FormalPara Sammelrezension
  1. 1.

    Kupfer, A. (2015). Educational Upward Mobility. Practices of Social Changes. London, New York: Palgrave Macmillan.

  2. 2.

    Miethe, I., Soremski, R., Suderland, M., Dierckx, H. & Kleber, B. (2015). Bildungsaufstieg in drei Generationen. Zum Zusammenhang von Herkunftsmilieu und Gesellschaftssystem im Ost-West-Vergleich. Opladen: Verlag Barbara Budrich.

  3. 3.

    Spiegler, T. (2015). Erfolgreiche Bildungsaufstiege. Ressourcen und Bedingungen. Weinheim: Beltz.

Die Tatsache, dass im vergangenen Jahr gleich drei Bücher zum Thema Bildungsaufstieg erschienen sind, lässt auf ein verstärktes Interesse für ein Thema schließen, das bisher nicht so sehr im Fokus der soziologischen Bildungsforschung war. Dieses späte Interesse bzw. das bisherige (relative) Desinteresse ist eigentlich unverständlich, liefert doch gerade das akademische Feld und die Schule in Form von Lehrpersonen genügend Beispiele für erfolgreichen Bildungsaufstieg (BA, englisch: educational upward mobility). Und, rein statistisch gesehen, sind es (in Deutschland, vgl. Spiegler 2015, S. 50) doch immerhin 40 bis 50 % der Hochschul-Studierenden (je nach Definition), die aus einem nicht-akademischen Milieu stammen. Sehr wohl thematisiert wird aber in der Soziologie das Thema Bildungsexpansion.Footnote 1 Was diese drei Neuerscheinungen jetzt erfreulicher Weise liefern, ist die Fortführung dieser Soziologie der Bildungsexpansion auf einer individuellen Ebene, quasi die „Subjektivierung“ von Bildungsexpansion. Um es präziser zu sagen: Eigentlich nur für zwei der drei Studien, Miethe u. a. und Kupfer, hat diese Charakterisierung unbedingte Gültigkeit, für die dritte Studie (Spiegler) gilt das auf Grund methodischer Einschränkungen nur bedingt. Was alle drei Studien verbindet, ist die Einbettung des Themas BA in das praxistheoretische Konzept des Habitus und die methodische Präferenz für narrative Interviews.

Was verstehen die drei Studien unter Bildungsaufstieg? Es geht hier tatsächlich um den ganz großen Sprung vom Arbeiter- und Bauernmilieu (bzw. der working class) in die höchste Kategorie, den erfolgreichen Abschluss eines Universitätsstudiums. Bei Miethe u. a. nennt sich das „weite Aufstiege“; bei Spiegler ist von „bedeutsamen Bildungsaufstiegen“ die Rede.

Noch eine Vorbemerkung: Für österreichische LeserInnen ist besonders die (englischsprachige) Studie von Kupfer interessant. Der Großteil der verarbeiteten Interviews stammt aus Österreich.

1 Spiegler: Eine Theorie des Bildungsaufstiegs

Spiegler wählt als Sample einen Jahrgang der Stipendiaten der Studienstiftung des deutschen Volkes, deren Eltern weder über einen Hochschulabschluss noch über die Hochschulberechtigung verfügen. Diese Studienstiftung stellt, vereinfacht gesagt, eine Art Hochbegabtenförderung dar, Voraussetzung für ein Stipendium ist ein „Eins-Komma-X“- Abitur bzw. entsprechend exzellente Leistungen im zweiten Bildungsweg (insgesamt 58 ausgewertete Fälle). Mit Hilfe dieses Interview-Samples bzw. an Hand der inhaltsanalytisch bearbeiteten Transkriptionen arbeitet Spiegler die Bedingungen und Ressourcen für einen erfolgreichen BA heraus. Der Grundgedanke seiner „Theorie des Bildungsaufstieges“ (Spiegler 2015, S. 231 ff.) liegt also in der Unterscheidung zwischen Bedingungen und Ressourcen. Dabei müssen die Bedingungen in jedem Fall erfüllt sein, damit BA zustande kommt; unter Ressourcen versteht Spiegler alle jene Persönlichkeitsmerkmale, Einstellungen, Unterstützungen und strukturelle Gegebenheiten, die einen substanziellen Beitrag zur Herstellung der Bedingungen leisten (a. a. O., S. 233).

Die Bedingungen benennt Spiegler einfach mit Können, Wollen und Dürfen. Das Können zeigt sich, vereinfacht gesagt, in entsprechenden Schulleistungen, das Wollen in der Bildungsaspiration und das Dürfen in der Unterstützung bzw. Nichtunterstützung durch die Familie bzw. im Herkunftsmilieu. Dabei trägt das Dürfen bzw. Nicht-Dürfen am meisten zur Differenzierung dieses Samples bei. Spiegler unterscheidet zwischen „BA aufgrund der Familie“ und „BA trotz der Familie“ (a. a. O., S. 229 ff.). Er entwickelt auf der Grundlage unterschiedlicher Ausprägungen des Könnens, Wollens und Dürfens eine Typologie mit sehr einprägsamen Namen: da wäre zuerst der „Expeditionsteilnehmer“, der, bestens ausgestattet von der Familie, sich auf den Weg in die höhere Bildung begibt und dabei in allen drei Dimensionen bestens versorgt ist (Können +, Wollen +, Dürfen +); der „Backpacker“ (K+, W+, D+/—), der im Vergleich zum Expeditionsteilnehmer mit leichterem Gepäck unterwegs ist. Seine Familie kann ihn zwar nicht aktiv unterstützen, steht aber dem Unternehmen offen bis wohlwollend gegenüber. Und schließlich der „Auswanderer“ (K+/—, W+/—, D—), der den Weg gegen den Widerstand des Herkunftsmilieus antreten muss; bzw. der zusätzlicher Ressourcen bedarf, um den Weg zur höheren Bildung überhaupt in Erwägung zu ziehen. Diese oft langen Suchwege der Auswanderer, z. B. über den zweiten Bildungsweg, angedeutet durch das +/— beim Können und Wollen, veranlassen Spiegler zu einer weiteren Differenzierung des Typs „Auswanderer“. Er unterscheidet zwischen „fernwehgesteuert“ (K+, W+, D—), das sind diejenigen, die schon in der Schule eigentliche alle Voraussetzungen hatten, wo aber das Herkunftsmilieu ein Universitätsstudium undenkbar erscheinen ließ, „verzögerten“ (K+, W—, D—) und „verkannten“ (K—, W—, D—) Auswanderern.

Um die (unterschiedlichen) Ressourcen zu illustrieren, soll hier kurz das Beispiel des „verkannten Auswanderers“ dargestellt werden (a. a. O., S. 205). Dieser Typ ist gekennzeichnet durch folgende Bedingungen: spätes Können, spätes Wollen und (ursprünglich) kein Dürfen. Die Ressourcen sind in diesem Fall primär um das Wollen angeordnet. Zuerst werden Fleiß und Erfolgserlebnisse genannt, also jene Ressourcen, die zum nachholenden Erwerb des Könnens (Hochschulberechtigung) geführt haben. Das Wollen wird unterstützt durch Förderer (im beruflichen und privaten Bereich), durch Orientierungspersonen und Ratgeber, durch Unzufriedenheit mit dem Beruf und schließlich durch Änderung der Rahmenbedingungen. In diesem Falle spielen die Einschränkungen und Grenzen des Herkunftsmilieus keine so große Rolle mehr, da bereits ein Alter erreicht ist, in dem Selbständigkeit gegeben ist.

Ganz anders die Ressourcen, auf die ein „Expeditionsteilnehmer“ zurückgreifen kann (a. a. O., S. 126). Hier sind die Ressourcen primär auf das Können gerichtet: Förderprogramme, Tugenderziehung und Schulpassung. Auch hier spielen Fleiß und Erfolgserlebnisse, hier eher in Form von Potentialnutzungserwartungen, eine Rolle. Die familiäre Bildungsorientierung drückt sich in entsprechender Förderung und Begleitung des schulischen Lernens aus.

Diese Beispiele zeigen die große Stärke von Spieglers Arbeit: eine plastische Sprache und Begrifflichkeit, eine klare und leicht nachvollziehbare Systematik. Das Buch entwickelt ein theoretisches und methodisches Repertoire, das auch schon für Studierende in Bachelor-Studien nachvollziehbar und anregend sein dürfte. Wir können uns sehr gut Bachelor-Arbeiten (in der Lehrerbildung oder in bildungswissenschaftlichen Studien) vorstellen, die biografische Interviews in ähnlicher Weise auswerten.

Etwas weniger überzeugend ist unserer Meinung nach der dritte Teil gelungen, in dem die Bourdieu’schen Konzepte (Habitus bzw. Habitus-Struktur-Konflikt, Habitus-Modifikation usw.) an jenen Interviewpassagen überprüft werden, in denen die InterviewpartnerInnen ihre aktuellen Erfahrungen im Studienbetrieb und in den Seminaren der Studienstiftung schildern. Hier erlebt die Mehrheit Momente der Identifikation mit dem „neuen“ Milieu, was insofern nicht überraschend ist, als zwei Drittel ja dem Typus der „Expeditionsteilnehmer“ (und „Backpacker“) entsprechen, also schon in der Schule, konkret im Gymnasium, entsprechend vorbereitet wurden. Die wirklichen Identitätskonflikte auf Grund mangelnder Passung erleben die „Auswanderer“. Aber diese grobe Vereinfachung wird natürlich der Genauigkeit und Differenziertheit, die Spiegler auch in diesem Teil vorlegt, nicht gerecht. Es zeigt sich aber unserer Meinung nach, dass Spiegler mit seinem punktuellen, zeitlich beschränkten Sample hier an Grenzen stößt, die theoretisch bedeutsam sind und dazu führen, dass bei Spiegler die Beziehungen zu den gesellschaftlichen Makrostrukturen „außen vor“ bleiben.

2 Miethe u. a.: Politische Gelegenheitsstrukturen

Diese (historischen und theoretischen) Beschränkungen treffen auf Miethe u. a. und Kupfer nicht zu: Kupfer sieht in ihrer Studie de facto ein ganzes Jahrhundert abgedeckt (Kupfer 2015; S. 2), Miethe u. a. (2015) bearbeiten in ihrer Studie drei „Bildungsgenerationen“ in Ost- und Westdeutschland nach 1945 (s.w.u.). Miethe u. a. und Kupfer sehen die Aufgabe der soziologischen Forschung darin aufzuzeigen, wie neben den individuellen, familiären und institutionellen Ressourcen und Strategien auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungen wirksam werden, wenn BA stattfindet. Miethe u. a. gehen in ihrem „Problemaufriss“ explizit auf Spiegler (und andere Arbeiten mit ähnlichem methodischem Zuschnitt) ein und nennen deren „Zurückhaltung gegenüber den gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen … erstaunlich“ (Miethe u. a. 2015, S. 12/13).

Die vorliegende Studie baut auf Miethes Arbeit „Bildung und soziale Ungleichheit in der DDR“ (2007) auf und überträgt den dort entwickelten Ansatz, der das Bourdieu’sche Habituskonzept mit der Theorie der „politischen Gelegenheitsstrukturen“ verbindet, auf eine vergleichende bzw. übergreifende Studie der Entwicklung in Ost- und Westdeutschland. De facto liefern sie ein universell anwendbares Modell zur Erforschung von Bildungsaufstieg, das alle drei Ebenen, die Mikroebene der individuellen und familiären Strategien, die Mesoebene der institutionellen Gegebenheiten und die Makro-Ebene der „politischen Gelegenheitsstrukturen“ gültig modelliert. Dieses letztgenannte Konzept wurde vom amerikanischen Soziologen S. Tarrow übernommen, der damit ein Analyseinstrument vorgelegt hat, das die Bedingungen modelliert, unter denen „soziale Bewegungen“ mit der Erfüllung ihres Anliegens rechnen können.

Dieser Ansatz veranlasst die StudienautorInnen zuerst einmal die gesamtgesellschaftlichen und bildungspolitischen Gelegenheitsstrukturen des Untersuchungszeitraums genauer unter die Lupe zu nehmen. Aus dieser Analyse ergibt sich eine Periodisierung der Nachkriegsentwicklung in drei Perioden: eine erste frühe Periode (1945 bis in die frühen 1960er-Jahre), ein zweite Periode der 60er und 70er-Jahre, und eine dritte Periode bis in die Mitte der 90er-Jahre. Die Studie endet mit der Wiedervereinigung Deutschlands bzw. berücksichtigt auch zumindest den Beginn der mehr oder weniger „vereinigten“ politischen Gelegenheitsstrukturen. Die drei Perioden zeigen sich für Ost und West unterschiedlich: Während die frühe Periode in der DDR die Hoch-Zeit der „gegenprivilegierenden Bildungspolitik“ war (z. B. Arbeiter- und Bauernfakultäten!), beherrschen in der BRD eher restaurative Tendenzen die Bildungspolitik. In den 60er und 70er-Jahren herrscht im Westen die Phase der Bildungsexpansion mit entsprechendem Ausbau der für BA förderlichen Gelegenheitsstrukturen. Im Osten endet die gezielte Förderung der Arbeiter- und Bauernkinder bzw. der Fokus der Politik richtet sich mehr auf die Förderung von Frauen. In der letzten Periode, die sich im vereinigten Deutschland fortsetzt, steht die ökonomisch begründete Kürzung von Bildungsinvestitionen im Vordergrund; z. B. die Kürzung von Stipendien u. ä. Es kann nicht mehr von förderlichen politischen Gelegenheitsstrukturen gesprochen werden.

Diese Periodisierung führt zur Auswahl des Untersuchungssamples, Miethe u. a. sprechen von drei „Bildungsgenerationen“ bzw. eigentlich von fünf, da die ersten beiden Perioden ja nach Ost und West differenziert sind. Insgesamt wurden 85 Interviewpartner ausgewählt, mit denen, wie schon bei Spiegler, narrative Interviews geführt wurden. Die Interviewtranskripte werden aber, anders als bei Spiegler, nach der Methode der „theorieorientierten Fallrekonstruktion“ analysiert, einer Weiterentwicklung der hermeneutischen, sequenzanalytischen Biografie-Rekonstruktion, wie sie G. Rosenthal für die Rekonstruktion von Familien- und Migrationsbiografien entwickelt hat. Der aufwändige Analyseprozess führt zu vier Typen, die sich sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland nachweisen lassen:

  1. 1.

    der Typus „Bildungspolitische Welle“,

  2. 2.

    der Typus „Pragmatische Nutzung“,

  3. 3.

    der Typus „Sozialer Wandel“,

  4. 4.

    der Typus „Institutionelle Prozessierung“.

Schon an dieser Namensgebung zeigt sich der Unterschied zur Spiegler’schen Typologie: Hier wird die politische Gelegenheitsstruktur thematisiert, bei Spiegler die individuelle Betroffenheit bzw. die familiäre Strategie. Die Vorstellung der Typen geht jeweils von einem vollständig rekonstruierten Fall aus. Diese Rekonstruktion beinhaltet natürlich auch die entsprechende historische und politische Kontextualisierung. Diese Darstellungen sind entsprechend umfangreich, aber absolut spannend zu lesen. Redaktionell als „Kästen“ gestaltete Kurzdarstellungen zu regionalen und historischen Besonderheiten, z. B. zu den „Arbeiter- und Bauernfakultäten“ in der frühen DDR (Miethe et al. 2015, S. 107), sind hilf- und lehrreich. Am Schluss jeder Typendarstellung folgt eine komparative Analyse, bei der auf vergleichbare Typus-spezifische Befunde in anderen Fällen verwiesen und damit die Qualifizierung als Typus gerechtfertigt wird.

Wenn hier ganz kurz auf die vier Typen eingegangen werden soll, so thematisiert der Typus I „Bildungspolitische Welle“ gewissermaßen einen „massenhaften“ und von Staat und Gesellschaft gewollten BA. Ein solcher trifft in der Frühphase der DDR und in der Phase der Bildungsexpansion im Westen zu. Ein wesentliches Merkmal dieses Typus ist, dass sich die Betroffenen als Teil einer sozialen Bewegung erleben, also sich des gesellschaftlichen Charakters ihres individuellen Aufstiegs sehr wohl bewusst sind.

Der Typus II „Pragmatische Nutzung“ zeichnet einen eher „beiläufig passierten“ BA, der auf einer gut entwickelten Bildungsinfrastruktur (seit den 70er-Jahren) basiert. Im dargestellten Fall spielt aber ökonomischer Druck bzw. ein schwieriger Arbeitsmarkt (in den 90er-Jahren) eine gewichtige Rolle. Unter diesen Bedingungen wird das Universitätsstudium für die begabte junge Frau aus dem Arbeitermilieu zur realistischen und gewünschten Option, das schließlich bis zum Doktorat fortgesetzt wird. Der Unterschied zu Typus I besteht darin, dass diese BildungsaufsteigerInnen sich nicht als Teil einer sozialen Bewegung sehen (können).

Der Typus III „Sozialer Wandel“ repräsentiert jene Mechanismen, die mit dem unscharfen Begriff des „Fahrstuhleffekts“ angesprochen werden. Hier wird ein sehr eindrucksvolles Fallbeispiel vorgestellt, das zeigt, dass solche sozialen Aufstiege aufgrund ökonomischen und technologischen Wandels doch entsprechender familiärer Ressourcen und strategischer Entscheidungen bedürfen, um schlussendlich als Bildungsaufstieg zu gelingen. Im konkreten Fall wird dieser soziale Wandel bis ins 19. Jahrhundert, bis zur Großelterngeneration des Probanden, eines Universitätsprofessors im Ruhrgebiet, zurückverfolgt.

Der Typus IV „Institutionelle Prozessierung“ schildert einen Aufstieg im Rahmen ziemlich enger institutioneller Grenzen, der aber individuell doch als Autonomiegewinn erlebt wird. Es handelt sich hierbei um weltanschaulich geprägte Institutionen wie die Katholische Kirche (oder die SED).

Im Schlusskapitel fassen die AutorInnen schließlich die theoretischen Grundannahmen noch einmal zusammen und erweitern diese. So wird das Konzept der „politischen Gelegenheitsstruktur“ erweitert bzw. präzisiert und nun genauer als „gesamtgesellschaftliche, bildungspolitische, institutionelle und fachspezifische Gelegenheitsstruktur“ vorgestellt. Im Zentrum dieser Studie steht das Zusammenspiel sozialer Dispositionen und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Dabei rekurrieren sie, auf der Seite des Individuums, neben dem „Habitus“ bzw. der „Habitus-Transformation“, besonders auf das ebenfalls von Bourdieu eingebrachte Konzept des „Anlage-Sinns“. Dieser steht sozusagen für die Fähigkeit zur positiven Nutzung von Ressourcen. Damit ist genau die Verbindung der individuellen Dispositionen mit den „Gelegenheitsstrukturen“ auf der Meso- und Makro-Ebene angesprochen.

3 Kupfer: Practices of Social Changes

Im Vergleich zu den sehr systematisch und begriffsbildend vorgetragenen Studien von Miethe u. a. und Spiegler hat Kupfers Studie einen eher essayistischen Charakter; sagen wir präziser, sie liefert eine Studie (basierend auf insgesamt 18 biografischen Interviews, zwölf aus Österreich und sechs aus England) mit essayistischen Elementen. Der Schreibhabitus der Autorin wirkt engagierter, an manchen Stellen geradezu leidenschaftlich. Wir denken da besonders an die bildungstheoretischen Überlegungen, die sie in einem Exkurs zur Rolle der „Suche nach Wahrheit“ (truth-seeking) vorlegt (Kupfer 2015, S. 161 ff.). Diese Suche nach Wahrheit hat sie als strukturierendes Moment in drei Interviews mit PartnerInnen gefunden, deren Kindheit von besonders tragischen Umständen belastet war. Für diese hatten Orte des Wissens wie Bibliotheken, Archive usw. mit ihren klar erkenntlichen Strukturen, die aber erst entschlüsselt werden müssen, was z. B. auch für die Mathematik gilt, geradezu therapeutische Funktion. Für sie war der Eintritt in die Universität ein Moment der Befreiung durch die Möglichkeit der kognitiven Bearbeitung, durch die Distanzierung, die abstrakte Konzepte verlangen. Auf BA bezogen bzw. auf eine entsprechende Gestaltung von universitären Lehrgängen formuliert Kupfer dann z. B. folgenden Satz: „The more learning locations are designed to seek truth, the less there occupants’ origin and social, economic, and cultural background matters. Oder: … the less professors and lecturers are interested in their positions, and the more they are interested in conveying their subject content, the more likely it is that social, economic, and cultural „strangers“ will pose a question and participate in a mutually enriching discussion.“ (a.a.O, S. 162).

Hauptziel von Kupfers Studie, so der dominierende Eindruck beim Lesen, ist es, den „Habitus“ endgültig vom Determinismus-Vorwurf zu befreien und aufzuzeigen, dass das Konzept Habitus – und damit die gesellschaftskritische Position, für die Bourdieu steht – auch als concept of change genutzt werden kann. BA wird bei Kupfer als eine besonders markant ausgeprägte Form des habitus change gesehen. Und das heißt nicht mehr und nicht weniger als change of social milieu, sense of belonging, and class (a. a. O., S. 166), eine Vorstellung, die ja der traditionell deterministischen Interpretation des Habitus schlicht widerspricht.

Kupfer macht explizit einen Unterschied zwischen social change und societal change, und bezeichnet mit social change jenes Konzept, das den gesellschaftlichen Wandel mit der agency und den Praktiken des Einzelnen verknüpft, bzw. umgekehrt: Sozialer Wandel bedarf der konkreten Praktiken der Einzelnen, und daher lautet der Untertitel des Buches: Practices of Social Changes. (Darauf spielt unser Titel „Bildungsaufstieg als sozialer Wandel“ an.) Ein Beispiel liefert Kupfer in den schon angesprochenen beeindruckenden Passagen zum truth-seeking (a. a. O., S. 142 ff.): Dort erinnert sich die unter ziemlich trostlosen Verhältnissen aufgewachsene Frau (Vater Alkoholiker, Mutter distanziert und prononciert „bildungsfeindlich“) an ihren Vater, der aufgrund ihrer außergewöhnlichen Schulfähigkeiten einmal das Stichwort „Universität“ fallen lässt, ohne dass die Tochter zu diesem Zeitpunkt irgendetwas damit assoziieren konnte. Für die Tochter stellte dieser Hinweis aber eine wichtige Orientierung dar. Die practice besteht in diesem Fall darin, dass einerseits der Vater in eine Zukunft zeigt, die dadurch denkbar wird, und andererseits die Tochter diese Orientierung bis zum tatsächlichen Eintritt in die Universität im Gedächtnis (be)hält.

Im Hauptteil ihrer Studie liefert Kupfer also insgesamt acht areas of social circumstances crucial for social upward mobility (a. a. O., S. 57 ff.):

  1. 1.

    socialisation;

  2. 2.

    changes in objective structures;

  3. 3.

    lack of actualisation of habitus;

  4. 4.

    consciousness;

  5. 5.

    pedagogical effort;

  6. 6.

    gender;

  7. 7.

    educational institutions’ support for inclusion;

  8. 8.

    truth-seeking.

Die areas 2 bis 5 wurden schon von Bourdieu selbst genannt (vgl. a. a. O., S. 39)Footnote 2, welche von Kupfer auf Grund Ihrer Biografie-Rekonstruktionen um weitere vier areas ergänzt werden. Unter socialisation werden Bedingungen wie materielle Sicherheit der Familie, liebevoller Umgang und Bildungsorientierung zusammengefasst; als Beispiel für change of objective structures werden politische Rahmenbedingungen genannt, die die ökonomische Situation von Arbeiter-Familien verbessern; für lack of actualisation könnte z. B. auch der Typus „Sozialer Wandel“ bei Miethe genannt werden; unter pedagogical effort sei z. B. auf die in allen drei Studien wiederholt betonte Bedeutung des Engagements von LehrerInnen verwiesen. Interessant ist schließlich die Bedeutung von gender. Neben dem evidenten Fall der Frauenförderung ab den 1970er-Jahren verweist Kupfer, ebenso wie Miethe u. a. bei ihrem Typus III, auf die Tatsache, dass die institutionellen Gelegenheitsstrukturen, zumindest bis in die 70er-Jahre, ausschließlich Männern zugutekamen. Diese institutionellen Gelegenheitsstrukturen werden bei Kupfer unter dem Titel educational institutions’ support angesprochen, und enthalten primär einmal die Institutionen des Zweiten Bildungswegs, in Österreich auch die BHS als eine zur Matura führenden Schule, die gezielt nicht-akademische Milieus ansprechen soll.

Auch Kupfer verweist auf die Bedeutung von weltanschaulichen Institutionen. Z. B. wird in einem Interview auf die Rolle der katholischen Kirche in Österreich nach dem zweiten Weltkrieg hingewiesen, die als ein Moment der kulturellen und weltanschaulichen Öffnung erlebt wurde. Ebenso angesprochen werden die für Österreich wichtigen Unterstützungsstrukturen im sozialdemokratischen Milieu.

4 Schluss

Als überraschend resümiert Kupfer in ihrer abschließenden Einschätzung, dass sie eigentlich keine wesentlichen Unterschiede in den englischen und österreichischen Bedingungen für BA finden konnte, und das trotz der markanten Unterschiede der beiden Gesellschaften, was Schulsystem, Arbeitsmarkt- und sozialstaatliche Strukturen betrifft. Auch hier herrscht also Übereinstimmung mit Miethe u. a., die ja gleichartige Bedingungen für BA in West- und Ostdeutschland festgestellt haben. Tatsächlich dürfte also mit der Weiterentwicklung des Bourdieu’schen Konzepts des Habitus als concept of change, verbunden mit dem methodischen Instrumentarium der biografischen Rekonstruktion (nach Rosenthal), wie es die Studien von Miethe u. a. und Kupfer verwenden, ein theoretisches Modell und eine entsprechende Methodologie vorliegen, welche universelle Gültigkeit, zumindest im Rahmen „westlicher“ Gesellschaften, beanspruchen dürfen.

Nimmt man noch die Bedingungen und Ressourcen des Könnens, Wollens und Dürfens (Spiegler) dazu, dann liefern die drei Studien tatsächlich eine umfassende Theorie des Bildungsaufstiegs. Mit ihnen wird ein theoretischer und methodologischer Standard vorgelegt, der aus unserer Sicht kaum noch erweiterungsfähig ist. Alle drei können und müssen als hochinteressante und ausgesprochen lesenswerte Beiträge zum bislang in der Bildungssoziologie unterbelichteten Thema BA gewürdigt werden: Spieglers ganz große Qualität ist die plastische Sprache und die präzise Begrifflichkeit zur Theoretisierung der subjektiven Seite des Bildungsaufstiegs. Miethe u. a. liefern mit dem adaptierten Konzept der „Gelegenheitsstrukturen“ eine elegante und tragfähige Brücke zwischen der makro- und mesostrukturellen Ebene und dem Habitus bzw. dem „Anlage-Sinn“ auf der Seite des Individuums. Die Darstellung des gesellschaftlichen und politischen Wandels der beiden deutschen Staaten und die daraus abgeleiteten Bildungsgenerationen mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen für BA sind ein großartiges Beispiel für theoriegeleitete und historisch-politisch informierte sozialwissenschaftliche Forschung. An Kupfer bewundern wir die Leidenschaft, mit der sie ihr Thema verfolgt. Sie hat sich am meisten „hinausgelehnt“ bzw. „theoretisches Risiko“ genommen und, auf einer vielleicht nicht ganz so sicheren empirischen Basis wie Spiegler und Miethe u. a., konsequent an ihrer Idee, den Habitus als concept of change zu etablieren, gearbeitet.

Noch eine kurze Nachbemerkung: Was Österreich betrifft, so legt Kupfer, nach unserem Wissen zum ersten Mal, eine qualitative Studie vor, die die soziale Wirkung von Bildungsreformen, konkret z. B. den Ausbau der BHS ab den 1960er-Jahren und ihre positive Wirkung auf die Bildungsaufstiegschancen von Jugendlichen aus dem Arbeitermilieu nachzeichnet. Es sei erlaubt, hier das Desiderat anzuschließen, diese ersten Ansätze bei Kupfer weiterzuführen, um, nach dem Vorbild von Vester (2005), auch für Österreich eine Geschichte der Bildungsexpansion zu schreiben, die genau nachzeichnet, für welche Schichten und Milieus welche jeweilige Bildungsreform Vor- und Nachteile bzw. Öffnungen und Schließungen gebracht hat.