Liebe Leserin, lieber Leser,

gegen das Pioneer-Briefing vom 28. September 2022 habe ich online schon geschossen (https://sn.pub/Y9mIEG), aber das ist nur ein Grund, hier weiter nachzulegen: Wenn "Asien uns eines Tages die Chips verweigern [sollte], so wie Russland jetzt das Gas", ist das nicht vergleichbar zur aktuellen Energiekrise, sondern hätte einen weit größeren Impact.

Warum? Es haben sich 2022 durch den Konflikt mit Russland in kürzester Zeit gesicherte Narrative in ihr Gegenteil verwandelt: Das gilt für die bis dato gewohnte, wirtschaftlich optimale Energieerzeugung beziehungsweise Industrieproduktion mithilfe günstiger Rohstoffe. Es gilt ebenso für den nun nicht mehr gewünschten Wettlauf des Offshoring in Richtung einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft mit Produktionsstätten sowie Grundstofferzeugung für Pharma, Chemie, Batterie- und Solarzellen oder Halbleiter insbesondere in Asien. Das alles muss oder soll sich vor dem Hintergrund der aktuellen kalten und heißen Konflikte nun ändern in Richtung Nearshoring. Wie lange ist es her, dass Siemens 1-Mbit-DRAMs in Regensburg gefertigt hat und sich feiern konnte, zur Weltspitze aufgeschlossen zu haben? Der Rest der Geschichte ist bekannt, heute kommen hochentwickelte Schaltkreise überall her, aber nicht aus der Oberpfalz. Geschlossen werden soll diese technologische Lücke durch IPCEIs: Diese stärken zum einen die verbliebenen europäischen Hersteller, zum anderen sollen Firmen wie TSMC oder Intel nach Europa gelockt werden.

Gerade bei Halbleitern gilt es aber, die Reaktionsroutinen der Halbleiterhersteller einzukalkulieren und zu überwinden. Denn diese reagieren seit Langem sehr schnell auf eventuelle Abschwünge: Es ist geübte Praxis der sturmerprobten Branche, beim ersten Wölkchen am Horizont sofort die Segel zu reffen. Das könnte sich auf die geplanten Investitionen in neue Fertigungskapazitäten in Europa auswirken, denn die Hersteller dürften bei der aktuellen Wirtschaftslage nicht gern das Kostenrisiko eventueller Überkapazitäten tragen wollen. Angesichts der bereits sehr hohen Belastung aller europäischen Volkswirtschaften kann man gespannt sein, wie der Aufbau einer echten europäischen "Full-Scale"-Elektronikindustrie auf Dauer gestemmt werden soll - in guten wie in schlechten Tagen. Die Drohungen gegenüber Taiwan seitens "Xina" (wie die Tagesschau am 16. Oktober treffend anlässlich des KP-Parteitags titelte) stehen allerdings mehr denn je im Raum; insofern dürften die Anstrengungen hier wie beim Thema Energie alternativlos sein.

Viel Spaß beim Lesen dieser Ausgabe.

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Robert Unseld

Verantwortlicher Redakteur

PS: Die drei Ausgaben 1/2, 5 und 7/8 der ATZelektronik 2023 erscheinen rein digital, um den Leserinnen und Lesern durch bessere Verschränkung mit den Online-Inhalten des Verlags zusätzliche Forschungsbeiträge aus dem Themengebiet Elektronik zugänglich zu machen. Mehr dazu erfahren Sie auf S. 2.