Rezension zu:

Jochen Kade (2022): Individualität, Solidarität, Schicksal. Selbstbildung zwischen 1984 und 2009. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 312 Seiten, 44,90 €, ISBN 978-3-95832-304‑9.

1 Jasmin Lüdemann: Jochen Kade (2022): Individualität, Solidarität, Schicksal. Selbstbildung zwischen 1984 und 2009. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

Jochen Kade zeigt in dieser Monografie etwas bislang Einzigartiges auf: Er schaut sich Selbstbildungsprozesse anhand zweier biographischer Momentaufnahmen an, die knapp 25 Jahre auseinanderliegen und präsentiert damit eine qualitative Längsschnittstudie, deren zeitliche Differenz der Erhebungszeiträume nicht nur beachtlich ist, sondern zudem spannende theoretische und metho(dolog)ische Fragen und Erkundigungen mit sich bringt.

Kade knüpft theoretisch an die These des schärfer konturierenden Wandels der Subjektformen seit den 1980er-Jahren von Reckwitz an und zeichnet in seiner Studie empirisch sehr eindrücklich nach, wie sich im Zeitverlauf individuelle und gesellschaftliche Strukturierungen durch ihre zeitgeschichtlichen, generationalen und altersabhängig spezifisch aufgespannten Kontextualisierungen, in die sie eingebettet sind, prozesshaft transformiert haben. Zudem verweist Kade in seiner Studie auf den aktuellen Bildungsdiskurs, unter anderem in Anlehnung an Tenorth, und betont die Bedeutung von Bildung als Selbstkonstruktion. Selbstbildung, so Kade, ermöglicht dem Einzelnen die Hervorbringung der je besonderen individuellen Gestalt in der Gesellschaft (S. 269). Indem Kade den Selbstbildungs- und Biographiediskurs in seiner Studie miteinander verbindet, trägt er maßgeblich zu der theoretischen und empirischen Weiterentwicklung des Bildungsdiskurses bei.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. In dem ersten Teil entwickelt Kade eine bildungsbiographische Theorie von Selbstbildung im Medium biographischer (Selbst-)erzählungen. Selbstbildung spannt sich zwischen Individualbiographie und Gesellschaftsbiographie auf, also in ständigen gegenseitigen Bezugnahmen von dem „bewusstseinsinternen, selbstreferentiellen Prozess individueller Subjektivierung [und dem] Modus der Aneignung, fremdreferentiell, immer auf Welt als ihren Gegenstand, ihren Inhalt bezogen“ (S. 28) und bewegt sich im Spannungsverhältnis von Individualität, die sich in modernen Gesellschaften auf Emanzipation und Karriere beziehen, und Solidarität, die eher auf soziales Engagement und Anerkennung gerichtet ist.

Danach folgt ein ausführliches empirisches Kapitel, in dem zunächst die 11 Fälle des Samples unter dem Fokus auf Lebenslaufereignisse skizzenhaft portraitiert werden. Die empirische Basis für die beschriebenen Fälle bilden 85 biographisch narrative Interviews, die in der ersten Erhebungswelle 1984, und noch weitere 50 Interviews, die 2009 in der zweiten Erhebungswelle mit lern- und bildungsinteressierten Erwachsenen im weiten Sinne geführt wurden. Entsprechend dem Geburtsdatum wurden Personen interviewt, die der Vorkriegs- sowie Kriegsgeneration, der Nachkriegsgeneration und der Babyboomer-Generation angehören (vgl. S. 17). Das ist ein wirklich beeindruckender Fundus empirischen Materials, welcher auch selbst zeithistorisch aufgespannt ist. An die knappen Fallportraits schließen sich themenspezifische Darstellungen von Rekonstruktionen an, die stark abstrahierend und auf einem hohen Reflexionsniveau sind. Hier wird die Zeitdimension von Selbstbildung im Allgemeinen fokussiert und Selbstbildung im Kontext von Zeitgeschichte, Generation, Lebensalter und Lebensspanne diskutiert. Gerade vor dem Hintergrund der längsschnittlichen Rekonstruktionspraxis möchte ich das Unterkapitel V hervorheben, in dem die Analysen der zunächst intraindividuellen Vergleiche der differenten Selbstbildungsgestalten der einzelnen Fälle in Zwillingserzählungen (vgl. S. 191) und die Rekonstruktionen vor dem Hintergrund der interindividuellen generationellen Vergleichsperspektive dargelegt werden.

In dem dritten Teil kondensiert Kade die empirischen Ergebnisse und zeigt auf, „wie die Aneignung eines durch differente Bildungsgestalten in der Lebensspanne geprägten Curriculums […] Selbstbildung als Erwartung der (Wieder‑)Herstellung von Kontinuität über lebensgeschichtliche Diskontinuität hinweg [strukturiert]“ (S. 225). Zudem werden in diesem Teil interessante theoretische Querlinien aufgezeigt, wie etwa die Frage nach der Bedeutung von Schicksal und Unverfügbarkeit im Zusammenhang mit biographischer Selbstbildung, oder die Frage nach der Freiheit der Selbstbildung zwischen Selbst und Subjekt.

Ganz sicher ließen sich an die umfangreichen empirischen Analysen und die komplexen theoretischen Verdichtungen noch zahlreiche weitere spannende Fragen anschließen. Kade selbst merkt an, dass „die Studie […] weniger als abgeschlossenes Werk […] denn als Interpunktion in einem Kommunikationsprozess [zu lesen sei]“ (S. 21). Bislang eher unbeleuchtet bleiben bedauerlicherweise konkrete methodische Reflexionen, die gerade vor dem Hintergrund der gesteigerten Komplexität und Temporalität längsschnittlicher Forschungsdesigns und den damit einhergehenden spezifischen Herausforderungen ein großer Zugewinn für den Diskurs um und die Forschungspraxis selbst wären.