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Von wegen banal. Ein rezeptionsästhetisch perspektivierter Blick auf Bernhard Schlinks Verbrecherfigur Hanna Schmitz

Anything but banal – A reception aesthetics based view of Bernhard Schlink’s criminal character Hanna Schmitz

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Zusammenfassung

Die Reaktionen auf Bernhard Schlinks internationalen Bestseller Der Vorleser hätten nicht unterschiedlicher ausfallen können. Lobeshymnen und Wellen der Empörung entluden sich in einer polemisch geführten Diskussion in den Feuilletons. Schlink wurde beschuldigt, seine Hauptfigur Hanna Schmitz auf anstößige Weise zu exkulpieren. Dieser Artikel betrachtet aus rezeptionsästhetischer Perspektive die Äußerungen, die Schlink vorwerfen, Sympathien für eine Nazi-Figur geweckt zu haben und untersucht seine Vorschläge, wie mit der Banalität des Bösen umzugehen sei.

Abstract

Reactions to Bernhard Schlink’s international hit The Reader could not have been more divergent. Choruses of both praise and outrage gave way to a hot debate in the feuilletons. Schlink was accused of exculpating his female protagonist, Hanna Schmitz, in a manner considered offensive. Inspired by Iserian reception aesthetics, this survey takes a look at opinions reproaching Schlink for having generated sympathy for a Nazi, and examines his proposals on how to deal with the banality of evil.

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Notes

  1. Zitiert nach Schlink, Der Vorleser, Zürich 1997. Zitate aus dem Text werden fortan unter Verwendung der Sigle „VO“ im Haupttext nachgewiesen.

  2. Krause, Tilman: „Keine Elternaustreibung. Ein Höhepunkt im deutschen Bücherherbst: Bernhard Schlinks Roman über 68er und die deutsche Schuld“. In: Der Tagesspiegel, 03.09.1995. Der Rezensent erklärt: „In erster Linie ist dies eine aufregende Fallgeschichte, so gezügelt wie [sic!] Genuß gewährend erzählt. Das sollte man sich nicht entgehen lassen […]. Was für ein Glück, dass dieses Buch geschrieben wurde!“.

  3. Adler, Jeremy: „Bernhard Schlink and ‚The Reader‘“. In: Times Literary Supplement, 22.03.2002.

  4. Adler, Jeremy und Steinfeld, Thomas (Übers.): „Über die Kunst, Mitleid mit den Mördern zu erzwingen. Einspruch gegen ein Erfolgsbuch: Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ betreibt sentimentale Geschichtsfälschung“. In: Süddeutsche Zeitung, 20.04.2002.

  5. Vgl. Iser, Wolfgang: „Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa“, in: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München 1975, S. 282-252, 232: „Die Wirklichkeit der Texte ist immer erst eine von ihnen konstituierte und damit Reaktion auf Wirklichkeit.“.

  6. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Köln [et. al.] 21984, S. 130 f. Auf die besondere Beziehung zwischen der Literatur und dem System der Rechtsprechung hat Hartmut Bleumer in der Zeitschrift für Literatur und Linguistik (Bleumer, Hartmut: „Einleitung“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 163 [2011], S. 5-17, 7) hingewiesen, der konstatiert, eine narrative Bewältigung besonders problematischer Rechtsfälle weise etwas auf, „was das Recht alleine nicht vermag. Das Erzählen arbeitet auf unterschiedlichen Niveaus an Fragen der Gerechtigkeit, die das Recht mit seinen formalen Mitteln allein nicht herstellen kann.“.

  7. Köster, Juliane: Bernhard Schlink. Der Vorleser. München 2000 (= Oldenbourg-Interpretationen, Bd. 98), S. 27.

  8. Ebd., S. 64.

  9. Die Frage nach einer Missbrauchssituation und dem Vorwurf der Verführung Minderjähriger stellt sich in der öffentlichen Rezeption des Vorlesers selten; die Beziehung zwischen Hanna und Michael wird mehrheitlich als Liebesverhältnis charakterisiert (Vgl. hierzu Mahlendorf, Ursula R.: „Trauma Narrated, Read and (Mis)understood: Bernhard Schlink’s ‚The Reader‘“. In: Monatshefte 95/3 [2002], S. 458-481, 475.) Aus der Perspektive des sich als sexuell selbstbestimmt erlebenden Ich-Erzählers wird der Missbrauchsvorwurf nicht erhoben, die Genese des erotischen Verlangens und das damit verbundene gedanklich-argumentative Kalkül, das ihn zu der bewussten Entscheidung führte, „Frau Schmitz“ zu besuchen, wird folgendermaßen referiert: „Ich weiß nicht, woher ich die Courage nahm, zu Frau Schmitz zu gehen. [...] Wenn der begehrliche Blick so schlimm war wie die Befriedigung der Begierde, das aktive Phantasieren so schlimm wie der phantasierte Akt – warum dann nicht die Befriedigung und der Akt? Ich erfuhr Tag um Tag, dass ich die sündigen Gedanken nicht lassen konnte. Dann wollte ich auch die sündige Tat.“ (VO 20 f.).

  10. Mahlendorf (wie Anm. 9), S. 465.

  11. Vgl. VO 50: „Ich hatte nicht nur diesen Streit verloren. Ich hatte nach kurzem Kampf kapituliert, als sie drohte, mich zurückzuweisen, sich mir zu entziehen.[...] Wenn sie drohte, habe ich sofort bedingungslos kapituliert. […] Ich habe Fehler zugegeben, die ich nicht begangen hatte, Absichten eingestanden, die ich nie gehegt hatte. Wenn sie kalt und hart wurde, bettelte ich darum, daß sie mir wieder gut ist, mir verzeiht, mich liebt. [...] Manchmal dachte ich, sie triumphiert einfach über mich.“.

  12. Mahlendorf (wie Anm. 9), S. 466, Hervorhebung wurde übernommen.

  13. Schmitz, Helmut: „Malen nach Zahlen? Bernhard Schlinks ‚Der Vorleser‘ und die Unfähigkeit zu trauern“. In: German Life And Letters 55 (2002), S. 296-311, 299.

  14. Vgl. Rothschild, Thomas: „Unschuldig schuldig? Bernhard Schlinks Hanna Schmitz und Ödön von Horváths Sladek“, in: Stefan Hermes/Armin Muhic (Hg.): Täter als Opfer? Deutschsprachige Literatur zu Krieg und Vertreibung im 20. Jahrhundert. Hamburg 2007, S. 115-128, 121.

  15. Cornelißen, Christoph: „Der Vorleser“, in: Christoph Jürgensen (Hg.): Die Lieblingsbücher der Deutschen. Kiel 2006, S. 39-59, 57.

  16. VO 105: „Hanna wollte es richtig machen. Wo sie meinte, ihr geschehe Unrecht, widersprach sie, und sie gab zu, was ihres Erachtens zu Recht behauptet und vorgeworfen wurde. Sie widersprach beharrlich und gab bereitwillig zu, als erwerbe sie durch das Zugeben das Recht zum Widerspruch oder übernehme mit dem Widersprechen die Pflicht zuzugeben, was sie redlicherweise nicht bestreiten konnte. Aber sie merkte nicht, [sic!] daß ihre Beharrlichkeit den Vorsitzenden Richter ärgerte. Sie hatte kein Gefühl für den Kontext, für die Regeln, nach denen gespielt wurde, für die Formeln, nach denen sich ihre Äußerungen und die der anderen zu Schuld und Unschuld, Verurteilung und Freispruch verrechneten.“.

  17. Hier ist bis auf die Seite genau die Mitte des Romans erreicht. Wollte man diese Stelle im klassischen Drama verorten, wäre die Szene auch formal als Höhepunkt zu betrachten.

  18. VO 127: „Deswegen hatte sie sich vorlesen lassen. Deswegen hatte sie mich auf unserer Fahrradtour das Schreiben und Lesen übernehmen lassen und war am Morgen im Hotel außer sich gewesen, als sie meinen Zettel gefunden, meine Erwartung, sie kenne seinen Inhalt, geahnt und ihre Bloßstellung gefürchtet hatte. Deswegen hatte sie sich der Beförderung bei der Straßenbahn entzogen; ihre Schwäche, die sie als Schaffnerin verbergen konnte, wäre bei der Ausbildung zur Fahrerin offenkundig geworden. Deswegen hatte sie sich der Beförderung bei Siemens entzogen und war Aufseherin geworden. Deswegen hatte sie, um der Konfrontation mit dem Sachverständigen zu entgehen, zugegeben, den Bericht geschrieben zu haben. Hatte sie sich deswegen im Prozeß um Kopf und Kragen geredet? Weil sie das Buch der Tochter wie auch die Anklage nicht hatte lesen, die Chancen ihrer Verteidigung nicht hatte sehen und sich nicht entsprechend hatte vorbereiten können? Hatte sie deswegen ihre Schützlinge nach Auschwitz geschickt? Um sie, falls sie was gemerkt haben sollten, stumm zu machen? Und hatte sie deswegen die Schwachen zu ihren Schützlingen gemacht?“.

  19. Niven, Bill: „Bernhard Schlink’s ‚Der Vorleser‘ and the Problem of Shame“. In: The Modern Language Review 98/2 (2003), S. 381-396, 387.

  20. Knobloch, Hans-Jörg: Endzeitvisionen. Studien zur Literatur seit dem Beginn der Moderne. Würzburg 2008, S. 181.

  21. Schmitz (wie Anm. 13), S. 308 f.

  22. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Hg. v. Ursula Ludz. München 1986, S. 83.

  23. Vgl. ebd., S. 48.

  24. Ebd., S. 15.

  25. Ebd., S. 83.

  26. Ebd., S. 78. Hervorhebung wurde übernommen.

  27. Vgl. hierzu etwa Wild, Thomas: Hannah Arendt. Leben, Werk, Wirkung. Frankfurt a. M. 2006, S. 104.

  28. Vollrath, Ernst: „Vom ‚radikal Bösen‘ zur ‚Banalität des Bösen‘. Überlegungen zu einem Gedankengang von Hannah Arendt“, in: Festschrift zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken 2001 an Ernst Vollrath und Daniel Cohn-Bendit. Online im Internet. URL: http://www.boell-bremen.de/dateien/Festschrift_Arendt_2001.pdf. Zugriff: 02.03.2015.

  29. Ebd.

  30. Löhndorf, Marion: „Die Banalität des Bösen. Bernhard Schlinks Roman ‚Der Vorleser‘“. In: Neue Zürcher Zeitung, 28.10.1995.

  31. Ebd.

  32. Rothschild (wie Anm. 14), S. 122 f.

  33. Ebd., S. 121.

  34. Vgl. hierzu Rothschild (ebd., 123), der überdies darauf hingewiesen hat (S. 119 f.), dass Hanna den Status ihrer Unterprivilegiertheit im Hinblick auf ihre Arbeit als Straßenbahnschaffnerin selbst markiert: „Blöd? Du weißt nicht, was blöd ist.“ (VO 36).

  35. Arendt (wie Anm. 22), S. 16.

  36. Vgl. hierzu die Bemerkung Haslingers im Literarischen Quartett (Just, Peter [red.]: Das Literarische Quartett. Gesamtausgabe aller 77 Sendungen von 1988 bis 2001. Band 2. 13. Mai 1993 – 14. August 1997. Berlin 2006, S. 408), die Frage des Analphabetismus erreiche „plötzlich diese symbolische Ebene, als hätte dieser Analphabetismus überhaupt eine Bedeutung zur Beurteilung dieser Täter“.

  37. „Die Odyssee ist die Geschichte einer Bewegung, zugleich zielgerichtet und ziellos, erfolgreich und vergeblich. Was ist die Geschichte des Rechts anderes!“ (VO 173).

  38. Arendt an Jaspers am 17.08.1946 (Arendt, Hannah: Briefwechsel mit Karl Jaspers 1926-1969. Hg. v. Lotte Köhler. München 1985, S. 90): „[D]iese Schuld, im Gegensatz zu aller kriminellen Schuld, übersteigt und zerbricht alle Rechtsordnungen.“.

  39. Arendt, Hannah: „Persönliche Verantwortung in der Diktatur“, in: Dies.: Israel, Palästina und der Antisemitismus. Aufsätze. Hg. v. Eike Geisel und Klaus Bittermann. Berlin 1991, S. 7-38, 38.

  40. Arendt (wie Anm. 13), S. 17.

  41. Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München 32009, S. 150. Hervorhebung C.H.

  42. Arendt (wie Anm. 13), S. 23.

  43. Winkler, Willi: „Vorlesen, Duschen, Durcharbeiten. Schlechter Stil, unaufrichtige Bilder. England begreift nicht mehr, was es an Bernhard Schlinks Bestseller ‚Der Vorleser‘ fand“. In: Süddeutsche Zeitung, 20.03.2002.

  44. Norfolk, Lawrence und Kalka, Joachim (Übers.): „Die Sehnsucht nach einer ungeschehenen Geschichte. Warum Bernhard Schlinks Roman ‚Der Vorleser‘ ein so schlechtes Buch ist und allein sein Erfolg einen tieferen Sinn hat“. In: Süddeutsche Zeitung, 27.04.2002. Hervorhebung C.H.

  45. Feuchert, Sascha/Hofmann, Lars: Der Vorleser. Stuttgart 2005, S. 51.

  46. Kübler, Gunhild: „‚Als Deutscher im Ausland wird man gestellt‘. Der Schriftsteller Bernhard Schlink über die Empfindlichkeiten zwischen Ost- und Westdeutschen und Juden sowie seine Angst vor dem Beifall von der falschen Seite“. In: Weltwoche, 27.01.2000, S. 36.

  47. Die hier zitierten Zeilen gehören zu den Schlusszeilen des Kommentars zu Nuit et Brouillard, einem Dokumentarfilm über die sogenannte Nacht-und-Nebel-Aktion des NS-Staates, bei der des Widerstandes verdächtige Personen heimlich in Konzentrationslager deportiert wurden. Der Original-Filmkommentar in französischer Sprache stammt von Jean Cayrol, die deutsche Übersetzung von Paul Celan (Celan, Paul: „Jean Cayrol. Nacht und Nebel. Kommentar zum Film von Alain Resnais“, in: Ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. 4, hg. v. Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rudolf Bücher. Frankfurt am Main 1983, S. 77-103, 97).

  48. Die Bezeichnung geht zurück auf Schmitts Schüler Waldemar Gurian. Vgl. hierzu etwa Laak, Dirk van: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik. Berlin 1993, S. 29.

  49. Schlink, Bernhard: „Why Carl Schmitt?“. In: Rechtshistorisches Journal 10 (1991), S. 160-176, 174.

  50. Ebd., S. 174.

  51. Ebd., S. 175.

  52. Ebd.

  53. Brodocz, André: Politische Theorien der Gegenwart. Eine Einführung. Opladen 1999, S. 279.

  54. Schlink, Bernhard: „Ein Teil der Welt. Rede anläßlich der Verleihung des Hans-Fallada-Preises“, in: Ders.: Vergewisserungen. Über Politik, Recht, Schreiben und Glauben. Zürich 2005, S. 194-199, 198.

  55. Schlink (wie Anm. 49), S. 176.

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Hilt, C. Von wegen banal. Ein rezeptionsästhetisch perspektivierter Blick auf Bernhard Schlinks Verbrecherfigur Hanna Schmitz. LiLi 46, 69–82 (2016). https://doi.org/10.1007/s41244-016-0005-7

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