenn Du gelobt werden und gefallen willst. Die wenigsten Menschen vertragen ein Uebergewicht von Andern. [...] Ich habe den Ruf eines vernünftigen und witzigen Mannes aus mancher Gesellschaft mitgenommen, in welcher wahrlich kein kluges Wort aus meinem Munde gegangen war, und in welcher ich nichts gethan hatte, als mit musterhaften Geduld vornehmen und halbgelehrten Unsinn anzuhören, oder hie und da einen Mann auf ein Fach zu bringen, wovon er gern redete.Footnote 104

Dass Knigge zu vorsichtiger Klugheit mahnt, da man mit Eitelkeit, Neid und Missgunst der anderen rechnen müsse, zeugt von Realismus und einem durchaus skeptischen Menschenbild. Sein aufklärerischer Anspruch aber weist über die Anpassung ans Bestehende hinaus auf bessere Verhältnisse, zu denen der Einzelne seinen Beitrag leisten kann. Der Weg dahin soll über bürgerliche Tugenden führen – und eben diesen widmet er einen umfangreichen Teil seines Buches.Footnote 105 Aufschlussreich ist etwa seine Begründung für die – oben schon erwähnte – Regel, das gesellige Gespräch sei durch »Witz und gute Laune« unterhaltsam zu gestalten: Die Erfahrung lehre, dass »nichts in der Welt« den Leuten »so ergötzend scheint, als wenn man sie lobt, ihnen etwas Schmeichelhaftes sagt«.Footnote 106 Weil es aber, wie Knigge postuliert, »unter der Würde eines klugen Mannes ist, den Spaßmacher, und eines redlichen Mannes unwerth, den niedrigen Schmeichler zu machen«, rät er zu einem »Mittelweg«: »[D]a jeder Mensch doch wenigstens Eine gute Seite hat, die man loben darf«, solle man eben diese – ohne jede Übertreibung – so loben, dass das Lob »Sporn zu größerer Vervollkommung werden kann«.Footnote 107 Das ist ein Beispiel für die Kunst des Spagats zwischen der Anpassung an reale soziale Gegebenheiten und der Wahrung der moralischen Integrität, den Knigge für einen gelingenden ›Umgang mit Menschen‹ für erforderlich hält.

Unbedingte Wahrhaftigkeit in der Rede und Treue zum einmal gegebenen Wort empfiehlt er seinen Lesern als ein Mittel, »Zutraun«, »Hochachtung« und sogar »Freundschaft« zu erwerben und langfristig zu sichern.Footnote 108 Und die zu Beginn des Umgangsbuchs zitierte allgemeine Erfahrung, »Jeder Mensch gilt in dieser Welt nur so viel, als er sich selbst gelten macht.«,Footnote 109 korrigiert Knigge, indem er den Allerweltsatz unauflöslich mit der Forderung nach Moral verbindet: »Ohne also sich zur Prahlerey und zu niederträchtigen Lügen herabzulassen, soll man doch nicht die Gelegenheit verabsäumen, sich von seinen vortheilhaften Seiten zu zeigen.«Footnote 110 Auf die Festlegung der Regel folgt, wie üblich bei Knigge, die Benennung negativer Konsequenzen bei deren Nichtbeachtung: Es sei riskant, die eigenen Vorzüge in übertriebener Weise herauszustellen, denn

so erweckt man [...] die genauere Aufmerksamkeit; Andre spüren den kleinen Fehlern nach, von denen kein Erdensohn frey ist; und so ist es auf einmal um unsern Glanz geschehn. Zeige dich also mit einem gewissen bescheidnen Bewusstseyn innerer Würde, und vor allen Dingen mit dem [...] Bewusstseyn der Wahrheit und Redlichkeit! Zeige Vernunft und Kenntnisse, wo Du Veranlassung dazu hast! Nicht so viel, um Neid zu erregen und Forderungen anzukündigen, nicht so wenig, um übersehn und überschrien zu werden!Footnote 111

So gesehen, erscheint es als durchaus klug und nützlich, sich an die Moral zu halten.

Nicht einmal als Ideal gibt es in Deutschland um 1800, anders als im Frankreich des 17. Jahrhunderts, eine ›gute Gesellschaft‹ im Singular, im Sinne eines mehr oder weniger abgeschlossenen elitären Zirkels. Vielmehr sieht sich der Einzelne – zumindest der einzelne mobilere bürgerliche Mann – vor eine Vielzahl möglicher Verhältnisse gestellt, weil regional und sozial je unterschiedlich ausgeprägt ist, was als ›guter Gebrauch‹ beachtet werden muss.Footnote 112 Die Umstände von Zeit, Ort, Gesprächspartnern und -gegenstand, die gemäß der altbekannten Angemessenheitsforderung in jeder Situation zu berücksichtigen sind, werden im Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft zudem so vielfältig, dass sie an Übersichtlichkeit verlieren; daher die Mannigfaltigkeit der Aspekte, denen Knigges Umgangslehre Rechnung zu tragen versucht.Footnote 113 Bemerkenswert aber ist, dass bei ihm nun das Individuum mit eigenem Recht erscheint, das durchaus auch in Widerspruch zu einer Gesellschaft geraten kann. Zwar ist man grundsätzlich »einige Aufopferung der Gesellschaft schuldig, mit welcher man umgeht«, wie Knigge an der Stelle ausführt, an der er dazu rät, sich bei langweiligen Gesprächen in »Geduld zu fassen und nicht durch beleidigendes Betragen [...] Ueberdruß zu erkennen zu geben«.Footnote 114 Auch fordert er ausdrücklich, eigene Neigungen, Interessen und Wertvorstellungen nicht zum Maßstab für andere zu erheben, sondern sich ganz auf den Gesprächspartner einzustellen.Footnote 115 Doch Knigges Anspruch umfasst außer der angemessenen Anpassung des Menschen an seine je besonderen äußeren Umstände zugleich die an seine innere, »moralische Verfassung«.Footnote 116 »Sey aber nicht gar zu sehr ein Sclave der Meinungen Andrer von Dir! Sey selbstständig! Was kümmert Dich am Ende das Urtheil der ganzen Welt, wenn Du thust, was Du sollstFootnote 117 So kennt er auch ein gesundes Selbstbewusstsein, das sich der Gesellschaft nicht um jeden Preis beugt, sondern ihr zumindest innerlich widersteht, wenn sie den Boden der Vernunft verlässt: »Wenn ein verständiger Mann von leeren, elenden Menschen umgeben ist, die für gar nichts von bessrer Art Sinn haben, ey nun! so ist es seine Schuld nicht, wenn er nicht verstanden wird. Er tröste sich also damit, daß er von Dingen geredet hat, die billig interessiren müsstenFootnote 118 Anders als die oben angeführten Texte aus der Zeit vor 1700, für die die Ständeordnung noch unanfechtbar galt, fordert Knigge eine Kommunikationshaltung, die wir heute als ›Authentizität‹ bezeichnen würden: »Sey, was Du bist, immer ganz, und immer Derselbe!«Footnote 119 Diese Regel passt zu seiner Forderung nach unbedingter Verlässlichkeit in der Interaktion, einer wichtigen Voraussetzung für stabile Beziehungen jenseits der gegebenen Situation. Sie erinnert außerdem an die Tugend der Aufrichtigkeit, wie sie etwa die deutschen Moralischen Wochenschriften gegen die Orientierung ›besserer Kreise‹ an der französischen Galanterie ins Feld führten, die sie zu Unrecht pauschal und polemisch als oberflächlich, heuchlerisch und falsch diskreditierten.Footnote 120 Knigges Höflichkeitsmaximen stellen sich jedoch gerade in diese – von ihm positiv verstandene – französische Tradition, indem sie das Ideal der GalanterieFootnote 121 mit bürgerlicher Moral verbinden.Footnote 122

6 Ausblick

Ist Knigge noch aktuell? Dass heutige ›Knigge‹-Ratgeber mit der berühmten Umgangslehre aus dem 18. Jahrhundert nicht mehr viel zu tun haben, ist längst ein Gemeinplatz der Forschung. Die marktüblichen ›Knigge‹ liefern Listen von Dos and Don’ts ohne Bemühung um eine ethische Fundierung, wie sie für die Höflichkeitsmaximen bei Scudéry, Thomasius, Courtin und Knigge wesentlich war. Als ein (austauschbares) Beispiel sei auf das Small-Talk-Kapitel in Hanischs Kanzlei-Knigge verwiesen. So manche Regel dort erinnert an Altbekanntes: »Was immer Ihren Gesprächspartner interessiert, sollte auch für Sie ein interessantes Thema sein«, doch »reden Sie selber nicht zu viel, sondern lassen Sie ihn reden und hören Sie zu«; »[e]chter Humor, echte Heiterkeit [...] fördern die gute Stimmung«, aber »allzu lautes Gelächter ist unschicklich und belästigt die anderen Gäste«.Footnote 123 Nach wie vor gilt: »Tief schürfende, bedrückende, polarisierende und allzu private Themen gehören nicht in den Small Talk. [...] Hüten Sie sich, jemanden durch unbedachte Äußerungen zu verletzen, zum Beispiel dann, wenn religiöse Gefühle, politische Meinungen, Einstellungen zur Kunst usw. beurteilt werden.«Footnote 124 Bei Knigge findet sich Vergleichbares, etwa wenn er davor warnt, »in Gesellschaften« über das zu »spotten«, was anderen wichtig ist, und auf die Relativität der Standpunkte verweist: »Man respectire das, was Andern ehrwürdig ist! Man lasse Jedem die Freyheit in Meinungen, die wir selbst verlangen! Man vergesse nicht, daß das, was wir Aufklärung nennen, Andern vielleicht Verfinsterung scheint!«Footnote 125 Knigges Forderung nach respektvollem Umgang und danach, die Meinung des anderen als gleichberechtigt anzuerkennen, weist jedoch deutlich über Tipps für erfolgreiche Kommunikationstechniken hinaus in den Bereich moralischer Normen als Grundlage menschlichen Zusammenlebens.Footnote 126

Nun mag die Verbindlichkeit solcher Normen fragwürdig geworden sein, und im Zeitalter der Internet-Kommunikation gehört wohl auch die Angemessenheitsforderung auf den Prüfstand, weil Zeit- und Ortsbindung kaum noch eine Rolle spielen, die Gesprächspartner sich vielleicht unbekannt bleiben, möglicherweise sogar nur unter fingierten Identitäten interagieren. Bliebe immerhin noch die ›Goldene Regel‹ in der Form, in der sie sich schon in Scudérys (und Thomasius’) Definition von Höflichkeit findet: dass man anderen nie das sage, was man nicht selbst gesagt bekommen möchte.Footnote 127 Wenigstens an diese altbewährte Maxime sollten wir uns halten – wenn wir wollen, dass uns überhaupt noch jemand zuhört. Das aber ist die Voraussetzung eines jeden guten Gesprächs, ob Small Talk oder Konversation.