Rezensionen zu:

Andreas Gruschka (2020). Bildungserlebnisse. Eine systematische Selbstvergewisserung. Opladen: B. Budrich. 238 Seiten, 32,00 €, ISBN 978-3-8474-2384‑3.

Malte Ebner von Eschenbach (2019). Relational Reframe. Einsatz einer relationalen Perspektive auf Migration in der Erwachsenenbildungsforschung. (Mit einer Nachlese von Ortfried Schäffter). Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 354 Seiten, 44,90 €, ISBN 978-3-95832-175‑5.

1 Ewa Przybylska: Andreas Gruschka (2020). Bildungserlebnisse. Eine systematische Selbstvergewisserung. Opladen: B. Budrich.

Es ist ein autobiografisches Buch, ein persönliches Buch, geschrieben von einem Pädagogen und Wissenschaftler, der seine Bildungserfahrungen reflektiert. Der Autor selbst sieht sein Buch als Beiwerk zu seiner vor drei Jahren erschienenen Veröffentlichung „Schmerzhafte Anstöße, eingeforderter Wille, glückliche Umstände – eine pädagogische Autobiografie“ (2017), in der seine Bildungserfahrungen ausgeklammert wurden. Mit seinem neuen Buch will Andreas Gruschka die Lesenden dazu provozieren, über ihre eigenen Bildungserlebnisse nachzudenken. Er geht noch weiter, er will den Anstoß dafür geben, ein „Archiv für Bildungserlebnisse“ zu organisieren, das die Erfahrungsfelder erfasst, welche die Bildung lernender Individuen bestimmen.

Bildungserlebnisse sind kein neues Thema in der Erwachsenenbildung. Mehr oder weniger direkt wurden sie angesprochen in der Forschung zum autobiografischen Lernen, zur Alphabetisierung oder zu Identitätskonzepten im Kontext der kulturellen, politischen oder ökonomischen Bildung. Aber das Motiv tauchte, zumindest ansatzweise, auch auf, wenn es um Bildungserwartungen, Bildungsmotivationen, Bildungsaspirationen oder Bildungsemotionen, um das Abenteuer oder den Bezug zur Natur in Lernprozessen ging. Einen dagegen unverkennbaren Platz nimmt das Bildungserlebnis in der schöngeistigen Literatur ein, etwa in Goethes Italienreise, einem vollkommenen Bericht über das Bildungserlebnis. Der Dichter reiste nach Italien, nicht um ein vorgefasstes Bild zu festigen, sondern um die Dinge auf sich so wirken zu lassen wie sie sind. Seine Erfahrung umreißt Goethe als „Wiederbelebung“ und „Wiedergeburt“.

In diesem Sinne behandelt auch Andreas Gruschka den Begriff der Bildungserlebnisse, wenn er im ersten Kapitel seines Buches die Frage „Womit beginnen?“ folgendermaßen beantwortet: „Am besten mit einem Beispiel für ein Bildungserlebnis. Vor der Bildung kommt das Erlebnis. Das muss zunächst geschildert werden. Das geht freilich nicht so, als ob es während des Erlebens schon zur reflektierenden Erfahrung gekommen wäre. So zu tun, als fände das Erlebnis jetzt beim Aufschreiben statt, wobei es wie das folgende Beispiel bereits Jahrzehnte zurückliegt, wäre auch nicht angebracht. Dennoch werde ich versuchen, das unterstellt Bildende des Erlebnisses mit seiner Schilderung einzubeziehen.

Sodann: Wo kann ein Bildungserlebnis am ehesten erwartet werden? Auf Reisen! Vom Reisen heißt es, es würde bilden“ (S. 13).

Der Autor lädt die Leserinnen und Leser zuerst auf eine exotische Reise nach Mexiko ein, in deren Mittelpunkt die Begegnung mit präkolumbianischer Kunst rückt. Im zweiten Kapitel entschlüsselt er den Begriff des Bildungserlebnisses: „Für Bildung ist ein Erlebnis keine notwendige Voraussetzung im Sinne des Resultates der Auseinandersetzung eines Menschen mit Aspekten der ihn umgebenden Welt. Eine Bildungsbewegung kann auch in der kontemplativen Versenkung entzündet werden, aus dem Klarwerden einer bedeutenden Frage erwachsen usf. Pures Erleben verlangt nicht nach Aufklärung, zielt vielmehr auf anstrengungslosen Genuss. Erst indem es reflektierend eingeholt und in die Kontinuität des Bewusstseins gehoben und ggf. in die durch es veränderte Lebenspraxis integriert wird, wird ein Erlebnis eines der Bildung“ (S. 40).

In den nächsten Kapiteln erläutert Gruschka die bildende Kraft der Naturphänomene (Kap. 3), Bildungsaspekte der Sprache (Kap. 4), die Bildung an Erfahrungen mit der Sittlichkeit (Kap. 5), Bildungserlebnisse in den Teilbereichen der Gesellschaft: Technik, Recht, Politik, Ökonomie und Sport (Kap. 6). Gesonderte Kapitel widmet er der Wissenschaft im Sinne eines Bildungserlebnisses (7) und der Kunst – Malerei, Architektur, Theater und Film (8). Im letzten Kapitel (9) fragt Gruschka nach dem Sinn des Erlebnisses und der Grenze der Bildung: „Machen Menschen, die existenzielle Krisen durchleben und die im Durchgang durch die Krisen einen neuen Sinnhorizont für ihr Leben finden, ein Bildungserlebnis durch? Oder sind die Fragen nach dem existenziellen Sinn und das Bemühen um das auf den Grund gehende Verstehen nicht selbst hoffnungslos, wenngleich beide notwendig bleiben“ (S. 234)?

Das Buch gibt Antworten auf viele grundsätzliche Fragen: Was ist Bildungsgut? Ab wann sind Erscheinungen der Kultur Bildungsgüter? Wie kann Bildung außerhalb von Bildungsinstitutionen gestaltet werden? Es ist auch eine große Herausforderung für Lehrende, Forschende und Praktiker im Bildungsbereich, die sich hinter der kritischen Reflexion des Autors verbirgt: „Bildungserlebnisse (…) verbinden die Menschen mit der Welt in einer Weise, dass er sich in ihr orientieren kann. Aber die Welt, wie sie ist, sei es in der Form ihrer Naturgegebenheit, sei es in der Form ihrer von Menschen gestalteten Entwicklung, enthält keinesfalls die Lektionen, mit denen die Menschen Kraft finden für die humane Gestaltung der Welt“ (S. 234).

Es ist ein poetisches Buch, das auf eine charmante Weise Biografisches mit einer wissenschaftlichen Betrachtung verbindet und die Lesenden in eine faszinierende Welt von Erlebnissen hineinzieht. Der Wunsch des Autors geht in Erfüllung: Seine Erinnerungen bewegen die Lesenden zum Nachdenken und zum Dialog über ihre eigenen Bildungserlebnisse. Somit ist das Buch nicht nur den in der Bildung Tätigen zu empfehlen. Es ist eine fesselnde Lektüre für all diejenigen, die ihre Erlebnisse sinnlich und reflektiert gestalten und begleiten möchten.

2 Annette Sprung & Daniela Holzer: Malte Ebner von Eschenbach (2019). Relational Reframe. Einsatz einer relationalen Perspektive auf Migration in der Erwachsenenbildungsforschung. (Mit einer Nachlese von Ortfried Schäffter). Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

Erkenntnistheorie ist der Erwachsenenbildungswissenschaft zumutbar. Mit diesem an ein bekanntes Zitat von Ingeborg Bachmann angelehnten Leitsatz lässt sich das zentrale Anliegen des Buches von Malte Ebner von Eschenbach resümieren. Vielleicht wäre sogar folgende Zuspitzung noch treffender: sie ist zuzumuten. Der Autor legt eine vielschichtige epistemologische und grundlagentheoretische Auseinandersetzung vor, die eine Reflexion von Kategorien sowie der Auswahl und Konstituierung von Forschungsgegenständen einfordert bzw. nachdrücklich verargumentiert. Darüber hinaus wird der Ansatz eines Verfahrens – titelgebend als „Relational Reframe“ bezeichnet – entwickelt, um diesen Zugang an empirische Forschung anzubinden. Im Mittelpunkt steht die Entfaltung einer auf relationstheoretischen Ansätzen fußenden Perspektive, welche ein verabsolutierendes Substanzdenken überwinden möchte und am Beispiel der Migrationsforschung in der Erwachsenenbildung veranschaulicht und konkretisiert wird.

Malte Ebner von Eschenbachs Einsatz für einen relationalen Zugang zieht seine Kraft aus einer nuancierten Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Substanz- und Relationsdenkens sowie aus der Diskussion damit verbundener Fragen von Identität und Differenz, von Verbindendem und Trennendem und zahlreichen weiteren elementaren Aspekten. Der Autor entfaltet – ausgehend vom Befund einer „relationalen Wende“ (S. 97) in vielen Wissenschaftsdisziplinen – eine relationale Perspektive, die das Substanzdenken radikal in Kritik stellt und mit differenzierendem Blick Beziehungen aufspürt und zu neuen „Hinsichten“ (S. 18) zusammenfügt. Dies sei ein der Pluralität sozialer Wirklichkeit angemessener Zugang (S. 27) und bedeutungsvoll dafür, eine epistemologisch reflexive „kategoriale Sensibilität“ (S. 110) zu entwickeln, die zentral für die eingeforderte Verbindung von epistemologischer Vergewisserung und empirischer Forschung ist. Die argumentative Basis für seine Überlegungen gewinnt Ebner von Eschenbach, indem er vielfältige Aspekte umkreist. Ausgangspunkt ist eine Erkundung der erwachsenenbildungswissenschaftlichen Theorie- und Forschungsgeschichte sowie eine Kritik an der „Dominanz empirisch geleiteter Wissensproduktion und Erkenntnisentwicklung“ (S. 34), in der präempirische Voraussetzungen kaum noch sichtbar gemacht würden, latent aber umso machtvoller wirksam seien. Philosophisch und epistemologisch versiert führt uns der Autor weiter durch wissenschaftliche und gesellschaftliche Transformationsbewegungen bzw. durch historische und wissenschaftstheoretische Grundlagen relationstheoretischer Ansätze.

Im Anschluss an die Diskussion der Relationstheorie von Julius Jakob Schaaf wird das Verfahren des „Relational Reframe“ entwickelt. Dieses soll komplexe Beziehungsformationen und deren dynamische Konstellationen explorieren und damit zu einer epistemologischen Reflexion am Forschungsgegenstand befähigen. Das erst grob skizzierte dreischrittige Verfahren eröffnet zunächst plurale Hinsichten, erschließt dann dekonstruierend die äußeren Beziehungsstrukturen, um zuletzt rekonstruierend im „Zwischen“ (S. 176) eine Verschränkung von Innen- und Außensicht anzustreben. Eine Konkretisierung der Vorgehensweise wird am Beispiel von „Reframe Migration“ vorgeführt. Anhand ausgewählter Publikationen zu Migration und Erwachsenenbildung problematisiert der Autor zunächst die in diesem Forschungsfeld gängige substanzialistische Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes („Menschen mit Migrationshintergrund“). Im Anschluss entfaltet er in differenzierter Weise ein Verfahren zur relationslogischen Rekonzeptualisierung der Kategorie Migration.

Der Autor schließt sein Buch mit relevanten Herausforderungen für weitere relationstheoretische Forschung ab. Er argumentiert deren normative und gesellschaftliche Dimensionen, erkundet Notwendigkeiten transdisziplinärer Zugänge und skizziert einen komplementären Denkstil, der nicht nur epistemologisch, sondern auch für das Lernen Erwachsener bedeutsam sein kann.

„Relational Reframe“ ist eine facettenreiche, originelle und fundierte theoretische Arbeit, die erkenntnistheoretisch Interessierte anspricht, empirisch Forschende aber ebenso explizit adressiert und dazu anregt, sich einer Debatte um das Zusammenspiel von Theorie und Empirie auszusetzen. Die Diskussion des Verhältnisses von Substanz und Relation eröffnet differenzierte Blicke auf unterschiedlichste Forschungsgegenstände, was durch das Beispiel der Migrationsforschung plausibel nachvollziehbar gemacht wird. Die Lektüre ist sehr voraussetzungsvoll – zuweilen macht es der Autor den Lesenden nicht gerade leicht, in der großen Fülle an Themen und Argumentationssträngen den zentralen Anliegen des Buches zu folgen. Jedoch besticht die Publikation gleichzeitig gerade durch ihre vielfältigen, komplexen Perspektiven und Themen.

Das Buch kann als ein Plädoyer für die Hinwendung zu epistemologischen Grundfragen und grundlagentheoretischer Vergewisserung in der Erwachsenenbildungswissenschaft verstanden werden. Es ist dem Autor ein Anliegen, dass „kategoriale Sensibilität“ auch in methodologische Konsequenzen mündet und in der empirischen Forschung Niederschlag findet. Letztlich wird hiermit nachdrücklich eine epistemologische sowie politische Verantwortung von wissenschaftlich Tätigen eingemahnt.