Hassliebe: So lässt sich das Verhältnis zwischen Automobilherstellern und Zulieferern derzeit treffend bezeichnen. Probleme mit den Lieferketten gab es zwar schon immer, aber sie verschärften sich extrem während der Null- Covid-Politik der chinesischen Regierung. Weil die Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten entlang der Wertschöpfung in hohem Maße asymmetrisch geprägt ist, bedarf es einer Kehrtwende.

Das große Entsetzen in den Vorstandsetagen deutscher Automobilhersteller folgte der Zuversicht auf steigende Umsatzzahlen für das Jahr 2020 erst Wochen nach den ersten Fieberschmerzen asiatischer Wanderarbeiter. Sozusagen über Nacht mangelte es plötzlich an vielen technischen Produkten - vor allem aber hochintegrierte Halbleiterbausteine fehlten. Wegen der Covid-19-Infektion war nicht nur ein großer Teil der Belegschaften erkrankt: Infolge der anfangs rigorosen Vorgehensweise zur Eindämmung der weltweiten Coronapandemie wurden wichtige Produktionsstätten und Häfen Chinas geschlossen.

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© Andreas Burkert

Nicht gleich ersichtlich, aber selbst verbrennungmotorisch betriebene Fahrzeuge benötigen zahlreiche Halbleiter; dieser Umstand zeigt, dass bereits leichte Störungen der Lieferkette zu Problemen in der Produktion führen

Innerhalb weniger Monate führte also ein Virus die gesamte internationale Lieferkettenstrategie ad absurdum und offenbarte, wie störanfällig unter anderem auch der europäische Binnenmarkt ist. Die Folgen sind noch heute spürbar, also drei Jahre nachdem auf einem chinesischen Fischmarkt das Virus ausgebrochen war. Auch wenn für den "Produktionsbetrieb in den europäischen Werken die Lieferketten aus Richtung China aktuell stabil sind", wie uns der Volkswagen-Konzern auf Nachfrage mitteilt, sitzt die Angst vor einem erneuten Lieferlockdown tief.

Gefürchtete Beschaffungsstrategie

Deshalb ist "das oberste Ziel des Volkswagen-Konzerns die Aufrechterhaltung der Lieferketten, um die Auswirkungen auf das Produktionsnetzwerk so gering wie möglich zu halten". Die Wolfsburger beobachten eigenen Angaben zufolge die Entwicklung auf den Weltmärkten sehr genau, "um bei Bedarf gemeinsam mit unseren Lieferanten entsprechende Maßnahmen zu treffen" - eine Verlautbarung, wie sie aus einem Handbuch für das gehobene Management entnommen werden könnte.

Ständiger Preisdruck, analog zum López- Diktat 1993, hart durchgefochtene Effizienzsteigerungen und die Beherrschung von Qualitätseinbußen, aber auch der bisher spektakulärste Konflikt 2016 zwischen Volkswagen und der Prevent-Gruppe zeigen die Machtspielchen klar auf. Damals wollte der Zulieferer im Übrigen eine kräftige Preiserhöhung gegenüber dem OEM durchsetzen. Zwar konnte der Streit beigelegt werden, doch das Vorgehen von Prevent zeigt, wie abhängig selbst Weltkonzerne von scheinbar einfachen Produkten sind. Der Zuliefererstreik brachte zahlreiche Volkswagen-Werke zum Stillstand. Kein Einzelfall. Vor allem aber offenbaren diese Szenarien das strukturelle Problem der stark importabhängigen deutschen Fertigungsbranche.

Asymmetrisches Machtverhältnis

Verschärft wird die Krise der Versorgungssicherheit im Übrigen auch durch das Abschaffen der eigenen Lagerhaltung. Die Just-in-time-Lieferung nahm Zulieferer sodann in die alleinige Verantwortung. Schlimmer noch. Die Automobilhersteller konnten die vereinbarte Liefermenge spontan, vor allem aber günstig stornieren. Die damit zusammenhängenden Probleme mussten allein die Zulieferer lösen, die den Kostendruck dann entsprechend an ihre Subzulieferer weiterreichten. Dass dieses Machtverhältnis damit asymmetrisch aufgesetzt ist, verschärft die Situation für die Zulieferindustrie enorm.

Die vergangenen zwei Jahre haben dies im Extremen offenbart. Während der Coronapandemie wurden beispielsweise weit weniger Fahrzeuge produziert als ursprünglich geplant - die Abrufe und Kalkulationen der Lieferanten fielen in sich zusammen, in der aktuellen weltwirtschaftlichen Lage ein K.-o.-Kriterium. Denn die enorm gestiegenen Kosten für Rohstoffe und vor allem für Energie setzen manchen Unternehmen extrem zu. Ohne einen Namen zu nennen, erklärt Christoph Münzer vom Wirtschaftsverband Industrieller Unternehmen Baden e. V. in einem Interview mit der Wirtschaftswoche [1], wie sich die Situation derzeit beispielshalber bei einem Betrieb für Umformtechnik darstellt.

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© ifo

Trotz erheblicher Probleme bei der Warenbeschaffung hat sich die Geschäftslage der deutschen Automobilhersteller und ihrer Zulieferer im November etwas verbessert: Das geht aus einer aktuellen ifo-Umfrage hervor - im November 2022 stieg der Wert auf minus 2,2 Punkte, nach minus 4,3 im Oktober

Energiekosten können entscheidend sein

Das badische Unternehmen ist für seine Prozesse auf Erdgas angewiesen, sodass sich durch die gestiegenen Marktpreise die Energiekosten auf 8 Millionen Euro verdoppelt haben. Münzer rechnet vor, dass bei einem Umsatz von 100 Millionen Euro die 4-%-Marge schon Anfang des Jahres 2022 weg war. Die Energiepreissteigerungen und auch die potenziellen "Mangellagen bei Energieträgern wie Gas" sieht auch Volkswagen kritisch. Wie uns mitgeteilt wurde, sieht sich der Konzern in diesen Belangen jedoch gut gerüstet. "Auf eine mögliche Gasmangellage und ihre Folgen für das Unternehmen, seine Belegschaft und seine Produktion" hat es sich "intensiv und bestmöglich vorbereitet".

Auch wenn sich die meisten Automobilhersteller gerüstet sehen, auch langanhaltende Krisen zu überstehen: Hilfe für die Zulieferbranche vom Automobilhersteller gibt es laut Münzer nur dann, wenn der "Hersteller einen Zulieferer unbedingt braucht, weil er ihn kurzfristig nicht ersetzen kann", kritisiert er den "Machtmissbrauch". Auf die Frage, warum sich unter den betroffenen Unternehmen kein Unmut breit mache, antwortet der Hauptgeschäftsführer des badischen Wirtschaftsverbands, dass "die Hersteller ihre Lieferanten abstrafen, wenn sie sich kritisch äußern". Auch deshalb konnten wir für diesen Artikel nur Hintergrundinformationen sammeln, die wir zwar im Kontext nutzten, aber nicht im Zusammenhang mit einem Unternehmen erwähnen durften.

Transformation verschärft die Lage

Manche Zulieferer äußern sich prinzipiell aus Wettbewerbsgründen weder zu Lieferantenbeziehungen noch zu Lieferketten. Zahlreichen Gesprächen aber konnte entnommen werden, dass sich trotz der derzeitigen Krise ein Teil der Zulieferer bereits bestens gerüstet sieht, um gerade im Zug der Fokussierung auf alternative Antriebe eine vorteilhaftere Verhandlungsposition einnehmen zu können. Führende Halbleiterunternehmen sind an dieser Stelle ausgenommen, da sie sich dem Diktat der Automobilbranche erst gar nicht unterworfen haben. Vielmehr diktieren sie die Spielregeln.

Das hat teils drastische Folgen für die gesamte Automobilbranche. Noch immer verursacht der Mangel an Halbleitern, wie sie speziell für das Automobil benötigt werden, Kopfzerbrechen bei den Entwicklungs- und Fertigungsleitern. Weil Halbleiter bis vor wenigen Jahren kein typisches Bauteil eines Automobils waren, wurden andere Industrien wie Telekommunikation und Unterhaltungselektronik bevorzugt beliefert. Der Umsatzanteil automobilspezifischer Halbleiter ist zwar in den Büchern der Halbleiterhersteller verzeichnet, doch ist er noch immer sehr gering. Mit der Transformation hin zur Elektromobilität verschärft sich nun die Krise weiter.

Das Bermudadreieck der Halbleiterbeschaffung

Der Bedarf an Chips für batterieelektrische Fahrzeuge wird laut einer Studie der Unternehmensberatung AlixPartners im Vergleich zu aktuellen Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor um den Faktor 10 steigen und dazu beitragen, dass die Kapazitäten nicht ausreichen werden, den gesamten Bedarf der Automobilindustrie zu bedienen [2]. Auch wenn der weltgrößte Auftragsfertiger TSMC im Sommer 2022 mitgeteilt hat, erstmals neue Kapazitäten für Halbleitergenerationen aufzubauen, wie sie die Fahrzeughersteller dringend benötigen, ist die Abhängigkeit von den in Silizium gegossenen Schaltkreisen dennoch hoch.

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© Andreas Burkert

Gegenwärtig besteht weltweit ein Lieferengpass an bestimmten Halbleiterkomponenten; eine Prognose, wann sich der Engpass auflösen wird, ist derzeit nicht möglich

Immerhin sind in einem modernen Elektrofahrzeug einige Tausend Halbleiter verbaut - fehlt auch nur einer, rollt der Wagen nicht vom Band. Die Abhängigkeit von der Geschäftspolitik vornehmlich asiatischer Geschäftsführer, von der Coronapandemie und nun auch von Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine fordert den Einkäufern alles ab, um das Bermudadreieck der Halbleiterbeschaffung sicher zu umschiffen. Bisher gelingt es mehr oder weniger gut. Diese Situation wird AlixPartners zufolge noch bis mindestens 2024 andauern und bis dahin die Pkw-Fertigung ausbremsen.

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© Mercedes-Benz

Trotz geopolitischer Unsicherheiten und einem volatilen Halbleitermarkt sei die weltweite Nachfrage nach Fahrzeugen laut Mercedes-Benz-weiterhin robust; dennoch bleibe aufgrund der instabilen politischen Lage und anhaltender Einschränkungen durch die Covid-19-Pandemie die Gesamtsituation volatil

Lieferkette als vertikal integriertes Modell

Wohl wissend um diese kritischen Abhängigkeiten in der Lieferkette gehen manche Automobilhersteller zu einem vertikal integrierten Modell über, das auch die Mikrochipproduktion einschließt, und "übernehmen die direkte Verantwortung für mehrjährige Verträge mit hohen Stückzahlen, um sicherzustellen, dass es in Zukunft keine Kapazitätsengpässe gibt". Eine krisensichere Lieferkette ist trotz aller vorbeugenden Maßnahmen allerdings schwer umzusetzen. Dennoch lassen sich die Folgen abmildern, wie uns Mercedes-Benz auf Nachfrage mitteilt.

Um das internationale Lieferkettenproblem künftig besser in den Griff zu bekommen, werden auch "Maßnahmen zur Reduzierung von Komplexität innerhalb unseres Produktportfolios" betrachtet - ein kluger Ansatz der Stuttgarter. Denn weniger Bauteile in einem Fahrzeug entflechten nicht nur die Komplexität der Lieferketten. Auch das Handling mit den Varianten ließe sich erheblich vereinfachen. Ein dringend notwendiger Schritt: Bis 2025 könnte die Anzahl der batterieelektrischen Fahrzeugmodelle, "die neben den herkömmlichen Verbrennern existieren, die Anzahl der Varianten pro Automobilhersteller weltweit um 50 bis 100 % erhöhen", schreibt die Unternehmensberatung Oliver Wyman in ihrer jüngsten Analyse [3]. Im Zeitalter der Umstellung auf Elektromobilität habe die Komplexität der Produktprogramme einen Punkt erreicht, an dem die Auswahl an Optionen so groß ist, dass sie unübersichtlich wird.

Komplexität als Wettbewerbsnachteil

Die hohe Variantenzahl und die damit verbundene Komplexität binden laut den Autoren der Oliver-Wyman-Studie 30 bis 40 % aller OEM-Mitarbeitenden. Das führt zu Einschränkungen bei der Umgestaltung des Unternehmens sowie beim Implementieren neuer Technologien und neuer Geschäftsmodelle, während gleichzeitig neue Anbieter in der Automobilbranche die Geschwindigkeit der Transformation erhöhen, so Oliver Wyman. Gelingt es allerdings, die Komplexität zu verringern, profitiert die gesamte Wertschöpfungskette eines Automobilherstellers.

Je früher nun im Produktentwicklungsprozess ein Unternehmen die Komplexität in Angriff nimmt, umso größer sind die Erfolge. Die Gewinne lassen sich der Studie zufolge im Übrigen um 500 bis 750 Euro pro Automobil steigern. Dass sich dabei auch die Lieferketten stabiler ausrichten lassen, ist ein weiterer Vorteil. Für Mercedes-Benz beispielsweise werden solche Maßnahmen und auch "konkretere Vereinbarungen zu Lieferabnahmen, verlängerte Planungszyklen sowie der Aufbau von Sicherheitsbeständen an verschiedenen Stellen der Lieferkette und multiple Bezugsquellen" zur obersten Verpflichtung.

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© Bosch

Eigenen Angaben zufolge kann Bosch in der angespannten Lage - abgesehen von der bekannten Sondersituation des weltweiten Marktengpasses bei Halbleitern, den Unterbrechungen in Russland beziehungsweise der Ukraine sowie den Einschränkungen durch die Covid-19-Pandemie in China in diesem Jahr 2022 - seine Lieferketten aktuell aufrechterhalten

Notfallplan für den deutschen Binnenmarkt

Garanten für ein stets reibungsloses Wirtschaften aber sind die Maßnahmen zur Komplexitätsverringerung nicht. Zu unberechenbar sind die Kipppunkte internationaler Vereinbarungen. Ein Beispiel dazu lieferte im Dezember 2022 wieder China. Nach den Protesten der eigenen Bevölkerung zur Null-Covid-Politik lockerte die Regierung zahlreiche Vorgaben. Es schien, als könne der Produktionsalltag wieder Fahrt aufnehmen. Für eine Entwarnung aber war es zu früh - mit extremem Tempo stiegen die Infektionszahlen. Manche befürchten nun, dass das Gros der Belegschaft erkrankt und dadurch erneut wichtige Produktionsanlagen für die deutsche Automobilwirtschaft stillstehen.

Die Sorge um eine weitere Mangelwirtschaft ist durchaus berechtigt. Auch deshalb arbeitet die Europäische Kommission mit Hochdruck an einem Notfallplan, um den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen im Binnenmarkt im Fall zukünftiger Krisen aufrechtzuerhalten. Dieses sogenannte Single Market Emergency Instrument (SMEI) sieht einen "allgemeinen Rahmen für Krisenprävention und -reaktion sowie zwei Krisenstufen mit möglichen darauf abgestimmten Einzelmaßnahmen vor: einen Wachsamkeits-Modus und einen Notfall-Modus", wie das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) in seiner Verlautbarung [4] von September 2022 erklärte.

Resilienz und Krisenvorsorge

Im Fokus der EU-Kommissionsmitglieder stehen dabei sowohl die Freizügigkeit im Binnenmarkt als auch die Aufrechterhaltung strategischer Lieferketten. "Angesichts gestörter Lieferketten, der Coronapandemie und des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine muss die EU ihre Resilienz und Krisenvorsorge verbessern", sagt Dr. Franziska Brantner. Die Parlamentarische Staatssekretärin beim BMWK erhofft dadurch, die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts in einer Krise aufrechterhalten zu können. Dabei seien Transparenz und Koordinierung essenziell. Brantner verspricht, dass die Bundesregierung den EU-Vorschlag eines Notfallinstruments eingehend analysieren wird.

Doch bisher haben alle Krisen gezeigt, dass beim Geld die Freundschaft aufhört. Wie konsequent dies vor allem Großkonzerne vorleben, zeigt unbeeindruckt jeglicher Kritik Elon Musk. Er stellt in seiner Strategie den Autobauer Tesla konsequent als breiten Tech-Konzern neu auf - dort werden Halbleiter in Eigenregie entwickelt und dann unter anderem auch von TSMC produziert. Zwar ist er damit auch nicht gegen mögliche geopolitische Katastrophen gewappnet, doch so kann er einfach die Soft- und Firmware in den Halbleitern umschreiben und Chips für sich umfunktionieren.

Literaturhinweise

  1. [1]

    Reimann, A.: "VW sieht Zulieferer nicht als Geschäftspartner". Interview mit Christoph Münzer. Online: https://www.wiwo.de/technologie/mobilitaet/e-mobility/zulieferer-vw-sieht-zulieferer-nicht-als-geschaeftspartner/28497332.html, aufgerufen: 15. Dezember 2022

  2. [2]

    Koellner, C.: Lieferengpässe in der Autobranche setzen sich bis 2024 fort. Online: https://www.springerprofessional.de/link/23246582, aufgerufen: 15. Dezember 2022

  3. [3]

    Daffner, R.; Schnurrer, S.; Juckenack, S.: Komplexität in der Automobilindustrie. Online: https://www.oliverwyman.de/our-expertise/insights/2021/aug/dealing-with-car-complexity.html, aufgerufen: 15. Dezember 2022

  4. [4]

    BMWK: Bundesregierung begrüßt Kommissionsvorschlag für ein Notfallinstrument für den Binnenmarkt. Online: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/2022/09/20220919-bundesregierung-begrusst-kommissionsvorschlag-fur-ein-notfallinstrument-fur-den-binnenmarkt.html, aufgerufen: 15. Dezember 2022