Liebe Leserin, lieber Leser,

der Krieg Wladimir Putins gegen die Ukraine hat vielen die Augen geöffnet. Das Modell "Wandel durch Handel" ist gescheitert - nicht nur beim Erdgasbezug aus Russland, sondern auch bei der Zusammenarbeit mit anderen autoritären Staaten wie China. So stehen nunmehr auch die globalen Lieferketten von zum Beispiel Automobilen, Chemieprodukten und Mikrochips auf dem Prüfstand. Löblich ist daher, dass die deutsche Bundesregierung unlängst eine Chinastrategie aufgesetzt hat, wie die Länderbeziehungen auszugestalten sind. Doch warum gab es dies nicht schon längst, könnte man fragen. Nun dürften in Deutschland die scharfen Töne der Außenministerin Annalena Baerbock, aber auch die übertriebene Höflichkeit von Kanzler Olaf Scholz gegenüber Peking der Vergangenheit angehören. Denn Poltern hilft hier ebenso wenig wie ein Schmusekurs.

Im Verhältnis zum Reich der Mitte soll die deutsche Chinastrategie der Politik, aber auch den Unternehmen neue Orientierung geben. So befürworten Wirtschaftsverbände das Papier. "Die Neuausrichtung der Chinastrategie war lange überfällig. Es ist gut, dass sich die Bundesministerien auf einen gemeinsamen Kurs einigen konnten", lobt Dirk Jandura, Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), die Regierung. Auch Wolfgang Große Entrup, Verband der Chemischen Industrie (VCI), begrüßt, dass sich die Bundesregierung nach langem Ringen auf eine gemeinsame Strategie gegenüber China verständigt hat: "Ein enger, regelmäßiger Austausch von Politik und Wirtschaft zu geopolitischen und Sicherheitsfragen ist wichtiger denn je". Risiken gelte es früher und durch mehr Diversifizierung zu begrenzen, nimmt sich der VCI selbst in die Pflicht.

Denn die Zeit drängt für den Westen. Im ersten Quartal 2023 wurden die chinesischen Automobilhersteller erstmals Exportweltmeister (2019 waren sie noch an sechster Stelle). Sie lösten die Japaner von Platz 1 ab; Deutschland, Südkorea und Mexiko folgen auf den Plätzen. Es bleiben den Deutschen also nur noch wenige Jahre, Anteile auf heimischen Märkten zu verteidigen, wo bereits die chinesische E-Auto-Offensive einsetzt mit Nio ET7, BYD Atto 3, Elaris Leo oder Ora Funky Cat. Fabian Piontek, AlixPartners, präzisiert dazu: "China ist auf dem besten Weg zur automobilen Supermacht. Die europäischen OEMs hingegen sind in ihren angestammten Heimatmärkten zunehmend in der Rolle des Verteidigers von Marktanteilen." Lesen Sie mehr über China ab Seite 50, das sich von der verlängerten Werkbank zum Technologie- und Patentführer wandelt, und auf Seite 66, wie die westlichen Akteure dem Vorsprung Chinas begegnen können.

Mit der Chinastrategie gibt es jetzt zwar einen Kompass für Deutschland, aber auch Brüssel sollte sich Leitlinien formulieren. Denn nur ein geeintes Europa kann China auf Augenhöhe begegnen.

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Dipl.-Ing. Michael Reichenbach

Stellvertretender Chefredakteur