1 Einleitung

Seit der Corona-Krise nehmen die Skepsis gegenüber dem staatlichen Schulsystem und die Abmeldungen zum häuslichen Unterricht in Österreich stark zu – die Zahlen haben sich zuletzt verdreifacht. Innerhalb des Homeschooling-Milieus gibt es sehr unterschiedliche Formen der konkreten Ausgestaltung des Unterrichts zuhause. Es besteht zudem eine große Bandbreite an Ideologien unter den „Homeschoolern“, die nicht alle gleichermaßen als problematisch einzustufen sind. Es gibt jedoch Gruppierungen und Strömungen innerhalb der Bewegung, die klar dem rechtsesoterischen Spektrum zuzuordnen sind und deren Kritik am Bildungs- und Gesundheitssystem massive staats- und wissenschaftsfeindliche sowie verschwörungsideologische Züge aufweist. Auch in religiös-fundamentalistischen Gruppen, wie z. B. in Freikirchen und sektenähnlichen Gemeinschaften, kann die Inanspruchnahme des Rechts auf Heimunterricht problematisch sein, etwa wenn Kinder von der Außenwelt abgeschottet streng religiös und autoritär erzogen und indoktriniert werden.

Abgesehen von ideologisch fragwürdigen Gruppierungen ist auch die allgemeine Tendenz, dass immer mehr Eltern öffentlichen Schulen den Rücken kehren, kritisch zu sehen, da für diese Kinder und Jugendlichen die sozialintegrative Funktion der Schule verloren geht. Denn über den Fokus auf das Wohl des einzelnen Kindes hinausgehend gibt es ein demokratiepolitisches und zivilgesellschaftliches Interesse daran, den häuslichen Unterricht nur in Ausnahmefällen zu gewähren: Das Zusammenkommen und Aushalten-Lernen auch unterschiedlicher Hintergründe, Haltungen und Meinungen unter Mitschüler:innen ist zwar mitunter mühsam, jedoch enorm wichtig. Die Schule erfüllt, gerade in einer Zeit, in der viele andere sozialisierende und verbindende Institutionen an Bedeutung verlieren, eine zentrale Rolle für die soziale Kohäsion und die Konfliktkultur in unserer Gesellschaft. Jene, die aus dem Schulsystem aussteigen und von denen nicht wenige in Opposition zu „dem System“ erzogen werden, erleben keine diverse Schul- und Klassengemeinschaft und kein Bildungssystem, das die demokratiefördernde Auseinandersetzung mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und Meinungen fördert.

2 Methodik und Empirie

Der Artikel versteht sich als eine Bestandsaufnahme zu Homeschooling in ideologisch problematischen Kontexten in Österreich, einem hierzulande bisher kaum empirisch erforschten Feld. Er basiert auf einem Forschungsprojekt, bei dem die Strategien der Einflussnahme extremistischer Organisationen im Bildungsbereich untersucht wurden.Footnote 1 Ausgehend von Recherchen im staatsfeindlich-rechtsesoterischen und religiös-fundamentalistischen Milieu geriet zunehmend das Thema Homeschooling in den Blick. Es wurde deutlich, dass dieses in Österreich verfassungsmäßig gewährte Recht von sehr unterschiedlichen Akteuren genützt wird und dass es dabei durchaus auch in ideologischer Hinsicht problematische Gruppierungen gibt, die dieses Recht auf häuslichen Unterricht missbrauchen, um ihre Ideologie zu verbreiten. Den Autor:innen ist bewusst, dass durch diese Ausgangssituation der Fokus auf den problematischeren Gruppierungen im Homeschooling-Milieu liegt und unsere Aussagen nicht für den gesamten Bereich des häuslichen Unterrichts gelten. Es liegt uns fern, die Homeschooling-Szene insgesamt unter Extremismusverdacht zu stellen.

Methodisch ist dieses Feld nicht leicht zu erforschen: Zum einen gibt es kaum Literatur und empirische Studien, an die man anknüpfen kann. Hinzu kommt, dass die Behörden sehr wenige Daten über den häuslichen Unterricht sammeln. Der Feldzugang ist schwierig, v. a. in Pandemie-Zeiten, in denen teilnehmende Beobachtungen z. B. von Kongressen, wie sie in der Esoterik-Szene sehr beliebt sind, nur sehr eingeschränkt möglich sind. Im Online-Raum ist der Zugang zwar mitunter einfacher, man erfährt dort aber nur das, was online veröffentlicht wird. Die Protagonisten sprechen selbst immer wieder von einer Zensur, die es verhindern würde, sich offen inhaltlich zu äußern. Zum anderen ist es ein sehr dynamisches Feld, das sich während unserer Forschung laufend verändert hat.

Wir näherten uns dem Thema daher zunächst über die Befragung von Fachleuten an: Zwischen September 2020 und Februar 2021 wurden insgesamt sieben Gespräche mit Expert:innen u. a. aus der Bildungs- und Religionswissenschaft, der Bundesstelle für Sektenfragen sowie der Kinder- und Jugendanwaltschaft durchgeführt. Diese Gespräche boten, in Kombination mit Online-Recherchen, die Grundlage für die Auswahl der Fallstudien: In weiterer Folge wurden mehrere Beispiele, bei denen das Recht auf häuslichen Unterricht in ideologisch problematischen Milieus genützt wird, vertiefend untersucht. Aufgrund der Pandemie fand die empirische Erhebung vorwiegend online statt. Die Fallstudie, die in diesem Artikel präsentiert wird, basiert auf einer Analyse von zahlreichen Videos, Online-Treffen und Webseiten (im Detail siehe unten). Die Verlagerung der Forschung in den digitalen Raum entspricht dabei der Verlagerung der Aktivitäten der untersuchten Gruppierungen ins Netz: Die Pandemie führte zu einer enormen Steigerung ihrer Reichweite und bot nicht nur ideologisch, sondern vor allem auch technisch-kommunikativ eine bedeutende Chance für die rechtsesoterische Szene, ihre Ideologie zu verbreiten.

Das hier präsentierte Fallbeispiel ist ein Verein, dessen Gründer regelmäßig Videos auf öffentlich zugängliche Plattformen wie YouTube, Instagram, Telegram, Bitchute oder Odysee stellen. Da das dem Artikel zugrunde liegende Projekt auf den Bildungsbereich fokussierte, wurden zunächst ausschließlich Videos begutachtet, deren Titel einen eindeutigen Bezug zum Thema aufwiesen (z. B. „Die Schule der Zukunft in zwei Schritten“, „Externistenprüfung – Unterricht abseits der Schule – Gespräch mit einer Schülerin“). Zum Nachweis der teils äußert problematischen Weltanschauungen der Vereinsgründer wurde die Analyse auf themenübergreifende Videos ausgeweitet. Neben diesen selbst produzierten und publizierten Videos wurden auch Beiträge von Online-Sendern untersucht, in denen der zentrale Protagonist des Vereins als Gast zu bildungspolitischen Themen interviewt wurde (z. B. „Klartext mit Edith Auf1: Schluss mit Unlustig – Das Bildungssystem im Wandel“). Von den gesichteten Videos wurden schließlich 30 Videos mit in Summe über 20 h Material vertiefend ausgewertet. Neben den Videos wurden auch die Homepage des Vereins und ihre Überarbeitung in die Auswertung miteinbezogen: Uns interessierten nicht nur die aktuellen Inhalte der Webseite, sondern auch die von dort gelöschten Beiträge, die mittels Webarchiv (https://web.archive.org/) eingesehen werden konnten.

Die Videos wurden selektiv transkribiert und gemeinsam mit den Texten der Webseite anhand eines sowohl deduktiv als auch induktiv entwickelten Kategorienschemas ausgewertet. Unsere Kodierung war dabei einerseits inhaltsanalytisch inspiriert (vgl. Kuckartz 2018), übernahm aber auch Elemente aus der Grounded Theory, etwa die Ergänzung der deduktiven Kategorien durch offene Kodierung oder das Konzept der theoretischen Sättigung, also der Sichtung und Kodierung von Material bis zu dem Punkt, an dem durch das Miteinbeziehen neuer Daten keine neuen Erkenntnisse mehr gewonnen werden konnten (Glaser und Strauss 1998, S. 53; vgl. auch Kuckartz 2018, S. 79 ff. zur Verbindung von Inhaltsanalyse und Grounded Theory). Die deduktiven Kategorien umfassten aus der Literatur bzw. aus der für das Projekt entwickelten Extremismusdefintion (Schmidinger und Peham 2022) abgeleitete Konzepte wie System- und Medizinfeindlichkeit, antisemitische oder geschichtsrevisionistische Bezüge oder Bezüge zu problematischen Ideologien wie der Anastasia-Bewegung oder der Neuen Germanischen Medizin. Induktiv aus dem Material wurden verschiedene weitere Kategorien gebildet, etwa zu Strategien der Verschleierung oder Hinweise auf weitere verschwörungsideologische Elemente wie etwa eine allgegenwärtige Zensur.

3 Homeschooling in Österreich – rechtlicher Rahmen und aktuelle Entwicklungen

Das Recht auf häuslichen Unterricht wird, nicht nur in Österreich, von sehr unterschiedlichen Personengruppen genützt und kann ganz verschiedene Formen annehmen. Eltern entscheiden sich aus geradezu gegensätzlicher Motivation für den Unterricht zuhause abseits der „Regelschule“. An einem Ende des Spektrums stehen jene, die das staatliche Schulsystem ablehnen, weil es ihnen zu progressiv und liberal ist. Das betrifft insbesondere religiöse Gruppen, die die Erziehung ihrer Kinder – v. a. auch im Bereich der Sexualpädagogik – streng kontrollieren und ihre eigenen Wertvorstellungen umfassend vermitteln wollen. Ein Beispiel dafür ist die freikirchliche „Gemeinde Gottes (Wiederherstellung)“ in Vorarlberg, die auf ihrer Webseite verkündet, die „Bürde“ auf sich genommen zu haben, die Kinder selbst zu unterrichten, „um sie vor sündigen Einflüssen zu bewahren“.Footnote 2 Am anderen Ende stehen jene, die das staatliche Schulwesen als zu starr und reglementiert empfinden, die also reformpädagogischen Ansätzen folgen. Dieser Bereich wird oft als „Unschooling“ oder „Freilernen“ bezeichnet und ist weniger an die Lehrpläne öffentlicher Schulen angelehnt als „strukturiertes Homeschooling“ (Holzmann 2018; Spiegler 2008, S. 102 ff.; Martin-Chang et al. 2011, S. 195 ff.). „Freilerner“ propagieren – wie ihr Name schon sagt – das völlig freie Lernen und lehnen häufig auch die Externistenprüfung ab.Footnote 3 Einzige Gemeinsamkeit dieser gegensätzlichen Gruppen war bisher die Ablehnung der „Regelschule“. Im Zuge der Corona-Pandemie kamen eine Reihe weiterer geteilter Haltungen hinzu, etwa eine höchst problematische Wissenschaftsfeindlichkeit, die große Nähe zu Verschwörungsdenken sowie großer Widerstand gegen alle staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie.

Die US-amerikanische Rechtsprofessorin Martha Fineman (2017) konstatiert, dass in der Homeschooling-Bewegung linksgerichtete Eltern und rechte Fundamentalisten „strange bedfellows“ seien, also eine seltsame Allianz bildeten. Eine Einteilung in links (alternativ/progressiv) und rechts (konservativ) kann dabei unseres Erachtens nicht mehr bzw. nicht durchgehend aufrechterhalten werden, denn es findet sich auch im reformpädagogischen Milieu rechtes und rechtsesoterisches Gedankengut (vgl. auch z. B. Nachtwey et al. 2020; Pöhlmann 2021).

3.1 Rechtlicher Rahmen und historischer Ursprung

In Österreich besteht, anders als in unserem Nachbarland Deutschland, keine Schulpflicht für 6‑ bis 15-Jährige, sondern ausschließlich eine Unterrichtspflicht. Der historische Ursprung der österreichischen Regelung kann bei Kaiserin Maria-Theresia und der Einführung der Volkschulpflicht im Jahr 1774 verortet werden. Ziel war es damals, die Kinder des Adels und des reichen Bürgertums nicht in die öffentlichen Schulen zu nötigen. Zunächst durften nur Lehrkräfte häuslichen Unterricht erteilen, Mitte des 19. Jahrhunderts wurde jedoch normiert, dass im häuslichen Unterricht kein Befähigungsnachweis mehr erforderlich sei (Palmstorfer 2012, S. 116). Die grundrechtliche Gewährleistung des häuslichen Unterrichts war auch ein Anliegen der liberalen, bürgerlichen Bewegung Mitte des 19. Jahrhunderts (Lehne 2015, S. 16). Verfassungsrechtlich verankert wurde der häusliche Unterricht erstmals im Staatsgrundgesetz 1867, das noch immer in Geltung ist – somit besteht in Österreich ein verfassungsmäßig abgesichertes Grundrecht auf häuslichen Unterricht (Palmstorfer 2012, S. 117). Etwa zeitgleich wurde gesetzlich normiert, dass Kinder von der Schulpflicht entbunden sind, wenn nachgewiesen werden kann, dass ihnen zuhause der vorgeschriebene Unterrichtsstoff vermittelt wird.

Die Möglichkeit für häuslichen Unterricht besteht in einigen europäischen Ländern und ist vor allem im angloamerikanischen Raum weit verbreitet. Die strengere Regelung in Deutschland ist von besonderer Relevanz: Da unser Nachbarland den häuslichen Unterricht weit restriktiver regelt bzw. verbietet, übersiedeln immer wieder deutsche Eltern nach Österreich, um ihre Kinder hier zuhause oder in Lerngruppen zu unterrichten.Footnote 4 Denn hierzulande kann die Unterrichtspflicht, wenn der Unterricht dem an einer öffentlichen Schule „mindestens gleichwertig“ ist, „durch die Teilnahme an häuslichem Unterricht erfüllt werden“ (§ 11 Abs. 2 SchulpflichtgesetzFootnote 5).

Das Gesetz enthält keine Definition, was genau unter „häuslichem Unterricht“ zu verstehen ist (Palmstorfer 2012, S. 118 f.) und es gibt wenige Vorgaben: Bis vor Kurzem musste er der Bildungsdirektion bloß vor Beginn des jeweiligen Schuljahres „angezeigt“ und nicht begründet werden. Mit der am 15.12.2021 verabschiedeten Novelle des Schulpflichtgesetzes wurde die Wendung „vor Beginn des Schuljahres“ durch die Wendung „bis zum Ende des vorhergehenden Unterrichtsjahres“ ersetzt.Footnote 6 Verwehrt werden kann die Teilnahme nur dann, wenn mit nunmehr „überwiegender“ Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass die geforderte Gleichwertigkeit des Unterrichtes nicht gegeben ist (§ 11 Abs. 3 SchPflG).Footnote 7 Bisher musste bloß einmal jährlich in Externistenprüfungen der „zureichende Erfolg“ dieses Unterrichts nachgewiesen werden (§ 11 Abs. 4 SchPflG). Mit der Novelle wird ein zusätzliches „Reflexionsgespräch über den Leistungsstand“ zum Ende des Wintersemesters eingeführt. Findet dieses Gespräch nicht statt, wird der Nachweis des zureichenden Erfolges nicht erbracht oder treten Umstände ein, durch die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass die Gleichwertigkeit des häuslichen Unterrichts nicht (mehr) gegeben ist, kann der häusliche Unterricht verweigert werden und das Kind muss (zurück) in die Schule. Wenn eine Gefährdung des Kindeswohls befürchtet wird, müssen die Behörden bzw. die Kinder- und Jugendhilfe informiert werden. Um Prüfungstourismus zu vermeiden, gilt ab sofort jene Schule als zuständig für die Externistenprüfung, die im örtlichen Zuständigkeitsbereich liegt (§ 11 Abs. 5 SchPflG).

3.2 Statistische Entwicklung und Datenlage

Die statistische Erfassung des häuslichen Unterrichts in Österreich ist unzureichend und konnte bisher nur über Ad-hoc-Umfragen bei den Bildungsdirektionen rekonstruiert werden. Wie in Abb. 1 ersichtlich, bewegten sich die Zahlen in den vergangenen zehn Jahren zwischen knapp unter 2000 und 2515 Kindern und Jugendlichen, die sich österreichweit im häuslichen Unterricht befanden. Für das Schuljahr 2021/22 kam es schließlich zu einem massiven – auch medial vielbeachteten – Anstieg der Zahlen. Dass im Herbst 2021 7515 Kinder zum häuslichen Unterricht abgemeldet wurden, stellt eine Verdreifachung gegenüber dem Vorjahr dar. Wie die Abbildung zeigt, kam jedoch fast jede:r siebte abgemeldete Schüler:in im Laufe der ersten Monate wieder zurück in die Schule.

Abb. 1
figure 1

Schulpflichtige Kinder und Jugendliche (6 bis 15 Jahre) im häuslichen Unterricht in Österreich seit 2010. (Quelle: Parlamentarische Anfragebeantwortung zu Nr. 100/J-NR/2019, Zahlen zu Kindern im häuslichen Unterricht. Fehlende Angaben in der Steiermark für 2012/13–2014/15. Zahlen 2020/21 und 2021/22 aus Medienberichten (https://orf.at/stories/3228947/, https://science.apa.at/power-search/15299671351065928554 und https://science.apa.at/power-search/8837421734692416405) sowie auf Basis von Auskünften der Bildungsdirektionen)

Was derzeit völlig fehlt, ist eine systematische Erfassung der Gründe für die Abmeldung und der Bildungsverläufe von ehemals im Homeschooling befindlichen Schüler:innen. Es liegen weder Sozialstatistiken der Verwaltung noch Surveys vor. Außerdem gibt es keine aktuelle Evidenz, wie viele der vom regulären Unterricht abgemeldeten Kinder später eine weiterführende Schule besuchen, Matura machen und/oder eine Universität absolvieren.

4 Homeschooling in problematischen Settings – wovon sprechen wir?

Die Zahlen zeigen, dass derzeit – trotz der Verdreifachung im Jahr 2021/22 – nur ein geringer Prozentsatz aller schulpflichtigen Kinder zu Hause unterrichtet wird, nämlich nur rund ein Prozent. Von diesen Kindern im häuslichen Unterricht befindet sich wiederum nur ein Teil in einem ideologisch problematischen Umfeld – eine exakte quantitative Einschätzung ist aufgrund fehlender Daten jedoch nicht möglich. Vergleicht man die Gesamtzahl von 7515 Abmeldungen im Herbst 2021 mit den Mitgliedern der Telegram-Gruppen des untersuchten Vereins, so zeigt sich, dass über 3000 Personen in Bundesländer-Kanälen bzw. in regionalen Chatgruppen organisiert sind.Footnote 8 Dabei ist zu bedenken, dass der untersuchte Verein nicht der einzige ist, der Bezüge zu problematischen Ideologien (siehe unten) aufweist. Zugleich teilen nicht alle, die diese Kanäle abonniert haben, diese Ansichten des Vereins.

Das Unterrichten von Kindern zuhause oder in Lerngruppen soll hier also nicht grundsätzlich mit extremistischen Haltungen in Verbindung gebracht werden. Wenn im häuslichen Unterricht jedoch extremistische, religiös-fundamentalistische oder staatsfeindliche Ideologien vermittelt werden und Kinder in Familien, Vereinen oder schulähnlichen Institutionen von der Außenwelt abgeschottet, ideologisch indoktriniert und/oder mit zweifelhaften pädagogischen Methoden erzogen und mit fragwürdigen Inhalten unterrichtet werden, gefährdet dies massiv das Wohl der dort unterrichteten Kinder und verletzt ihre Rechte. Der häusliche Unterricht wird in diesen Fällen dazu missbraucht, die eigenen ideologischen Anschauungen zu propagieren.

4.1 Fallbespiel „WissenSchafft Freiheit“

Der Verein „WissenSchafft Freiheit“ (WSF), der von den Brüdern Ricardo und Elias Leppe in Niederösterreich gegründet wurde, vermittelt zunächst ein einladendes, wenn auch etwas esoterisches Erscheinungsbild. Mit einem Logo, das auf Natur und Natürlichkeit Bezug nimmt, lädt die Webseite zum „[f]rei denken, frei entscheiden, frei handeln“ ein und fordert auf, „alles mit Herz und Verstand [zu überprüfen]“. Der Verein, der sich selbst als „Bildungsinitiative“ und Plattform der „freie[n] Wissensvermittlung“Footnote 9 bezeichnet, bietet Hilfestellung bei der Gründung von Lerngruppen und Unterrichtsmaterialien für den häuslichen Unterricht an. Auf den von den Brüdern betriebenen unterschiedlichen Online-Plattformen und Kanälen findet sich eine Ansammlung von Ratschlägen zu Bildung, Ernährung, Gesundheit und alternativen Lebenskonzepten. Erst bei vertiefenden Recherchen und genauerer Analyse treten die zum Teil hochproblematische Ideologie und das Verschwörungsdenken zutage. Die Relevanz des Fallbeispiels ergibt sich aus der beträchtlichen Reichweite, die dieser bzw. seine Protagonisten über diverse digitale Kanäle vor allem in Österreich, aber auch im deutschsprachigen Ausland aufgebaut haben: Der im Juni 2020 gegründete Verein kann als eine der aktuell wichtigsten Plattformen der „Unschooling“- bzw. Freilerner-Szene in Österreich bezeichnet werden. Nach eigenen Angaben ist der Verein „mittlerweile die größte alternative Bildungsbewegung, zumindest im deutschsprachigen Raum“Footnote 10.

Wie die Analyse des Materials zeigt, ist die Vision des Vereins letztlich die Abschaffung des Schulsystems in seiner derzeitigen Form und davon ausgehend eine Transformation der Gesellschaft: „Weil ich weiß, wenn wir die Schulen umdrehen, dann drehen wir alles um über lang oder kurz“Footnote 11. In der „Schule der Zukunft“ gebe es „das System nicht mehr“. Das staatliche Schulsystem wird extrem negativ dargestellt, es sei ein „totes System“Footnote 12 und handle nicht im Interesse der Kinder. Propagiert wird also nicht die Reform des – durchaus zu Recht kritisierbaren und reformbedürftigen – Schulsystems, sondern letztlich dessen Abschaffung. Problematisch an dieser radikalen Argumentation, die ja auch als erfrischend und innovativ eingeordnet werden könnte, ist die dahinterstehende Ideologie. Denn die vertiefende Auswertung des Materials zeigt nicht nur eine deutliche Ablehnung von Bildungssystem und wissenschaftsbasierten Fakten, sondern auch die Propagierung rechtsesoterischer Erzählungen, pseudo-wissenschaftlicher Heilverfahren sowie ein starkes Verschwörungsdenken, das sich nicht vom Antisemitismus abgrenzt.

4.1.1 Verschwörungsdenken und Geschichtsrevisionismus

Laut Ricardo Leppe würden 90 % der Inhalte, die in der Schule gelehrt werden, nicht stimmen.Footnote 13 In Geschichtsbüchern habe er gar „nur Mist gefunden“Footnote 14. Ricardo wirft in einem Video die Frage auf, wieso er das, was im Zweiten Weltkrieg passiert sei, nicht hinterfragen dürfe: „Wieso darf ich nicht darüber sprechen mit anderen?“Footnote 15 In einem als „unzensiert“ ausgewiesenem Video auf Telegram führt er das Thema weiter aus:

Und wenn jemand sagt, das darf man nicht hinterfragen, […] auch zu gewissen geschichtlichen Ereignissen, auch in der aktuellen Thematik, das soll nicht hinterfragt werden, dann stinkt’s. […] Wenn nur die Wahrheit dahinter ist, […] dann muss ich nie sagen, da darf niemand nachschauen, dann muss ich nicht mit Strafen, mit Druck und mit Angst arbeiten, weil der kann dahinter ja nur die Wahrheit finden. […] Aber wenn dem nicht so ist, dann brauch ich Druck, Angst, Strafen, Täuschungen und Co, wenn dahinter keine Wahrheit ist.Footnote 16

In dem als „zensierte Version“ bezeichneten Gespräch auf YouTubeFootnote 17 endet das Video genau vor dieser Aussage, mit der Ricardo Leppe insinuiert, dass das Verbot der Holocaust-Leugnung deshalb bestehe, weil man etwas zu verbergen habe. Die Kinder würden in der Schule aber nicht nur Falsches lernen: Ricardo Leppe schürt auch Ängste bei Eltern und Misstrauen gegenüber der „Regelschule“, wenn er davon spricht „genug Kindesmissbrauch in Schulen“Footnote 18 zu kennen. Nicht einmal dem Vergleich mit Gefängnissen hält die Schule stand, dürfe man sich dort doch zumindest bewegen.Footnote 19

Hier zeigt sich das von den Protagonisten des Vereins verbreitete Verschwörungsdenken bereits sehr gut. Das Schulwesen wird nicht differenziert kritisiert, sondern dämonisiert. Die Schule halte zudem die Kinder und „die Massen“ absichtlich dumm, um sie leichter regieren zu können.Footnote 20 Das Verschwörungsdenken zieht sich durch zahlreiche Videos und Texte. Laut Ricardo Leppe leben wir „in einer vorgespiegelten Welt“, in der „die da oben“ alle belügen und „knechten“, um ihre eigenen Interessen zu bedienen.Footnote 21 Er habe noch kein einziges Thema gefunden, „wo sie uns nicht belügen“.Footnote 22

Ricardo Leppes Glaube an eine Weltverschwörung ist offensichtlich, weniger klar sagt er jedoch, wen er konkret als deren Drahtzieher entlarvt haben will. Damit ist das abstrakte „Die da oben“ breit anschlussfähig an ganz unterschiedliche Haltungen. Leppe behauptet, wir würden in einem totalitären System leben, er spricht immer wieder davon, dass man vieles erst tun und frei sagen können wird, „wenn die Zensur fällt“.Footnote 23 Deutschland bezeichnet er wiederholt als Diktatur,Footnote 24 das Volk als Souverän habe seine Macht verloren.Footnote 25 Seine Haltung zur Demokratie wird auch deutlich, wenn er die Zuseher:innen dazu aufruft, sich über das Gleichnis „DämonKratie“ zu informieren.Footnote 26 Dabei handelt es sich um den in den Anastasia-Büchern vorgestellten „Dämon Kratie“, der „die Aufgabe übernommen [hatte], den Staat umzugestalten, um die Macht der Priester über die Menschen dieser Erde auf Jahrtausende hinaus zu festigen und sie alle, einschließlich der so genannten Herrscher, zu Sklaven der Priester zu machen“ (mehr zu Anastasia siehe unten).Footnote 27

Auch die Medien sind Teil der von Ricardo Leppe vermuteten „Spiegelung“, würden nicht die Wahrheit berichten, nur „in den Logen, in denen sie sind, lügen sie nicht.“Footnote 28 In diesem System, in dem eine nicht näher definierte Machtelite die Massen dumm zu halten versuche,Footnote 29 spielten die Schulen eine wichtige Rolle, denn durch sie würden Kinder schon von klein auf unter Kontrolle gebracht werden. Das Schulsystem sei „einer der Grundpfeiler von dem Ganzen“Footnote 30 und „wenn wir die Schulen umdrehen, dann drehen wir alles um über lang oder kurz. Das ist garantiert“Footnote 31. Ein weiteres Mittel, mit welchem versucht werde, „die Leute da draußen schnell [zu] knechten“ sei die Medizin.Footnote 32

4.1.2 Gefährliche „alternative“ Heilmethoden

Auf den verschiedenen von Ricardo und Elias Leppe verwendeten Online-Plattformen findet sich eine Vielzahl an Videos, die sich mit Krankheiten und Heilungsmethoden befassen. Den beiden zufolge sei die Grippe bereits „ausgestorben“Footnote 33 und Zecken „genauso gefährlich wie eine Gelse“Footnote 34. Sonnencreme sei nicht nötig, sondern sogar schädlich, da die Ursache von Hautkrebs mit der Sonne „gar, gar, gar nichts“ zu tun habe.Footnote 35 Vielmehr seien Krankheiten „die Abwesenheit von Energie“.Footnote 36 Zu deren Behandlung solle man keinesfalls in Krankenhäuser gehen, seien diese doch „von Strukturen unterwandert“, die „alles [wollen], nur nicht unser Bestes.“Footnote 37 Stattdessen empfiehlt Ricardo Leppe wiederholt die Anwendung der Lehren der Germanischen Neuen Medizin (GNM), für ihn ist ihre Wirksamkeit „glasklar“. Dass GNM nicht allen Menschen zugänglich sei, liege an einer großen Verschwörung, denn GNM sei „der Todfeind der Lobby“ und werde „der Pharmaindustrie und der gesamten Medizinbranche schwer zu schaffen mach[en]“.Footnote 38

Eine gutachterliche Stellungnahme der Deutschen Krebsgesellschaft aus dem Jahr 2005 warnt ausdrücklich vor den Gefahren dieser von Ryke Geerd Hamer erfundenen Methode. Es handele sich dabei „um ein unhaltbares, abstruses, un- und pseudowissenschaftliches Gedankengebäude“, das Hamer „inspiriert durch Träume“ entwickelt habe und zu dem es „[gut dokumentierte] Fälle mit tödlichem Ausgang in Deutschland und Frankreich“ gebe (Sökler 2005, S. 2). Hamers Überzeugung folgend würden Krankheiten Konflikte zu Grunde liegen, deren Auflösung nicht durch weitgehend etablierte medizinische Verfahren möglich sei, bzw. durch diese sogar behindert werde (ebd.). Bis Juli 2021 bewarben Ricardo und Elias Leppe die GNM auf ihrer Webseite.Footnote 39 Ricardo Leppe interviewte den Hamer-Nachfolger Helmuth Pilhar, der sich selbst als dem Staatenbund Österreich zugehörig beschrieb, ausführlich zu GNM; dieses Video wurde jedoch nach ersten kritischen Medienberichten von den Betreibern der Seite von der Webseite und allen Plattformen entfernt.

Doch auch in aktuell verfügbaren Beiträgen ist der Bezug zu GNM erkennbar: Die Grippe, so die Brüder Leppe auf Instagram, sei „eine tolle Erfindung“Footnote 40 und die Impfung als Antwort darauf nur ein Mittel, um Menschen „mit Gift nieder[zu]traktieren [..] und klein[zu]halten“Footnote 41. Auch in diesem Verschwörungsnarrativ rund um „Big Pharma“ wird von einer kleinen Gruppe von Personen gesprochen, die im Verborgenen und gegen das Interesse der Bevölkerung agieren würde. Laut Hamer steckt hinter der modernen „Schulmedizin“ ein jüdisches Komplott. Ricardo Leppe spricht davon, dass es einen gewissen „Pakt“ gebe, der besage, „[…] wir geben ihnen Gift und wenn sie dann krank sind und zu uns kommen und Hilfe wollen, dann geben wir ihnen noch mehr Gift. [..]“Footnote 42

Nicht nur mit GNM befürworten und verbreiten Ricardo Leppe und sein Bruder gefährliche pseudomedizinische Heilmethoden. In einem inzwischen nur noch auf der Plattform Odysee verfügbaren VideoFootnote 43 bewirbt Ricardo die Einnahme von Chlordioxid nach Andreas Kalcker und fordert dazu auf, es trotz Warnungen auszuprobieren:

Das, was offiziell gesagt wird, behaupte ich, stimmt nicht. Aber probiere es selber aus! […] Probiere es aus. Mach deine eigenen Erfahrungen damit und entscheide selber.Footnote 44

Elias Leppe empfiehlt außerdem in einem online verfügbaren Zoom-Meeting die Einnahme von Chlordioxid für Kinder zur „Ausleitung von Schwermetallen“.Footnote 45 Dabei wird das Mittel von mehreren öffentlichen Stellen als gefährlich, gar lebensbedrohend eingeschätzt.Footnote 46

4.1.3 Anastasia-Kult und keine Abgrenzung von Rechtsextremen

Ähnlich wie die Beiträge zur GNM wurden auch im Bereich Bildung inzwischen einige Inhalte von der Webseite gelöscht. Die bildungspolitischen Ansichten der Brüder Leppe lassen sich, zumindest in Teilen, der völkischen Anastasia-Bewegung zuordnen.Footnote 47 Zwar bezeichnen sich die Brüder in dem untersuchten Material nie explizit als Anhänger von Anastasia, sympathisieren jedoch eindeutig damit, wenn auch zunehmend verdeckt. Bis Mai 2021 wurden die Bücher auf der Webseite des Vereins noch von Ricardo Leppe beworben:

Ich habe schon viele Bücher und Buchreihen gelesen aber keine hat mich so berührt wie Anastasia.

Diese Anastasia-Bücher enthalten – neben harmlosen esoterischen und phantastischen Elementen – „antisemitisches und geschichtsrevisionistisches, antidemokratisches und antipluralistisches Gedankengut“ (Pöhlmann 2019, S. 315). Der den Büchern inhärente Antisemitismus tritt offen zu Tage, wenn Megre (2005) die Welt „von einem Oberpriester beherrscht, einem Leviten“ sieht; die Leviten seien, „eine kleine Gruppe von Menschen innerhalb des jüdischen Volkes, die seit Tausenden von Jahren das Sagen haben.“ (Infosekta 2016, S. 3). Die Anastasia-Bewegung weist „zahlreiche Berührungspunkte und personelle Vernetzungen mit der Neuen Rechten wie auch mit der Reichsbürger und Selbstverwalter-Szene“ auf (Pöhlmann 2019, S. 333). Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismus bestätigte 2019 die Beobachtung der Aktivitäten der Bewegung in Österreich und spricht von „Überschneidungen u. a. zur Szene der Staatsverweigerer“ (Bundesstelle für Sektenfragen 2020, S. 71).

Eng verbunden mit dem Anastasia-Konzept ist die russische Schetinin Schule (Infosekta 2016, S. 10), die von Megre in seiner Buchreihe sogar beworben wird (Pöhlmann 2016, S. 9). Bei dieser Schule im russischen Tekos handelt es sich laut Bericht der Bundesstelle für Sektenfragen um ein „streng durchorganisiertes“ Internat, in welchem die Schüler:innen „angeblich innerhalb kürzester Zeit Maturaniveau erreichen und außergewöhnliche intellektuelle Leistungen erbringen und den Stoff ganzer Lernjahre auf wundersame Weise in kürzester Zeit umfassend beherrschen“. Kinder wären sowohl Lehrer:innen als auch Schüler:innen und würden ihr Wissen mit der sogenannten „Schaubild“-Methode sowie durch „Wissens-Osmose“ erwerben. Daneben sollen die Kinder zudem „völkisch-nationalistisch indoktriniert werden“, „auf die „Ahnen“ und die „Tradition“ eingeschworen werden, Unterricht in Kampfsport erhalten und „paramilitärisch anmutende Übungen in Tarnuniform absolvieren“ (Bundesstelle für Sektenfragen 2018, S. 130 ff.). Das Konzept der Schetinin Schule wird vom Verein WSF explizit befürwortet, von Elias Leppe gar als „Vorbild“ für ein neues Bildungskonzept bezeichnet.Footnote 48 In einem YouTube-Interview von Mai 2021 äußert sich Ricardo Leppe positiv zur Schetinin Schule und erklärt, dass er sich so die „Schule der Zukunft“ vorstelle.Footnote 49

Die problematische Ideologie des Vereins und seiner Frontmänner zeigt sich nicht nur in Videos und Texten, die zum Teil gelöscht wurden, sondern auch darin, wo und mit wem sie gemeinsam auftreten. Ricardo Leppe ist ein beliebter Gast bei einschlägig bekannten Online-Sendern wie kla.tv des Sektenführers Ivo Sasek oder bei ähnlich problematischen Sendern wie AUF1 oder Mittelerde-TV sowie bei Kongressen und Seminaren, wo auch Beiträge zu GNM, QAnon, Anastasia sowie geschichtsrevisionistische Inhalte präsentiert werden, etwa vom Reichsbürger und Antisemiten Hans-Joachim Müller.

Die Einflussnahme auf das Bildungssystem erfolgt primär durch den kontinuierlichen Ausbau eines alternativen Bildungsangebotes, dessen Umsetzung durch die wachsende Online-Präsenz des Vereins, aber auch durch die Vernetzung von Eltern untereinander unter dem Dach der WSF Gruppen vorangetrieben wird. Vordergründig präsentieren die Brüder in ihren oft in idyllischer Landschaft gedrehten Videos eine alternative Antwort auf aktuelle bildungs- und gesundheitspolitische Debatten. Dabei nutzen sie die Corona-Pandemie geschickt zur Vermarktung ihrer „Schule der Zukunft“. Dass mit der Löschung problematischer Inhalte keine Auseinandersetzung mit der dahinterstehenden antisemitischen und verschwörungsideologischen Ideologie einherging, wird zwischen den Zeilen deutlich, etwa wenn Ricardo Leppe immer wieder darauf verweist, dass er aufgrund der „Zensur“ (noch) nicht offen sprechen könne. Der den Konzepten von Anastasia und GNM inhärente Antisemitismus wird genauso wenig thematisiert wie die kritische Berichterstattung über die Aktivitäten des Vereins. Auf letztere wird weitestgehend mit Spott und Übertreibung reagiert bzw. wird die Kritik dazu instrumentalisiert, sich bewusst als Opfer „des Systems“ zu inszenieren. Die eigenen – auch ideologisch begründeten – Interessen werden geleugnet, stattdessen tue man alles nur „für die Kinder“.Footnote 50

5 Zusammenfassende Überlegungen zu Homeschooling in ideologisch problematischen Kontexten

Während manche Gruppierungen, wie etwa die Gemeinde Gottes (Wiederherstellung) in Vorarlberg, aus ihren fundamentalistischen Einstellungen keinen Hehl machen und auf den ersten Blick als sehr konservative, religiöse Gruppierung zu erkennen sind, sind die problematischen Inhalte bei anderen, etwa bei rechtsesoterischen Gruppen und Vereinen, oft weniger offensichtlich: Es wird mit kindgerechten Lehr- und Lernmethoden und Abenteuern in der Natur geworben, ohne zunächst die ideologischen Hintergründe offenzulegen. Die problematische Ideologie ist jedoch dennoch vorhanden und äußert sich sowohl in einer Medizin- und Wissenschaftsfeindlichkeit als auch in einer staatsfeindlichen und verschwörungsideologischen Haltung, in der diese Kinder erzogen werden.

In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass die Behörden in solchen Fällen nur sehr eingeschränkte Kontrollrechte und wenig Handhabe besitzen und die Entziehung des Öffentlichkeitsrechts selbst für massiv in die Kritik geratene Einrichtungen – wie beispielsweise der Salzburger Weinbergschule am ZachhiesenhofFootnote 51 – zu lange dauert. Die Kinder- und Jugendanwaltschaften äußerten sich in Folge dieser Vorgänge in Salzburg in einem gemeinsamen „Positionspapier zum häuslichen Unterricht und zum Unterricht an einer Privatschule ohne Öffentlichkeitsrecht“:

Jede Art von geschlossenem System trägt ein Gefährdungspotential in sich. So mussten wir in der Praxis feststellen, dass leider auch häuslicher Unterricht, der in Einzelfällen durchaus berechtigt sein kann, dazu missbraucht wurde, Kinder von ihrer Umwelt zu isolieren, mit einseitigen Informationen zu manipulieren und an Körper und Seele zu verletzen. Das kann zwar auch anderen Kindern widerfahren, doch ist bei zu Hause unterrichteten Kindern das Risiko höher, dass Außenstehende von ihrem Leid nichts mitbekommen.Footnote 52

Die Kinder- und Jugendanwaltschaften fordern daher bereits seit Jahren, Privatschulen und häuslichen Unterricht, der in sektenähnlichen Gemeinschaften stattfindet und/oder fragwürdige Inhalte vermittelt, wie wissenschafts- oder staatsfeindliche Haltungen, Kreationismus, religiösen Fundamentalismus oder Verschwörungstheorien, und/oder nach fragwürdigen Konzepten wie z. B. nach „Schetinin“ oder „Anastasia“ unterrichtet, besser zu kontrollieren bzw. einzuschränken.Footnote 53 Auch die Volksanwaltschaft sieht die Notwendigkeit gesetzlicher Lenkungsmaßnahmen.Footnote 54

Durch die Implementierung des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von KindernFootnote 55 im Jahr 2011 hat das Kindeswohl einen verfassungsrechtlich abgesicherten Stellenwert. Die Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien hat zuletzt einen konkreten Vorschlag für eine rechtliche Neuregelung des häuslichen Unterrichts unterbreitet.Footnote 56 Dieser Vorschlag ergänzt die bisherige Abwägung zwischen den Erziehungsrechten der Eltern und der Schutzpflicht des Staates um die eigenständigen Rechte von Kindern und Jugendlichen, etwa ihr umfassendes Recht auf Bildung, aber auch auf andere wichtige (Sozialisations‑)Funktionen der Schule.Footnote 57 Vorgeschlagen wird – neben einer kürzlich eingeführten Vorverlegung der Fristen zur Abmeldung – eine ex-ante Prüfung, bei der das Kindeswohl im Fokus steht, die Partizipation des betroffenen Kindes bzw. Jugendlichen ermöglicht und nach dem KindeswohlvorrangigkeitsprinzipFootnote 58 entschieden wird. Das würde bedeuteten, dass Homeschooling-Settings von den Behörden nicht nur während des Schuljahres, sondern bereits bevor das Recht auf häuslichen Unterricht gewährt wird, gründlich überprüft werden können.

Durch die Abmeldung zum häuslichen Unterricht fällt die informelle soziale Kontrolle, die in der Schule normalerweise besteht, völlig weg. Sowohl beim „Reflexionsgespräch zum Leistungsstand“ als auch bei der Externistenprüfung liegt der Fokus rein auf der Beurteilung der kognitiven Entwicklung des Kindes bzw. dessen schulischen Leistungen. Expert:innen und BetroffeneFootnote 59 fordern, dass auch die psychosoziale Entwicklung der Kinder ausreichend berücksichtigt werden sollte. Eine Miteinbeziehung der Schulärzt:innen könnte ebenfalls sinnvoll sein, um sich ein umfassendes Bild von der Situation des Kindes bzw. des Jugendlichen – in psychischer, sozialer und körperlicher Hinsicht – zu machen.

Homeschooling in ideologisch problematischen Settings muss von den Behörden kontrolliert werden können, will man dem Prinzip, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen das Wohl des Kindes stets vorrangig ist, Geltung verschaffen. Dabei geht es nicht darum, alternative Lebensentwürfe zu beschneiden und Aussteigertum zu kriminalisieren. Auch berechtigte Kritik an unserem Schulsystem soll hier keinesfalls diskreditiert werden. Doch das Recht auf häuslichen Unterricht wird von bestimmten Gruppierungen mit ideologisch hochproblematischen Einstellungen bis hin zu fundamentalistisch-extremistischen Haltungen gezielt missbraucht. Die Kinder, die in solchen Settings aufwachsen, werden indoktriniert, in einer massiven Gegenhaltung zur Gesellschaft und mit Verschwörungserzählungen gegen Medizin, Staat und Wissenschaft erzogen, sei es in strengen und bibeltreuen christlichen Gemeinschaften, sei es in völkisch-rechtsesoterischen Schulinitiativen und Lerngruppen. Den Schulbehörden, aber auch der Gesellschaft insgesamt sollte das nicht gleichgültig sein.