Einleitung

Der Respekt vor der Autonomie von Personen in Versorgungskontexten stellt eines der leitenden medizin- und pflegeethischen Prinzipien dar (Beauchamp und Childress 2019), an das Akteur_innen und Institutionen in ihrem Handeln und ihrer Ausrichtung gebunden sind. Die Diskussion um Autonomie steht dabei häufig in Auseinandersetzung mit dem Begriff des Paternalismus, unter welchem Handlungen und Einstellungen subsumiert werden, die dazu bestimmt sind, das (mutmaßliche) Wohl von Personen auch gegen deren gegenwärtige Wünsche und Präferenzen zu schützen (Simon und Nauck 2013) und damit der Selbstbestimmung von Personen entgegenstehen können. Die Achtung der Autonomie kommt u. a. durch das Recht auf Einwilligung und Ablehnung jeglicher Behandlungsmaßnahmen, auf Informiertheit, auf Festlegung des Eigenwohles, auf Wahl zwischen Alternativen sowie auf eine möglichst geringe Einschränkung des Handlungsspielraumes durch Institutionen zum Ausdruck (Bobbert 2002).

Eine Personengruppe, bei der die Achtung von Autonomie und Selbstbestimmung besonders relevant sein kann, sind Bewohnende stationärer Altenpflegeeinrichtungen. Ende 2019 lebten in Deutschland ca. 958.000 Personen in rund 15.400 voll- bzw. teilstationären (davon ausschließlich vollstationär: 11.370) Pflegeeinrichtungen, was fast einem Viertel aller pflegebedürftigen Personen zu diesem Zeitpunkt entsprach (Destatis 2020). Es wird vermutet, dass Potenziale der Autonomiegefährdung durch verschiedene Merkmale dieser Personengruppe und des Settings begründet sein können. Auf der Seite der Bewohnenden sind autonomiebezogene Risikofaktoren u. a. durch den Umstand denkbar, dass eine Vielzahl der Bewohnenden hochaltrig (Ehrentraut et al. 2019), multimorbide (van den Bussche et al. 2009) und dadurch in ihren Alltagskompetenzen erheblich eingeschränkt und somit in unterschiedlicher Intensität auf pflegerische Unterstützung angewiesen (Kühnert und Ignatzi 2019) ist. Zudem liegt bei Bewohnenden eine gesteigerte Prävalenz demenzieller Erkrankungen, mit entsprechenden kognitiven Defiziten, vor (Hoffmann und Allers 2021; Schäufele et al. 2013). Stationäre Altenpflegeeinrichtungen weisen weiterführend Charakteristika auf, die die Autonomie der Bewohnenden berühren können. Zu nennen sind hier u. a. die, dem Einrichtungstyp immanente, stationäre Ausrichtung und deren Langzeitorientierung und Dauerhaftigkeit (Hoffmann, 2011). Bewohnende sind generalisierten Verhaltensanforderungen und Reglementierungen ausgesetzt, die auf institutionellen Strukturen und Organisationsabläufen basieren (Pfabigan 2010; Wulff et al. 2013). Aufgrund des häufig hohen Versorgungsbedarfes der Bewohnenden, auch bei intimen körperlichen Alltagsverrichtungen, weist außerdem das pflegerische Berufshandeln in diesem Setting eine stark intervenierende Komponente auf. Gesetzliche Bestimmungen (Pflege- und Wohnqualitätsgesetz Art. 1 Abs. 1 und Art. 3), Qualitätskriterien stationärer Pflegeeinrichtungen (GSQSA 2019), berufsbezogene Ethikkodizes (ICN 2014) sowie bewohnendenseitige Ansprüche (BMFSFJ und BMG 2018) deklarieren die Achtung der Autonomie bzw. Selbstbestimmung der Bewohnenden als zentrale Anforderung an Altenpflegeeinrichtungen und deren Mitarbeitende.

Bekannt ist, dass Bewohnende, auch bei vorhandenen gesundheitlichen Einschränkungen, das Bedürfnis nach selbstbestimmten Entscheidungen haben (Wulff et al. 2013) und dies auch hinsichtlich der Versorgung am Lebensende (Klemmt et al. 2020). Zudem steht die subjektiv-wahrgenommene Autonomie mit der Lebenszufriedenheit der Bewohnenden in Verbindung (Kloos et al. 2019). Bewohnende verbinden mit der Verletzung der eigenen Autonomie u. a. die Nichtmöglichkeit der selbstbestimmten Auswahl von Kleidung und Mahlzeiten, das fremdbestimmte Festlegen eigener Tagesstrukturen oder den fremdbestimmten Umgang bezüglich der Körperpflege (Tuominen et al. 2016). Die Folgen einer Nichtrespektierung der eigenen Autonomie werden von Bewohnenden mit einem Kontrollverlust über die eigene Lebenssituation und über die geistige und körperliche Integrität sowie mit einer Verletzung des gewünschten Grades an Privatheit beschrieben (Pfabigan 2010). Einrichtungsmitarbeitende nehmen das Prinzip des Respekts vor der Autonomie von Bewohnenden als eine Anforderung an ihr berufliches Handeln wahr, welche teilweise zu beruflichen Konfliktlagen führen kann (Brodtkorb et al. 2015). Van Loon et al. (2019) berichten Autonomiepotenziale und -barrieren von Bewohnenden mit physischen Beeinträchtigungen und identifizieren in diesem Zusammenhang die Ebenen der Bewohnendenmerkmale, Einstellungen der handelnden Berufsgruppen, Versorgungsbeziehungen und -interaktionen sowie umweltbezogene Faktoren. Fehlend ist bislang eine generelle, systematische Erfassung von autonomiegefährdenden und -verletzenden Potenzialen in stationären Altenpflegeeinrichtungen.

Ziel

Ziel der Studie ist die Identifizierung von Faktoren, die die Autonomie von Bewohnenden gefährden bzw. verletzen können sowie eine umfangreiche Erfassung von konkreten Lebenssituationen und Kontexten, in denen diese Faktoren angesiedelt sind. Dieser Beitrag soll eine möglichst umfassende Bündelung der wissenschaftlichen Evidenzen zur Thematik einbringen. Durch die systematische Identifizierung von autonomiegefährdenden/-verletzenden Faktoren können diese, in Praxis und Forschung, gezielt in den Blick genommen werden. Auf dieser Grundlage können weiterführend Maßnahmen etabliert bzw. Bedingungen geschaffen werden, um die Autonomie von Bewohnenden zu wahren und zu fördern. Es werden sowohl die Autonomiegefährdung als auch die Autonomieverletzung behandelt, da gefährdende Faktoren, verstanden als potenzielle Möglichkeiten der Autonomieverletzung, ohne dass die Verletzung bereits eingetreten sein muss, zu einer konkreten Verletzung, also einer manifesten Einschränkung der Möglichkeit von selbstbestimmten Entscheidungen bzw. Handlungen, führen können. Zudem ist, aufgrund von Verletzungen, ein Rückschluss auf mögliche prospektive Gefährdungen möglich.

Methoden

Zur Erfassung von autonomiegefährdenden und -verletzenden Faktoren in stationären Altenpflegeeinrichtungen wurde von April bis August 2021 ein Scoping Review des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes durchgeführt. Die Wahl der Methodik begründet sich in der Zielsetzung, eine umfassende Evidenzbasis in Bezug auf empirisch beobachtete Faktoren der Autonomiegefährdung/-verletzung im untersuchten Setting zu generieren, ohne eine Bewertung der Qualität der Studien vorzunehmen (von Elm et al. 2019). Das methodische Vorgehen orientierte sich am Ansatz der Methode des Joanna Briggs Institutes (JBI) (Peters et al. 2017). Die Darstellung der Ergebnisse fand gemäß der PRISMA-ScR-Checklist (Tricco et al. 2018) statt. Ein Review-Protokoll wurde im Vorfeld der Untersuchung erstellt und kann bei den Autor_innen angefragt werden.

Ein- und Ausschlusskriterien

Eingeschlossen wurden Beiträge, die die Autonomie von Bewohnenden stationärer Altenpflegeeinrichtungen untersuchen. In den Blick genommen wurde der Zeitraum ab Einzug der Bewohnenden in die Einrichtung. Es wurden ausschließlich deutsch- und englischsprachige Beiträge eingeschlossen, die empirische Evidenzen berichten (Studiendesign: offen) und in wissenschaftlichen Journals publiziert wurden. Ausgeschlossen wurden Beiträge, die sich auf professionelle Autonomie der Berufsgruppen, auf ambulante Pflegesettings oder auf die selbstbestimmte/fremdbestimmte Entscheidung des Einzuges beziehen. Aufgrund der Suchstrategie sowie aus forschungsökonomischen Aspekten wurden Übersichtsarbeiten, Monografien, Buchbeiträge sowie Abstracts/Kongressbeiträge formal ausgeschlossen. Ebenfalls nicht eingeschlossen wurden Beiträge, die sich ausschließlich auf temporäre Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie beziehen.

Suchstrategie

Die Recherche erfolgte gemäß der dreistufigen Suchstrategie nach JBI-Methode (Peters et al. 2017): 1) Stichwörter und Indexbegriffe, 2) iterative Recherche in Datenbanken und 3) Screening von Referenzverzeichnissen. Gesucht wurden Publikation im Zeitraum von 2000 bis April 2021, um die Aktualität der eingeschlossenen Evidenzen gewährleisten zu können. Um mit einheitlichen Suchstrings in allen, heterogen operierenden, genutzten Datenbanken suchen zu können, wurde von der Verwendung von MeSH/MH-Terms abgesehen. Verwendete Suchbegriffe und -orte sowie einen exemplarischen Suchstring zeigt Tab. 1.

Tab. 1 Suchbegriffe und -orte

Studienauswahl

Die Recherchetreffer wurden durch ein mehrstufiges Verfahren anhand der Einschlusskriterien ausgewählt. Abb. 1 zeigt den Verlauf des Beitragseinschlusses. Die Recherche wurde von einem Mitglied des Forschungsteams durchgeführt. Das Einschlussscreening wurde von 2 Personen unabhängig voneinander vorgenommen. Bei Uneinigkeit wurde eine weitere Person hinzugezogen. Der finale Studieneinschluss wurde im gesamten Autor_innenteam diskutiert.

Abb. 1
figure 1

Flowchart, Beitragseinschluss. (Nach von Elm et al. 2019)

Datenextraktion und -analyse

Im Zuge der Datenextraktion wurden die, für die Fragestellung des Review relevanten, Studienergebnisse der eingeschlossenen Beiträge mithilfe der Software MaxQDA (Version 22) markiert und extrahiert. Bibliografische Informationen wurden separat erfasst. Die Identifikation der Faktoren erfolgte mithilfe der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz 2016). Es wurden primär die Ergebnisbeschreibungen der eingeschlossenen Beiträge analysiert. Dabei wurden sowohl bei quantitativen als auch bei qualitativen Studiendesigns (bzw. Mixed-Methods-Ansätzen) (interpretative) Analyseergebnisse (z. B. statistische Zusammenhänge) sowie, sofern vorhanden, Originaldaten (z. B. Interviewaussagen) kodiert. In allen Fällen wurden jegliche Ergebnisse eingeschlossen, die die Fragestellungen des Review betreffen. Eine analytische Trennung von autonomiegefährdenden und -verletzenden Faktoren fand nicht statt. Die Interpretation und Synthetisierung der Ergebnisse wurden innerhalb des Autor_innenteams vorgenommen.

Ergebnisse

Beschreibung der eingeschlossenen Beiträge

Insgesamt wurden 75 Beiträge final in das Review eingeschlossen. Diese variieren hinsichtlich der eingeschlossenen Perspektive bzw. Stichprobenpopulation (u. a. Bewohnende, Angehörige, Einrichtungsmitarbeitende und -leitungen, Ärzt_innen) und der Zielgruppe (u. a. Bewohnende generell, Bewohnende mit demenziellen Erkrankungen, einwilligungsunfähige Bewohnende, Bewohnende mit chronischen Erkrankungen) der Untersuchungen. Fünf Beiträge beziehen sich auf das nationale Setting (häufigstes internationales Setting: Norwegen, n = 15). Dabei wurden 57 Beiträge mit einem qualitativen Studiendesign (u. a. Interviewstudien, teilnehmende Beobachtungen), 13 Beiträge mit einem quantitativen Studiendesign (u. a. schriftliche Befragungen, Analyse von Routinedaten) sowie 5 Mixed-Methods-Studien eingeschlossen. Eine Übersicht der Studienmerkmale, inkl. Angaben zu Stichprobenmerkmalen und Methoden der Beiträge sowie bibliografischen Informationen, zeigt das Zusatzmaterial online „1. Übersicht der eingeschlossenen Beiträge“.

Autonomiegefährdende und -verletzende Faktoren

Im Zuge der Inhaltsanalyse konnten 21 Bereiche induktiv identifiziert werden, denen 46 autonomiegefährdende bzw. -verletzende Faktoren mit 16 Unterfaktoren zugeordnet wurden. Diese sind auf den Ebenen der Akteur_innen, der (Sorge‑)Beziehungen, der Strukturen sowie in konkreten Kontexten und Situationen angesiedelt. Eine Übersicht der identifizierten Faktoren, inklusive Ankerbeispielen und Verweisen auf die betreffenden Beiträge, zeigt das Zusatzmaterial online „2. Übersicht der identifizierten Faktoren“.

Ebene der Akteur_innen

Auf der Ebene der Akteur_innen wurden Faktoren der Autonomiegefährdung und -verletzung im Einstellungs- und im Handlungsraum verschiedener Personengruppen erfasst. Bei Bewohnenden selbst werden Faktoren hinsichtlich ihres physischen bzw. kognitiven (Beitrags-ID: Zusatzmaterial online 1: 1, 4, 7–9, 14, 16, 18, 24, 29, 34, 37, 43–44, 46, 55–58, 62, 67–68, 71–72, 74) oder psychischen bzw. emotionalen (1, 29, 53, 55, 58) Gesundheitszustandes sowie bei deren Veränderung (9, 58) berichtet. Der Aspekt des Verhaltens der Bewohnenden beinhaltet die Unterthemen: Aggressivität/herausforderndes Verhalten (1, 22, 27, 43–44, 60), Passivität (21, 55, 58, 65, 67) sowie fehlende Expression von Wünschen und Bedürfnissen (9, 12–13, 25, 31–32, 45, 65, 68). Zudem konnten Ungewissheiten und Fehlvorstellungen von Bewohnenden (13, 25, 41, 45, 55–57, 62, 67) als autonomiegefährdende/-verletzende Faktoren identifiziert werden. Die Autonomie von Bewohnenden kann außerdem durch die Rechte anderer Bewohnender (8, 13, 18, 72) oder zum Schutz vor der Gefährdung anderer Bewohnender (3, 18, 22, 27) begrenzt sein. Im Bereich der Personengruppe der Einrichtungsmitarbeitenden wurden Faktoren erfasst, die die Einstellung bzw. Haltung der Mitarbeitenden gegenüber Bewohnenden (1, 14, 17, 24, 30, 39, 66, 70, 75) und spezifischen Kontexten (3, 9, 14, 18, 24, 26, 36, 48, 54, 70) betreffen sowie Faktoren in Bezug auf das berufliche Selbstverständnis (2–3, 8, 10–11, 14, 27, 32, 36, 39, 42, 57, 61, 65–67, 72). Als weitere Faktoren zeigen sich Zeitknappheit und erhöhte Arbeitsbelastung der Mitarbeitenden (1, 5, 12, 19, 21–22, 26, 30, 32, 34, 40, 45, 47–48, 54, 68–70). Die Kommunikation von Mitarbeitenden, primär mit Bewohnenden, kann sich auf die Bewohnendenautonomie in negativer Weise auswirken, wenn diese quantitative oder qualitative Mängel aufweist (2, 6, 17, 30, 32, 45, 48, 70, 74), auf Missverständnissen beruht oder diese verursacht (2, 68) oder Elemente der Täuschung beinhaltet (33, 64). Weitere Faktoren in Bezug auf diese Personengruppe betreffen eine mangelnde Qualifizierung und Sensibilisierung im Bereich der Bewohnendenautonomie (5–6, 9, 22, 35, 47–48, 60), fehlende Einflussmöglichkeiten (1, 26, 39, 54) sowie Fehlvorstellungen und Ängste der Mitarbeitenden (13, 18, 69). Bei der Personengruppe der Angehörigen und nahestehenden Personen wurden Faktoren ermittelt, die divergierende Vorstellung und Einstellungen zwischen dieser Gruppe und Bewohnenden (1, 5, 8–9, 22, 24, 26, 39–41, 48, 58, 60, 70), keine oder wenig direkte (6, 9, 23, 62, 64, 70) und indirekte (20, 25) Partizipation und Information sowie Fehlvorstellungen und Ängste (18, 20, 41) beinhalten. Schließlich werden behandelnden Haus- oder Fachärzt_innen Gefährdungs‑/Verletzungspotenziale zugeschrieben, wenn diese die Bewohnenden nicht oder zu wenig in medizinische Entscheidungsprozesse einbinden (25, 59, 62).

Ebene der (Sorge‑)Beziehungen

Die Beziehungsebene schließt Faktoren ein, die sich in zwischenmenschlichen Verhältnissen und Verhaltensausprägungen der involvierten Personengruppen begründen. Verhaltensweisen von u. a. Einrichtungsmitarbeitenden, Angehörigen oder Ärzt_innen, die den Bereichen der (Für‑)Sorge (8, 14–15, 24, 27, 39, 56–57, 64–66, 71) oder des Paternalismus (7, 14–15, 24, 26–27, 52, 54, 56–58, 64, 66, 71) gegenüber Bewohnenden zugehörig sind, können die Bewohnendenautonomie ebenso gefährden bzw. verletzen wie die Abhängigkeit der Bewohnenden von anderen Personengruppen (2, 4–5, 30, 34, 46, 64, 66, 72–74). In den eingeschlossenen Studien wurden in diesem Kontext ebenfalls Faktoren der Verantwortung gegenüber Bewohnenden (8, 14, 18, 25, 61, 66, 73) und die Deindividualisierung von Bewohnenden (13, 15, 17, 21, 39, 50, 70) berichtet. Zudem konnten Studienergebnisse identifiziert werden, die den Bereichen Überwachung und Kontrolle von Bewohnenden (8, 12, 14, 36, 38, 68) sowie Macht und Autorität anderer Personengruppen (25, 75) zugeordnet wurden.

Ebene der Strukturen

Auf der strukturellen Ebene wurden einrichtungsbezogene und übergeordnete Faktoren identifiziert. In Bezug auf die Altenpflegeeinrichtungen werden Abläufe in Form von festgelegten Routinen (1, 4, 7, 12–13, 19, 21, 27–28, 31–32, 34, 36, 39, 49–51, 54–58, 64, 68, 70) und wechselndem Personal (1, 6, 34, 58, 68) genannt. Autonomiegefährdende bzw. -verletzende Potenziale können zudem die Ausformung der Einrichtungskultur und Regulationen (1, 3, 6–7, 17, 30–32, 39, 48, 51, 60, 66, 70, 72, 75) ebenso wie Ressourcenknappheit und die Verteilung von Ressourcen (1, 5–6, 12, 21–22, 31, 39, 48–49, 54, 56, 61, 70, 73) sowie architektonische Begebenheiten (5, 16, 21, 38, 50, 61, 73) aufweisen. Außerdem werden in den eingeschlossenen Beiträgen Befunde hinsichtlich der Bewohnendensicherheit bzw. der Vermeidung von Risiken und Schäden für bzw. von Bewohnenden berichtet (1, 3, 5, 8, 12, 14, 17–18, 21, 24, 26–27, 29, 36, 38–39, 42, 46, 48, 54, 56–58, 60, 65–66, 71, 73). Zudem konnten (haftungs-)rechtliche Faktoren (5, 8, 27, 38, 42, 73) wie auch Faktoren im Kontext von übergeordneten politischen Regulationen (1, 32, 38, 54, 69) identifiziert werden.

Konkrete Kontexte und Situationen

Es wurden konkrete Kontexte und Situationen identifiziert, in denen die Bewohnendenautonomie gefährdet sein oder verletzt werden kann. Diese betreffen die Bereiche der Alltagsaktivitäten und der pflegerischen Versorgung der Bewohnenden bei Mahlzeiten bzw. der Nahrungsaufnahme (4, 7, 12–16, 19, 21, 28, 30–31, 38, 52, 54, 64, 70), der Körperhygiene (5, 7, 14, 19, 22, 28, 31, 34, 39, 54, 56, 68, 70) und bei Toilettengängen (19, 32, 56, 61, 70), bei Morgen‑, Abend- und Schlafroutinen (12, 28, 31, 39, 54, 56, 70, 72), Ruhepausen (13) sowie bei der Auswahl von Kleidung und dem Ankleiden (14, 54, 72). Einen weiteren Bereich stellt die medizinisch-pflegerische Versorgung der Bewohnenden dar. Hier wurden Faktoren erfasst, die die Information, Aufklärung und Einwilligung von Bewohnenden in medizinisch-pflegerische Maßnahmen (9, 32–33, 55–57, 62–64, 68, 70), die Medikation und Medikamenteneinnahme (5, 22, 25, 28, 36, 43, 54, 63–64, 68, 71), die Versorgung am Lebensende (9, 20, 22–23, 45, 59, 68), die medizinisch-pflegerische Vorausplanung (40–41, 45, 47, 59, 62, 67), Eintritte in das primäre Versorgungssystem (6, 22, 26, 68) und die Wahl der Behandelnden (6–7, 31) sowie weitere Maßnahmen (32, 55, 65) betreffen. Berichtet werden zudem formeller (12, 22, 24, 27, 29–30, 37, 43–44, 46, 48, 60, 71) und informeller (8, 12, 14, 21, 24, 39, 50, 52) Zwang bzw. freiheitsentziehende Maßnahmen und der Bereich der Privatheit in Form von privaten Räumlichkeiten (7, 31–32, 54, 64) und Sexualität/Intimität (8, 14, 18, 34). Körperliche Aktivitäten und Aktivitäten außerhalb der Pflegeeinrichtung (7, 13, 17, 28, 30–31, 42, 54, 56, 68), Nikotinkonsum bzw. Rauchverbote (3, 12, 14, 66) und Hobbys und Unterhaltung (28, 32) wurden dem Bereich der Freizeitaktivitäten zugeordnet. Soziale Kontexte und Situationen möglicher Autonomiegefährdungen und -verletzungen prägen sich in den Faktoren der Kontakte innerhalb (15) und außerhalb (12, 72) der Einrichtung aus. Zusätzlich wurden Faktoren erfasst, die die generelle Entscheidungs- (4, 6, 12, 15, 17, 30, 33, 49, 53, 57–58, 64, 69, 73–75) oder Handlungsautonomie (57–58, 73–75) der Bewohnenden betreffen.

Diskussion

Ziel der Studie war die Erfassung von, in der empirischen Forschungsliteratur berichteten, Faktoren, die die Autonomie von Bewohnenden stationärer Altenpflegeeinrichtungen gefährden oder verletzen können. Es konnte ein heterogenes Spektrum an Faktoren, die in verschiedenen Bereichen des Settings verortet sind und einige Überschneidungen aufweisen sowie teilweise miteinander assoziiert sind, identifiziert werden. Die erfassten Faktoren betreffen sowohl die Ebene der Akteur_innen und deren Beziehungsmerkmale als auch die strukturelle Ebene und konkrete Kontexte und Situationen innerhalb der Lebenswelt der Bewohnenden.

Auf der Akteursebene berichten die eingeschlossenen Beiträge u. a. Autonomiebarrieren, die mit Vulnerabilitäts- und Abhängigkeitstendenzen von Bewohnenden in Verbindung stehen und welche auf dem physischen und kognitiven Gesundheitszustand und der damit verbundenen Pflegebedürftigkeit basieren. Da der Verlust von Fähigkeiten für selbstständige und selbstbestimmte Handlungen und Entscheidungen bei diesen Personen häufig irreversibel ist (Kühnert und Ignatzi 2019), sind die Achtung und Förderung von Autonomiepotenzialen durch Personen und Institutionen hier besonders relevant (Pfabigan 2010). Vor dem Hintergrund der Polarität von Handlungs- und Entscheidungsautonomie (Collopy 1988) können selbstbestimmte Entscheidungen gefördert werden, auch wenn Bewohnenden in deren Ausführung eingeschränkt sind. Die potenzielle personale und strukturelle Angewiesenheit von Bewohnenden kann für eine relationale Auffassung von Autonomie in diesem Setting sprechen (Sherwin und Winsby 2010), deren Grundannahme lautet, dass soziale Beziehungen, in die jede zu versorgende Person im medizinisch-pflegerischen Kontext in unterschiedlicher Intensität und Häufigkeit eingebunden ist, bei der Formung und Ausübung von Autonomie eine zentrale Rolle spielen (Anderson und Honneth 2005). Als eine relevante Akteursgruppe in diesem Kontext wurden Ärzt_innen und Einrichtungsmitarbeitende, speziell pflegerische Berufsgruppen, identifiziert. Die Möglichkeit der Gefährdung und/oder Verletzung der Bewohnendenautonomie verwundert nicht, aufgrund des teilweise hochgradig in den physischen und psychischen Nahbereich der Bewohnenden intervenierenden Charakters der Berufsarbeit (Dräger et al. 2013). Befragungen von Pflegekräften ergaben, dass der Respekt der Bewohnendenautonomie als wichtiger Zielbereich und als Qualitätskriterium der eigenen Berufspraxis gesehen wird, welcher jedoch häufig schwierig umzusetzen ist und mitunter zu beruflichen und moralischen Problemlagen führen kann (Brodtkorb et al. 2015; Hedman et al. 2019). Zu beachten ist, das im untersuchten Setting von einem heterogenen beruflichen Hintergrund bzw. Ausbildungsstand ausgegangen werden muss (Destatis 2020), was zur Folge haben kann, dass der Respekt vor der Bewohnendenautonomie oder Maßnahmen zu deren Wahrung evtl. ausbildungsbedingt nicht bekannt sind. Damit in Verbindung stehend, muss ebenfalls der Mangel an Fachkräften in stationären Altenpflegeeinrichtungen benannt werden (Auffenberg et al. 2022). Hilfreich könnten Bemühungen um eine hinreichende Sensibilisierung und Qualifizierung aller, an der Versorgung der Bewohnenden beteiligten, Berufsgruppenangehörigen sein. Hierdurch könnten die Häufigkeit und Intensität der oben genannten Konfliktstellungen abgeschwächt werden (Preshaw et al. 2016).

Autonomiegefährdende/-verletzende Faktoren auf der Beziehungsebene betreffen v. a. die Beziehungen zwischen Bewohnenden und den versorgenden Berufsgruppen sowie zwischen Bewohnenden und deren Angehörigen. Ein Großteil der identifizierten Faktoren ist mit dem Spannungsverhältnis von Fürsorge, Autonomie und Paternalismus assoziiert. Die Bewertung paternalistischer Einstellungen und Verhaltensweisen kann in vielen Fällen als relativ eindeutig autonomiegefährdend/-verletzend ausfallen (z. B. verdeckte Medikation). Die Diskussion über das Verhältnis von Autonomie und Fürsorge wird demgegenüber mit unterschiedlichen Ergebnissen geführt. Teilweise werden Positionen deutlich, die Autonomie und Fürsorge als einander bedingende Leitbilder medizinisch-pflegerischer Handlungen herausstellen, deren Dependenz insbesondere bei Personen mit beschränkter Selbstbestimmungsfähigkeit virulent wird, indem diese durch fürsorgliche Unterstützung zur Wahrnehmung ihrer Selbstbestimmungsrechte gefördert werden (Salloch und Breitsameter 2011). Zugleich können die Autonomie von Personen in Versorgungskontexten und die Fürsorgebestrebungen beruflich handelnder Akteure in ein Spannungsverhältnis zueinander geraten und Konfliktsituationen herbeiführen, deren normative Lösungsanforderung wiederum die Autonomie der zu-Versorgenden höher stellt als die Fürsorgepflichten von beruflichen Akteuren im Gesundheitswesen (Nationaler Ethikrat 2006). Schlussendlich sollten auch fürsorgliche Handlungen im größtmöglichen Maße am Willen der Bewohnenden ausgerichtet sein.

Auf der Ebene der Strukturen berichten die eingeschlossenen Beiträge über autonomieassoziierte Gefährdungs- und Verletzungsmöglichkeiten im Bereich von festen Routinen und Abläufen (sowie mangelnden zeitlichen Ressourcen), die ggf. wenig Freiraum für individuelle Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten der Bewohnenden zulassen. Einige Autor_innen schreiben stationären Altenpflegeeinrichtungen u. a. in diesem Zusammenhang Charakteristika einer totalen Institution zu (u. a. Davies et al. 1997). Obgleich eine solche Bewertung wohl kaum allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann, zeigen sich doch einrichtungsbezogene Spezifika, die die Bewohnendenautonomie zu gefährden drohen bzw. verletzen können, wie das Vorhandensein von fremdbestimmten Tagesabläufen (Struppek 2010). Vor diesem Hintergrund wird die Wichtigkeit der institutionellen bzw. organisationalen Achtung der Bewohnendenautonomie deutlich. Als konkretes Beispiel kann hier die Einrichtungsarchitektonik genannt werden. Bauliche Begebenheiten wurden als Gefährdungsaspekt der Bewohnendenautonomie identifiziert, können jedoch, wenn sie an die Bedarfe der Bewohnenden angepasst sind, dazu beitragen, Selbstständigkeit und Selbstbestimmung zu wahren (Struhkamp 2005).

Die identifizierten konkreten Kontexte und Situationen, in denen die Bewohnendenautonomie gefährdet bzw. verletzt werden kann, sind im kompletten Spektrum der Lebenswelt der Bewohnenden verortet und betreffen alltägliche und wiederkehrende Faktoren wie die Körperhygiene oder Freizeitaktivitäten sowie medizinisch-pflegerische Maßnahmen. Letztgenannter Themenbereich betrifft nicht nur mangelnde Informations- und Aufklärungsprozesse, z. B. hinsichtlich der Medikamenteneinnahme oder sonstigen medizinischen Interventionen, sondern auch Barrieren im Kontext von medizinisch-pflegerischer Vorausplanung (Sussman et al. 2020).

In Praxis und Wissenschaft sind durchaus Präventions- und Gegenmaßnahmen einer Gefährdung/Verletzung des Respektes der Autonomie bekannt. Es handelt sich hierbei um Maßnahmen, Konzepte und Tools der Restitution und Förderung der Bewohnendenautonomie. Diese sind größtenteils unmittelbar mit den im Review identifizierten Faktoren verknüpfbar. Zu nennen ist hier u. a. die partizipative Entscheidungsfindung (Elwyn et al. 2012), welche im untersuchten Setting nicht nur auf medizinische Behandlungsentscheidungen angewendet werden kann, sondern ebenfalls bei Setting-immanenten Begebenheiten, wie der Art und Weise von pflegerischen Interventionen, Autonomiepotenziale der Bewohnenden stärken kann (Kleinschmidt 2004). Gleiches gilt für die informierte Einwilligung von Bewohnenden in medizinisch-pflegerische Maßnahmen jeglicher Ausprägung (Faden und Beauchamp 1986). Autonomiegefährdungen im Falle der Einwilligungsunfähigkeit der Bewohnenden können beispielsweise, bei bedürfnisorientierter Ausrichtung, durch Vorausplanungsprozesse wie dem Advance Care Planning (Sudore et al. 2017) und dem Einsatz von Vorsorgedokumenten wie Patientenverfügungen oder Vorsorgevollmachten kompensiert werden.

Die Ergebnisse der 75 eingeschlossenen Beiträge beruhen auf einem heterogenen Spektrum an Stichproben, wodurch eine umfassende Übersicht der autonomiegefährdenden/-verletzenden Faktoren aus der Perspektive relevanter Personengruppen möglich ist. Limitationen des Reviews betreffen u. a. ein mögliches Verzerrungspotenzial, basierend auf der Such- und Einschlussstrategie. So ist denkbar, dass durch die Wahl der Suchbegriffe und -orte Studienergebnisse nicht identifiziert wurden. Gleiches gilt für Befunde in Monografien und Sammelwerken. Der Umstand, dass sich ein Großteil der eingeschlossenen Beiträge auf internationale stationäre Pflegesettings bezieht, wirft Fragen der Vergleichbarkeit und Übertragbarkeit der internationalen Studienergebnisse auf das nationale Untersuchungssetting auf. Zudem fand im Rahmen des Reviews keine Gewichtung der identifizierten Faktoren statt, was deren tatsächlichen Stellenwert in der Praxis ggf. nicht widerspiegelt. Eine analytische Trennung zwischen Autonomiegefährdungen und expliziten Verletzungen der Bewohnendenautonomie war, alleinig auf Grundlage der eingeschlossenen Studienergebnisse, nicht adäquat möglich. Zwar sind Ergebnisse z. B. zu freiheitsentziehenden Maßnahmen oder zur verdeckten Medikation relativ eindeutig dem Verletzungsbereich zuzuordnen, dies ist jedoch bei einem Großteil der identifizierten Faktoren kaum nachvollziehbar und somit hochgradig spekulativ. Nichtsdestoweniger wird eine Spannweite der Intensität der Autonomiegefährdungen und -verletzungen sichtbar, die von der Missachtung von Autonomiebedürfnissen u. a. bei der Morgenhygiene bis zu medizinischen Behandlungsentscheidungen am Lebensende der Bewohnenden reicht. Bezüglich der Identifizierung von Faktoren im Bereich der Bewohnenden und der Altenpflegeeinrichtungen selbst (u. a. Vulnerabilitätstendenzen, Setting-Charakteristika) ist zu hinterfragen, ob die genannten Gefährdungs- und Verletzungsfaktoren als Resultat oder als Ausgangspunkt der jeweiligen Forschungsbeiträge bzw. der empirischen Voraussetzungen der Bewohnenden und des Settings zu sehen sind. Diese normativ-theoretische Frage kann aufgrund der Ergebnisse dieser Arbeit nicht abschließend geklärt werden.

Schlussfolgerungen

Bewohnende stationärer Altenpflegeeinrichtungen sind eine Personengruppe, deren Autonomie in besonderer Weise respektiert, gewahrt und gefördert werden sollte. Dies kann durch die mannigfachen, im Rahmen dieses Reviews identifizierten, Gefährdungs- und Verletzungsfaktoren bekräftigt werden. Gefährdungen und Verletzungen der Bewohnendenautonomie sind sowohl auf der personalen als auch auf der Beziehungsebene bzw. der strukturellen Ebene verortet und betreffen somit institutionelle Strukturen wie auch Einstellungen und Verhaltensweisen der relevanten Akteur_innen. Hinzu kommt, dass Kontexte und Situationen, in denen Gefährdungen bzw. Verletzungen der Autonomie stattfinden können, in allen Lebensbereichen der Bewohnenden zu finden sind. Beide genannte Befunde zeigen die Notwendigkeit einer umfassenden Autonomiewahrung und -förderung im Setting. Gleichzeitig existieren konkrete Maßnahmen sowohl bezogen auf Personen (u. a. Qualifizierungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen) als auch auf strukturelle Gegebenheiten (u. a. bauliche Maßnahmen), die geeignet sind, einer Autonomiegefährdung entgegenzuwirken. Zudem kann eine angepasste Übertragung von Maßnahmen und Tools der Autonomieförderung aus anderen Settings (z. B. partizipative Entscheidungsfindung), soweit noch nicht geschehen, förderlich sein. In Bezug auf die letzte Lebensphase der Bewohnenden wurden solche Instrumente und Konzepte, in Form des Advance Care Planning, bereits teilweise im Setting etabliert und sollten weiterhin forciert werden.