»Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall«Footnote 1 – zumindest für die Beobachter, weniger jedoch für die Betroffenen –, denn durch die Ausnahme werden die Grenzen der vertrauten Normalität und der bestehenden rechtlichen und politischen Ordnung überschritten und im Moment der Überschreitung zur Disposition gestellt. In der Ausnahme erweist eine Gesellschaft die Tragfähigkeit ihres Zusammenhalts und ihrer rechtlichen und moralischen Normen. Wer etwas über die Bedingungen sozialer Ordnung erfahren möchte, muss die Gesellschaft im Ausnahmezustand beobachten.

In der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur gehört die Autorin Kathrin Röggla zu den Expertinnen für Szenarien der Ausnahme. Ihre Essays über die Folgen der Terroranschläge vom 11. September 2001, really ground zero, erschließen die rhetorischen und medialen Umgangsweisen mit dem »geschehen«, das »weitaus zu groß zu sein scheint, um es irgendwie integrieren zu können in eine vorhandene erlebnisstruktur«.Footnote 2 Die Berichterstatterin beschreibt die – scheiternden – Versuche, den alle Routinen durchbrechenden Ausnahmezustand nach den katastrophischen Ereignissen zu überwinden und zur Normalität des früheren Alltags zurückzukehren. Und sie hält fest, wie infolge der Ereignisse Begriffe und Unterscheidungen, mit denen wir unsere Wirklichkeiten modellieren – Freund/Feind, Krieg/Frieden, Innen/Außen, Normalität/Ausnahme –, neu codiert werden und eine Umdeutung erfahren. »der ausnahmezustand wird fortgesetzt bis auf weiteres«Footnote 3, schlussfolgert sie aus ihren Beobachtungen der Lage in New York und trifft eine Diagnose, die sich nach Terroranschlägen in Madrid, London, Paris, Brüssel und Nizza immer neu zu bestätigen scheint.

Nicht nur für Röggla fungieren besonders die Ereignisse von 9/11 als Katalysator einer allgemeinen, teils bis zur Paranoia reichenden Alarmbereitschaft, die sich in einer anhaltenden Verunsicherung und einem unbestimmten Bedrohungsgefühl äußert. »vollständige entwarnung wird nicht gegeben, vollständige entwarnung kann auch gar nicht gegeben werden. das ist eben die situation, mit der man leben muss. in erwartung, dass so etwas noch mal passiert«Footnote 4, konstatiert eine der »alarmbereiten« in Rögglas gleichnamigem Erzählungsband. Die »alarmbereiten« leben in »krisenerwartungszeiten«Footnote 5, in denen ständig neue Szenarien der Ausnahme entworfen werden, um das Undenkbare zu denken und vorwegzunehmen. In premediierten Szenarien von Katastrophen, Terrorangriffen, politischen Konflikten und Militäreinsätzen werden soziale »katastrophenerwartung[en]«Footnote 6 ausgehandelt.

Dass die Ausnahme interessanter als der Normalfall ist, liegt also darin begründet, »dass in einer Ausnahmesituation auch Ausnahmen von den Regeln von Recht und Moral gemacht werden müssen«.Footnote 7 Normative Ausnahmen offenbaren die Kontingenz der zugrunde liegenden Normen und machen diese begründungsbedürftig. Zugleich erfordern normative Ausnahmen eine juristische Legitimation der Ausnahme. Diesem wechselseitigen Begründungsverhältnis von Norm und Ausnahme geht Niklas Luhmann in einem Vortrag zum Thema »Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?« (1993) nach, in dem er ein fiktionales ticking bomb-Szenario entwirft, das in verschiedenen Varianten auch das Geschehen der Fernsehserie 24 immer wieder neu motiviert und vorantreibt.

Stellen Sie sich vor, Sie seien ein höherer Polizeioffizier. In Ihrem Lande […] gäbe es viele linke und rechte Terroristen, jeden Tag Morde, Brandanschläge, Tötung und Schäden für zahlreiche Unbeteiligte. Sie hätten den Führer einer solchen Gruppe gefangen. Sie könnten, wenn Sie ihn folterten, vermutlich das Leben vieler Menschen retten – zehn, hundert, tausend, wir können den Fall variieren. Würden Sie es tun? […] Würden Sie foltern?Footnote 8

Luhmanns Szenario dient dazu, die Realität der Norm am fiktionalen worst case-Szenario zu härten, indem er mit seinem Gedankenexperiment einen rechtsstaatlichen Grundwert zur Disposition stellt.Footnote 9 Daran zeigt sich die übergeordnete Funktion solcher Szenarien, die darin besteht, der realen Realität der Gegenwart eine zweite, fiktionale Realität gegenüberzustellen. Insofern fungieren Szenarien als »Realitätsverdopplung«Footnote 10 im Sinne Luhmanns: »Die reale Realität wird zum normalen Alltag, zum Bereich der vertrauten Erwartungen. Die fiktionale Realität wird zum Bereich der Reflexion anderer (unvertrauter, überraschender, nur artifiziell zu gewinnender) Ordnungsmöglichkeiten.«Footnote 11 Die Luhmann’sche Unterscheidung zwischen fiktionaler und realer Realität ermöglicht es, die Vorstellung einer realen, faktischen Wirklichkeit mithilfe der Fiktion des Szenarios zu überprüfen und sie auf alternative Möglichkeiten, auf ›unvertraute‹, ›überraschende‹ Ausnahmen von der Regel hin zu testen.Footnote 12

Szenarien der Ausnahme, die die Normalität und die Routinen des Alltags durchbrechen, führen auf den ersten Blick die Bedingungen und damit die Prinzipien und Grundlagen der sozialen und politischen Ordnung vor Augen. »im ausnahmezustand die bestehende ordnung negiert und gleichzeitig auf die spitze getrieben zu sehen«Footnote 13, erlaubt es, die Bedingungen dieser Ordnung und der verunsicherten, bedrohlichen »situation, mit der man leben muss« (Röggla), freizulegen und zu reflektieren. »Im Szenario«, betont Eva Horn, »geht es weniger um die Handlung als um die Bedingungen der Möglichkeit für das, was auf der Ebene der Handlung, der Figuren, des Sprechens und Denkens passieren kann«.Footnote 14

Insofern die Bedingungen rechtlicher Maßnahmen im Rechtsstaat in der Verfassung festgeschrieben sind, drehen sich Szenarien der Ausnahme um verfassungsrechtliche Grundsätze. Gerade worst case-Szenarien etwa eines Terrorangriffs führen zu juristischen, zuweilen populistischen »Flirts mit dem Ausnahmezustand«Footnote 15, die darauf zielen, Ausnahmen von Gesetz und Verfassung, die Aufhebung der Gewaltenteilung oder die Einschränkung der Grundrechte zu rechtfertigen. Die Szenarien des schlimmsten Falls werden als Legitimationsfiguren extralegaler Maßnahmen wie Feindstrafrecht, Rettungsfolter oder Rettungsabschuss eingesetzt.Footnote 16 Ebenso können Überwachungen, Durchsuchungen, Festnahmen auf diese Weise legitimiert werden. Aus dieser Perspektive verdienen die Szenarien der Ausnahme immer auch einen zweiten Blick, der die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Verfassung und das Handeln des Rechtsstaats in diesen Szenarien richtet. Vor diesem Hintergrund bleibt die Frage, die sich der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde in der Folge der Ereignisse im »Deutschen Herbst« 1977 stellte, ungebrochen relevant: »Wie kann der Staat auf außergewöhnliche Lagen, speziell auf Ausnahmezustände, reagieren, ohne seine Rechtsstaatlichkeit einzubüßen?«Footnote 17

Bei jedem Versuch, diese Frage zu beantworten, kommt die Paradoxie der Regelung der Ausnahme zum Vorschein, die sich daraus ergibt, dass sich die Ausnahme nicht normieren lässt, weil sie sich doch als Ausnahme von der Norm definiert. Für das Rechtssystem bedeuten unvorhersehbare Ausnahmeszenarien nicht nur rein systematisch, sondern auch in temporaler Hinsicht eine Überforderung, weil sich das Recht an der Vergangenheit orientiert.Footnote 18 Es kann nur über vergangene Ereignisse urteilen und potenzielle, extreme Ausnahmen von der Regel nicht vorgreifend normieren. Auch dieses ungeregelte Verhältnis des potenziellen Ausnahmeszenarios zur festgeschriebenen Norm begründet die Faszination der Ausnahme.

In seiner 1978 in Freiburg gehaltenen, Carl Schmitt gewidmeten Antrittsvorlesung über den verdrängten Ausnahmezustand postuliert Böckenförde: »Die Erhaltung des Rechts der Normallage setzt die Anerkennung des Ausnahmezustands voraus«.Footnote 19 Er argumentiert in diesem programmatischen Vortrag für eine verfassungsrechtliche Regelung des Ausnahmezustands und sieht ihn durch seinen Zweck, die Rückkehr zur Normalität, gerechtfertigt. Noch in einem kürzlich erschienenen Interview verteidigt Böckenförde die Regelung der Ausnahme:

Leider wird nicht begriffen, daß der Ausnahmezustand im Grunde dazu dient, in der Krise eine bestehende Ordnung soweit möglich wieder zu stabilisieren. Auch im Ausnahmezustand kann nicht alles gemacht werden, was man will. Auch er hat eine Struktur, die dazu dient, über die Krise hinwegzukommen.Footnote 20

Böckenförde stellt dem verdrängten Ausnahmezustand den von der Verfassung legitimierten Ausnahmezustand gegenüber. Das Szenario, das Böckenförde dabei vor Augen hat, ist der ›nicht erklärte Ausnahmezustand‹ (Wolfgang Kraushaar) im »Deutschen Herbst«, der durch eine »›harte‹ Form der Renormalisierung«Footnote 21, nämlich durch den Einsatz der GSG 9 in Mogadischu, einigermaßen glimpflich beendet wurde. Folgt man nachträglichen autobiografischen Selbst- beziehungsweise literarischen Fremdbeschreibungen des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, handelt es sich dabei um einen Ausnahmezustand, in dem er durch seine letztinstanzliche Entscheidung, also als Souveränitätsinstanz, das Ende der Ausnahme herbeiführte.Footnote 22 Schmidt, der in den 1970er-Jahren von Böckenförde beraten wurde, hat in seinen Erinnerungen immer wieder für sich in Anspruch genommen, dass die Entscheidungen während der Schleyer-Entführung und der Entführung der »Landshut« letztlich nur durch ihn als Person verantwortet werden konnten, da es weder rechtliche oder politische noch vorpolitische moralische oder religiöse Grundlagen für diese Entscheidungen gab.Footnote 23 In der Tat hat das Bundesverfassungsgericht einen Tag vor der Befreiung der Geiseln der Flugzeugentführung zu einer Klage des Schleyer-Sohnes geurteilt, dass es »den zuständigen staatlichen Organen keine bestimmte Entschließung vorschreiben« kann.

In jedem Fall lässt sich der »Grenzbegriff«Footnote 24 der Ausnahme nur relational bestimmen, im Verhältnis zur Norm, zur Normalität und Regel. Was aber geschieht, wenn die Rückkehr zur Normalität, durch die eine Ausnahme Böckenförde zufolge legitimiert ist, nicht gelingt? Wenn »der ausnahmezustand […] bis auf weiteres« fortgesetzt wird (Röggla), und er sich mit seinen Gegenbegriffen amalgamiert? Wenn kein Ende der Ausnahme in Sicht ist und sich stattdessen ein permanenter Ausnahmezustand einstellt? Carl Schmitts Diktum »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« hatte für Helmut Schmidt, wie er in den nachträglichen Darstellungen des »Deutschen Herbstes« erscheint, Gültigkeit. Schmitts Definition gilt aber kaum noch für die weltpolitische Lage nach 9/11, wie sie zum Beispiel Giorgio Agamben beschreibt. Er stellt den 11. September 2001 als begründendes Moment dar, einen ›Ursprung‹, der in unserer Gegenwart beständig fortwirkt.Footnote 25 Wir interessieren uns weniger dafür, ob die Zeitdiagnosen politischer Philosophie historisch zutreffend sind, sondern für die Szenarien der Ausnahme, die häufig auf genau dieses Ursprungsmoment rekurrieren, mit dem ein verändertes Denken über den Ausnahmezustand einsetzt. Dieser Ausnahmezustand scheint nicht zu enden, und er führt auch nicht zur Rückkehr zur Normalität, sondern im Gegenteil zu einer wiederum rechtsstaatlich äußerst bedenklichen »Normalisierung des Ausnahmezustandes«, dem zeitliche, räumliche und rechtliche Konturen fehlen.Footnote 26

Wenn die Entscheidung über den Ausnahmezustand Souveränität sichtbar macht, muss man im Fall einer Ausnahme, für die es keine zurechenbare Entscheidungsinstanz gibt, von Postsouveränität sprechen. Im postsouveränen Ausnahmezustand gibt es keine Instanz, die Souveränität repräsentiert. Hier ist das Eintreten oder Beenden des Ausnahmezustands keine Frage der Entscheidung. Anfang und Ende der Ausnahme bleiben unklar. Unter diesen Bedingungen kommt es zu einer Erosion souveräner Strukturen, und die politische Fundierung des Ausnahmezustands in der Entscheidung verflüchtigt sich. Die Situation fortgesetzter, ungeregelter, geradezu katastrophischer, da unentschiedener Ausnahmezustände, ist eine der Postsouveränität, einer anhaltenden Krise von Staatlichkeit und Souveränität. Für diese Souveränitätskrise und die Destabilisierung von Staaten als Friedens-, Macht- und Entscheidungseinheit lassen sich mit Herfried MünklerFootnote 27, Ulrich HalternFootnote 28 und Ulrich BeckFootnote 29 viele verschiedene Gründe anführen: überstaatliche, völkerrechtliche Ordnungen, nicht-staatliche Akteure in den sogenannten Neuen Kriegen, der Zerfall von Staaten im Nahen Osten (darüber berichtet Navid Kermani in seinem Buch Ausnahmezustand Footnote 30), aber eben auch extreme ökologische oder technische Katastrophen und terroristische Akte, die die Normallage gefährden und Ausnahmen erforderlich machen, ja geradezu erzwingen, aber souveräne Entscheidungen gleichzeitig ausschließen. Postsouveränität ist durch die Unentschiedenheit des Ausnahmezustands und die Überlagerung von Normal- und Ausnahmelage gekennzeichnet.Footnote 31 Carl Schmitts souverän-dezisionistische Heuristik der Ausnahme weicht damit einer postsouveränen Normalisierung des Ausnahmezustands, die zeitlich begrenzte Ausnahme einem Ausnahmezustand.

Was in Literatur, Film und Serie zu beobachten ist, sind Szenarien ökologischer, ökonomischer, politischer und moralischer Ausnahmen, die keine Entscheidungen zulassen, sodass der Ausnahmezustand zum schlechterdings Unbestimmten und Unbestimmbaren wird und seine Konturen verliert. Wenn der Unterschied zwischen Ausnahmezustand und Katastrophe in der Entscheidung liegt – also die Katastrophe die Ausnahme ist, über die niemand entschieden hat –, folgt daraus, dass der um die Entscheidung gekürzte Ausnahmezustand in unserer Gesellschaft nicht mehr als säkularisiertes Wunder zu verstehen ist wie bei Schmitt, sondern als Katastrophe erscheint.

Das Szenario der Ausnahme ist also, das möchten wir hervorheben, nicht das Ereignis oder der Zustand der politischen Ausnahme selbst (kein Szenario setzt die Verfassung außer Kraft), sondern eine literarisch imaginierte, medial inszenierte Ausnahme. Genauso wie das Katastrophenszenario die Katastrophe inszeniert, aber nicht selbst das Eintreten einer Katastrophe, die mit der vorhandenen Infrastruktur nicht bewältigt werden kann, bedeutet. Die bei der Inszenierung eingesetzte Szenariotechnik – abgeleitet von Herman Kahns Methode, um im Rahmen des verteidigungsstrategischen Denkens des Kalten Krieges das »Undenkbare zu denken«Footnote 32 – ist mit Eva Horn formuliert »ein experimentelles Erzählen, das hypothetische Wirklichkeiten entwirft, die ihrerseits dazu dienen, Handlungsoptionen narrativ ›auszuprobieren‹.«Footnote 33 Szenarien sind demnach fiktionale Versuchsanordnungen, Möglichkeitsräume, in denen das Undenkbare, Unerwartbare, Unwahrscheinliche, Außergewöhnliche, kurzum: die Ausnahme konkretisiert werden kann.

Aus literaturwissenschaftlicher Sicht lässt sich die Funktionsweise von – insbesondere populären – Szenarien mit der Liste von Topoi und Gemeinplätzen erklären, die in der klassischen Rhetorik die Grundlage der inventio bilden.Footnote 34 Die Grundidee der rhetorischen inventio besteht darin, dass alles, »was wie immer einzigartig passiert, […] im letzten typische Züge« trägt. Einzigartig an den Szenarien »ist nur die Zusammensetzung«.Footnote 35 Szenarien funktionieren also wie ein Baukasten, aus dessen Elementen sich die möglichen Abläufe des Geschehens zusammensetzen lassen.Footnote 36 Die Szenarien selbst sind konventionalisiert, wie es bei Röggla zum Ausdruck kommt: »in solchen situationen komme doch immer eine geophysikerin an, die einem weiß gott was erkläre«, »viren tauchten doch immer als letzte möglichkeit auf, wenn alles andere scheitere«, »normalerweise finde sich zu diesem zeitpunkt doch immer ein grüppchen versprengter zusammen, das […] irgendwo eine neue zivilisation gründe«.Footnote 37 Das »doch immer« bringt die Erwartungshaltung gegenüber den Erzählmustern, dem Figurenarsenal und den typischen Konstellationen solcher Szenarien zum Ausdruck. Szenarien bilden letztlich stabile narrative Strukturen heraus, die wiederholbar und daher erwartbar sind.Footnote 38

Auf diese Weise lassen sich aus einem Szenario-Baukasten immer wieder neue Narrative zusammensetzen. Die Szenariotechnik überschneidet sich insoweit mit Umberto Ecos Begriff der Szenografie (ital. sceneggiatura [Inszenierung, Drehbuch]). Für Eco ist die Szenografie »ein virtueller Text oder eine kondensierte Geschichte«.Footnote 39 Er unterscheidet allgemeine Szenografien, die Regeln für praktische Handlungen vorgeben (Einkauf im Supermarkt, Ausrichten einer Party etc.), von den sogenannten intertextuellen Szenografien, die er als »rhetorische oder erzählerische Schemata« definiert. Letztere geben eine bestimmte »Anzahl von Handlungen, Individuen und anderen Relationen«Footnote 40 vor und konstituieren dadurch die Erwartungen an die Handlung eines Kriminal- oder Liebesromans oder -films. Das Textverständnis wird durch das Einsetzen einer Szenografie präfiguriert und gerahmt.Footnote 41

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang Ecos beiläufiger Verweis darauf, dass solche intertextuellen Szenografien – sein Beispiel ist der Bankraub – »durch unzählige Filme popularisiert worden«Footnote 42 sind. Im Grunde ist also die Popularisierung die Bedingung der Möglichkeit für das Verstehen von intertextuellen Szenografien. Anders als Eco interessieren wir uns insbesondere für diese populärkulturellen Voraussetzungen der gesellschaftlichen Verbreitung und Anschlussfähigkeit von Szenarien der Ausnahme, für die unterschiedlichen Verfahren ihrer Popularisierung und dafür, warum gerade das Szenario der Ausnahme eine so große Faszinationskraft besitzt.Footnote 43

Als mehr oder weniger realistische Testverfahren auf gesellschaftliche Realitätsannahmen sind Szenarien Teil der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung. »Es sind Fiktionen, narrative Szenarien eines möglichen, denkbaren oder zu befürchtenden Ereignisses, die das, was eine Gesellschaft wissen will – über sich selbst und über die Welt – überhaupt erst auf den Plan rufen.«Footnote 44 Zum weit verbreiteten und daher populären Repertoire dieser Erzählungen und Imaginationen, mit denen die Gesellschaft sich über ihre Konstitution und zukünftige Entwicklung verständigt, gehören Szenarien der Ausnahme: Katastrophen-, Kriegs- und Krisenszenarien, Szenarien der Bedrohung und der Zerstörung, Weltuntergangs- und Konflikteskalationsszenarien. Man kennt die dazugehörigen Bilder, man weiß, wie die Ereignisse ablaufen könnten.

Das Wissen über die szenografischen Schemata stammt aus der Populärkultur. Was wir über die Vorgänge hinter den politischen Kulissen, über die Folterverhöre der CIA, über Flugzeugentführungen oder über das Leben nach dem Weltuntergang wissen, wissen wir zu einem maßgeblichen Teil aus den Medien der Populärkultur. Nicht selten gehen die populären Szenografien in Serie, in der einzelne Elemente variiert werden, das Szenario jedoch gleich bleibt. »Serialisierung ist immer ein Indiz, dass bestimmte Erzählformen zum Grundbestand einer Kultur gehören«.Footnote 45

Dass diese Szenarien eine besondere Popularität besitzen, dass die Ausnahme interessanter als der Normalfall ist, liegt letztlich aber vor allem an den Formen und Verfahren des Erzählens und der Darstellung. Denn in den Szenarien der Ausnahme, sind nicht nur normative, sondern auch ästhetische Ausnahmen zu beobachten. Rögglas Erzählungen über »die alarmbereiten« etwa sind von der ersten bis zur letzten Seite in einem protokollarischen Konjunktiv I, in indirekter Rede, verfasst; sie perspektivieren das Geschehen durch eine verschachtelte, extern-intern fokalisierte Erzählweise und stellen damit auch literarhistorisch eine Ausnahme dar. Die Erzählverfahren lenken – formalistisch-strukturalistisch gesprochen – den Blick durch die widerständige, die »erschwerte Form« und die formale »Entautomatisierung« von der Fremd- auf die Selbstreferenz der sprachlichen Zeichen und ihre »Spürbarkeit«. Rögglas Texte thematisieren also nicht nur die sozialen und psychischen Ausnahmezustände, sondern vor allem die sprachlichen und medialen Bedingungen der Darstellung von Ausnahmezuständen. Die erzählten Ausnahmezustände unterbrechen den normalen, erwartbaren Lauf der Dinge. Aber nicht nur das Geschehen bewegt sich im Bereich der Ausnahme, sondern die Darstellung konfiguriert Ausnahmen in den Formen und Verfahren des Erzählens und der Inszenierung, die konventionalisierte Erwartungen durchbrechen.

Die rechtliche Unbestimmtheit und begriffliche Unschärfe des Ausnahmezustands wird in den Szenarien der Ausnahme, die wir untersuchen, auch auf der Ebene der Darstellung reflektiert. »überblick gibt’s doch nicht«Footnote 46, gilt eben nicht nur für die erzählte Welt, sondern auch für das Erzählen selbst. Das postsouveräne Erzählen erfasst die rechtliche Unentschiedenheit und politische Destabilisierung nicht nur auf der Ebene der erzählten Welt, sondern auch auf der Ebene der Erzählverfahren.Footnote 47 Die Welt ist nicht nur unbeobachtbar, sondern auch »unerzählerisch«.Footnote 48 Einschränkende interne Fokalisierungen, asymmetrische Erzählsituationen, die unbestimmte räumliche Situierung im Niemandsland, der fehlende Überblick und die mangelnde Verknüpfung zwischen einzelnen Ereignissen, all dies führt dazu, das unidentifizierbar bleibt, wer in diesem Szenarien souverän agiert, die Übersicht behält und die Ereignisse verantwortet.

Diese Beobachtungen möchten wir zu der These verallgemeinern, dass Szenarien der Ausnahme nicht nur ein bestimmtes Repertoire oder Archiv von Motiven, Figuren und Themen konfigurieren, sondern spezifische Formen und Verfahren des Erzählens und der Darstellung herausfordern. Die Beiträge in diesem Heft untersuchen, wie politische, ökonomische oder gesellschaftliche Ausnahmesituationen mit narrativen, filmischen und ästhetischen Verfahren der Ausnahme einhergehen. Das heißt, dass uns in erster Linie die Ausnahme als rhetorische, narrative und mediale Figuration interessiert, während die Erörterung der rechtlichen Regelung des Ausnahmezustands und seiner verfassungstheoretischen Legitimation, der Ausnahmezustand als »Paradigma des Regierens« (Giorgio Agamben) zweitrangig ist. Denn – und das ist entscheidend – »an der veränderung der narration«, der Art und Weise, wie erzählt wird, »wird eben auch die gesellschaftliche veränderung ablesbar«Footnote 49 – und nicht umgekehrt.Footnote 50