Rezension zu:

Anna Brake, Helmut Bremer, Andrea Lange-Vester (Hg.) (2013): Empirisch Arbeiten mit Bourdieu. Theoretische und methodische Überlegungen, Konzeptionen und Erfahrungen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, Weinheim und Basel, 301 Seiten, 29,95 €, ISBN 978-3-7799-1587-4

Diese Aufmerksamkeit für die Details der wissenschaftlichen Verfahren, deren eigentliche soziale Dimension (…) nicht ihre geringste ist, sollte den Effekt haben, Sie vor dem Begriffs- und ‚Theorie‘-Fetischismus zu warnen, der aus der Neigung entsteht, die ‚theoretischen‘ Instrumente, Habitus, Feld, Kapital usw., an sich und für sich zu nehmen, statt sie sich entfalten zu lassen, mit ihnen zu arbeiten. (Pierre Bourdieu)

Das Eingangszitat, welches der Einleitung zum Sammelband vorangestellt ist, bringt zum Ausdruck, worum es den Herausgeberinnen und Herausgebern des Bandes geht. Die darin enthaltenen Beiträge verfolgen keineswegs nur das Ziel, exemplarisch aufzuzeigen, wie sich empirische Forschungsarbeit das theoretisch-begriffliche Instrumentarium Bourdieus zunutze machen kann. Vielmehr wollen sie aufzeigen, dass diese lediglich in ihrer Anwendung – insofern, als sie ihre Eignung als Analyseinstrumente sozialer Wirklichkeit unter Beweis stellen – ihre Existenzberechtigung haben.

Den Auftakt zu den insgesamt neun Beiträgen, die im Band versammelt sind, bildet ein Interview mit Pierre Bourdieu, welches im Jahr 1988 von Beate Krais geführt wurde und hier wieder abgedruckt ist. Unter dem Titel „Inzwischen kenne ich alle Krankheiten der soziologischen Vernunft“ erwartet die Leserinnen und Leser ein gelungener Einstieg in grundsätzliche wissenschaftstheoretische und methodologische Fragen, die sich bei der empirischen Umsetzung von Forschungsvorhaben stellen.

Es folgt ein posthum erschienener Beitrag von Steffani Engler, auf welche die Idee zum Publikationsprojekt zurückgeht. „Der wissenschaftliche Beobachter in der modernen Gesellschaft“, so der Titel ihres Beitrags, wendet sich der Frage nach Bedingungen der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung in und mit der modernen Gesellschaft zu. Dem Objektivitätsanspruch wissenschaftlicher Erkenntnis, der bei den soziologischen Klassikern in unterschiedlichen Spielarten aufgespürt wird, setzt die Autorin eine epistemologische Position entgegen, welche die Rolle der Forschenden in jenes Bild rückt, das sie von ihrem Gegenstand zeichnen.

Anna Brake wendet sich als erste einer konkreten Methode zu, die mit Bezug auf Arbeiten Bourdieus und das Marburger Mehrgenerationenprojekt einer eingehenden Analyse unterzogen wird: In ihrem Beitrag „Bourdieu und die Photographie“ grenzt sich die Autorin von phänomenologischen bildtheoretischen Ansätzen ab, indem sie diesen eine Sichtweise entgegensetzt, die den Gebrauchsweisen von Fotografie in einem sozialen Kontext, welcher nach Bourdieu immer standortgebunden bleibt, Sichtbarkeit verleiht.

Unter dem Titel „Zur Theorie und Praxis der ‚Habitus-Hermeneutik‘“ gewähren Helmut Bremer und Christel Teiwes-Kügler Einblicke in ihre Forschungswerkstatt. Sie zeigen auf, wie es möglich ist, einem von unreflektierten Selbstverständlichkeiten geprägten Habitus auf die Spur zu kommen, und arbeiten die der Habitusanalyse zugrunde liegenden methodologischen Prinzipien heraus.

Der praxeologischen Klassenanalyse wendet sich Michael Vester im Beitrag „Zwischen Marx und Weber“ zu. Entsprechend aufwändig angelegte Studien, die es erlauben, neben der Reproduktion von Klassenwidersprüchen deutliche Pluralisierungstendenzen herauszuarbeiten, geben Anlass, sich von Bourdieus Akzentsetzung auf die Reproduktion sozialer Klassen kritisch abzusetzen, ohne seinen Zugang entbehrlich erscheinen zu lassen.

Indem Andrea Lange-Vester eine Familiengeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert nachzeichnet, führt sie unter dem Titel „Empirisch arbeiten mit Bourdieu“ exemplarisch vor, wie Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata von Generation zu Generation weitergegeben werden und punktuell eine Transformation erfahren. Ihre Studie eröffnet ein weites Anwendungsfeld für die historische Erforschung klassenspezifischer Habitusformen.

„Künstlerisches Feld und individuelle Kreativität“ lautet der Titel des nachfolgenden Beitrags von Sandra Beaufays und Valerie Moser. Am Beispiel einer empirischen Analyse des Feldes der Bildenden Kunst in Berlin decken die Autorinnen die sozialen Ursprünge individueller Kreativität auf, welche als diffuse Ressource und Produkt im Verteilungskampf um symbolisches Kapital und andere Kapitalsorten erscheint.

Barbara Friebertshäuser lässt in „Denken, Forschen, Verstehen mit Bourdieu“ Forschungsarbeiten zur Fachkultur- und Habitusforschung seit den 1980er Jahren Revue passieren und verdeutlicht, wie biografische Forschung von Bourdieus Denkwerkzeugen bereichert werden kann.

„Biographisch arbeiten mit Bourdieu?“ Mit dieser Frage schließt Anne Schlüter an den letztgenannten Beitrag an. Ausgehend von Bourdieus skeptischer Haltung gegenüber einer Erforschung von Biografien, die sich darauf zurückführen lässt, dass sie ihm als Produkte sozialer Verhältnisse erscheinen, entfaltet die Autorin ein erziehungswissenschaftlich-biografisches Subjektverständnis, welches dazu geeignet ist, das Potenzial biografischer Forschung aufzuzeigen.

Insgesamt macht die Lektüre deutlich, dass sich Begriffe und Zugänge, die Bourdieu hinterlassen hat, zu weit mehr eignen als zu reinen Illustrationszwecken – ein Zugang, der in der Rezeption von Bourdieu weiterhin vorherrschend ist.

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