Aus meiner Kindheit ist mir noch gut in Erinnerung, dass meine Eltern sagten: „Du darfst alles, nur nicht lügen“. Das hat mir in meinem Leben viel geholfen. Ich war regelrecht stolz darauf, zu Hause alles erzählen zu können, ohne Angst vor Prügel haben zu müssen. Denn wir lügen nur, wenn wir Angst haben. Wir machen anderen, die wir für bedrohlich halten, die uns schaden könnten, etwas vor. Wir halten die Wahrheit zurück, um uns oder vielleicht andere zu schützen. Einem Chef gegenüber geben wir uns anders als den Kollegen gegenüber. Manchmal lügen wir, um einer Beschämung zu entgehen; ein anderes Mal lügen wir aus Notwehr gegen unbequeme Folgen oder Überforderung.

Ich glaube, die meisten Menschen halten „Lügen“ nicht für eine schlimme Sache. Schädigt doch niemanden. Oder vielleicht doch? Wenn man niemals versucht, über die Ursachen kleiner oder großer Lügen nachzudenken, könnten wir ganz allmählich in einen Anpassungsmechanismus hineinschlittern. Die Sprache wird korrupt, weil sie keine spontane Wahrhaftigkeit mehr vermittelt, sondern Unsicherheit, Ungewissheit. Daraus kann nur Misstrauen entstehen. So halten wir bewusst oder unbewusst vielleicht auch andere für Lügner. So entsteht letzten Endes in unserer engeren und weiteren Umwelt, in der privaten wie beruflichen, Misstrauen. Das heißt, dass die Fähigkeit zu vertrauen abhandenkommt.

Wenn wir uns dagegen um die Wahrhaftigkeit bemühen, dann geht es bei diesem Kampf nicht darum, ein Wahrheitsfanatiker zu werden, der seine eigene Wahrheit für unumstritten hält. Damit täuscht er sich selbst und andere. Denn kein Mensch, keiner von uns hat die Wahrheit. Wir müssen sie unentwegt suchen. Wahrheit ist nicht nur dauernd zu suchen, man muss sie tun.