Das Wort „Numeralität“ klingt, wenn man es zum ersten Mal hört, unattraktiv, ja weniger ansprechend als „Literalität“. Und es scheint für ein Thema zu stehen, das für die Erwachsenenbildung zu speziell ist. Gerade gegenüber Literalität kann Numeralität bislang eher wenig Aufmerksamkeit für sich beanspruchen, zumindest in Deutschland. In vielen anderen Ländern ist Numeralität allerdings ein zentraler Teil der Grundbildungs- oder Literalitätsstrategien für Erwachsene, so vor allem in England, Australien und Frankreich. Trotz allem ist dort wie hier eine substanzielle Forschungs- und Angebotslücke zu konstatieren. Erst allmählich wird diese wahrgenommen und angegangen. Aus eben diesem Grund soll mit der vorliegenden Ausgabe der ZfW ein Beitrag zur Diskussion um Numeralität geleistet werden.

Was ist unter Numeralität zu verstehen und wie verhält sie sich zu Mathematik? Tatsächlich wird Numeralität inzwischen als zunehmend komplexe Kompetenz gefasst. Diese verweist erstens nicht nur auf die Einstiegsstufen mathematischen Operierens, sondern auf die gesamte Welt mathematisch informierter Handlungen. Zweitens sind Schätzungen, Plausibilitätsprüfungen, Überschlagsrechnungen und der Einsatz technologischer Hilfsmittel Teil von Numeralität. Anders als in der schulischen Mathematik geht es hier nicht primär um präzise Berechnungen, die Verwendung mathematischer Formeln oder die schriftliche Auflösung von Gleichungen. Drittens ist Numeralität nicht nur notwendig, um in gegebenen Gesellschaften funktional handeln zu können (z. B. um Gehaltszahlungen zu kontrollieren), sondern auch, um auf die Verteilungsverhältnisse in der Gesellschaft selbst Einfluss zu nehmen (z. B. indem die Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse erfasst und veröffentlicht wird). Dabei werden die zugrundeliegenden mathematischen Operationen in der Regel nicht als solche bezeichnet, wodurch Numeralität sozusagen unsichtbar wird (Yasukawa, Rogers, Jackson, Street 2018). In den Definitionen von Literalität oder Grundbildung der UNESCO oder auch der Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung taucht Numeralität in der Regel auf – zumeist in der Trias von Lesen, Schreiben und Rechnen – wird aber nicht weiter ausdifferenziert. In den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen, die sich nicht zuletzt auf Bildung beziehen, wird Numeralität von Erwachsenen immerhin gleichrangig mit der Literalität Erwachsener als Ziel nachhaltiger Entwicklung erklärt. Numeralität ist faktisch jedoch in den wissenschaftlichen Publikationen, in den Kursangeboten der Bildungsträger und in den Förderstrukturen der Geldgeber gegenüber Literalität deutlich unterrepräsentiert. Das zentrale Argument erscheint berechtigt: Ein entsprechendes Kursangebot würde von den potentiellen Nutznießenden vermutlich nicht angenommen.

Dem gegenüber haben Large-Scale-Assessments seit Jahrzehnten neben Literalität immer auch Numeralität erfasst. Seit Mitte der 1990er Jahre liegen Daten darüber vor, die zeigen, dass der Anteil von Personen mit eingeschränkten numeralen Kompetenzen in vielen Ländern höher liegt als der Anteil von Personen mit geringer Literalität: im OECD-Durchschnitt der ersten PIAAC-Runde erreichen 19 % der Bevölkerung hinsichtlich Numeralität die Kompetenzsstufe 1 oder darunter, bei Literalität sind es 15,5 %. Weiterhin haben England und Frankreich mit eigenen Level-One-Studien bei Wiederholung der Studie zeigen können, dass Literalität stagniert oder ansteigt, Numeralität aber sinkt. Beide Länder haben diese Ergebnisse öffentlich thematisiert; in Frankreich wurde Numeralität in die Programmförderung aufgenommen. Es bliebe zu klären, wie diese Angebote genau angelegt sind und welche Erwachsenen sie warum erreichen. Es ist gut möglich, dass sich hier speziell Angebote der Integration und des Zweiten Bildungswegs finden, die in Deutschland m. E. zu Unrecht eher selten als „Grundbildung“ verstanden werden. Large-Scale-Assessments und der Blick in die Nachbarländer zeigen insofern, dass die einst unterschätzte Domäne der Grundbildung zunehmend Aufmerksamkeit erlangt.

Auch können die hier versammelten Beiträge relativ differenziert zeigen, welche Rolle der Numeralität im Erwachsenenalter zukommt. Diese Ausgabe der ZfW wird durch einen Überblicksbeitrag von Anke Grotlüschen, Klaus Buddeberg und Gabriele Kaiser eingeleitet, der den Forschungsstand und eine Vielzahl von Theoriediskursen vorstellt. Es zeigt sich: Numerale Kompetenzen sind seit Adam Ries (1522) in einen Diskurs der Emanzipation und Volksaufklärung eingebettet, der gemeinhin eher der von Luther übersetzten und durch Gutenberg im Buchdruck verlegten Bibel zugesprochen wird. Befunde aus aktuellen Erhebungen zeigen ein Absinken sowohl der Kompetenzen als auch der Praktiken. Das lässt sich teilweise durch Technologisierung erklären, kann aber angesichts von Datafizierung, künstlicher Intelligenz und Algorithmisierung durchaus Besorgnis hervorrufen. Die Autorinnen und Autoren des Überblicksbeitrags plädieren dafür, den Domänen der Numeralität gleichen Raum zu gewähren wie den Domänen der Literalität: als finanzielle Numeralität, gesundheitliche Numeralität, politische Numeralität und digitale Numeralität.

Dem Überblicksbeitrag folgt der Beitrag von Keiko Yasukawa und Jeff Evans aus dem Diskurs der Numeracy as Social Practice. Sie weiten den Blick auf die gegenwärtige Entwicklung aus, indem sie soziopolitischen und technologischen Wandel als Rahmung eines numerate environment konstatieren. Yaskukawa und Evans konstatieren die Erosion des Wohlfahrtsstaats, die ubiquitäre Datensammlung bei gleichzeitigem Verlust der Kontrolle über die eigenen Daten und die globalisierte Arbeitsteilung. Den analytischen Rahmen bildet die kulturhistorische Theorie. Der Blick richtet sich dabei auf den sozialen Kontext, nicht auf individuelle Kompetenzen. Es zeigt sich, wie sich das numerale Umfeld durch online zu stellende Anträge auf Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe, durch die Nutzung von Fitness-Tracking-Systemen und die Einführung von Lean Management im Betrieb verändert.

Dabei scheint Mathematik oder Numeralität auf den ersten Blick keine Rolle zu spielen. Erneut bedarf es vertiefter Analysen, um numerale Praktiken freizulegen und zu erkennen – und sie im Unterricht zu berücksichtigen. Entsprechende „Überzeugungen“ (beliefs) von Lehrkräften sind seit langer Zeit ein Thema der Erziehungswissenschaft. Sonja Beeli-Zimmermann überträgt diesen Forschungsstrang in die schweizerische Erwachsenenbildung, basierend auf dem dortigen „Netzwerk Alltagsmathematik“. Die Überzeugungen zur Frage des alltagsmathematischen Unterrichts werden dabei unterschieden in eher transmissive, entdeckende oder konstruktivistische Ansätze. Die Autorin plädiert für eine breitere Nutzung der Überzeugungsforschung in der Erwachsenenbildung.

Tatsächlich erweist sich die Kooperation von Mathematikdidaktik und Erwachsenenbildung als fruchtbar, wie sich in der Anlage des Hamburg Numeracy Projekts zeigt. Aus diesem sind zwei Beiträge hervorgegangen, die sich mit vulnerablen Subgruppen der Bevölkerung befassen.

Der Beitrag von Antje Pabst, Wiebke Curdt, Melanie Benz-Gydat, Silke Schreiber-Barsch und Christine Zeuner befasst sich einerseits mit dem dritten Lebensalter und andererseits mit Behinderung. In beiden Fällen wurde qualitativ-empirisch erhoben, welche Ausprägungen Numeralität im Alltag dieser Gruppen annimmt. Theoretisch stützen sich die Verfasserinnen auf Numeracy as Social Practice. Sie plädieren für eine subjektorientierte Grundbildung, die von diesen numeralen Praktiken ausgeht. Mit Blick auf die Forschung fordern sie eine ressourcenorientierte Erhebung numeraler Praktiken ein.

Der Beitrag von Alina Redmer und Anke Grotlüschen stützt sich wiederum auf eine Sekundäranalyse der PIAAC-Studie sowie der Ergänzungsstudie Competencies in Later Life (CiLL). Die Funktion dieser und noch folgender Sekundäranalysen besteht darin, die qualitativen Studien des Projekts zu flankieren und aus ihnen wiederum verdichtete Informationen über numerale Praktiken zu erhalten. Hinsichtlich numeraler Praktiken im Lebensverlauf lässt sich ein konstantes Absinken numeraler Kompetenzen und Praktiken zeigen. Redmer geht von Jean Laves ethnografischen Analysen zur Mittelbewirtschaftung in Familien aus. Im Datensatz der älteren Erwachsenen lassen sich Geschlechterrollenverteilungen zeigen: Das Haushaltsgeld wird überdurchschnittlich oft von Frauen bewirtschaftet, während Männer überdurchschnittlich oft die Bankauszüge und Rechnungen bearbeiten.

Die hier versammelten theoretischen, qualitativen und quantitativen Beiträge können das Feld weder abdecken noch hinreichend ausdeuten. Es ist ein erster Versuch, einer unterschätzten Domäne der Grundbildung auch in der deutschsprachigen Erwachsenenbildung eigenständigen Raum zu gewähren und ein weniger funktionales, mehr emanzipatives Verständnis von Numeralität zur Diskussion zu stellen. Getreu dem Vorwort aus Adam Rieses zweitem Rechenbuch: „Damit der gemeine Mann, [damit die gemeine Frau] beim Brotkauf nicht übervorteilt werde“.