Als die Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi) anlässlich ihres 40-jährigen Jubiläums 2013 in einer Rundfrage um aktuelle Standortbestimmungen für Germanistik, Sprach- und Literaturwissenschaft bat (vgl. Bleumer/Franceschini/Habscheid/Werber 2013), fielen – im Zusammenhang mit teils sehr unterschiedlichen Positionierungen in der Gegenwart – auch die Darstellungen der (frühen) Fachgeschichte durchaus kontrovers aus.

So bezogen sich manche Vertreterinnen und Vertreter der Sprachwissenschaft affirmativ auf »die Argumentationen von J. Grimm und W. von Humboldt« in ihrer »Begründung der Germanistik« (Redder 2013, S. 158), auf das »Paradigma der Philologie am Beginn des 19. Jahrhunderts als ein Theorieparadigma« (Jäger 2013, S. 53, Hervorh. im Text) oder auf den »literarischen Diskurs« über ›Sprache‹ im Kontext der »Epochenkonstellation von Aufklärung und Romantik« (Linke/Müller Nielaba 2013, S. 41). Gemeinsam war diesen Beiträgen der Versuch, die um die Wende zum 19. Jahrhundert vertretenen sprachtheoretischen Positionen für eine medien- und kulturanalytische bzw. ›transnationale‹ (germanistische) Linguistik (vgl. Ehlich 2013, S. 14) der Gegenwart (wieder) fruchtbar zu machen. Eine Reihe von Fachvertreterinnen und Fachvertretern stimmten dabei mit der Auffassung Jürgen Trabants (2003) überein (bzw. trugen dazu bei), wonach mit Wilhelm von Humboldt »ein Aufbruch in eine moderne Sprachwissenschaft« verbunden war, »aber auch in eine Sprachreflexion, deren Modernität sich nicht zuletzt durch ihre anhaltende, ja wachsende Präsenz in der aktuellen Sprachdiskussion zeigt« (Trabant 2003, S. 261).

Dagegen vertraten in dem erwähnten LiLi-Heft andere Beiträger(innen) die rhetorisch pointierte Auffassung, dass die moderne Sprachwissenschaft sich erst seit der »Mitte des 19. Jahrhunderts« auf der Basis eines wesentlich positivistischen Gegenstands- und Methodenverständnisses langsam konsolidiert habe (Auer 2013, S. 18–25, mit exemplarischem Bezug auf die Institutionengeschichte in Freiburg, Heidelberg und Tübingen). Dagegen habe – so Clemens Knobloch in demselben Heft – »die Zwangsehe mit Literatur, Kultur und Volkskunde den sprachtheoretischen Fortschritt im 19. Jahrhundert erheblich behindert« (Knobloch 2013, S. 32). Mit solchen Interpretationen korrespondiert eine Version der Wissenschaftsgeschichte, wonach Humboldt bereits in der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts sukzessive marginalisiert wurde (vgl. etwa Arens 1969), auch die »traurige Geschichte der Scheidung von Philologie und Linguistik« (Trabant 2003, S. 269) fügt sich in dieses Bild ein. In der (germanistischen) Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts seien dann, so Auer (2013, S. 20), die Bezugnahmen auf Humboldt teils randständig gewesen, namentlich in der Idealistischen Neuphilologie Karl Vosslers und Leo Spitzers, teils in Form des (hiermit teilweise amalgamierten) Neo-Humboldtianismus ein Bestandteil »der finsteren Zeit der deutschen Sprachwissenschaft zwischen 1930 und 1970« (Auer 2013, S. 21). Seriöse, internationale empirische Untersuchungen zum Problem von Sprache und Denken bzw. zu ›Stil‹ als einem Begriff der Soziolinguistik stehen dementsprechend auf einem anderen Blatt (vgl. ebd., S. 27). Kann sich dann, die Frage drängt sich auf, die Sprachwissenschaft der Gegenwart überhaupt – noch? wieder? erstmals wirklich? … – substanziell auf Humboldt beziehen?

Die Debatte über die Stellung Humboldts und seiner Rezeption in der Sprachwissenschaft, die – wie auch das vorliegende Heft zeigt – bereits im 19. Jahrhundert begann, ist offenbar nicht stillzustellen, wofür es gerade in der Fachentwicklung der Gegenwart mit ihrem verstärkten Interesse an sozialen und kulturellen Aspekten von Sprechen und Sprache – Dialogizität, Medialität, Sprachwissen / Weltwissen, grammatische und lexikalische Sedimentierung etc. – gute Gründe gibt (vgl. z. B. Trabant 2003, S. 264, zu Humboldts Konzeptualisierung eines ›Miteinander-Sprechen-Denkens‹). Wie Angelika Linke und Daniel Müller Nielaba (2013) in dem genannten LiLi-Heft konstatieren, gehen mit veränderten Positionierungen in der Gegenwart typischerweise auch modifizierte Sichtweisen auf die Historie der Disziplin einher:

»Fachgeschichte wird im Normalfall nicht von vorn nach hinten, sondern von hinten nach vorn geschrieben und leidet deshalb oft an einem teleologischen Sog sowie an disziplinärer Engführung: Als wesentlich werden in erster Linie solche Texte, Personen, Ereignisse und Entwicklungen wahrgenommen, die aus dem gegenwärtigen Fachverständnis heraus als disziplinär relevant und in der Fachentwicklung als auf den gegenwärtigen disziplinären Standpunkt zuführend verstanden werden können.« (Linke/Müller Nielaba 2013, S. 41)

Andere Positionen »verschwinden«, werden (zumindest vorläufig) »vergessen« (vgl. auch Jäger, in diesem Heft). Debatten über das Erinnern – mit komplementärem Vergessen – sind daher in der Regel zumindest implizit auch Debatten über ein tragfähiges Verständnis der Disziplin für die Gegenwart (und vice versa), sie können und müssen daher in regelmäßigen Abständen, unter sich verändernden Diskursverhältnissen immer wieder aufgerufen und aufs Neue geführt werden. Dies geschieht mit dem vorliegenden Heft, im Blick auf die Bedeutung Wilhelm von Humboldts für die Geschichte der Sprachwissenschaft und, im Sinne eines Ausblicks auf eine Nachbardisziplin, für die sprachbezogene Kulturphilosophie und Sozialontologie.

Eine solche Fortführung der Debatte ist grundsätzlich auch insofern erforderlich, als – wie Ludwig Jäger (im vorliegenden Heft) ausführt – durch die mitunter strategische, in jedem Fall aber unvermeidliche Standortgebundenheit und perspektivische Selektivität fachhistorischer Darstellungen die Pflicht zur Wahrheit nicht suspendiert wird: Wenn auch, besonders nach wissenschaftlichen »Revolutionen«, ein Teil der Geschichte des Faches regelmäßig »aussortiert« wird, bleibt es das Recht und die Aufgabe theoretischer Opponenten, die bloß noch verwahrten, aber für die Gegenwart weithin irrelevant gewordenen Diskurse immer wieder ins Blickfeld zu rücken (vgl. Jäger, in diesem Heft, unter Bezug auf den Begriff des »Verwahrensvergessens« nach Aleida Assmann 1999).

Im Fall Humboldts entspricht dies auch dem Verhältnis zwischen dem Mythos »Humboldt« – als Meta-Zeichen und Urheber berühmter Topoi – einerseits (vgl. zum hier einschlägigen Mythos-Konzept Barthes 1957/2012, S. 253–261; zum Mythos »Humboldt« in der Bildungspolitik Alidusti 2013, Kapitel 4) und den aus den Quellen rekonstruierbaren Vokabeln, Begriffen und Theoremen des historischen Humboldt andererseits.

Für die historische Quellenarbeit gerade zur Sprachwissenschaft Humboldts haben sich die Bedingungen durch die Nachlasserschließung der Krakauer Bestände und das hiermit verbundene Editionsprojekt der »Schriften zur Sprachwissenschaft« (vgl. Müller-Vollmer 1993) zudem deutlich verbessert. Auf diese Weise rückt (wieder?) verstärkt die Möglichkeit ins Blickfeld, »den harten Methodiker und Grammatiker Humboldt kennen und schätzen zu lernen« (Knobloch, in diesem Heft) und den engen erkenntnistheoretischen Zusammenhang zwischen dieser und der sprachphilosophischen Arbeit Humboldts zu entdecken (vgl. Jäger, in diesem Heft, unter Bezug auf Müller-Vollmer 1993, S. 11). So mag neben den theoretischen Entwicklungen in der gegenwärtigen (germanistischen) Sprachwissenschaft, von denen oben die Rede war, auch die veränderte Editionslage dazu beitragen, Humboldts Integration von Sprachphilosophie und Linguistik (wieder?) zu würdigen. Auch hierzu kann das vorliegende Heft einen aktuellen Beitrag leisten.

Inwieweit ein solches »integratives« Bild Humboldts bereits im 19. Jahrhundert präsent war (vgl. Hurch, in diesem Heft) oder aber die »Rezeption Humboldts in der dominanten Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts […] im Wesentlichen eine Archaisierung des ›Klassikers‹ Humboldt, eine Stillstellung seines großartigen Entwurfs einer ›allgemeinen philosophischen Linguistik‹ darstellte« (Jäger, in diesem Heft), gehört zu den kontroversen Fragen, die im vorliegenden Heft erörtert werden. So vertritt Hurch, auch in Anbetracht der substanziellen editorischen Zuwächse, die Auffassung

»[e]s wäre […] mit Sicherheit falsch anzunehmen, man hätte das Wichtige über Humboldt nicht gewußt. Viele seiner bedeutenden Schriften waren verfügbar, die seine über die üblichen sprachphilosophischen Topoi hinausgehenden Ideen enthielten und jenen über sie Aufschluß geben konnten, die sich für sie interessierten. Grundsätzlich war die Breite seiner Studien gut belegt, man konnte das humboldtsche Forschungsprogramm aus den von ihm selbst veröffentlichten Schriften herauslesen, wobei die Veröffentlichungslage vor der Einbringung des Krakauer Nachlasses je nach Arbeitsgebiet unterschiedlich war.« (Hurch, in diesem Heft)

Gleichwohl konnte noch Hans Arens (1969, S. 204) Humboldt in empirischer Hinsicht (irrtümlich) als den »Mann der Einleitungen« charakterisieren – ein Bild, das sich wohl in Teilen der (jüngeren) Rezeptionsgeschichte verfestigte und das spätestens mit der Edition der »Schriften zur Sprachwissenschaft« nun endlich nachdrücklich korrigiert werden muss.

Das vorliegende Heft geht zurück auf eine kleine Tagung an der Universität Siegen, die vom 19. bis 21. September 2017 stattfand und dem Verhältnis des historischen Humboldt zum Mythos »Humboldt« (vgl. dazu oben) gewidmet war. Dokumentiert werden hier die wissenschaftshistorischen Beiträge zur Geschichte der Sprachwissenschaft bzw. Sprachtheorie (als Bestandteil der Kulturphilosophie und Sozialtheorie). Da drei der Vortragenden, Bernhard Hurch, Ludwig Jäger und Clemens Knobloch, im Blick auf die Stellung Humboldts in der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts, pointiert unterschiedliche Auffassungen vertraten, die sich zwischen den Begriffen des Verschwindens (Jäger), einer auch affirmativen Rezeption (Hurch) und einer kritischen Entmythologisierung Humboldts (Knobloch) aufspannten, schlugen die Herausgeber einen kooperativen Modus der Textproduktion vor, bei dem vorläufige Fassungen der Texte zum Zweck der wechselseitigen Bezugnahme ausgetauscht werden konnten. Die Herausgeber sind den drei genannten Kollegen sehr dankbar dafür, dass sie sich auf dieses aufwendige und argumentativ komplexe Procedere eingelassen haben, und freuen sich, das facettenreiche Ergebnis hiermit der Öffentlichkeit vorlegen zu können.

Während die Beiträge von Michael Bongardt und Jin Zhao ebenfalls zum Programm der Tagung gehörten, konnten für das vorliegende Heft zusätzlich zwei weitere Beiträge, von Christian Lehmann und Armin Burkhardt, eingeworben werden. Sie ergänzen das Themenspektrum des Heftes insofern sinnvoll, als sie nach der Relevanz Wilhelm von Humboldts für noch heute aktuelle Fragestellungen der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie fragen, und zwar in so unterschiedlichen Forschungsbereichen wie der Theorie der Sprachevolution (Lehmann) und der (den Sprachgebrauch einbettenden) Dialogizität als eines sozialtheoretischen Grundbegriffs (Burkhardt). Der Beitrag Christian Lehmanns, der uns durch Clemens Knobloch vermittelt wurde, geht auf einen zuvor noch nicht publizierten Vortrag in der Geisteswissenschaftlichen Klasse der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Düsseldorf, aus dem Jahr 1989 zurück, der für das vorliegende Heft, soweit erforderlich, aktualisiert wurde.

In seinem Beitrag »Humboldts Gegenwart im 19. Jahrhundert« setzt sich Bernhard Hurch mit der oben bereits erwähnten Standard-These der Wissenschaftsgeschichtsschreibung auseinander, »Wilhelm von Humboldt sei im 19. Jahrhundert zwar als Geistesgröße verehrt, aber letztlich nicht gelesen und rezipiert worden« (Hurch, in diesem Heft). Zur Stützung seiner Gegenthese, wonach Humboldts Werk »wesentlich zur Entwicklung des Fachs beigetragen hat«, zieht Hurch ein beeindruckendes Repertoire an Methoden der empirischen Rezeptionsforschung heran, von Buchmarktanalysen über Provenienz- und Benutzungsstudien zu heutigen antiquarischen Beständen bis zum Nachweis teilweise nur impliziter Bezugnahmen entsprechend der zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurspraxis. Auch bezieht Hurch die internationale linguistische Humboldt-Rezeption, besonders im Baskenland, und Forschungsparadigmen jenseits des indogermanistischen Mainstreams, wie die Baskologie und die »Allgemeine Sprachenkunde«, systematisch in seine Bewertung mit ein.

Clemens Knobloch knüpft dagegen in seinem Beitrag »Wilhelm von Humboldt in der linguistischen Historiographie und in der Wirkungsgeschichte der Linguistik – ein Missverhältnis« an die bereits im 19. Jahrhundert prominent vertretene Auffassung an, die Sprachphilosophie Humboldts sei »von den Indogermanisten des 19. Jahrhunderts sakralisiert worden, sein deskriptiv-sprachwissenschaftliches Werk nicht einmal zur Kenntnis genommen« (Knobloch, in diesem Heft). Allerdings behandelt auch Knobloch in seinem Beitrag zu diesem Heft mit dem dänischen Linguisten Johann Nikolai Madvig eine Ausnahme. Diese ist insofern besonders gelagert, als Madvig sich im Rahmen seiner wegweisenden Analysen zur sprachlichen Verständigung und zum Spracherwerb kritisch-relativierend mit Humboldts Weltbild-Auffassung auseinandersetzt und ihn gerade so zu einem wissenschaftlichen Gesprächspartner »auf Augenhöhe« macht. Die Pointe von Knoblochs Beitrag besteht mithin darin, dass Humboldt aufwertete, wer seiner Überhöhung entgegentrat, ihn gleichsam »erdete«. Zur Entmythisierung Humboldts trugen nach Knobloch später auch der dänische Sprachwissenschaftler Otto Jespersen und der dänische Wissenschaftshistoriker Hans Aarsleff bei, der den Einfluss der französischen Intellektuellen-Gesellschaft der »Ideologen« auf den vermeintlich »ur-deutschen« Denker Humboldt nachwies. Dagegen ging die Überhöhung Humboldts im national(istisch)en Kontext der »Sprachinhaltforschung« mit einer sachlich unangemessenen und ideologisch unheilvollen Verzerrung der Weltbild-These einher (s. o.).

Ludwig Jäger verteidigt in seinem Beitrag »Humboldts ›Verschwinden‹. Humboldt-Wahrnehmungen in der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts« gegen Hurch die These, wonach bereits in weiten Teilen der sprachwissenschaftlichen Tradition des 19. Jahrhunderts, von Pott und Bopp über Steinthal bis zu den Junggrammatikern – Humboldts Ansatz einer ›allgemeinen philosophischen Linguistik‹ – »dieses gesamte theoretisch-begriffliche Netz, einschließlich seiner epistemologischen, semiologischen und methodologischen Implikationen« (Jäger, in diesem Heft) – im Kern nicht verstanden wurde, so dass sein Erkenntnispotenzial und die hiermit für den wissenschaftlichen Mainstream verbundenen Herausforderungen buchstäblich ›verschwunden‹ seien. Jäger arbeitet in seinem Beitrag die wesentlichen Eckpunkte von Humboldts Ansatz konzise heraus, erklärt die Rezeptionshindernisse und zeigt, wie Humboldt – aus ähnlichen Gründen und mit ähnlichen Folgen weithin im Verborgenen – auf de Saussure gewirkt hat.

Dass Humboldt bis in die Gegenwart hinein ein linguistischer Gesprächspartner »auf Augenhöhe« sein kann, zeigt auch Christian Lehmann in seinem Beitrag über »Wilhelm von Humboldts Theorie der Sprachevolution«. Auch hier kommt der von Hurch bzw. Jäger herausgestrichene, in der Geschichte wie in der Gegenwart der Sprachwissenschaft notorisch unterschätzte Vorzug Humboldts zum Tragen, dass »seine theoretischen Konzeptionen an intensive empirische Untersuchungen, sowohl deskriptiver als auch sprachvergleichender Art, zurückgebunden sind« (Lehmann, in diesem Heft).

Wird durch Lehmanns Beitrag Humboldts Bedeutung für die Linguistik herausgestrichen, steht im Mittelpunkt der Beiträge von Armin Burkhardt und Michael Bongardt seine Relevanz für die Sozialontologie bzw. Kulturphilosophie, die freilich ihrerseits in interdisziplinären Beziehungen zu heute relevanten Arbeitsgebieten der Linguistik stehen. Im Fall des ›dialogischen Prinzips‹, mit dessen Herleitung bei Humboldt und Ludwig Feuerbach und seiner späteren Entwicklung in der Dialogphilosophie Edmund Husserls, Martin Bubers und Karl Löwiths sich Burkhardt befasst, betrifft dies Grundannahmen der linguistischen Gesprächsforschung, deren empirisches Programm dann wiederum in die Kernlinguistik hineinreicht. Die von Humboldt beeinflusste Sprachphilosophie Ernst Cassirers, wie sie Bongardt in seinem Beitrag in Eckpunkten vorstellt und auf ihre Relevanz für erkenntnistheoretische und sozialphilosophische Fragestellungen der Gegenwart – einschließlich einer philosophischen Sprachkritik – hin exemplarisch erörtert, weist deutliche Anschlussstellen zur eingangs erwähnten linguistischen Kulturanalyse auf, wo sie dementsprechend zu den kanonischen Theoriebeständen gehört.

Das Heft schließt mit einem Beitrag der chinesischen Germanistin Jin Zhao, der exemplarisch für die weltweite Wirkung Wilhelm von Humboldts steht. In ihrem Beitrag »Wilhelm von Humboldt in China: Rezeptionen, Forschungen und Probleme« diskutiert sie im Blick auf den relevanten Zeitraum der letzten 40 Jahre neben der Rezeption von Humboldts ›Bildungsgedanken‹ die Beschäftigung mit seiner ›Sprachphilosophie‹. Für die Sprachphilosophie wurden ca. 80 Zeitschriftenartikel gesichtet, deren größerer Teil nicht nur eine Darstellung von Humboldts Ideen, sondern auch einen eigenen Forschungsbeitrag hierzu leistet. Der Beitrag resümiert den Forschungsertrag, zeigt einzelne Irrtümer, Fehler und Missverständnisse auf und regt für die Zukunft an, die Sprachphilosophie in den Gesamtzusammenhang des Humboldtschen Denkens zu stellen. So dürfe

»die sprachphilosophische Forschung nicht für sich isoliert bleiben, sondern sollte verstärkt den Hintergrund von Humboldts ästhetischen, historischen, politischen, religiösen und anthropologischen Gedanken berücksichtigen. So könnten zugleich seine Beschäftigung mit Geschichtsphilosophie, Naturphilosophie, Philologie und Ästhetik in gewissem Sinne als Vorbereitungen auf seine sprachphilosophischen Überlegungen verstanden werden, die im Begriff der durch Worte gebildeten ›geistigen Individualität‹ gipfeln (vgl. Borsche 1990, S. 18).« (Zhao, in diesem Heft)

Dass bei alledem auch Humboldts Beitrag zur empirischen Linguistik ernst genommen werden muss, zieht sich – ungeachtet der in mancherlei Hinsicht kontroversen Standpunkte – als ein Konsens durch das vorliegende Heft.