Im deutschen Bildungssystem hängen die Erfolgschancen von der sozialen Herkunft ab. Dieser Zusammenhang wird unter Bezug auf Boudon (1974) nicht nur auf die geringeren Schulleistungen von Kindern mit niedriger sozialer Herkunft (primäre Herkunftseffekte), sondern auch auf die sozial selektiven Schulwahlentscheidungen der Familien (sekundäre Herkunftseffekte) zurückgeführt. Die Monographie „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern?“ erweitert diese Perspektive auf Schule und Familie indem zusätzlich der Rolle des Wohnumfelds für die Entstehung von sozialen Ungleichheiten am ersten Bildungsübergang nachgegangen wird. Die zur Durchführung der Kausalanalysen vorgenommene Verknüpfung mehrerer großer Sekundärdatensätze stellt in Deutschland ein Novum dar.

1 Inhalt

Die Arbeit wird mit dem titelgebenden Zitat aus einem Stück des Liedermachers Franz Degenhardt eingeleitet: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder. Geh doch in die Oberstadt, mach’s wie deine Brüder!“. Dieses verweist auf die weite Verbreitung alltagsweltlicher Vorstellungen über die Bedeutung persönlicher Beziehungen („Schmuddelkinder“) für den Bildungserwerb, die ihrerseits durch die sozialräumliche Einbindung von Kindern und ihren Familien geprägt sind („Oberstadt“). Wissenschaftliche Erkenntnisse zu diesem Konnex fehlen jedoch weitestgehend. Die Leitfrage lautet daher: „Sind kausal wirkende Effekte der sozialen Komposition eines relevanten sozialräumlichen Kontextes auf die Wahrscheinlichkeit, nach der Grundschule die eigenständige Schulform des Gymnasiums zu besuchen, für den deutschen Kontext nachweisbar?“ (S. 29). Das Fehlen von Forschungsergebnissen wird neben dem mangelnden Bewusstsein für die räumliche Dimension sozialwissenschaftlicher Fragestellungen auf die schlechte Verfügbarkeit adäquater Daten zurückgeführt. Daher besteht das erste Ziel darin, die Möglichkeit einer kleinräumigen Operationalisierung des Wohnumfelds von Familien aufzuzeigen.

Zunächst wird jedoch von Erkenntnissen aus der Quartiersforschung her ein umfassender theoretischer Rahmen aufgespannt. Das Wohnumfeld wird als handlungsstrukturierend verstanden, da auf materieller Ebene nur bestimmte Schulen zur Auswahl stehen und auf immaterieller Ebene ein sozialer Austausch mit anderen Familien stattfindet, der Einfluss auf die Lernleistungen und die Schulauswahl nimmt. Das Wohnumfeld erweise sich insbesondere dann als bedeutsam, wenn es eine besonders privilegierte oder benachteiligte Zusammensetzung hat. Zum einen übt eine relevante Gruppe erst durch eine deutliche Sichtbarkeit eine normsetzende Funktion aus und zum anderen steigt die Wahrscheinlichkeit für direkten Kontakt zu dieser Gruppe, bei dem Ressourcen ausgetauscht werden. Aus diesem Grund wird vermutet, dass Effekte der Wohnumgebung erst bei bestimmten Konzentrationen bzw. Schwellenwerten besonders benachteiligter oder privilegierte Statusgruppen auftreten. Zudem werden heterogene Effekte für verschiedene soziale Gruppen erwartet, denn die Wirkung der sozialräumlichen Umgebung hänge davon ab, wie sehr eine Gruppe der dominanten Gruppe in ihrem Sozialraum ähnelt und ob sie über Ressourcen verfügt, um sich lokalen Einflüssen zu entziehen. Kinder aus Familien mit mittlerem und hohem Sozialstatus sollten daher von einem privilegiert zusammengesetzten Wohnumfeld profitieren, während statusniedrige Kinder aufgrund der fehlenden sozialen Nähe nicht auf verfügbare Ressourcen zugreifen können und ihre Chance, nach der Grundschule ein Gymnasium zu besuchen, durch die stärkere Konkurrenz um die verfügbaren Plätze sogar negativ beeinflusst werden kann. Demgegenüber wird ein benachteiligt zusammengesetztes Wohnumfeld generell mit einem negativen Effekt auf die Bildungschancen in Verbindung gebracht, der umso stärker ausfalle, je niedriger der eigene Sozialstatus einer Familie ist (S. 90). Um konkrete Hypothesen aufzustellen, mit denen auch den Zusammenhängen zugrundeliegende Mechanismen überprüft werden können, werden die Erkenntnisse aus der Quartiersforschung auf das Makro-Mikro-Makro-Modell (Coleman, 1986) sowie auf die SEU-Theorie (Esser, 1999) angewendet. Diese Synthese zwischen Quartiers- und Bildungsforschung vermittelt ein umfassendes Bild der beiden Felder und trägt zur Nachvollziehbarkeit der Vorhersagen bei.

Im Rahmen der Darstellung der verwendeten Daten und Methoden, gelingt es außerdem den Wert der angestrebten Kausalanalyse, welche verschiedene Skalierungen bzw. Größen des Wohnumfelds und unterschiedliche Schwellenwerte hinsichtlich der sozialen Komposition einschließt, zu verdeutlichen. Das Analysesample umfasst Haushalte des SOEP, aus denen ein Kind zwischen 2010 und 2018 von der Grundschule auf eine weiterführende Schule gewechselt ist (N = 4384). Unter Zuhilfenahme von Zensusdaten gelingt es, diese Familien Sozialräumen zuzuweisen. Die Komposition der Sozialräume wird wiederum auf der Basis von microm-Daten bestimmt. Die Skalierungen des Wohnumfelds umfassen Abstufungen zwischen 400 und 100.000 Nachbar:innen sowie eine ungewichtete und eine Annäherung an die Schulsprengel, bei der die soziale Komposition der Bereiche, die sich näher zum Wohnort einer Familie befinden, stärker gewichtet werden. Während die Daten detailliert beschrieben werden, fällt die Diskussion ihrer Verarbeitung knapp aus. Dadurch sind z. B. die Konsequenzen des Übertragens der nur auf einer gröberen Skalierung vorliegenden microm-Informationen auf die kleinräumigere Ebene der Zensusgitter nur für Leser:innen nachvollziehbar, die bereits Erfahrung mit der Methode haben. Für die Kausalanalyse wird auf die Methode des Propensity-Score-Matching zurückgegriffen. Dabei werden die einzelnen Fälle hinsichtlich der Art der besuchten weiterführenden Schule verglichen, die sich in allen anderen relevanten Merkmalen, außer der Komposition ihres Wohnumfeldes, ähneln, um dessen Effekt herauszuarbeiten.

Die nach Bildungsabschlüssen ungewichteten Ergebnisse verweisen zunächst auf einen mit dem Anteil statushoher Familien linear ansteigenden positiven und mit dem Anteil statusniedriger Familien linear zunehmenden negativen Effekt des Wohnumfelds auf die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs, wobei die negativen Effekte überwiegend insignifikant ausfallen. Die sich anschließenden differenzierteren Analysen zeigen, dass der Einfluss verschiedener Arten der sozialen Komposition in Abhängigkeit des höchsten Bildungsabschlusses der Familien unterschiedlich ausfällt. Während Haushalte mit niedrigen Bildungsabschlüssen negative Effekte durch eine hohe Quote an statushohen Familien in ihrem Umfeld erfahren, weisen solche mit mittleren Abschlüssen leichte und diejenigen mit hoher Bildung starke positive Effekte auf. Für die Konzentration statusniedriger Haushalte zeigen sich erneut negative, aber überwiegend insignifikante Ergebnisse. Lediglich ein sehr hoher Anteil statusniedriger Familien in der unmittelbaren Wohnumgebung und der Schulsprengel wirkt sich eindeutig negativ auf die Wahrscheinlichkeit von statusmittleren Kindern aus, nach der Grundschule ein Gymnasium zu besuchen. Aufgrund ihres Status als „Grenzgänger“ würden sie durch ein besonders benachteiligtes Wohnumfeld beeinflusst, während statusniedrige Kinder durch ihre familiäre Situation ohnehin schon stark benachteiligt sind und statushohe Haushalten sich dem negativen Einfluss der unmittelbaren Wohnumgebung entziehen können (S. 225). Die ausgewählten statistischen Methoden werden durchweg gewinnbringend eingesetzt. Sowohl um möglichst präzise Ergebnisse zu erhalten als auch, um diese herunterzubrechen und damit für Personen ohne umfassendes statistisches Hintergrundwissen verständlich zu machen.

Bezugnehmend auf die Interpretation der Analyseergebnisse wird im Fazit festgehalten, dass „das Ziel eines eigenen Beitrags zur weiteren theoretischen Fundierung der Erklärung von Kompositionseffekten […] als erreicht angesehen wird.“ (S. 237). Die kleinräumigen Skalierungen weisen zwar durchweg die stärksten Effekte auf, was für das Wirken der vermuteten sozial-interaktiven Mechanismen, etwa der Relevanz lokaler Normen für die Schulwahl, spricht. Eine explizite Überprüfung der Wirkungszusammenhänge konnte auf Basis der genutzten Daten aber gar nicht vorgenommen werden. Daher ist nicht auszuschließen, dass andere Mechanismen auch einen Teil zum gemessenen totalen Effekt beitragen.

2 Fazit

Alles in allem besitzt die Monographie das Potenzial, eine wichtige Bedeutung zu entfalten. Zum einen macht die Zusammenführung zentraler Befunde aus der Bildungs- und Quartiersforschung deutlich, dass durch eine bessere Vernetzung beide Disziplinen von bestehende Wissensbestände profitieren können. Zum anderen weisen die Analyseergebnisse auf die Bedeutsamkeit der sozialräumlichen Einbettung von Personen für die Entstehung von sozialen Ungleichheiten hin. Schon eine geringe räumliche Konzentration von Wohlstand kann positive Effekte haben, wohingegen negative Effekte von Armut erst zu beobachten waren, wenn diese sich im unmittelbaren Wohnumfeld konzentriert. Der lineare Verlauf der Effektstärken deutet außerdem darauf hin, dass Grenzwerte, ab der die Komposition eines Sozialraums sich auf das Handeln der Anwohner:innen auswirkt, geringer sein könnten als bisher vielfach angenommen. Sozialpolitische Maßnahmen, welche die Heterogenität von Wohnquartieren fördern, könnten demnach schon durch kleine Erfolge dazu beitragen, Bildungsungleichheiten vorzubeugen. So können statusmittlere Familien an den Ressourcen privilegierter Familien teilhaben und es wird verhindert, dass stark benachteiligt zusammengesetzte Quartiere entstehen, in denen negative Kontexteffekte einem erfolgreichen Bildungserwerb entgegenwirken. Um die besonders geringe Wahrscheinlichkeit von statusniedrigen Kindern, den Übergang zum Gymnasium zu schaffen, zu erhöhen, sind jedoch zusätzlich spezifische Maßnahmen notwendig, da sie nicht wesentlich von der räumlichen Nähe zu statushohen Familien profitieren. Erfolgsversprechend erscheint neben Hilfs- und Beratungsangeboten vor allem die gezielte Förderung benachteiligt zusammengesetzter Grundschulen.

Zudem zeigt der Autor durch die Verknüpfung großer Sekundärdatensätze beispielhaft, wie deren großes Potenzial für die Erforschung von Kontexteffekten zukünftig genutzt werden kann. Die Verwendung von microm-Daten, die von einem privatwirtschaftlichen Unternehmen stammen, schränkt die Nachvollziehbarkeit zwar etwas ein. Das schmälert jedoch den Wert der innovativen Ergebnisse nicht wesentlich, sondern verdeutlicht vielmehr die Notwendigkeit des Aufbaus einer wissenschaftlichen Datenbank, welche kleinräumige Informationen transparent und kostenfrei bereitstellt.