Liebe Leserin, lieber Leser,

dieser Tage feiert der Sicherheitsgurt ein kleines Jubiläum, er wird 55 Jahre alt. Als am 13. August 1959 der erste „Buckel-Volvo“ PV 544 damit ausgeliefert wurde, schrieb er Automobilgeschichte: Volvo lieferte das Fahrzeug serienmäßig mit einem Dreipunkt-Sicherheitsgurt auf den Vordersitzen aus — und das von Beginn an. Seitdem wurden weltweit Millionen von Autos mit der lebensrettenden Erfindung des Ingenieurs Nils Bohlin ausgestattet, und damals wie heute kommt dem Dreipunktgurt eine große Bedeutung zu. So hat er sich selbst zwar kaum verändert, die Technik wurde und wird jedoch ständig weiterentwickelt: Man denke nur an Trägheits-Spannmechanismus, Gurtstraffer, Kraftbegrenzung, Regelungsstrategien und Crashsensoren.

Doch als der Sicherheitsgurt am 1. Januar 1976 für die Deutschen zur Pflicht wurde, war wenig Euphorie zu spüren, obwohl die Folgen von Verkehrsunfällen nun eklatant gemildert und die Zahl der Unfalltoten drastisch gesenkt werden konnten. Die Dezember-1975-Ausgabe des Spiegel widmete dem Thema die Titelgeschichte und fasste die Bedenken mit der überschrift „Furcht vor der Fessel“ zusammen. Die Ablehnung der Bürger war deutlich: Die freiheitliche Grundordnung der liberalen Gesellschaft sei in Gefahr; man dürfte es dem Einzelnen nicht verbieten, auf eigene Kosten riskant zu leben. Hinzu kamen ängste, im brennenden Auto „hilflos verlodern zu müssen“. Oder beim Sturz ins Wasser qualvoll zu ertrinken, weil sich das Gurtschloss nicht öffne.

Diese ängste führten dazu, dass trotz der neuen Pflicht nur etwa jeder Zweite den Sicherheitsgurt anlegte, wie die Bundesanstalt für Straßenwesen dokumentierte. Erst mit Einführung des Verwarnungsgelds für das Nichtanlegen im Jahr 1984 stiegen die Anlegequoten sprunghaft auf über 90 % an. Heute schnallen sich fast alle Insassen wie selbstverständlich an.

Was können wir aus der Geschichte lernen? Beim aktuellen Thema automatisiertes Fahren stehen wieder ängstliche, Zauderer und Skeptiker auf dem Plan. Dem mündigen Bürger würde der Spaß am Fahren genommen, die Bevormundung nehme nun überhand, und es würde in die Persönlichkeitsrechte eingegriffen.

Mit dem autonomen Fahren könnte endlich das Ziel „null Unfalltote in Europa“ real werden. Fragen zu Datenschutz und Ethik, wie sie Professor Andre Seeck im Interview auf Seite 16 diskutiert, müssen sicher noch geklärt werden, aber etwas mehr Euphorie und kreatives Gestalten würde uns besser zu Gesicht stehen, als Weiterentwicklungen auszubremsen oder immer gleich abzublocken. Wie Goethe schon sagte: „Wer sichere Schritte tun will, muss langsam gehen“. Dem ist nur hinzuzufügen: Ja, langsam, aber beharrlich. Auf dass in 55 Jahren automatisiertes Fahren so natürlich ist wie das Gurtanlegen.

Herzliche Grüße, Ihr

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